Die Insel der tausend Quellen
London, 1732: Nach dem Tod ihrer ersten großen Liebe geht die Kaufmannstochter Nora eine Vernunftehe mit einem verwitweten Zuckerrohrpflanzer auf Jamaika ein. Aber das Leben in der Karibik gestaltet sich nicht so, wie Nora es sich erträumt hat....
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Produktinformationen zu „Die Insel der tausend Quellen “
London, 1732: Nach dem Tod ihrer ersten großen Liebe geht die Kaufmannstochter Nora eine Vernunftehe mit einem verwitweten Zuckerrohrpflanzer auf Jamaika ein. Aber das Leben in der Karibik gestaltet sich nicht so, wie Nora es sich erträumt hat. Der Umgang der Plantagenbesitzer mit den Sklaven schockiert sie zutiefst, und sie entschließt sich, auf ihrer Zuckerrohrfarm manches zum Besseren zu wenden. Überraschend unterstützt sie dabei ihr erwachsener Stiefsohn Doug, als er aus Europa anreist. Allerdings versetzt seine Rückkehr vieles in Aufruhr – vor allem Noras Gefühle. Doch dann verliert Nora durch ein tragisches Ereignis plötzlich alles, bis auf ihr Leben.
Eine mitreißende Geschichte über Liebe und Hass, Vertrauen und Verrat und ein spannendes Schicksal vor exotischer Kulisse!
Klappentext zu „Die Insel der tausend Quellen “
Nora warf den ersten Blick auf die Insel und spürte nur noch Verzauberung. Niemals, niemals zuvor hatte sie so etwas Schönes gesehen, sie konnte ihre Begeisterung kaum bezähmen. Das Schiff schob sich in sanften Bewegungen über leichte Wellen. Das Meer war an diesem Tag sattgrün, und die in der Sonne glitzernden Wellen schwappten sanft gegen einen schneeweißen Strand.Unmittelbar dahinter erhob sich üppiges Grün, die versprochenen Mangrovenwälder. Dichter Dschungel, verheißungsvoll und beängstigend, und doch seltsam bekannt. Nora hätte all das umarmen können, sie wollte lachen und singen - allerdings erwartete Elias sicher, dass sie Würde bewahrte. Er schaute schon mehr als missbilligend auf Ruth Stevens, die ungläubig dastand und ihrem Entsetzen Ausdruck verlieh.
»Aber das ist ja Dschungel, John! Das ist nur Strand und ... und Bäume ... bestimmt gibt es Eingeborene ... Ich ... ich hatte gedacht, Kingston wäre eine Stadt ...«
Der Reverend versuchte, seine Frau zu beruhigen, während Elias in ruhigem Stolz auf Nora blickte, die aufrecht und schön wie eine Königin ihr neues Reich in Augenschein nahm. Nora hatte es geschafft. Sie hatte ihre Insel gefunden.
Lese-Probe zu „Die Insel der tausend Quellen “
Die Insel der tausend Quellen von Sarah LarkKAPITEL 1
... mehr
»Was für ein Wetter!«
Nora Reed schüttelte sich, bevor sie aus dem Haus ihres Vaters trat und auf die davor wartende Kutsche zueilte. Der alte Kutscher lächelte, als sie trotz hochhackiger Seidenschuhe behände über die Pfützen hüpfte, um ihr Kleid nicht zu beschmutzen. Der voluminöse Reifrock entblößte weit mehr von ihren Knöcheln und Waden, als schicklich war, aber Nora hatte vor Peppers keine Hemmungen. Er war seit Jahren im Dienst ihrer Familie und kannte sie, seit er sie weiland zur Taufe gefahren hatte.
»Wo soll's denn hingehen?« Lächelnd hielt der Kutscher Nora den Schlag des hohen, schwarz lackierten Gefährts auf. Die Türen waren mit einer Art Wappen verziert: kunstvoll ineinander verschlungene Initialen - T und R für Thomas Reed, Noras Vater. Nora schlüpfte rasch ins Trockene und ließ sofort die Kapuze ihres weiten Mantels sinken. Ihre Zofe hatte an diesem Morgen dunkelgrüne Bänder in das goldbraune Haar geflochten, passend zu Noras vorn offenem sattgrünen Mantelkleid. Dem breiten Zopf, der ihr über den Rücken fiel, hätte der Regen jedoch auch ohne Schutz nichts anhaben können. Nora pflegte ihr Haar nicht weiß zu pudern, wie die Mode es vorschrieb. Sie bevorzugte es natürlich und freute sich, wenn Simon ihre Locken mit flüssigem Bernstein verglich. Die junge Frau lächelte versonnen beim Gedanken an ihren Liebsten. Vielleicht sollte sie doch im Kontor ihres Vaters vorbeischauen, bevor sie Lady Wentworth besuchte.
»Erst mal runter zur Themse, bitte«, gab sie dem Kutscher eher vage Anweisungen. »Ich will zu den Wentworths ... Sie wissen schon, das große Haus im Geschäftsviertel.«
Lord Wentworth hatte sich gleich in der Gegend der Kontore und Handelshäuser an der Themse angesiedelt. Der Kontakt mit den Kaufleuten und Zuckerimporteuren war ihm offensichtlich wichtiger als eine Residenz in einem der vornehmeren Wohnviertel.
Peppers nickte. »Ihren Vater möchten Sie nicht besuchen?«, erkundigte er sich.
Der alte Diener kannte Nora gut genug, um in ihrem schmalen, ausdrucksstarken Gesicht zu lesen. In den letzten Wochen bat sie ihn auffallend oft, sie hinunter zum Reed'schen Kontor zu kutschieren -auch wenn es eigentlich ein Umweg war. Und natürlich drängte es sie dabei nicht so sehr, ihren Vater zu sehen, sondern eher Simon Greenborough, den jüngsten seiner Sekretäre. Peppers ahnte, dass die junge Frau sich auch mit dem jungen Mann traf, wenn sie spazieren ging oder ausritt, aber er gedachte nicht, sich einzumischen. Zweifellos wäre es seinem Herrn nicht recht, wenn Nora mit einem seiner Angestellten tändelte. Doch Peppers mochte seine junge Herrin - Nora verstand es seit jeher, das Personal ihres Vaters um den Finger zu wickeln -, und er gönnte ihr die Schwärmerei für den hübschen, dunkelhaarigen Schreiber. Bislang hatte Nora auch niemals ernsthafte Heimlichkeiten vor ihrem Vater gehabt. Thomas Reed hatte sie praktisch allein aufgezogen, nachdem ihre Mutter früh verstorben war, und die beiden hatten ein enges, herzliches Verhältnis. Peppers glaubte nicht, dass sie dies für eine Liebelei aufs Spiel setzen würde.
»Mal sehen«, meinte Nora jetzt, und ihr Gesicht nahm einen spitzbübischen Ausdruck an. »Kann jedenfalls nicht schaden, wenn wir vorbeifahren. Fahren wir einfach ein bisschen spazieren! «
Peppers nickte, schloss die Tür hinter ihr und stieg auf den Bock. Dabei schüttelte er unwillig den Kopf. Bei allem Verständnis für Noras junge Liebe - zum Spazierenfahren lud das Wetter nun wirklich nicht ein. Es regnete in Strömen, und das Wasser schoss sturzbachartig durch die Straßen der Stadt, Unrat und Müll mit sich reißend. Regen und Straßenschmutz verbanden sich zu einer übel riechenden Brühe, die unter den Rädern der Kutschen gurgelte, und nicht selten verfingen sich weggespülte Bretter, von den Ladenfronten gerissene Schilder oder gar Tierkadaver in den Speichen.
Peppers fuhr langsam, um keinen Unfall zu riskieren und die Laufburschen und Passanten zu schonen, die trotz des Wetters zu Fuß unterwegs waren. Sie ergriffen vor dem aufspritzenden Wasser die Flucht, wenn eine Kutsche vorbeikam, schafften es aber nicht immer, dem stinkenden unfreiwilligen Duschbad zu entkommen. Nun musste Peppers seine Pferde auch nicht zurückhalten. Die Tiere gingen nur unwillig vorwärts, sie schienen sich unter dem Regen ducken zu wollen - ebenso wie der schmale junge Mann, offensichtlich ein Botenjunge, der aus dem Kontor des Thomas Reed heraustrat, als Peppers seine Kutsche vorbeilenkte. Peppers empfand Mitgefühl für den Armen, aber er wurde nun von Nora abgelenkt, die heftig gegen das Fenster zwischen Kutsche und Bock klopfte.
»Peppers! So halten Sie doch an, Peppers! Das ist ...«
Simon Greenborough hatte gehofft, dass sich das Wetter bessern würde. Aber als er aus dem Halbdunkel des Kontors auf die Straße trat, belehrte ihn der Anblick der triefenden Pferde vor den geschlossenen Droschken eines Besseren. Simon versuchte, den Kragen seines fadenscheinigen Mantels hochzuziehen, um den Spitzenbesatz seines letzten brauchbaren Hemdes zu schützen. Er pflegte ihn an jedem Abend selbst zu plätten, um ihn halbwegs in Form zu halten. Jetzt war er aber in kürzester Zeit durchnässt, ebenso wie Simons spärlich gepuderte Frisur. Das Wasser lief an dem kurzen Zopf herab, zu dem er sein dichtes dunkles Haar zusammengefasst hatte. Simon sehnte sich nach einer Kopfbedeckung, aber darauf pflegte er schon deshalb zu verzichten, weil er nicht genau wusste, was für seinen neuen Stand als Schreiber schicklich war. Ganz sicher nicht der Dreispitz des jungen Adligen, selbst wenn sein einziger Hut noch vorzeigbar gewesen wäre. Und auch nicht die aufwändige Perücke, die sein Vater getragen hatte und der Gerichtsvollzieher ...
Simon versuchte, nicht weiter darüber nachzudenken. Er hustete, als ihm das Wasser den Rücken herunterrann. Wenn er nicht bald aus dem Platzregen herauskam, würden auch sein Mantel und seine Kniehosen völlig durchnässt sein. Seine alten Schnallenschuhe hielten der Nässe schon jetzt nicht stand, das Leder quietschte bei jedem Schritt. Simon versuchte, schneller zu gehen. Letztlich waren es ja nur ein paar Blocks bis in die Thames Street, und vielleicht konnte er gleich auf die Antwort auf den Brief warten, den er sich erboten hatte zu befördern. Bis dahin würde der Regen hoffentlich nachlassen ...
Simon bemerkte die von hinten herannahende Kutsche erst, als er Noras helle Stimme hörte.
»Simon! Was um Himmels willen machst du hier? Du holst dir noch den Tod bei dem Wetter! Was fällt meinem Vater ein, dich den Laufburschen spielen zu lassen?«
Der Kutscher hatte sein nobles Gefährt neben Simon zum Stehen gebracht, zweifellos auf Noras Anweisung. Die junge Frau wartete allerdings nicht, bis er vom Bock gestiegen war, um ihr den Schlag aufzuhalten. Stattdessen stieß sie die Tür schwungvoll von innen auf und klopfte auffordernd auf den Sitz neben sich.
»Komm rein, Simon, rasch! Der Wind weht ja den ganzen Regen auf die Polster.«
Simon blickte unschlüssig ins Innere der Kutsche, und auch der Kutscher schaute etwas betreten auf den jungen Mann, der nass wie eine Katze am Bordstein stand. Schließlich ergriff er das Wort.
»Es wäre deinem Vater sicher nicht recht ...«
»Es wäre Ihrem Vater sicher nicht recht, Miss Reed ...«
Simon und der Kutscher sprachen die Worte fast zur gleichen Zeit aus und blickten auch gleichermaßen indigniert, als Nora sie mit einem hellen Lachen quittierte.
»Nun sei mal vernünftig, Simon! Egal, wo du hinwillst, es kann meinem Vater auch nicht recht sein, wenn sein Bote da ankommt, als habe er eben die Themse durchschwommen. Und Peppers wird nichts verraten, nicht, Peppers?«
Nora lächelte ihrem Kutscher verständnisheischend zu. Peppers seufzte und öffnete den Kutschenschlag weit für ihren Gast. »Bitte, Mister ... äh ... Mylord ...« Alles in Peppers sträubte sich, diese unglückliche Gestalt mit einem Adelstitel anzureden.
Simon of Greenborough zuckte denn auch die Schultern. »›Mister‹ ist in Ordnung. Der Sitz im House of Lords ist ohnehin verkauft, ob ich mich nun Lord oder Viscount nenne oder wie auch immer.«
Es klang bitter, und Simon schalt sich dafür, dem Diener Einblick in seine Familienverhältnisse gewährt zu haben. Aber womöglich wusste der ohnehin schon zu viel über ihn. Nora betrachtete das Personal in ihrem Haus in Mayfair als ihre erweiterte Familie. Wer wusste, was sie ihren Zofen oder Hausmädchen alles erzählt hatte?
Simon ließ sich aufatmend in die Polster neben sie gleiten. Er hustete wieder, dieses Wetter schlug ihm auf die Lunge. Nora schaute den jungen Mann halb strafend, halb bedauernd an. Dann griff sie kurz entschlossen nach ihrem Schal und rubbelte sein Haar trocken. Natürlich hinterließ das Puderspuren auf der Wolle. Nora betrachtete sie kopfschüttelnd.
»Dass du da aber auch immer dieses Zeug draufgibst!«, rügte sie. »Eine dümmliche Mode, du hast so schönes dunkles Haar, warum es weiß färben wie bei einem Greis? Gott sei Dank kommst du nicht auch noch auf die Idee, so eine Perücke aufzusetzen ...«
Simon lächelte. Er hätte sich die Perücke gar nicht leisten können, aber Nora weigerte sich beharrlich, seine Armut auch nur zu bemerken. Wie sie alle anderen Unterschiede zwischen ihrer eigenen Stellung und der Simons ebenso konsequent leugnete. Ihr war es egal, ob er adlig war und sie bürgerlich, ob er völlig verarmt war, während ihr Vater zu den reichsten Kaufleuten des Empire zählte, und ob er in einem Schloss wohnte oder im Kontor ihres Vaters als schlecht bezahlter Schreiber diente. Nora Reed liebte Simon Greenborough, und sie ließ keinen Zweifel daran, dass diese Liebe irgendwann Erfüllung finden würde. Jetzt lehnte sie sich vertrauensselig an seine Schulter, während die Kutsche über Londons Kopfsteinpflaster rumpelte.
Simon warf dagegen einen nervösen Blick in Richtung Kutschbock, bevor er sie lächelnd in die Arme nahm und küsste. Nora hatte sich an diesem regnerischen Tag natürlich für eine geschlossene Kutsche entschieden. Das Fenster, das ihr ermöglichte, Peppers anzusprechen, war winzig und obendrein beschlagen. Der Kutscher würde nichts von dem mitbekommen, was sich drinnen tat. Nora erwiderte Simons Kuss denn auch ohne jede Hemmung. Sie strahlte, als sie sich von ihm löste.
»Ich hab dich so vermisst!«, flüsterte sie und schmiegte sich an ihn, ohne Rücksicht darauf, dass ihr Umhang dabei nass wurde und die Spitzen am Ausschnitt ihres Kleides zerknitterten. »Wie lange ist es her?«
»Zwei Tage«, antwortete Simon sofort und streichelte zärtlich über den Ansatz ihres Haars und ihre Schläfe. Er konnte sich an den feinen Zügen und dem Lächeln der zierlichen jungen Frau kaum sattsehen, und die Tage ohne sie waren ihm ebenso dunkel und trostlos erschienen wir ihr. Nora und ihr Vater hatten das Wochenende auf dem Landsitz von Freunden verbracht, aber es hatte auch da schon anhaltend geregnet. Die Liebenden hätten sich also sowieso nicht heimlich treffen können. Schließlich gab es keinen öffentlichen oder gar privaten Raum, in dem ein so unpassendes Paar unbemerkt miteinander hätte plaudern können - vom Austausch von Zärtlichkeiten gar nicht zu reden. Wenn das Wetter schön war, trafen sich die beiden im St. James' Park, obwohl auch das nicht ungefährlich war. Auf den bevölkerten Wegen konnten sie von Noras Freunden und Bekannten gesehen werden, während in den verschwiegenen Nischen hinter dunklen Hecken oft auch dunkle Gestalten
lauerten ... Und nun wurde es obendrein Herbst.
»Wir müssen unbedingt mit Vater reden!«, erklärte Nora, der wohl ähnliche Gedanken durch den Kopf gingen. »Das geht nicht mehr mit den Spaziergängen im Park, das Wetter wird doch immer schlechter. Vater muss gestatten, dass du mir in aller Offenheit den Hof machst! Schon, weil ich dich herumzeigen möchte. Meinen wunderschönen Lord ...«
Sie lächelte Simon spitzbübisch an, und er verlor sich wie so oft im Anblick ihres schmalen, klugen Gesichts und ihrer grünen Augen, in denen ein Kaleidoskop von helleren und dunkleren Lichtern aufzublitzen schien, wenn Nora erregt war. Er liebte ihr goldbraunes Haar, vor allem, wenn sie es mit Blumen schmückte. Orangenblüten ... Weder Simon noch Nora hatten je einen Orangenbaum gesehen, aber sie kannten die Blüten von Abbildungen, und sie träumten davon, sie eines Tages gemeinsam zu pflücken.
»Dein Vater wird das nie erlauben ...«, erwiderte Simon pessimistisch und zog Nora näher an sich. Es war schön, sie zu spüren, sich vorzustellen, dies sei seine eigene Kutsche, in der er seine Liebste heimbrachte, auf einen Herrensitz in der Sonne ...
»Wo wollen Sie überhaupt hin?«
Peppers knappe Frage ließ die Liebenden auseinanderstieben. Dabei war es unwahrscheinlich, dass er viel gesehen hatte. Er hatte sich nur halb zu seinen Passagieren umgewandt, und der Verkehr auf Londons Straßen, noch dazu bei diesem Wetter, erforderte seine ganze Aufmerksamkeit.
»In ... in die Thames Street«, antwortete Simon. »Zum Kontor von Mr. Roundbottom!«
Nora lächelte dem Kutscher und Simon gleichermaßen vergnügt zu. »Ach, da kommen wir praktisch vorbei!«, freute sie sich. »Ich bin auf dem Weg zu Lady Wentworth, um das Buch zurückzugeben.«
Sie zog ein kleines, hübsch gebundenes Buch aus ihrem spitzenbesetzten Beutel und hielt es Simon hin.
»Barbados«, die Falte, die stets auf Simons Stirn erschien, wenn er sich sorgte, glättete sich, »ich hätte es auch gern gelesen.«
Nora nickte. »Weiß ich. Aber ich muss es zurückbringen, die Wentworths reisen morgen ab, auf die Jungferninseln. Sie haben da eine Plantage, weißt du. Sie waren nur hier, um ...«
Simon hörte nicht mehr zu, er blätterte bereits in dem Büchlein. Warum die Wentworths in England gewesen waren, konnte er sich denken. Wahrscheinlich hatten sie ihre karibischen Besitztümer nur verlassen, um einen Parlamentssitz zu kaufen oder sich um einen zu kümmern, der ihrer Familie bereits gehörte. Die Zuckerrohrpflanzer aus Jamaika, Barbados und anderen Anbaugebieten in der Karibik wachten eifersüchtig über die Preisbindungen ihrer Produkte und die Einfuhrverbote aus anderen Ländern. Zu diesem Zweck festigten sie ihre Macht durch den Ankauf von Sitzen im House of Lords, angeboten von verarmten Adligen wie Simons eigener Familie. Soweit Simon wusste, hatte die Vertretung der Grafschaft Greenborough heute ein Mitglied der Familie Codrington inne, der ein großer Teil der kleinen Karibikinsel Barbuda gehörte.
Aber auch Nora hielt sich nicht lange mit Geschichten über die Familie Wentworth auf. Stattdessen schaute sie erneut in das Buch, das sie schon mehrmals gelesen hatte.
»Ist das nicht hübsch?«, kommentierte sie eine Zeichnung.
Simon hatte eben eine Seite aufgeschlagen, deren Text eine Radierung vom Strand von Barbados illustrierte. Palmen ... Sandstrand, der dann unmittelbar in dichten Urwald überzugehen schien ... Nora beugte sich eifrig darüber und kam Simon dabei so nahe, dass er den Duft ihres Haars aufnehmen konnte: kein Talkumpuder, Rosenwasser.
»Und da steht unsere Hütte!«, träumte sie und wies auf eine Art Lichtung. »Gedeckt mit Palmenzweigen ...«
Simon lächelte. »Was das angeht, wirst du dich aber irgendwann entscheiden müssen«, neckte er sie. »Willst du jetzt mit den Eingeborenen in ihren Hütten leben oder eine Tabakplantage für deinen Vater führen?«
Nora und Simon waren sich einig darüber, dass England überhaupt und London im Besonderen nicht die Orte waren, an denen sie ihr Leben verbringen wollten. Nora verschlang alle Literatur über die Kolonien, derer sie habhaft werden konnte, und Simon träumte über den Briefen, die er für ihren Vater schrieb, von Jamaika, Barbados oder Cooper Island. Thomas Reed importierte Zuckerrohr, Tabak und Baumwolle aus allen Teilen der Erde, die sich das britische Empire im letzten Jahrhundert einverleibt hatte. Er stand in regem Kontakt mit den dortigen Pflanzern, und Nora hatte insofern auch schon einen Plan zur Verwirklichung ihrer Wünsche. Gut, in England gab es für sie und Simon vielleicht keine Zukunft. Aber wenn sie eine Zweigstelle des Reed'schen Geschäftes irgendwo in den Kolonien eröffneten ... Aktuell war Barbados ihr Traumland.
Aber sie hätte sich auch überall sonst angesiedelt, wo nur täglich die Sonne schien.
»Da wären wir ... Miss Nora, Sir ...« Peppers verhielt die Kutsche und machte Anstalten, die Türen für Simon zu öffnen. »48, Thames Street.«
Neben dem Eingang des Stadthauses prangte ein goldenes Schild, das auf Mr. Roundbottoms Kontor hinwies. Simon schlug das Buch bedauernd zu und schob sich hinaus in den Regen.
»Vielen Dank für die Mitfahrgelegenheit, Miss Reed«, verabschiedete er sich höflich von Nora. »Ich hoffe, Sie bald wiederzusehen. «
»Die Freude war ganz auf meiner Seite, Viscount Greenborough «, erwiderte Nora ebenso artig. »Aber warten Sie im Kontor, bis es aufhört zu regnen. Ich möchte nicht, dass Sie sich auf dem Rückweg verkühlen.«
Peppers verdrehte vielsagend die Augen. Bisher fand er Noras Liebelei eher erheiternd als besorgniserregend, aber wenn das so weiterging, manövrierte sich seine kleine Herrin in eine Geschichte hinein, die nicht glücklich enden konnte. Thomas Reed würde seine Tochter auf keinen Fall mit seinem Schreiber vermählen, egal, ob der irgendwann mal einen Adelstitel getragen hatte oder ihn sogar noch trug.
Simon quälten ähnliche Gedanken, als er schließlich zurück an seinen Arbeitsplatz lief. Der Regen hatte nachgelassen, aber seine Kleider waren längst noch nicht getrocknet, und auf dem Korridor, auf dem Mr. Roundbottom ihn hatte warten lassen, war es obendrein zugig und kalt gewesen. Simon fror bis ins Mark - die hartnäckige Erkältung, die er sich schon im Frühjahr in dem winzigen, ungezieferverseuchten Zimmer geholt hatte, das er im Eastend von London gemietet hatte, würde ihn noch lange quälen. Was für ein Abstieg nach Greenborough Manor, und natürlich auch nicht angemessen für einen Angestellten in einem angesehenen Kontor.
Thomas Reed entlohnte seine Schreiber nicht üppig, aber er war auch kein Ausbeuter. Gewöhnlich hätte Simons Verdienst für eine saubere kleine Wohnung ausgereicht, die älteren Sekretäre ernährten davon sogar eine Familie - bescheiden, aber annehmbar. Simon konnte allerdings nicht hoffen, irgendwann auch einmal eine Familie gründen zu können. Wenn nicht ein Wunder geschah, würde er sein Leben lang für die Schulden schuften müssen, die sein Vater angehäuft hatte, und das, obwohl bereits alles verkauft war, was die Familie an Wertsachen besessen hatte.
Der Absturz war für Simons Mutter, seine Schwester und ihn völlig überraschend gekommen. Natürlich wusste die Familie, dass es mit den Finanzen von Lord Greenborough nicht allzu gut stand. Der Verkauf des Parlamentssitzes stand schon lange im Raum, wobei Simon im Stillen längst zu dem Ergebnis gekommen war, dass dies der Entscheidungsfähigkeit des House of Lords nur guttun konnte. Sein Vater hatte seinen Sitz nur selten eingenommen, und wenn, dann konnte er den Debatten, wie man sich erzählte, ebenso wenig folgen wie zu Hause den Tiraden seiner Frau, die nie müde wurde, ihm seine Trunk- und Verschwendungssucht vorzuwerfen. John Peter Greenborough war weit häufiger betrunken gewesen als nüchtern - aber seine Familie hatte keine Ahnung davon, dass er obendrein versucht hatte, seine angeschlagenen Finanzen am Spieltisch wieder in Ordnung zu bringen.
Als er schließlich starb - offiziell ein Sturz bei der Reitjagd, aber tatsächlich die Folge davon, dass er zu betrunken war, um sich auch nur im Schritt auf dem Pferd zu halten -, meldeten mannigfaltige Gläubiger ihre Ansprüche an. Lady Greenborough verkaufte den Parlamentssitz und damit im Prinzip auch ihr Land und den Titel ihres Sohnes. Sie trennte sich von ihrem Schmuck und ihrem Silber, verpfändete ihr Haus und musste es schließlich verkaufen. Die Familie Codrington überließ den Greenboroughs aus reiner Gnade ein Cottage am Rande des Dorfes, das immer noch ihren Namen trug. Aber Geld verdienen konnte Simon dort nicht. Inzwischen war zu den Schulden seines Vaters auch noch die Mitgift für seine Schwester gekommen, die man Gott sei Dank halbwegs standesgemäß hatte verheiraten können. Simons Zukunft dagegen war zerstört. In seinen dunkelsten Stunden fragte er sich, ob er die Liebe Noras, dieser ebenso schönen wie reichen jungen Frau, als ein Glück betrachten sollte oder ob sie nur eine weitere Prüfung dar- stellte.
Nora Reed war überzeugt, dass die Verwirklichung ihrer Träume nur eine Frage der Zeit war. Ihre Hoffnung, Thomas Reed würde Simon mit offenen Armen als Schwiegersohn aufnehmen, vermochte dieser allerdings nicht zu teilen. Im Gegenteil, eher würde der Geschäftsmann ihn als Mitgiftjäger aus dem Haus weisen. Dabei war Simon bereit, sehr hart für die Verwirklichung seiner Träume zu arbeiten. Er war ein ernsthafter junger Mann, hatte sich stets einen Posten in einer der Kolonien gewünscht und versucht, sich so gut wie möglich darauf vorzubereiten. Simon war kein großer Reiter, Jäger und Fechter - für die Zerstreuungen des Adelsstandes zeigte er weder besondere Neigungen noch Begabungen, ganz abgesehen von der finanziellen Situation seiner Familie. Aber er war klug und hochgebildet. Simon sprach mehrere Sprachen, war verbindlich und höflich und konnte im Gegensatz zu den meisten Peers auch gut mit Zahlen umgehen. Auf jeden Fall hätte er es sich durchaus zugetraut, ein Handelshaus wie das des Thomas Reed irgendwo in Übersee zu vertreten. Simon war bereit, sich hochzudienen, jeglicher Dünkel war ihm fremd. Man musste ihm nur eine Chance geben! Aber ob Thomas Reed seine Liebe zu Nora zum Anlass dazu nahm? Wahrscheinlich würde er Simon eher verdächtigen, seine Tochter als Sprungbrett für seine Karriere benutzen zu wollen.
Simon zweifelte jedenfalls daran, dass es richtig war, sich Thomas Reed so bald schon zu offenbaren. Es wäre auf jeden Fall besser zu warten, bis er sich selbst seine Achtung erworben und in eine höhere Position aufgestiegen war. Nora war erst siebzehn, und bisher machte ihr Vater keine Anstalten, sie zu vermählen. Simon hatte sicher noch ein paar Jahre Zeit, um sich so weit zu etablieren, dass er als Schwiegersohn des Kaufmanns in Frage kam.
Wenn er nur gewusst hätte, wie er das anstellen sollte!
© 2011 by Bastei Lübbe GmbH & Co. KG, Köln
»Was für ein Wetter!«
Nora Reed schüttelte sich, bevor sie aus dem Haus ihres Vaters trat und auf die davor wartende Kutsche zueilte. Der alte Kutscher lächelte, als sie trotz hochhackiger Seidenschuhe behände über die Pfützen hüpfte, um ihr Kleid nicht zu beschmutzen. Der voluminöse Reifrock entblößte weit mehr von ihren Knöcheln und Waden, als schicklich war, aber Nora hatte vor Peppers keine Hemmungen. Er war seit Jahren im Dienst ihrer Familie und kannte sie, seit er sie weiland zur Taufe gefahren hatte.
»Wo soll's denn hingehen?« Lächelnd hielt der Kutscher Nora den Schlag des hohen, schwarz lackierten Gefährts auf. Die Türen waren mit einer Art Wappen verziert: kunstvoll ineinander verschlungene Initialen - T und R für Thomas Reed, Noras Vater. Nora schlüpfte rasch ins Trockene und ließ sofort die Kapuze ihres weiten Mantels sinken. Ihre Zofe hatte an diesem Morgen dunkelgrüne Bänder in das goldbraune Haar geflochten, passend zu Noras vorn offenem sattgrünen Mantelkleid. Dem breiten Zopf, der ihr über den Rücken fiel, hätte der Regen jedoch auch ohne Schutz nichts anhaben können. Nora pflegte ihr Haar nicht weiß zu pudern, wie die Mode es vorschrieb. Sie bevorzugte es natürlich und freute sich, wenn Simon ihre Locken mit flüssigem Bernstein verglich. Die junge Frau lächelte versonnen beim Gedanken an ihren Liebsten. Vielleicht sollte sie doch im Kontor ihres Vaters vorbeischauen, bevor sie Lady Wentworth besuchte.
»Erst mal runter zur Themse, bitte«, gab sie dem Kutscher eher vage Anweisungen. »Ich will zu den Wentworths ... Sie wissen schon, das große Haus im Geschäftsviertel.«
Lord Wentworth hatte sich gleich in der Gegend der Kontore und Handelshäuser an der Themse angesiedelt. Der Kontakt mit den Kaufleuten und Zuckerimporteuren war ihm offensichtlich wichtiger als eine Residenz in einem der vornehmeren Wohnviertel.
Peppers nickte. »Ihren Vater möchten Sie nicht besuchen?«, erkundigte er sich.
Der alte Diener kannte Nora gut genug, um in ihrem schmalen, ausdrucksstarken Gesicht zu lesen. In den letzten Wochen bat sie ihn auffallend oft, sie hinunter zum Reed'schen Kontor zu kutschieren -auch wenn es eigentlich ein Umweg war. Und natürlich drängte es sie dabei nicht so sehr, ihren Vater zu sehen, sondern eher Simon Greenborough, den jüngsten seiner Sekretäre. Peppers ahnte, dass die junge Frau sich auch mit dem jungen Mann traf, wenn sie spazieren ging oder ausritt, aber er gedachte nicht, sich einzumischen. Zweifellos wäre es seinem Herrn nicht recht, wenn Nora mit einem seiner Angestellten tändelte. Doch Peppers mochte seine junge Herrin - Nora verstand es seit jeher, das Personal ihres Vaters um den Finger zu wickeln -, und er gönnte ihr die Schwärmerei für den hübschen, dunkelhaarigen Schreiber. Bislang hatte Nora auch niemals ernsthafte Heimlichkeiten vor ihrem Vater gehabt. Thomas Reed hatte sie praktisch allein aufgezogen, nachdem ihre Mutter früh verstorben war, und die beiden hatten ein enges, herzliches Verhältnis. Peppers glaubte nicht, dass sie dies für eine Liebelei aufs Spiel setzen würde.
»Mal sehen«, meinte Nora jetzt, und ihr Gesicht nahm einen spitzbübischen Ausdruck an. »Kann jedenfalls nicht schaden, wenn wir vorbeifahren. Fahren wir einfach ein bisschen spazieren! «
Peppers nickte, schloss die Tür hinter ihr und stieg auf den Bock. Dabei schüttelte er unwillig den Kopf. Bei allem Verständnis für Noras junge Liebe - zum Spazierenfahren lud das Wetter nun wirklich nicht ein. Es regnete in Strömen, und das Wasser schoss sturzbachartig durch die Straßen der Stadt, Unrat und Müll mit sich reißend. Regen und Straßenschmutz verbanden sich zu einer übel riechenden Brühe, die unter den Rädern der Kutschen gurgelte, und nicht selten verfingen sich weggespülte Bretter, von den Ladenfronten gerissene Schilder oder gar Tierkadaver in den Speichen.
Peppers fuhr langsam, um keinen Unfall zu riskieren und die Laufburschen und Passanten zu schonen, die trotz des Wetters zu Fuß unterwegs waren. Sie ergriffen vor dem aufspritzenden Wasser die Flucht, wenn eine Kutsche vorbeikam, schafften es aber nicht immer, dem stinkenden unfreiwilligen Duschbad zu entkommen. Nun musste Peppers seine Pferde auch nicht zurückhalten. Die Tiere gingen nur unwillig vorwärts, sie schienen sich unter dem Regen ducken zu wollen - ebenso wie der schmale junge Mann, offensichtlich ein Botenjunge, der aus dem Kontor des Thomas Reed heraustrat, als Peppers seine Kutsche vorbeilenkte. Peppers empfand Mitgefühl für den Armen, aber er wurde nun von Nora abgelenkt, die heftig gegen das Fenster zwischen Kutsche und Bock klopfte.
»Peppers! So halten Sie doch an, Peppers! Das ist ...«
Simon Greenborough hatte gehofft, dass sich das Wetter bessern würde. Aber als er aus dem Halbdunkel des Kontors auf die Straße trat, belehrte ihn der Anblick der triefenden Pferde vor den geschlossenen Droschken eines Besseren. Simon versuchte, den Kragen seines fadenscheinigen Mantels hochzuziehen, um den Spitzenbesatz seines letzten brauchbaren Hemdes zu schützen. Er pflegte ihn an jedem Abend selbst zu plätten, um ihn halbwegs in Form zu halten. Jetzt war er aber in kürzester Zeit durchnässt, ebenso wie Simons spärlich gepuderte Frisur. Das Wasser lief an dem kurzen Zopf herab, zu dem er sein dichtes dunkles Haar zusammengefasst hatte. Simon sehnte sich nach einer Kopfbedeckung, aber darauf pflegte er schon deshalb zu verzichten, weil er nicht genau wusste, was für seinen neuen Stand als Schreiber schicklich war. Ganz sicher nicht der Dreispitz des jungen Adligen, selbst wenn sein einziger Hut noch vorzeigbar gewesen wäre. Und auch nicht die aufwändige Perücke, die sein Vater getragen hatte und der Gerichtsvollzieher ...
Simon versuchte, nicht weiter darüber nachzudenken. Er hustete, als ihm das Wasser den Rücken herunterrann. Wenn er nicht bald aus dem Platzregen herauskam, würden auch sein Mantel und seine Kniehosen völlig durchnässt sein. Seine alten Schnallenschuhe hielten der Nässe schon jetzt nicht stand, das Leder quietschte bei jedem Schritt. Simon versuchte, schneller zu gehen. Letztlich waren es ja nur ein paar Blocks bis in die Thames Street, und vielleicht konnte er gleich auf die Antwort auf den Brief warten, den er sich erboten hatte zu befördern. Bis dahin würde der Regen hoffentlich nachlassen ...
Simon bemerkte die von hinten herannahende Kutsche erst, als er Noras helle Stimme hörte.
»Simon! Was um Himmels willen machst du hier? Du holst dir noch den Tod bei dem Wetter! Was fällt meinem Vater ein, dich den Laufburschen spielen zu lassen?«
Der Kutscher hatte sein nobles Gefährt neben Simon zum Stehen gebracht, zweifellos auf Noras Anweisung. Die junge Frau wartete allerdings nicht, bis er vom Bock gestiegen war, um ihr den Schlag aufzuhalten. Stattdessen stieß sie die Tür schwungvoll von innen auf und klopfte auffordernd auf den Sitz neben sich.
»Komm rein, Simon, rasch! Der Wind weht ja den ganzen Regen auf die Polster.«
Simon blickte unschlüssig ins Innere der Kutsche, und auch der Kutscher schaute etwas betreten auf den jungen Mann, der nass wie eine Katze am Bordstein stand. Schließlich ergriff er das Wort.
»Es wäre deinem Vater sicher nicht recht ...«
»Es wäre Ihrem Vater sicher nicht recht, Miss Reed ...«
Simon und der Kutscher sprachen die Worte fast zur gleichen Zeit aus und blickten auch gleichermaßen indigniert, als Nora sie mit einem hellen Lachen quittierte.
»Nun sei mal vernünftig, Simon! Egal, wo du hinwillst, es kann meinem Vater auch nicht recht sein, wenn sein Bote da ankommt, als habe er eben die Themse durchschwommen. Und Peppers wird nichts verraten, nicht, Peppers?«
Nora lächelte ihrem Kutscher verständnisheischend zu. Peppers seufzte und öffnete den Kutschenschlag weit für ihren Gast. »Bitte, Mister ... äh ... Mylord ...« Alles in Peppers sträubte sich, diese unglückliche Gestalt mit einem Adelstitel anzureden.
Simon of Greenborough zuckte denn auch die Schultern. »›Mister‹ ist in Ordnung. Der Sitz im House of Lords ist ohnehin verkauft, ob ich mich nun Lord oder Viscount nenne oder wie auch immer.«
Es klang bitter, und Simon schalt sich dafür, dem Diener Einblick in seine Familienverhältnisse gewährt zu haben. Aber womöglich wusste der ohnehin schon zu viel über ihn. Nora betrachtete das Personal in ihrem Haus in Mayfair als ihre erweiterte Familie. Wer wusste, was sie ihren Zofen oder Hausmädchen alles erzählt hatte?
Simon ließ sich aufatmend in die Polster neben sie gleiten. Er hustete wieder, dieses Wetter schlug ihm auf die Lunge. Nora schaute den jungen Mann halb strafend, halb bedauernd an. Dann griff sie kurz entschlossen nach ihrem Schal und rubbelte sein Haar trocken. Natürlich hinterließ das Puderspuren auf der Wolle. Nora betrachtete sie kopfschüttelnd.
»Dass du da aber auch immer dieses Zeug draufgibst!«, rügte sie. »Eine dümmliche Mode, du hast so schönes dunkles Haar, warum es weiß färben wie bei einem Greis? Gott sei Dank kommst du nicht auch noch auf die Idee, so eine Perücke aufzusetzen ...«
Simon lächelte. Er hätte sich die Perücke gar nicht leisten können, aber Nora weigerte sich beharrlich, seine Armut auch nur zu bemerken. Wie sie alle anderen Unterschiede zwischen ihrer eigenen Stellung und der Simons ebenso konsequent leugnete. Ihr war es egal, ob er adlig war und sie bürgerlich, ob er völlig verarmt war, während ihr Vater zu den reichsten Kaufleuten des Empire zählte, und ob er in einem Schloss wohnte oder im Kontor ihres Vaters als schlecht bezahlter Schreiber diente. Nora Reed liebte Simon Greenborough, und sie ließ keinen Zweifel daran, dass diese Liebe irgendwann Erfüllung finden würde. Jetzt lehnte sie sich vertrauensselig an seine Schulter, während die Kutsche über Londons Kopfsteinpflaster rumpelte.
Simon warf dagegen einen nervösen Blick in Richtung Kutschbock, bevor er sie lächelnd in die Arme nahm und küsste. Nora hatte sich an diesem regnerischen Tag natürlich für eine geschlossene Kutsche entschieden. Das Fenster, das ihr ermöglichte, Peppers anzusprechen, war winzig und obendrein beschlagen. Der Kutscher würde nichts von dem mitbekommen, was sich drinnen tat. Nora erwiderte Simons Kuss denn auch ohne jede Hemmung. Sie strahlte, als sie sich von ihm löste.
»Ich hab dich so vermisst!«, flüsterte sie und schmiegte sich an ihn, ohne Rücksicht darauf, dass ihr Umhang dabei nass wurde und die Spitzen am Ausschnitt ihres Kleides zerknitterten. »Wie lange ist es her?«
»Zwei Tage«, antwortete Simon sofort und streichelte zärtlich über den Ansatz ihres Haars und ihre Schläfe. Er konnte sich an den feinen Zügen und dem Lächeln der zierlichen jungen Frau kaum sattsehen, und die Tage ohne sie waren ihm ebenso dunkel und trostlos erschienen wir ihr. Nora und ihr Vater hatten das Wochenende auf dem Landsitz von Freunden verbracht, aber es hatte auch da schon anhaltend geregnet. Die Liebenden hätten sich also sowieso nicht heimlich treffen können. Schließlich gab es keinen öffentlichen oder gar privaten Raum, in dem ein so unpassendes Paar unbemerkt miteinander hätte plaudern können - vom Austausch von Zärtlichkeiten gar nicht zu reden. Wenn das Wetter schön war, trafen sich die beiden im St. James' Park, obwohl auch das nicht ungefährlich war. Auf den bevölkerten Wegen konnten sie von Noras Freunden und Bekannten gesehen werden, während in den verschwiegenen Nischen hinter dunklen Hecken oft auch dunkle Gestalten
lauerten ... Und nun wurde es obendrein Herbst.
»Wir müssen unbedingt mit Vater reden!«, erklärte Nora, der wohl ähnliche Gedanken durch den Kopf gingen. »Das geht nicht mehr mit den Spaziergängen im Park, das Wetter wird doch immer schlechter. Vater muss gestatten, dass du mir in aller Offenheit den Hof machst! Schon, weil ich dich herumzeigen möchte. Meinen wunderschönen Lord ...«
Sie lächelte Simon spitzbübisch an, und er verlor sich wie so oft im Anblick ihres schmalen, klugen Gesichts und ihrer grünen Augen, in denen ein Kaleidoskop von helleren und dunkleren Lichtern aufzublitzen schien, wenn Nora erregt war. Er liebte ihr goldbraunes Haar, vor allem, wenn sie es mit Blumen schmückte. Orangenblüten ... Weder Simon noch Nora hatten je einen Orangenbaum gesehen, aber sie kannten die Blüten von Abbildungen, und sie träumten davon, sie eines Tages gemeinsam zu pflücken.
»Dein Vater wird das nie erlauben ...«, erwiderte Simon pessimistisch und zog Nora näher an sich. Es war schön, sie zu spüren, sich vorzustellen, dies sei seine eigene Kutsche, in der er seine Liebste heimbrachte, auf einen Herrensitz in der Sonne ...
»Wo wollen Sie überhaupt hin?«
Peppers knappe Frage ließ die Liebenden auseinanderstieben. Dabei war es unwahrscheinlich, dass er viel gesehen hatte. Er hatte sich nur halb zu seinen Passagieren umgewandt, und der Verkehr auf Londons Straßen, noch dazu bei diesem Wetter, erforderte seine ganze Aufmerksamkeit.
»In ... in die Thames Street«, antwortete Simon. »Zum Kontor von Mr. Roundbottom!«
Nora lächelte dem Kutscher und Simon gleichermaßen vergnügt zu. »Ach, da kommen wir praktisch vorbei!«, freute sie sich. »Ich bin auf dem Weg zu Lady Wentworth, um das Buch zurückzugeben.«
Sie zog ein kleines, hübsch gebundenes Buch aus ihrem spitzenbesetzten Beutel und hielt es Simon hin.
»Barbados«, die Falte, die stets auf Simons Stirn erschien, wenn er sich sorgte, glättete sich, »ich hätte es auch gern gelesen.«
Nora nickte. »Weiß ich. Aber ich muss es zurückbringen, die Wentworths reisen morgen ab, auf die Jungferninseln. Sie haben da eine Plantage, weißt du. Sie waren nur hier, um ...«
Simon hörte nicht mehr zu, er blätterte bereits in dem Büchlein. Warum die Wentworths in England gewesen waren, konnte er sich denken. Wahrscheinlich hatten sie ihre karibischen Besitztümer nur verlassen, um einen Parlamentssitz zu kaufen oder sich um einen zu kümmern, der ihrer Familie bereits gehörte. Die Zuckerrohrpflanzer aus Jamaika, Barbados und anderen Anbaugebieten in der Karibik wachten eifersüchtig über die Preisbindungen ihrer Produkte und die Einfuhrverbote aus anderen Ländern. Zu diesem Zweck festigten sie ihre Macht durch den Ankauf von Sitzen im House of Lords, angeboten von verarmten Adligen wie Simons eigener Familie. Soweit Simon wusste, hatte die Vertretung der Grafschaft Greenborough heute ein Mitglied der Familie Codrington inne, der ein großer Teil der kleinen Karibikinsel Barbuda gehörte.
Aber auch Nora hielt sich nicht lange mit Geschichten über die Familie Wentworth auf. Stattdessen schaute sie erneut in das Buch, das sie schon mehrmals gelesen hatte.
»Ist das nicht hübsch?«, kommentierte sie eine Zeichnung.
Simon hatte eben eine Seite aufgeschlagen, deren Text eine Radierung vom Strand von Barbados illustrierte. Palmen ... Sandstrand, der dann unmittelbar in dichten Urwald überzugehen schien ... Nora beugte sich eifrig darüber und kam Simon dabei so nahe, dass er den Duft ihres Haars aufnehmen konnte: kein Talkumpuder, Rosenwasser.
»Und da steht unsere Hütte!«, träumte sie und wies auf eine Art Lichtung. »Gedeckt mit Palmenzweigen ...«
Simon lächelte. »Was das angeht, wirst du dich aber irgendwann entscheiden müssen«, neckte er sie. »Willst du jetzt mit den Eingeborenen in ihren Hütten leben oder eine Tabakplantage für deinen Vater führen?«
Nora und Simon waren sich einig darüber, dass England überhaupt und London im Besonderen nicht die Orte waren, an denen sie ihr Leben verbringen wollten. Nora verschlang alle Literatur über die Kolonien, derer sie habhaft werden konnte, und Simon träumte über den Briefen, die er für ihren Vater schrieb, von Jamaika, Barbados oder Cooper Island. Thomas Reed importierte Zuckerrohr, Tabak und Baumwolle aus allen Teilen der Erde, die sich das britische Empire im letzten Jahrhundert einverleibt hatte. Er stand in regem Kontakt mit den dortigen Pflanzern, und Nora hatte insofern auch schon einen Plan zur Verwirklichung ihrer Wünsche. Gut, in England gab es für sie und Simon vielleicht keine Zukunft. Aber wenn sie eine Zweigstelle des Reed'schen Geschäftes irgendwo in den Kolonien eröffneten ... Aktuell war Barbados ihr Traumland.
Aber sie hätte sich auch überall sonst angesiedelt, wo nur täglich die Sonne schien.
»Da wären wir ... Miss Nora, Sir ...« Peppers verhielt die Kutsche und machte Anstalten, die Türen für Simon zu öffnen. »48, Thames Street.«
Neben dem Eingang des Stadthauses prangte ein goldenes Schild, das auf Mr. Roundbottoms Kontor hinwies. Simon schlug das Buch bedauernd zu und schob sich hinaus in den Regen.
»Vielen Dank für die Mitfahrgelegenheit, Miss Reed«, verabschiedete er sich höflich von Nora. »Ich hoffe, Sie bald wiederzusehen. «
»Die Freude war ganz auf meiner Seite, Viscount Greenborough «, erwiderte Nora ebenso artig. »Aber warten Sie im Kontor, bis es aufhört zu regnen. Ich möchte nicht, dass Sie sich auf dem Rückweg verkühlen.«
Peppers verdrehte vielsagend die Augen. Bisher fand er Noras Liebelei eher erheiternd als besorgniserregend, aber wenn das so weiterging, manövrierte sich seine kleine Herrin in eine Geschichte hinein, die nicht glücklich enden konnte. Thomas Reed würde seine Tochter auf keinen Fall mit seinem Schreiber vermählen, egal, ob der irgendwann mal einen Adelstitel getragen hatte oder ihn sogar noch trug.
Simon quälten ähnliche Gedanken, als er schließlich zurück an seinen Arbeitsplatz lief. Der Regen hatte nachgelassen, aber seine Kleider waren längst noch nicht getrocknet, und auf dem Korridor, auf dem Mr. Roundbottom ihn hatte warten lassen, war es obendrein zugig und kalt gewesen. Simon fror bis ins Mark - die hartnäckige Erkältung, die er sich schon im Frühjahr in dem winzigen, ungezieferverseuchten Zimmer geholt hatte, das er im Eastend von London gemietet hatte, würde ihn noch lange quälen. Was für ein Abstieg nach Greenborough Manor, und natürlich auch nicht angemessen für einen Angestellten in einem angesehenen Kontor.
Thomas Reed entlohnte seine Schreiber nicht üppig, aber er war auch kein Ausbeuter. Gewöhnlich hätte Simons Verdienst für eine saubere kleine Wohnung ausgereicht, die älteren Sekretäre ernährten davon sogar eine Familie - bescheiden, aber annehmbar. Simon konnte allerdings nicht hoffen, irgendwann auch einmal eine Familie gründen zu können. Wenn nicht ein Wunder geschah, würde er sein Leben lang für die Schulden schuften müssen, die sein Vater angehäuft hatte, und das, obwohl bereits alles verkauft war, was die Familie an Wertsachen besessen hatte.
Der Absturz war für Simons Mutter, seine Schwester und ihn völlig überraschend gekommen. Natürlich wusste die Familie, dass es mit den Finanzen von Lord Greenborough nicht allzu gut stand. Der Verkauf des Parlamentssitzes stand schon lange im Raum, wobei Simon im Stillen längst zu dem Ergebnis gekommen war, dass dies der Entscheidungsfähigkeit des House of Lords nur guttun konnte. Sein Vater hatte seinen Sitz nur selten eingenommen, und wenn, dann konnte er den Debatten, wie man sich erzählte, ebenso wenig folgen wie zu Hause den Tiraden seiner Frau, die nie müde wurde, ihm seine Trunk- und Verschwendungssucht vorzuwerfen. John Peter Greenborough war weit häufiger betrunken gewesen als nüchtern - aber seine Familie hatte keine Ahnung davon, dass er obendrein versucht hatte, seine angeschlagenen Finanzen am Spieltisch wieder in Ordnung zu bringen.
Als er schließlich starb - offiziell ein Sturz bei der Reitjagd, aber tatsächlich die Folge davon, dass er zu betrunken war, um sich auch nur im Schritt auf dem Pferd zu halten -, meldeten mannigfaltige Gläubiger ihre Ansprüche an. Lady Greenborough verkaufte den Parlamentssitz und damit im Prinzip auch ihr Land und den Titel ihres Sohnes. Sie trennte sich von ihrem Schmuck und ihrem Silber, verpfändete ihr Haus und musste es schließlich verkaufen. Die Familie Codrington überließ den Greenboroughs aus reiner Gnade ein Cottage am Rande des Dorfes, das immer noch ihren Namen trug. Aber Geld verdienen konnte Simon dort nicht. Inzwischen war zu den Schulden seines Vaters auch noch die Mitgift für seine Schwester gekommen, die man Gott sei Dank halbwegs standesgemäß hatte verheiraten können. Simons Zukunft dagegen war zerstört. In seinen dunkelsten Stunden fragte er sich, ob er die Liebe Noras, dieser ebenso schönen wie reichen jungen Frau, als ein Glück betrachten sollte oder ob sie nur eine weitere Prüfung dar- stellte.
Nora Reed war überzeugt, dass die Verwirklichung ihrer Träume nur eine Frage der Zeit war. Ihre Hoffnung, Thomas Reed würde Simon mit offenen Armen als Schwiegersohn aufnehmen, vermochte dieser allerdings nicht zu teilen. Im Gegenteil, eher würde der Geschäftsmann ihn als Mitgiftjäger aus dem Haus weisen. Dabei war Simon bereit, sehr hart für die Verwirklichung seiner Träume zu arbeiten. Er war ein ernsthafter junger Mann, hatte sich stets einen Posten in einer der Kolonien gewünscht und versucht, sich so gut wie möglich darauf vorzubereiten. Simon war kein großer Reiter, Jäger und Fechter - für die Zerstreuungen des Adelsstandes zeigte er weder besondere Neigungen noch Begabungen, ganz abgesehen von der finanziellen Situation seiner Familie. Aber er war klug und hochgebildet. Simon sprach mehrere Sprachen, war verbindlich und höflich und konnte im Gegensatz zu den meisten Peers auch gut mit Zahlen umgehen. Auf jeden Fall hätte er es sich durchaus zugetraut, ein Handelshaus wie das des Thomas Reed irgendwo in Übersee zu vertreten. Simon war bereit, sich hochzudienen, jeglicher Dünkel war ihm fremd. Man musste ihm nur eine Chance geben! Aber ob Thomas Reed seine Liebe zu Nora zum Anlass dazu nahm? Wahrscheinlich würde er Simon eher verdächtigen, seine Tochter als Sprungbrett für seine Karriere benutzen zu wollen.
Simon zweifelte jedenfalls daran, dass es richtig war, sich Thomas Reed so bald schon zu offenbaren. Es wäre auf jeden Fall besser zu warten, bis er sich selbst seine Achtung erworben und in eine höhere Position aufgestiegen war. Nora war erst siebzehn, und bisher machte ihr Vater keine Anstalten, sie zu vermählen. Simon hatte sicher noch ein paar Jahre Zeit, um sich so weit zu etablieren, dass er als Schwiegersohn des Kaufmanns in Frage kam.
Wenn er nur gewusst hätte, wie er das anstellen sollte!
© 2011 by Bastei Lübbe GmbH & Co. KG, Köln
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Bibliographische Angaben
- Autor: Sarah Lark
- 704 Seiten, Maße: 13,5 x 21,5 cm, Hochw. Broschur mit Klappeinb.
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3863654919
- ISBN-13: 9783863654917
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