"Die Insel der roten Erde" und "Ein Hoffnungsstern am Himmel"
- Die Insel der roten Erde: Kangaroo Island, 1845: Vor der australischen Küste sinkt ein Schiff in einem gewaltigen Sturm. Wie durch ein Wunder überleben zwei junge Frauen das Unglück: Amelia Divine und Sarah Jones. Sie...
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Produktinformationen zu „"Die Insel der roten Erde" und "Ein Hoffnungsstern am Himmel" “
- Die Insel der roten Erde: Kangaroo Island, 1845: Vor der australischen Küste sinkt ein Schiff in einem gewaltigen Sturm. Wie durch ein Wunder überleben zwei junge Frauen das Unglück: Amelia Divine und Sarah Jones. Sie werden von dem Leuchtturmwärter von Cape du Couedic aus der See gerettet. Doch Amelia erleidet eine Kopfverletzung und verliert dadurch ihr Gedächtnis. Sie kann sich nicht einmal mehr an ihren Namen erinnern – und Sarah nutzt die Gelegenheit, den Lauf des Schicksals zu verändern und ihrer trostlosen Zukunft zu entfliehen. Das Leben der beiden jungen Frauen wird sich dramatisch verändern.
- Ein Hoffnungsstern am Himmel: London 1954: Als Estella von ihrem Mann James wegen der reichen Witwe Davinia verlassen wird, kehrt sie England den Rücken. Sie beschließt, in Australien eine Stelle als Tierärztin anzunehmen. Doch das Leben im australischen Busch ist hart für eine junge Städterin, und Estella hat nach ihrem Studium nie als Tierärztin praktiziert. Um weitere Vorurteile zu umgehen, verschweigt sie, dass sie gerade geschieden wird. Aber als die Farmer und Dorfbewohner beginnen, sie zu akzeptieren, holt ihre Vergangenheit sie ein: James hat inzwischen erfahren, dass Estella sein Kind erwartet und Davinia keine Kinder bekommen kann, ihre Erbschaft jedoch an Nachkommen gebunden ist.
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Die Insel der roten Erde von Elizabeth Haran1
Australien, September 1845
Vor der Südküste
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»Lucy! Bring mir meinen Sonnenschirm, und beeil dich gefälligst!«, rief die schöne, dunkelhaarige junge Frau ungeduldig. Anscheinend sorgte sie sich um ihre Pfi rsichhaut.
»Wäre es nicht besser, die Sonne zu meiden und den Schatten aufzusuchen, Miss Divine?«, erwiderte Lucy freundlich. Die Kraft der vom Wasser refl ektierten Sonnenstrahlen durfte man nicht unterschätzen. Niemand wusste das besser als Lucy: Da sie einen hellen Teint und blonde Haare hatte, bekam sie binnen weniger Minuten einen Sonnenbrand. Doch auf dem Achterdeck war sie vor der Sonne und dem aufkommenden Wind geschützt, während die S. S. Gazelle über die Wellenberge stampfte. Die Fahrt ging die australische Südküste entlang in Richtung Backstairs Passage, jener berüchtigten Seestraße, die Kangaroo Island - das Ziel der Reise - vom Festland trennte. Aber nach Einschätzung der Matrosen würde die Gazelle es wegen des starken Gegenwinds nicht vor Einbruch der Dunkelheit bis dorthin schaffen. Dabei war Ende September; eigentlich hätte es mild und heiter sein müssen. Stattdessen wehte ein eisiger Wind.
Amelia Divine, die an der Reling stand, funkelte ihre Bedienstete zornig an. »Mir wird schlecht von diesem schrecklichen Geschaukel, Lucy. Wenn ich mir nicht den Wind um die Nase wehen lassen kann, werde ich bald die Fische mit den widerlichen Hammelkoteletts füttern, die es zum Mittagessen gab.«
Lucy unterdrückte einen gereizten Seufzer. Seit sie vor fünf Tagen mit dem Dampfer Lady Rosalind von Van-Diemens-Land aus in See gestochen waren, beklagte Amelia sich in einem fort, und allmählich ging Lucy diese Nörgelei auf die Nerven. Es ist zu warm. Es ist zu kalt. Das Essen schmeckt grauenhaft. Die Seeleute sind unhöfl ich. Ich muss mich mit dem Pöbel vom Zwischendeck abgeben... und so weiter, und so fort. Der kurze Zwischenaufenthalt in Melbourne, wo sie an Bord der Gazelle gegangen waren, hatte Amelias Laune auch nicht bessern können.
Lucy war überzeugt, dass es viel zu windig war, um einen Sonnenschirm halten zu können. Dennoch holte sie ihn, damit ihre Ladyschaft zufrieden war. Kaum hatte sie Amelia den Schirm in die Hand gedrückt, riss eine Windbö ihn auch schon fort und wehte ihn aufs Meer hinaus. Amelia schrie verärgert auf, als der Schirm von den Wellen davongetragen wurde.
»Möchten Sie nicht lieber aus dem Wind kommen, Miss Divine?« Lucy fürchtete, eine starke Bö könnte die zarte Amelia packen und über Bord reißen.
»Ich sagte dir doch, dass mir dann schlecht wird! Sei gefälligst still, wenn du keine vernünftigen Vorschläge hast!«, fuhr Amelia sie an, offensichtlich entschlossen, ihre schlechte Laune weiterhin an ihrer Dienerin auszulassen, wie so oft in den vergangenen Wochen.
Lucy wandte sich ab und ging auf das geschützte Achterdeck zurück, wo eine Mitreisende, die sich ihr als Sarah Jones vorgestellt hatte, die Szene verfolgte.
»Ich verstehe nicht, wie du das Geschimpfe dieser Frau aushältst«, sagte Sarah und warf Amelia, die sich mit hochnäsiger Miene an die Reling klammerte, einen finsteren Blick zu. Sarah hatte im Lauf der Jahre mehrere Frauen wie Amelia Divine kennen gelernt und war oft mit der gleichen Schroffheit abgefertigt worden.
Doch Sarah hatte sich aufgrund ihrer Lebensumstände mit dieser Behandlung abfi nden müssen. Weshalb Lucy solche Grobheiten hinnahm, war Sarah ein Rätsel. Das Mädchen mochte zwar eine Bedienstete sein, aber sie war ein freier Mensch - anders als Sarah, die einen Blick dafür hatte, wer zu ihren Leidensgenossinnen gehörte und wer nicht, und Lucy zählte eindeutig nicht dazu. An Lucys Stelle hätte sie dieser Miss Divine ins Gesicht gesagt, was sie von ihr hielt. Das hätte sie vermutlich die Anstellung gekostet, aber es wäre ihr die Sache wert gewesen.
»Ich brauche die Stelle bei Miss Divine«, erklärte Lucy. »Vor anderthalb Jahren bin ich zusammen mit hundertsechsundfünfzig anderen Kindern aus einem Londoner Waisenhaus nach Australien gekommen. Vom sechzehnten Lebensjahr an müssen wir für uns selbst sorgen. Ich bin erst letzten Monat sechzehn geworden und kann von Glück sagen, dass ich gleich die Anstellung bei Miss Divine gefunden habe.«
»Sie kann doch nicht viel älter sein als du«, bemerkte Sarah, den Blick noch immer auf Lucys Brotherrin gerichtet. Deren Eltern waren allem Anschein nach sehr wohlhabend und hatten ihre Tochter zur Hochnäsigkeit erzogen, was Sarahs Abneigung noch verstärkte.
»Miss Divine ist neunzehn«, sagte Lucy, »und hat bisher ein beneidenswertes Leben geführt. Doch vor ein paar Wochen hat sie ihre Eltern und ihren jüngeren Bruder verloren.«
»Oh. Was ist denn passiert?«
»Bei einem schweren Sturm in Hobart Town ist ein Eukalyptusbaum umgestürzt und hat ihre Kutsche unter sich begraben. Sie waren auf der Stelle tot. Ich wurde eingestellt, um Miss Amelia zu ihren Vormündern zu begleiten, die sie zum letzten Mal gesehen hat, als sie elf war. Die Leute wohnen in Kingscote auf Kangaroo Island und sollen sehr nett sein. Miss Amelia wird es bestimmt gut bei ihnen haben. Ich hoffe nur, dass sie mich behält. Auch wenn es nicht immer einfach mit ihr ist, so bin ich doch versorgt.« Lucy war viel zu gutmütig, als dass Amelias herrische Art ihren Zorn geweckt hätte. Lucys sanftes Wesen spiegelte sich auch in ihren freundlichen Zügen und ihrem herzlichen Lächeln.
Sarah bedachte Lucy mit einem vielsagenden Blick. Sie würde lieber Klosetts schrubben, als für jemanden wie Amelia Divine zu arbeiten!
»Hätte ich die Stelle bei Miss Amelia nicht«, sagte Lucy, »müsste ich in einer Fabrik schuften, und das würde mir nicht gefallen.« Verstohlen blickte sie auf Sarahs rote, rissige Hände, die von harter häuslicher Arbeit kündeten. Lucys Hände hatten in den Jahren im Waisenhaus ganz ähnlich ausgesehen.
Der schmerzliche Verlust, den Amelia erlitten hatte, stimmte Sarah keineswegs gnädiger. Sie war sicher, dass Amelia vermögend war, und ihre Vormünder würden sich um sie kümmern. Außerdem machte sie nicht den Eindruck, unter dem Verlust ihrer Eltern und des Bruders zu leiden. Und ihre Zukunft war verheißungsvoll, zumal sie mit ihrem blendenden Aussehen jeden Mann um den Finger wickeln konnte. Sarahs Abneigung rührte vor allem daher, dass Amelia im Gegensatz zu ihr so offensichtlich vom Schicksal bevorzugt worden war. Nur äußerlich gab es gewisse Ähnlichkeiten zwischen ihnen: Sie hatten beide langes, dunkelbraunes Haar, einen hellen Teint und braune Augen. Doch während Sarah eher ein Durchschnittsgesicht besaß, war Amelia eine Schönheit. Und ihre Herkunft hätte unterschiedlicher nicht sein können: Amelia kam aus einem reichen Elternhaus, Sarah stammte aus der englischen Arbeiterschicht. Trotzdem hatte keine Amelia Divine dieser Welt das Recht, Angehörige der Unterschicht wie Fußabtreter zu behandeln!
»Ich bin schrecklich neugierig auf die Insel«, riss Lucys Stimme Sarah aus ihren Gedanken. Das Mädchen blickte auf die dunklen Wolken, die sich über dem Festland zusammenzogen und ein Unwetter verhießen. »Einige Passagiere erzählten mir, es gäbe auf Kangaroo Island herrliche weiße Sandstrände, großen Fischreichtum und eine exotische Tierwelt. Doch Miss Amelia interessiert das alles nicht. Sie war schrecklich wütend, als sie hörte, wie wenig Menschen auf der Insel leben, denn sie liebt Partys und Einkaufsbummel über alles. Ich aber freue mich auf Kangaroo Island. Außerdem soll das Klima dort so angenehm sein wie in Van-Diemens-Land.«
Sarah zuckte mit den Schultern. Ihr war es egal, wie die Insel aussah oder welches Klima dort herrschte. Sie hatte sich ihren Aufenthaltsort nicht aussuchen können.
»Und du?«, fragte Lucy. »Was für einer Arbeit wirst du nachgehen?«
Obwohl die Frage harmlos war, hielt Sarah es für klüger, dem Mädchen nicht die ganze Wahrheit zu erzählen. »Ich werde mich auf einer Farm um Kinder kümmern, die vor einem Jahr ihre Mutter verloren haben.«
»Oh. Was ist der armen Frau denn passiert?«
»Sie ist bei der Geburt ihres siebten Kindes gestorben. Auch das Kind hat nicht überlebt«, erwiderte Sarah. Die Farmersfrau hätte ihren Mann zurückweisen sollen, dann hätten die anderen Kinder ihre Mutter noch. Dieser Gedanke ging Sarah nicht zum ersten Mal durch den Kopf. Doch sie wusste, dass die Frau keine andere Wahl gehabt hatte. Sie hatte mit dem Leben dafür bezahlt.
Lucy dachte an das Kleine, das bei der Geburt gestorben war. »Dann hast du sechs Kinder, um die du dich kümmern musst«, sagte sie. Es war eine einfältige Bemerkung, doch sie bewies, wie sehr die Erinnerung an das Waisenhaus Lucy immer noch gefangen hielt. Sie sah wieder all die kleinen Würmchen vor sich, die von ihr umsorgt worden waren, weil sie niemanden sonst auf der Welt hatten. Der Abschied von diesen Kindern hätte Lucy beinahe das Herz gebrochen. Ein Monat war seitdem vergangen, doch ihr kam es vor, als wäre es erst gestern gewesen. Die Kleinen hatten geweint und geschrien, als Lucy gegangen war, doch die Nonnen waren unerbittlich gewesen. Auch für Lucy gab es keine Ausnahme; sie hatte das Waisenhaus verlassen müssen. Noch immer litt sie unter schrecklichen Schuldgefühlen, weil sie die Kinder im Stich gelassen hatte.
Sarah registrierte mit Erleichterung, dass Lucy ihr den Schwindel geglaubt hatte und sie für eine Gouvernante hielt. Das Mädchen hatte also keinen Verdacht geschöpft. Gut so, denn die Wahrheit war wenig schmeichelhaft: Sarah war eine Strafgefangene, die unter Aufl agen aus der Haft entlassen worden war. Im Alter von vierzehn Jahren war sie wegen Diebstahls zu sieben Jahren Zuchthaus verurteilt worden. Fünf harte Jahre hatte sie im Cascade Factory abgesessen, dem Frauengefängnis in South Hobart, wo sie in der Wäscherei geschuftet hatte. Da es den australischen Farmen jedoch an Arbeitskräften fehlte, durften Häftlinge bei guter Führung ihre Reststrafe verbüßen, indem sie auf Bewährung freikamen und in der Landwirtschaft arbeiteten.
Sarah war in Hobart Town von einem Aufseher an Bord der Montebello gebracht und nach Melbourne begleitet worden, von wo sie die Fahrt mit der Gazelle fortgesetzt hatte. Sobald sie auf Kangaroo Island eingetroffen waren, musste Sarah sich bei der Polizei in der Kleinstadt Kingscote melden; dann würden die Beamten sie zu Evan Finnlays Farm im westlichen Teil der Insel bringen. Es hatte Sarah anfangs einen Schrecken eingejagt, dass der Farmer sie nicht persönlich abholte. Doch da sich seine Farm am anderen Ende der Insel befand und allem Anschein nach in einer besonders rauen, unwirtlichen Gegend lag, wollte er seine Kinder und sein Vieh nicht allein lassen.
An Bord der Gazelle befanden sich einundachtzig Passagiere und achtundzwanzig Mann Besatzung. Die Ladung bestand aus Kupfer, Mehl und Kolonialwaren. Außerdem waren sieben Pferde an Bord, davon vier Rennpferde, deren Bestimmungsort Adelaide war und deren Besitzer, die Herren Hedgerow, Albertson und Brown, mit den Siegen prahlten, die eines der Tiere beim Flemington-Pferderennen in Melbourne errungen hatte.
Eine Stunde später war der Himmel bedrohlich düster geworden, und der Wind hatte sich zu einem Sturm ausgewachsen. Die Masten und die Takelage ächzten und knarrten, und die Matrosen fürchteten, die Segel könnten losgerissen und zerfetzt werden. Das Schiff war zum Spielball der Wellen geworden, und es gab nichts, was die Mannschaft dagegen tun konnte. Als sie sich fünf Meilen südlich des Leuchtturms von Cape Willoughby auf Kangaroo Island befanden, wurde eines der Pferde in seiner Box zu Boden geschleudert, so aufgewühlt war die See. Der Kapitän befahl daraufhin, Kurs Südwest zu nehmen, aufs offene Meer hinaus, wo die Dünung flacher war.
Doch bald türmten die Wellen sich meterhoch, und erneut wurde die Gazelle von gefährlichen Sturmböen erfasst. Der Kapitän beschloss, die Insel zu umfahren, um nach Kingscote zu gelangen; dort wollte er im sicheren Hafen abwarten, bis das Wetter sich beruhigte, ehe er die Fahrt nach Adelaide fortsetzte.
»Wann sind wir denn endlich auf dieser elenden Insel?«, klagte Amelia zum hundertsten Mal. Sie war seekrank geworden, als sie sich vor dem Regen unter Deck in den Salon flüchten musste. Von der Insel war in der einsetzenden Dunkelheit und dem strömenden Regen nichts mehr zu sehen. Die Stunden vergingen. Der Sturm tobte mit unverminderter Heftigkeit. Während Sarah und Lucy Gebete sprachen, jammerte und schimpfte Amelia.
Plötzlich erblickte Kapitän Brenner das Leuchtfeuer eines anderen Leuchtturms. Offenbar waren sie vom Kurs abgekommen und der Küste sehr viel näher, als er vermutet hatte. Entsetzt beugte er sich über seine Karten. Gab es hier Riffe, die ihnen gefährlich werden konnten?
Sein Erster Maat kam zu ihm geeilt. »Wenn dort das Leuchtfeuer von Cape du Couedic ist, Sir, müssen wir sofort abdrehen!«, rief er voller Panik. Er kannte die Gegend von früheren Fahrten und wusste, dass die Riffe schon manchem Schiff zum Verhängnis geworden waren.
Der Kapitän riss das Ruder herum, doch es war zu spät. Im gleichen Augenblick, als vom Bug der Warnruf eines Seemanns ertönte, ließ ein heftiger Schlag den Rumpf erzittern. Passagiere und Besatzungsmitglieder wurden zu Boden geschleudert.
»Gott sei uns gnädig!«, stieß der Kapitän hervor. Das Schiff war auf ein Riff aufgelaufen. Das grässliche Knirschen, als der Holzrumpf über die halb unter der Wasseroberfl äche verborgenen gezackten Felsen schrammte, ging durch Mark und Bein. Die Kinder an Bord klammerten sich ängstlich schreiend an ihre weinenden Mütter. Stoßgebete wurden zum Himmel geschickt, als das Schiff von der Dünung angehoben, noch ein paar Meter weiter auf die Klippen geschoben und von den scharfkantigen Felsen regelrecht aufgespießt wurde. Ein weiterer gewaltiger Brecher warf das Schiff auf die Steuerbordseite. Passagiere und Matrosen wurden wie Strohpuppen umhergeschleudert. Ihre Schreie erstarben, als das eiskalte Wasser ins Schiffsinnere brach und die unteren Decks überfl utete. Die Maschinen wurden gestoppt, damit die Schraube nicht an den Felsen zerschellte. In das Tosen des Meeres mischten sich die markerschütternden Entsetzensschreie der Menschen. Zwei schreckliche Minuten vergingen.
Dann schien es, als hätte das Schiff sich stabilisiert. Kapitän Brenner befahl, die Rettungsboote zu Wasser zu lassen und die Fahrgäste in Sicherheit zu bringen. Sekunden später stürzte der Schornstein der Gazelle krachend um und begrub den Bug unter sich. Das Schiff konnte dem Druck nicht mehr standhalten und zerbrach in drei Teile. Jetzt lagen die Kabinen und Gesellschaftsräume in undurchdringlicher Finsternis. In Todesangst drängten die Passagiere sich aneinander. Menschen und ein Teil der Fracht wurden über Bord gespült, Rettungsboote davongeschwemmt. Dort, wo der vordere Teil des Schiffes lag, war das Wasser über den Klippen sehr viel tiefer als am Heck, das hoch emporragte. In ihrer Panik versuchten die Menschen vom vorderen und mittleren Teil des Schiffes das Heck zu erreichen, indem sie sich an einem Seil entlanghangelten, das von einem Besatzungsmitglied gesichert wurde. Doch kaum jemand schaffte es. Die meisten wurden von den Wellen ins Meer gerissen.
Lucy, Amelia und Sarah Jones befanden sich im Salon im Heck der Gazelle. Sie waren starr vor Angst. Hätten sie gewusst, dass die meisten Rettungsboote losgerissen und fortgetrieben worden waren, hätte ihr Entsetzen nicht größer sein können. Amelia konnte nur an eines denken: dass sie ihrer Familie jetzt wohl ins Grab folgen würde. Lucy war viel zu verängstigt, um sie beruhigen zu können.
Während das Heck des Schiffes in der aufgewühlten See und dem tobenden Sturm gefährlich schaukelte, versuchte die Mannschaft verzweifelt, die Menschen in Sicherheit zu bringen. Die Herren Hedgerow, Albertson und Brown mussten mit ansehen, wie drei ihrer kostbaren Rennpferde um ihr Leben schwammen und das vierte gegen die Klippen geschleudert wurde. Sie versprachen den Seeleuten hundert Pfund für einen Platz in den Rettungsbooten. William Smith, einer der Matrosen, war wütend und schockiert über so viel Feigheit und Egoismus. Er fi ng den fassungslosen Blick einer Mutter auf, die um das Leben ihrer vier kleinen Kinder bangte und das Angebot der Gentlemen ebenfalls gehört hatte.
»Frauen und Kinder zuerst!«, fuhr Smith die Herren zornig an. Zwei andere Matrosen jedoch, Ronan Ross und Tierman Kelly, waren versucht, sich auf den Handel einzulassen. Doch wozu? Tote brauchen kein Geld. Und allen war klar, dass es an ein Wunder grenzte, wenn jemand die Katastrophe überlebte.
Die Mannschaft traf sämtliche Notmaßnahmen. Die Matrosen versuchten, Leuchtraketen abzufeuern, doch es gelang ihnen nicht, weil das Pulver nass geworden war. In der Hoffnung, ein vorüberfahrendes Schiff oder der Leuchtturmwärter würden das Notsignal hören, wurde die Schiffsglocke geläutet. Doch es war eine Tat schierer Verzweifl ung. In diesem heulenden Sturm würde niemand sie hören.
Übersetzung: Sylvia Strasser
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
»Lucy! Bring mir meinen Sonnenschirm, und beeil dich gefälligst!«, rief die schöne, dunkelhaarige junge Frau ungeduldig. Anscheinend sorgte sie sich um ihre Pfi rsichhaut.
»Wäre es nicht besser, die Sonne zu meiden und den Schatten aufzusuchen, Miss Divine?«, erwiderte Lucy freundlich. Die Kraft der vom Wasser refl ektierten Sonnenstrahlen durfte man nicht unterschätzen. Niemand wusste das besser als Lucy: Da sie einen hellen Teint und blonde Haare hatte, bekam sie binnen weniger Minuten einen Sonnenbrand. Doch auf dem Achterdeck war sie vor der Sonne und dem aufkommenden Wind geschützt, während die S. S. Gazelle über die Wellenberge stampfte. Die Fahrt ging die australische Südküste entlang in Richtung Backstairs Passage, jener berüchtigten Seestraße, die Kangaroo Island - das Ziel der Reise - vom Festland trennte. Aber nach Einschätzung der Matrosen würde die Gazelle es wegen des starken Gegenwinds nicht vor Einbruch der Dunkelheit bis dorthin schaffen. Dabei war Ende September; eigentlich hätte es mild und heiter sein müssen. Stattdessen wehte ein eisiger Wind.
Amelia Divine, die an der Reling stand, funkelte ihre Bedienstete zornig an. »Mir wird schlecht von diesem schrecklichen Geschaukel, Lucy. Wenn ich mir nicht den Wind um die Nase wehen lassen kann, werde ich bald die Fische mit den widerlichen Hammelkoteletts füttern, die es zum Mittagessen gab.«
Lucy unterdrückte einen gereizten Seufzer. Seit sie vor fünf Tagen mit dem Dampfer Lady Rosalind von Van-Diemens-Land aus in See gestochen waren, beklagte Amelia sich in einem fort, und allmählich ging Lucy diese Nörgelei auf die Nerven. Es ist zu warm. Es ist zu kalt. Das Essen schmeckt grauenhaft. Die Seeleute sind unhöfl ich. Ich muss mich mit dem Pöbel vom Zwischendeck abgeben... und so weiter, und so fort. Der kurze Zwischenaufenthalt in Melbourne, wo sie an Bord der Gazelle gegangen waren, hatte Amelias Laune auch nicht bessern können.
Lucy war überzeugt, dass es viel zu windig war, um einen Sonnenschirm halten zu können. Dennoch holte sie ihn, damit ihre Ladyschaft zufrieden war. Kaum hatte sie Amelia den Schirm in die Hand gedrückt, riss eine Windbö ihn auch schon fort und wehte ihn aufs Meer hinaus. Amelia schrie verärgert auf, als der Schirm von den Wellen davongetragen wurde.
»Möchten Sie nicht lieber aus dem Wind kommen, Miss Divine?« Lucy fürchtete, eine starke Bö könnte die zarte Amelia packen und über Bord reißen.
»Ich sagte dir doch, dass mir dann schlecht wird! Sei gefälligst still, wenn du keine vernünftigen Vorschläge hast!«, fuhr Amelia sie an, offensichtlich entschlossen, ihre schlechte Laune weiterhin an ihrer Dienerin auszulassen, wie so oft in den vergangenen Wochen.
Lucy wandte sich ab und ging auf das geschützte Achterdeck zurück, wo eine Mitreisende, die sich ihr als Sarah Jones vorgestellt hatte, die Szene verfolgte.
»Ich verstehe nicht, wie du das Geschimpfe dieser Frau aushältst«, sagte Sarah und warf Amelia, die sich mit hochnäsiger Miene an die Reling klammerte, einen finsteren Blick zu. Sarah hatte im Lauf der Jahre mehrere Frauen wie Amelia Divine kennen gelernt und war oft mit der gleichen Schroffheit abgefertigt worden.
Doch Sarah hatte sich aufgrund ihrer Lebensumstände mit dieser Behandlung abfi nden müssen. Weshalb Lucy solche Grobheiten hinnahm, war Sarah ein Rätsel. Das Mädchen mochte zwar eine Bedienstete sein, aber sie war ein freier Mensch - anders als Sarah, die einen Blick dafür hatte, wer zu ihren Leidensgenossinnen gehörte und wer nicht, und Lucy zählte eindeutig nicht dazu. An Lucys Stelle hätte sie dieser Miss Divine ins Gesicht gesagt, was sie von ihr hielt. Das hätte sie vermutlich die Anstellung gekostet, aber es wäre ihr die Sache wert gewesen.
»Ich brauche die Stelle bei Miss Divine«, erklärte Lucy. »Vor anderthalb Jahren bin ich zusammen mit hundertsechsundfünfzig anderen Kindern aus einem Londoner Waisenhaus nach Australien gekommen. Vom sechzehnten Lebensjahr an müssen wir für uns selbst sorgen. Ich bin erst letzten Monat sechzehn geworden und kann von Glück sagen, dass ich gleich die Anstellung bei Miss Divine gefunden habe.«
»Sie kann doch nicht viel älter sein als du«, bemerkte Sarah, den Blick noch immer auf Lucys Brotherrin gerichtet. Deren Eltern waren allem Anschein nach sehr wohlhabend und hatten ihre Tochter zur Hochnäsigkeit erzogen, was Sarahs Abneigung noch verstärkte.
»Miss Divine ist neunzehn«, sagte Lucy, »und hat bisher ein beneidenswertes Leben geführt. Doch vor ein paar Wochen hat sie ihre Eltern und ihren jüngeren Bruder verloren.«
»Oh. Was ist denn passiert?«
»Bei einem schweren Sturm in Hobart Town ist ein Eukalyptusbaum umgestürzt und hat ihre Kutsche unter sich begraben. Sie waren auf der Stelle tot. Ich wurde eingestellt, um Miss Amelia zu ihren Vormündern zu begleiten, die sie zum letzten Mal gesehen hat, als sie elf war. Die Leute wohnen in Kingscote auf Kangaroo Island und sollen sehr nett sein. Miss Amelia wird es bestimmt gut bei ihnen haben. Ich hoffe nur, dass sie mich behält. Auch wenn es nicht immer einfach mit ihr ist, so bin ich doch versorgt.« Lucy war viel zu gutmütig, als dass Amelias herrische Art ihren Zorn geweckt hätte. Lucys sanftes Wesen spiegelte sich auch in ihren freundlichen Zügen und ihrem herzlichen Lächeln.
Sarah bedachte Lucy mit einem vielsagenden Blick. Sie würde lieber Klosetts schrubben, als für jemanden wie Amelia Divine zu arbeiten!
»Hätte ich die Stelle bei Miss Amelia nicht«, sagte Lucy, »müsste ich in einer Fabrik schuften, und das würde mir nicht gefallen.« Verstohlen blickte sie auf Sarahs rote, rissige Hände, die von harter häuslicher Arbeit kündeten. Lucys Hände hatten in den Jahren im Waisenhaus ganz ähnlich ausgesehen.
Der schmerzliche Verlust, den Amelia erlitten hatte, stimmte Sarah keineswegs gnädiger. Sie war sicher, dass Amelia vermögend war, und ihre Vormünder würden sich um sie kümmern. Außerdem machte sie nicht den Eindruck, unter dem Verlust ihrer Eltern und des Bruders zu leiden. Und ihre Zukunft war verheißungsvoll, zumal sie mit ihrem blendenden Aussehen jeden Mann um den Finger wickeln konnte. Sarahs Abneigung rührte vor allem daher, dass Amelia im Gegensatz zu ihr so offensichtlich vom Schicksal bevorzugt worden war. Nur äußerlich gab es gewisse Ähnlichkeiten zwischen ihnen: Sie hatten beide langes, dunkelbraunes Haar, einen hellen Teint und braune Augen. Doch während Sarah eher ein Durchschnittsgesicht besaß, war Amelia eine Schönheit. Und ihre Herkunft hätte unterschiedlicher nicht sein können: Amelia kam aus einem reichen Elternhaus, Sarah stammte aus der englischen Arbeiterschicht. Trotzdem hatte keine Amelia Divine dieser Welt das Recht, Angehörige der Unterschicht wie Fußabtreter zu behandeln!
»Ich bin schrecklich neugierig auf die Insel«, riss Lucys Stimme Sarah aus ihren Gedanken. Das Mädchen blickte auf die dunklen Wolken, die sich über dem Festland zusammenzogen und ein Unwetter verhießen. »Einige Passagiere erzählten mir, es gäbe auf Kangaroo Island herrliche weiße Sandstrände, großen Fischreichtum und eine exotische Tierwelt. Doch Miss Amelia interessiert das alles nicht. Sie war schrecklich wütend, als sie hörte, wie wenig Menschen auf der Insel leben, denn sie liebt Partys und Einkaufsbummel über alles. Ich aber freue mich auf Kangaroo Island. Außerdem soll das Klima dort so angenehm sein wie in Van-Diemens-Land.«
Sarah zuckte mit den Schultern. Ihr war es egal, wie die Insel aussah oder welches Klima dort herrschte. Sie hatte sich ihren Aufenthaltsort nicht aussuchen können.
»Und du?«, fragte Lucy. »Was für einer Arbeit wirst du nachgehen?«
Obwohl die Frage harmlos war, hielt Sarah es für klüger, dem Mädchen nicht die ganze Wahrheit zu erzählen. »Ich werde mich auf einer Farm um Kinder kümmern, die vor einem Jahr ihre Mutter verloren haben.«
»Oh. Was ist der armen Frau denn passiert?«
»Sie ist bei der Geburt ihres siebten Kindes gestorben. Auch das Kind hat nicht überlebt«, erwiderte Sarah. Die Farmersfrau hätte ihren Mann zurückweisen sollen, dann hätten die anderen Kinder ihre Mutter noch. Dieser Gedanke ging Sarah nicht zum ersten Mal durch den Kopf. Doch sie wusste, dass die Frau keine andere Wahl gehabt hatte. Sie hatte mit dem Leben dafür bezahlt.
Lucy dachte an das Kleine, das bei der Geburt gestorben war. »Dann hast du sechs Kinder, um die du dich kümmern musst«, sagte sie. Es war eine einfältige Bemerkung, doch sie bewies, wie sehr die Erinnerung an das Waisenhaus Lucy immer noch gefangen hielt. Sie sah wieder all die kleinen Würmchen vor sich, die von ihr umsorgt worden waren, weil sie niemanden sonst auf der Welt hatten. Der Abschied von diesen Kindern hätte Lucy beinahe das Herz gebrochen. Ein Monat war seitdem vergangen, doch ihr kam es vor, als wäre es erst gestern gewesen. Die Kleinen hatten geweint und geschrien, als Lucy gegangen war, doch die Nonnen waren unerbittlich gewesen. Auch für Lucy gab es keine Ausnahme; sie hatte das Waisenhaus verlassen müssen. Noch immer litt sie unter schrecklichen Schuldgefühlen, weil sie die Kinder im Stich gelassen hatte.
Sarah registrierte mit Erleichterung, dass Lucy ihr den Schwindel geglaubt hatte und sie für eine Gouvernante hielt. Das Mädchen hatte also keinen Verdacht geschöpft. Gut so, denn die Wahrheit war wenig schmeichelhaft: Sarah war eine Strafgefangene, die unter Aufl agen aus der Haft entlassen worden war. Im Alter von vierzehn Jahren war sie wegen Diebstahls zu sieben Jahren Zuchthaus verurteilt worden. Fünf harte Jahre hatte sie im Cascade Factory abgesessen, dem Frauengefängnis in South Hobart, wo sie in der Wäscherei geschuftet hatte. Da es den australischen Farmen jedoch an Arbeitskräften fehlte, durften Häftlinge bei guter Führung ihre Reststrafe verbüßen, indem sie auf Bewährung freikamen und in der Landwirtschaft arbeiteten.
Sarah war in Hobart Town von einem Aufseher an Bord der Montebello gebracht und nach Melbourne begleitet worden, von wo sie die Fahrt mit der Gazelle fortgesetzt hatte. Sobald sie auf Kangaroo Island eingetroffen waren, musste Sarah sich bei der Polizei in der Kleinstadt Kingscote melden; dann würden die Beamten sie zu Evan Finnlays Farm im westlichen Teil der Insel bringen. Es hatte Sarah anfangs einen Schrecken eingejagt, dass der Farmer sie nicht persönlich abholte. Doch da sich seine Farm am anderen Ende der Insel befand und allem Anschein nach in einer besonders rauen, unwirtlichen Gegend lag, wollte er seine Kinder und sein Vieh nicht allein lassen.
An Bord der Gazelle befanden sich einundachtzig Passagiere und achtundzwanzig Mann Besatzung. Die Ladung bestand aus Kupfer, Mehl und Kolonialwaren. Außerdem waren sieben Pferde an Bord, davon vier Rennpferde, deren Bestimmungsort Adelaide war und deren Besitzer, die Herren Hedgerow, Albertson und Brown, mit den Siegen prahlten, die eines der Tiere beim Flemington-Pferderennen in Melbourne errungen hatte.
Eine Stunde später war der Himmel bedrohlich düster geworden, und der Wind hatte sich zu einem Sturm ausgewachsen. Die Masten und die Takelage ächzten und knarrten, und die Matrosen fürchteten, die Segel könnten losgerissen und zerfetzt werden. Das Schiff war zum Spielball der Wellen geworden, und es gab nichts, was die Mannschaft dagegen tun konnte. Als sie sich fünf Meilen südlich des Leuchtturms von Cape Willoughby auf Kangaroo Island befanden, wurde eines der Pferde in seiner Box zu Boden geschleudert, so aufgewühlt war die See. Der Kapitän befahl daraufhin, Kurs Südwest zu nehmen, aufs offene Meer hinaus, wo die Dünung flacher war.
Doch bald türmten die Wellen sich meterhoch, und erneut wurde die Gazelle von gefährlichen Sturmböen erfasst. Der Kapitän beschloss, die Insel zu umfahren, um nach Kingscote zu gelangen; dort wollte er im sicheren Hafen abwarten, bis das Wetter sich beruhigte, ehe er die Fahrt nach Adelaide fortsetzte.
»Wann sind wir denn endlich auf dieser elenden Insel?«, klagte Amelia zum hundertsten Mal. Sie war seekrank geworden, als sie sich vor dem Regen unter Deck in den Salon flüchten musste. Von der Insel war in der einsetzenden Dunkelheit und dem strömenden Regen nichts mehr zu sehen. Die Stunden vergingen. Der Sturm tobte mit unverminderter Heftigkeit. Während Sarah und Lucy Gebete sprachen, jammerte und schimpfte Amelia.
Plötzlich erblickte Kapitän Brenner das Leuchtfeuer eines anderen Leuchtturms. Offenbar waren sie vom Kurs abgekommen und der Küste sehr viel näher, als er vermutet hatte. Entsetzt beugte er sich über seine Karten. Gab es hier Riffe, die ihnen gefährlich werden konnten?
Sein Erster Maat kam zu ihm geeilt. »Wenn dort das Leuchtfeuer von Cape du Couedic ist, Sir, müssen wir sofort abdrehen!«, rief er voller Panik. Er kannte die Gegend von früheren Fahrten und wusste, dass die Riffe schon manchem Schiff zum Verhängnis geworden waren.
Der Kapitän riss das Ruder herum, doch es war zu spät. Im gleichen Augenblick, als vom Bug der Warnruf eines Seemanns ertönte, ließ ein heftiger Schlag den Rumpf erzittern. Passagiere und Besatzungsmitglieder wurden zu Boden geschleudert.
»Gott sei uns gnädig!«, stieß der Kapitän hervor. Das Schiff war auf ein Riff aufgelaufen. Das grässliche Knirschen, als der Holzrumpf über die halb unter der Wasseroberfl äche verborgenen gezackten Felsen schrammte, ging durch Mark und Bein. Die Kinder an Bord klammerten sich ängstlich schreiend an ihre weinenden Mütter. Stoßgebete wurden zum Himmel geschickt, als das Schiff von der Dünung angehoben, noch ein paar Meter weiter auf die Klippen geschoben und von den scharfkantigen Felsen regelrecht aufgespießt wurde. Ein weiterer gewaltiger Brecher warf das Schiff auf die Steuerbordseite. Passagiere und Matrosen wurden wie Strohpuppen umhergeschleudert. Ihre Schreie erstarben, als das eiskalte Wasser ins Schiffsinnere brach und die unteren Decks überfl utete. Die Maschinen wurden gestoppt, damit die Schraube nicht an den Felsen zerschellte. In das Tosen des Meeres mischten sich die markerschütternden Entsetzensschreie der Menschen. Zwei schreckliche Minuten vergingen.
Dann schien es, als hätte das Schiff sich stabilisiert. Kapitän Brenner befahl, die Rettungsboote zu Wasser zu lassen und die Fahrgäste in Sicherheit zu bringen. Sekunden später stürzte der Schornstein der Gazelle krachend um und begrub den Bug unter sich. Das Schiff konnte dem Druck nicht mehr standhalten und zerbrach in drei Teile. Jetzt lagen die Kabinen und Gesellschaftsräume in undurchdringlicher Finsternis. In Todesangst drängten die Passagiere sich aneinander. Menschen und ein Teil der Fracht wurden über Bord gespült, Rettungsboote davongeschwemmt. Dort, wo der vordere Teil des Schiffes lag, war das Wasser über den Klippen sehr viel tiefer als am Heck, das hoch emporragte. In ihrer Panik versuchten die Menschen vom vorderen und mittleren Teil des Schiffes das Heck zu erreichen, indem sie sich an einem Seil entlanghangelten, das von einem Besatzungsmitglied gesichert wurde. Doch kaum jemand schaffte es. Die meisten wurden von den Wellen ins Meer gerissen.
Lucy, Amelia und Sarah Jones befanden sich im Salon im Heck der Gazelle. Sie waren starr vor Angst. Hätten sie gewusst, dass die meisten Rettungsboote losgerissen und fortgetrieben worden waren, hätte ihr Entsetzen nicht größer sein können. Amelia konnte nur an eines denken: dass sie ihrer Familie jetzt wohl ins Grab folgen würde. Lucy war viel zu verängstigt, um sie beruhigen zu können.
Während das Heck des Schiffes in der aufgewühlten See und dem tobenden Sturm gefährlich schaukelte, versuchte die Mannschaft verzweifelt, die Menschen in Sicherheit zu bringen. Die Herren Hedgerow, Albertson und Brown mussten mit ansehen, wie drei ihrer kostbaren Rennpferde um ihr Leben schwammen und das vierte gegen die Klippen geschleudert wurde. Sie versprachen den Seeleuten hundert Pfund für einen Platz in den Rettungsbooten. William Smith, einer der Matrosen, war wütend und schockiert über so viel Feigheit und Egoismus. Er fi ng den fassungslosen Blick einer Mutter auf, die um das Leben ihrer vier kleinen Kinder bangte und das Angebot der Gentlemen ebenfalls gehört hatte.
»Frauen und Kinder zuerst!«, fuhr Smith die Herren zornig an. Zwei andere Matrosen jedoch, Ronan Ross und Tierman Kelly, waren versucht, sich auf den Handel einzulassen. Doch wozu? Tote brauchen kein Geld. Und allen war klar, dass es an ein Wunder grenzte, wenn jemand die Katastrophe überlebte.
Die Mannschaft traf sämtliche Notmaßnahmen. Die Matrosen versuchten, Leuchtraketen abzufeuern, doch es gelang ihnen nicht, weil das Pulver nass geworden war. In der Hoffnung, ein vorüberfahrendes Schiff oder der Leuchtturmwärter würden das Notsignal hören, wurde die Schiffsglocke geläutet. Doch es war eine Tat schierer Verzweifl ung. In diesem heulenden Sturm würde niemand sie hören.
Übersetzung: Sylvia Strasser
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
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Autoren-Porträt von Elizabeth Haran
Elizabeth Haran wurde in Simbabwe geboren. Später zog die Familie nach England und wanderte von dort nach Australien aus. Heute lebt sie mit ihrem Mann in einem Küstenvorort von Adelaide in Südaustralien. Sie hat zwei erwachsene Söhne. Ihre Leidenschaft für das Schreiben entdeckte sie mit Anfang dreißig; zuvor arbeitete sie als Model, besaß eine Gärtnerei und betreute lernbehinderte Kinder. Ihre fesselnden Australienromane erfreuen einen immer größer werdenden Kreis von Leserinnen und Lesern.
Bibliographische Angaben
- Autor: Elizabeth Haran
- 1181 Seiten, Maße: 12,5 x 18,7 cm, Taschenbuch
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3868008225
- ISBN-13: 9783868008227
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