Die Jahre der Vernichtung 1939-1945
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Dem akademischen Ritual entsprechend fielen gewiß die üblichen Worte des Lobes und der Dankbarkeit. Von anderen Kommentaren wissen wir nichts. Kurz darauf wurde Moffie nach Auschwitz-Birkenau deportiert. Ebenso wie zwanzig Prozent der niederländischen Juden hat er überlebt; der größte Teil der bei dieser Zeremonie anwesenden Juden ist umgekommen.
Das Bild wirft einige Fragen auf. Wie war es beispielsweise möglich, daß die Zeremonie am 18. September 1942 stattfand, obgleich jüdische Studenten mit Wirkung vom 18. September aus den niederländischen Universitäten ausgeschlossen worden waren? Die Herausgeber des Bandes Photography and the Holocaust fanden die Antwort: Der letzte Tag des akademischen Jahres 1941/42 war Freitag, der 18. September 1942; das Wintersemester 1942/43 begann am Montag, dem 21. September 1942. Die dreitägige Zwischenzeit ermöglichte Moffies Promotion, obwohl der Ausschluß jüdischer Studenten bereits obligatorisch geworden war.
"Die Jahre der Vernichtung" erzählt mit großer historiographischer Meisterschaft die Geschichte der Ermordung der europäischen Juden vom Beginn des Zweiten Weltkriegs bis zum Ende des Dritten Reiches. Doch das Streben nach wissenschaftlicher "Objektivität", nach Erklärung und Analyse kann in einer Geschichte des Holocaust allein nicht genügen. Mit einem überwältigenden Chor von Stimmen - Tagebuchaufzeichnungen, Briefe, Erinnerungen - bewahrt Saul Friedländer seine Darstellung vor der Gefahr der "domestizierten" Erinnerung an ein Geschehen, das ohne Beispiel ist. Es ist gerade diese besondere Qualität seiner Geschichtsschreibung, die das Buch aus der Literatur heraushebt und ihm einen einzigartigen Rang zuweist. Mit Die Jahre der Vernichtung liegt Saul Friedländers großes Werk über die Ermordung der europäischen Juden nun vollständig vor.
DieJahre der Vernichtung von Saul Friedländer
LESEPROBE
Einleitung
David Moffie wurde am 18. September 1942 an der UniversitätAmsterdam zum Doktor der Medizin promoviert. Auf einem anläßlichdieses Ereignisses aufgenommenen Photo stehen Professor C. U. Ariens Kappers, Moffies Doktorvater, und Professor H. T. Deelman zur Rechten des frischgebackenen Doktors, derAssistent D. Granaat zu seiner Linken. Ein weiteresMitglied des Lehrkörpers, das von hinten zu sehen ist, möglicherweise der Dekander medizinischen Fakultät, steht ihnen gegenüber auf der anderen Seite einesgroßen Schreibtisches. Im Hintergrund sind - etwas unscharf - die Gesichtereiniger der Menschen zu erkennen, die sich in dem kleinen Saal drängen -zweifellos Familienmitglieder und Freunde. Die Angehörigen des Lehrkörpers sindin ihre akademischen Festgewänder gekleidet, während Moffieund Assistent Granaat einen Smoking und einen weißenSchlips tragen. Am linken Revers seiner Smokingjacke trägt Moffieeinen handtellergroßen Stern mit dem Aufdruck «Jood»:Moffie war der letzte jüdische Student an derUniversität Amsterdam in der Zeit der deutschen Besatzung.
Dem akademischen Ritual entsprechend fielen gewiß dieüblichen Worte des Lobes und der Dankbarkeit. Von anderen Kommentaren wissenwir nichts. Kurz darauf wurde Moffie nachAuschwitz-Birkenau deportiert. Ebenso wie zwanzig Prozent der niederländischenJuden hat er überlebt; der größte Teil der bei dieser Zeremonie anwesendenJuden ist umgekommen.
Das Bild wirft einige Fragen auf. Wie war es beispielsweise möglich, daß die Zeremonie am 18. September 1942 stattfand, obgleichjüdische Studenten mit Wirkung vom 18. September aus den niederländischenUniversitäten ausgeschlossen worden waren? Die Herausgeber des Bandes Photography and theHolocaust fanden die Antwort: Der letzte Tag des akademischen Jahres1941/42 war Freitag, der 18. September 1942; das Wintersemester 1942/43 begannam Montag, dem 21. September 1942. Die dreitägige Zwischenzeit ermöglichte Moffies Promotion, obwohl der Ausschlußjüdischer Studenten bereits obligatorisch geworden war.
Eigentlich war die Unterbrechung genau auf ein Wochenende - von Freitag, den18., bis Montag, den 21. - beschränkt; das heißt, die Universitätsbehörden habensich bereiterklärt, den administrativen Kalender gegen die Intentionen desdeutschen Erlasses anzuwenden. Diese Entscheidung spricht von einer Haltung,die seit Herbst 1940 an niederländischen Universitäten weit verbreitet war; diePhotographie dokumentiert eine Form des trotzigen Eigensinns gegenüber denGesetzen und Verfügungen des Besatzers.
Es gibt noch mehr zu sagen. Die Deportationen aus den Niederlanden begannen am14. Juli 1942. Fast jeden Tag verhafteten die Deutschen und die einheimischePolizei auf den Straßen niederländischer Städte Juden, um ihr wöchentlichesSoll zu erfüllen. Moffie hätte an dieser öffentlichenakademischen Zeremonie nicht teilnehmen können, hätte er nicht eine derspeziellen (und nur zeitweilig gültigen) 17 000 Ausnahmebescheinigungenerhalten, welche die Deutschen dem Judenrat zugeteilt hatten. Indirekt evoziertdas Bild somit die Kontroverse um die Methoden des Rates, mit denen zumindestvorübergehend einige der Juden Amsterdams geschützt und die große Mehrheitihrem Schicksal überlassen wurden.
Allgemein betrachtet sind wir Zeugen einer recht alltäglichen Zeremonie. Ineinem gemäßigt festlichen Rahmen erhielt ein junger Mann die offizielleBestätigung für das erworbene Recht, als Arzt zu praktizieren, Kranke zubehandeln und im Rahmen des Menschenmöglichen sein berufliches Wissenanzuwenden, um Gesundheit wiederherzustellen. Doch das an MoffiesJackett angeheftete «Jood» vermittelt eine ganzandere Botschaft: Wie alle Angehörigen seiner «Rasse» auf dem gesamtenKontinent sollte der frischgebackene Doktor der Medizin ermordet werden.
Das «Jood», das nur schwach zu sehen ist, erscheintnicht in Blockbuchstaben oder in irgendeiner anderen gebräuchlichen Schrift.Die Schriftzeichen wurden eigens für diesen speziellen Zweck entworfen (und inden Sprachen der Länder, in denen die Deportationen vorgenommen wurden, ähnlichgezeichnet: «Jude», «Juif», «Jood»usw.); sie hatten eine krumme, abstoßende und unbestimmt bedrohliche Form, diean das hebräische Alphabet erinnern und doch leicht entzifferbar bleibensollte. Mit dem eigentümlich gestalteten Aufdruck erscheint die auf derPhotographie abgebildete Situation wieder in ihrer Quintessenz. Die Deutschenwaren darauf versessen, die Juden als Individuen auszurotten und dasauszulöschen, was der Stern und seine Inschrift repräsentierten: «den Juden».
Wir vernehmen das kaum hörbare Echo eines wütenden Angriffs, der darauf zielte,jede Spur von «Jüdischkeit», jedes Zeichen des«jüdischen Geistes», jeden Überrest jüdischer Präsenz (sei sie real oderimaginär) aus Politik, Gesellschaft, Kultur und Geschichte zu tilgen. Zu diesemZweck setzten die Nazis auf ihrem Feldzug im Reich und im gesamten besetztenEuropa alles ein: Propaganda, Erziehung, Forschung, Publikationen, Filme,Ächtungen und Tabus in allen gesellschaftlichen und kulturellen Bereichen, jajedes überhaupt mögliche Verfahren der Austilgung und Ausmerzung, vomUmschreiben religiöser Texte oder Opernlibretti, denen ein Makel von Jüdischkeit anhaftete, bis zur Umbenennung von Straßen, diemit ihrem Namen an Juden erinnerten, vom Verbot von Musik oder literarischenWerken jüdischer Komponisten und Schriftsteller bis zur Zerstörung vonDenkmälern, von der Ausschaltung «jüdischer Wissenschaft» bis zur «Säuberung»von Bibliotheken und schließlich, nach dem berühmten Wort Heinrich Heines, vonder Verbrennung von Büchern bis zur Verbrennung von Menschen.
I
Die«Geschichte des Holocaust» läßt sich nicht nur aufdie deutschen politischen Strategien, Entscheidungen und Maßnahmen beschränken,die zu diesem systematischsten und entschlossenstenaller Völkermorde geführt haben. Sie muß dieReaktionen (und gelegentlich die Initiativen) der umgebenden Welt ebensoeinbeziehen wie die Stimmen der Opfer, weil das Geschehen, das wir Holocaustnennen, eine Totalität ist, die durch eben dieses Konvergieren eigenständigerElemente definiert ist.
Diese Geschichte wird verständlicherweise in vielen Fällen als deutscheGeschichte geschrieben. Die Deutschen, ihre Kollaborateure und ihreHilfstruppen waren die Anstifter und Hauptakteure der Verfolgungs- undVernichtungspolitik und meist auch die ihrer Durchführung. Außerdem sinddeutsche Dokumente, die diese politischen Strategien und Maßnahmen behandeln,nach der Niederlage des Deutschen Reiches in erheblichem Umfang zugänglichgeworden. Diese gewaltigen Materialsammlungen, die schon kaum handhabbar waren,bevor die Archivbestände der ehemaligen Sowjetunion und des Ostblockszugänglich wurden, haben seit Ende der 1980er Jahre den Fokus auf die deutscheDimension dieser Geschichte zwangsläufig noch weiter verschärft. Und in denAugen der meisten Historiker scheint eine Untersuchung, die sich auf diedeutsche Dimension dieser Geschichte konzentriert, der Begriffsbildung und dervergleichenden Analyse eher entgegenzukommen - mit anderen Worten, weniger«provinziell» zu sein - als alles, was sich aus der Sicht der Opfer oder garderjenigen der umgebenden Welt schreiben läßt.
Dieser Ansatz, der Deutschland in den Mittelpunkt rückt, ist innerhalb seinerGrenzen selbstverständlich legitim, die Geschichte des Holocaust aber erforderteine erheblich breitere Darstellung. Auf Schritt und Tritt hing im besetztenEuropa die Durchführung deutscher Maßnahmen von der Unterwürfigkeit politischerAutoritäten ab, von der Unterstützung durch örtliche Polizeitruppen oder andereHilfskräfte, von der passiven Hinnahme oder der Mitwirkung der Bevölkerungsowie vor allem der politischen und geistlichen Eliten. Ebenso abhängig warendie mörderischen Maßnahmen von der Bereitschaft der Opfer, Befehle zu befolgenin der Hoffnung, sie abzumildern oder Zeit zu gewinnen und ihrer unerbittlichenVerschärfung irgendwie zu entgehen. Somit sollte die Geschichte des Holocausteine integrative und integrierte Geschichte sein.
Keineinzelner Begriffsrahmen kann die vielfältigen und konvergierenden Strängeeiner derartigen Geschichte umfassen. Selbst deren deutsche Dimension läßt sich nicht nur aus einem einzigen konzeptionellenBlickwinkel interpretieren. Der Historiker steht vor der Interaktion sehr verschiedenartigerFaktoren, von denen sich jeder einzelne definieren und deuten läßt; gerade ihr Konvergieren läßtsich jedoch nicht mit einer übergreifenden analytischen Kategorie erfassen. ImLaufe der vergangenen sechzig Jahre ist eine Fülle von Erklärungsversuchenaufgetaucht - nur um einige Jahre später wieder aufgegeben und danach dann neuentdeckt zu werden -, und so ging es immer weiter, besonders im Hinblick aufdie grundlegenden politischen Strategien der Nationalsozialisten schlechthin.Den Ursprung der «Endlösung» hat man auf einen «Sonderweg» der deutschenGeschichte zurückgeführt, auf eine besondere Variante des deutschenAntisemitismus, auf rassenbiologisches Denken, bürokratische Politik,Totalitarismus und Faschismus, auf die Moderne, auf einen «europäischenBürgerkrieg» (von der Linken und von der Rechten gesehen) und anderes mehr.
Eine Analyse dieser Deutungen würde ein anderes Buch erfordern. Hier werde ichmich im wesentlichen darauf beschränken, den Wegdarzulegen, den ich eingeschlagen habe. Gleichwohl sind an dieser Stelle einigeBemerkungen zu zwei einander entgegengesetztenRichtungen in der gegenwärtigen Geschichtsschreibung über das «Dritte Reich» imallgemeinen und über die «Endlösung» im besonderenerforderlich.
Die erste Richtung hat die Vernichtung der Juden als ein Geschehen im Blick,das an und für sich ein herausragendes Ziel deutscher Politik gewesen ist,dessen Erforschung jedoch neue Ansätze erfordert: Zu untersuchen sind im Detaildie Aktivitäten von Akteuren auf der mittleren Ebene, das Geschehen inbegrenzten Regionen oder die spezifische institutionelle und bürokratischeDynamik, und all das sollte ein gewisses neues Licht auf die Funktionsweise desgesamten Systems der Vernichtung werfen. Dieser Ansatz hat unser Wissen und unserVerständnis erheblich erweitert; viele seiner Befunde habe ich in meine eherglobal orientierte Darstellung integriert.
Die andere Richtung hat im Laufe der Jahre dazu beigetragen, manche neue Spurzu entdecken. Doch im Hinblick auf die Erforschung des Holocaust hat jededieser Spuren schließlich denselben Ausgangspunkt: Die Verfolgung undVernichtung der Juden Europas war lediglich eine sekundäre Konsequenzbedeutender deutscher politischer Strategien, die verfolgt wurden, um ganzandere Ziele zu erreichen. Zu den Zielen, die in diesem Zusammenhang amhäufigsten erwähnt werden, gehören ein neues wirtschaftliches unddemographisches Gleichgewicht in Europa, Völkerverschiebung und deutscheSiedlung im Osten, die systematische Ausraubung der Juden zur Erleichterung derKriegführung, ohne der deutschen Gesellschaft oder, genauer gesagt, HitlersVolksstaat eine allzu große materielle Belastung auferlegen zu müssen.Ungeachtet der Perspektiven, die derartige Studien sporadisch eröffnen, istihre allgemeine Stoßrichtung mit den zentralen Postulaten, die meinerInterpretation zugrunde liegen, offensichtlich unvereinbar.
Wie in Die Jahre der Verfolgung habe ich mich in diesem Band dafürentschieden, mich auf die zentrale Stellung ideologisch-kultureller Faktorenals wesentlichen Triebkräften der nationalsozialistischen Judenpolitik zukonzentrieren, abhängig selbstverständlich von den Umständen, voninstitutioneller Dynamik und - was für die hier behandelte Zeit ganz wesentlichist - vom Verlauf des Krieges.
Die Geschichte, mit der wir es hier zu tun haben, ist ein untrennbarerBestandteil des «Zeitalters der Ideologien», und zwar, präziser undentscheidender, seiner Spätphase: der Krise des Liberalismus im kontinentalenEuropa. Zwischen dem späten 19. Jahrhundert und dem Ende des Zweiten Weltkriegswurde die liberale Gesellschaft von links durch den revolutionären Sozialismus(der dann in Rußland zum Bolschewismus und überallsonst zum Kommunismus werden sollte) und andererseits durch eine revolutionäreRechte attackiert, aus der nach dem Ersten Weltkrieg in Italien und anderswoder Faschismus und in Deutschland der Nationalsozialismus hervorgingen. In ganzEuropa setzte man die Juden mit dem Liberalismus und häufig mit dem Sozialismuswie auch mit dessen revolutionärer Variante gleich. In diesem Sinne nahmen dieantiliberalen und antisozialistischen (oder antikommunistischen) Ideologien derrevolutionären Rechten in all ihren Erscheinungsformen die Juden alsRepräsentanten derjenigen Weltanschauungen ins Visier, die sie bekämpften, undvor allen galten sie als die Anstifter und Träger dieser Weltanschauungen.
In Deutschland gewann diese Entwicklung in der Atmosphäre nationalenRessentiments nach der Niederlage von 1918 und später als Ergebnis derwirtschaftlichen Umbrüche, die das Land (und die Welt) erschütterten, eineStoßkraft eigener Art. Ohne den zwanghaften Antisemitismus und die persönlicheWirkung Adolf Hitlers, zunächst im Rahmen seiner Bewegung, dann, nach dem 30.Januar 1933, auf nationaler Ebene, wäre der weitverbreitetedeutsche Antisemitismus jener Jahre wahrscheinlich nicht mit einem gegen dieJuden gerichteten politischen Handeln und gewiß nichtmit dessen Folgen verschmolzen.
Die Krise des Liberalismus und die Reaktion gegen den Kommunismus als ideologischeQuellen des Antisemitismus, der auf dem deutschen Schauplatz bis zum Äußerstengetrieben wurde, wurden in ganz Europa immer virulenter; dadurch konnte dieNazi-Botschaft mit der positiven Reaktion zahlreicher Europäer sowie einerganzen Schar von Unterstützern jenseits der Küsten des alten Kontinentsrechnen. Überdies entsprachen Antiliberalismus und Antikommunismus denHaltungen der großen christlichen Kirchen, und der traditionelle christlicheAntisemitismus ging leicht in den ideologischen Dogmen autoritärer Regimes undfaschistischer Bewegungen auf - wie zum Teil in einigen Aspekten desNationalsozialismus.
Schließlich blieben gerade infolge dieser Krise der liberalen Gesellschaft undihres ideologischen Unterbaus die Juden auf einem Kontinent, auf dem derVormarsch des Liberalismus ihre Emanzipation und soziale Mobilität ermöglichtund gefördert hatte, in zunehmendem Maße schwach und isoliert zurück. Somitwird der hier beschriebene ideologische Hintergrund zum indirekten Bindegliedzwischen den drei Hauptkomponenten dieser Geschichte: demnationalsozialistischen Deutschland, der umgebenden europäischen Welt und denüber den ganzen Kontinent verstreuten jüdischen Gemeinschaften. Ungeachtet derdeutschen Entwicklung, die ich kurz angesprochen habe, reichen dieseHintergrundelemente jedoch nicht aus, um den besonderen Gang der Ereignisse inDeutschland zu erklären.
II
DieBesonderheiten des antijüdischen Kurses der Nationalsozialisten resultiertenaus der von Hitler vertretenen Variante des Antisemitismus, aus der Bindungzwischen Hitler und sämtlichen Ebenen der deutschen Gesellschaft, vor allemnach der Mitte der dreißiger Jahre, aus der politisch-institutionellenInstrumentalisierung des Antisemitismus durch das NS-Regime sowie natürlich,nach dem Überfall auf Polen im September 1939, aus der sich entwickelndenKriegslage.
In Die Jahre der Verfolgung habe ich die von Hitler vertretene Variantedes Judenhasses als «Erlösungsantisemitismus» bezeichnet; mit anderen Worten,jenseits der unmittelbaren ideologischen Konfrontation mit dem Liberalismus unddem Kommunismus, bei denen es sich in den Augen Hitlers um Weltanschauungenhandelte, die von Juden und zugunsten jüdischer Interessen erfunden wordenwaren, faßte er seine Mission als eine Art Kreuzzugzur Erlösung der Welt durch die Beseitigung der Juden auf. Er sah «den Juden»als das Prinzip des Bösen in der abendländischen Geschichte und Gesellschaft.Ohne einen siegreichen Kampf zum Zweck der Erlösung würde der Jude schließlichdie Welt beherrschen. Dieses übergreifende metahistorischeAxiom führte zu Hitlers konkreteren ideologisch-politischen Folgehandlungen.
Auf einer biologischen, politischen und kulturellen Ebene, hieß es, strebe derJude danach, die Nationen dadurch zu zerstören, daßer rassische Verseuchung verbreite, die Strukturen des Staates unterminiere undganz allgemein an der Spitze der wichtigsten ideologischen Geißeln des 19. und20. Jahrhunderts stehe, als da waren Bolschewismus, Plutokratie, Demokratie,Internationalismus, Pazifismus und diverse andere Gefahren. Durch den Einsatzdieses breiten Spektrums von Mitteln und Methoden ziele der Jude darauf, dieZersetzung des vitalen Kerns aller Nationen, in denen er lebe, und insbesonderedie des deutschen Volkes zu bewirken, um danach die Weltherrschaft anzutreten.Seit der Errichtung des nationalsozialistischen Regimes in Deutschland sei derJude sich über die Gefahr, die das erwachende Deutsche Reich für ihn bedeute,im klaren. Deshalb sei er zur Entfesselung eines neuenWeltkriegs bereit, durch den diese Herausforderung auf seinem Vormarsch zurWeltherrschaft vernichtet werden solle.
Diese unterschiedlichen Ebenen der antijüdischen Ideologie lassen sich auf dieknappste Weise zusammenfassen: Der Jude war eine tödliche und aktiveBedrohung für alle Nationen, für die arische Rasse und für das deutsche Volk.Die Betonung liegt nicht nur auf «tödlich», sondern auch - und vor allem - auf«aktiv». Während sämtliche anderen Personenkreise, die vom NS-Regime ins Visiergenommen wurden - die Geisteskranken, die «Asozialen» und Homosexuellen,rassisch «minderwertige» Gruppen einschließlich der Zigeuner und der Slawen -,im wesentlichen passive Bedrohungen darstellten (solange die Slawenbeispielsweise nicht von den Juden geführt wurden), waren die Juden ausnationalsozialistischer Sicht die einzige Gruppe, die seit ihrem Eintritt indie Geschichte erbarmungslos Ränke schmiedete und Manöver unternahm, um diegesamte Menschheit zu unterjochen.
Dieser antijüdische Wahn an der Spitze des Nazisystems wurde nicht in einVakuum geschleudert. Seit Herbst 1941 bezeichnete Hitler «den Juden» häufig alsden «Weltbrandstifter». Tatsächlich loderten die Flammen, die Hitler anfachte,nur deshalb so flächendeckend und intensiv, weil in ganz Europa und darüberhinaus ein dichtes Gestrüpp ideologischer und kultureller Elemente bereitstand,die Feuer fangen konnten. Ohne den Brandstifter wäre das Feuer nichtausgebrochen; ohne das Gestrüpp hätte es sich nicht so weit ausgebreitet undeine ganze Welt vernichtet. Diese beständige Interaktion zwischen Hitler unddem System, in dem er agierte, wird in der vorliegenden Untersuchung ingleicher Weise wie in Die Jahre der Verfolgung analysiert undinterpretiert werden. Hier beschränkt sich jedoch das System nicht auf seinedeutschen Komponenten, sondern es dringt in die entlegenstenWinkel des europäischen Raumes vor.
Für das NS-Regime brachte der Kreuzzug gegen die Juden auch eine Reihepragmatischer Vorteile auf politisch-institutioneller Ebene mit sich. Fürein Regime, das auf fortwährende Mobilisierung angewiesen war, diente der Judegleichsam als treibende Kraft. Mit der Radikalisierung der Ziele desRegimes und dann mit der Ausweitung des Krieges wurde die antijüdische Kampagneimmer extremer; und in diesem Kontext werden wir die Herausbildung der«Endlösung» sehen können. Wie wir beobachten werden, paßteHitler selbst den Feldzug gegen «den Juden» taktischen Zielen an; sobald aberdie ersten Anzeichen der Niederlage sichtbar wurden, rückte der Jude in denMittelpunkt der Propaganda, wodurch das Volk in einem verzweifelten Kampf beider Stange gehalten werden sollte.
Als Resultat der kollektiven Mobilisierungsfunktion «des Juden» - und wirwerden sehen, wie erbarmungslos verleumderisch die antijüdische Nazipropagandawährend des gesamten Krieges verfuhr - war das Verhalten vieler gewöhnlicherdeutscher Soldaten, Polizisten oder Zivilisten gegenüber den Juden, denen siebegegneten, die sie mißhandelten und ermordeten,nicht unbedingt Ausdruck einer tiefsitzenden undhistorisch einzigartigen antijüdischen Leidenschaft, wie Daniel Jonah Goldhagenbehauptet hat. Es war auch nicht vorwiegend das Ergebnis einer ganzen Reihenormaler sozio-psychologischer Verstärkungen,Zwänge und gruppendynamischen Prozesse, die von ideologischen Motivationenunabhängig gewesen wären, wie Christopher R. Browning meint.
Das System als Ganzes hatte eine antijüdische «Kultur» hervorgebracht, die zumTeil in historischem Antisemitismus deutscher und europäisch-christlicherProvenienz verwurzelt war, aber auch mit all den Mitteln gefördert wurde,welche dem Regime zur Verfügung standen. Sie wurde bis zur Weißglut getrieben -mit unmittelbaren Auswirkungen auf kollektives und individuelles Verhalten.«Gewöhnliche Deutsche» waren sich dieses Prozesses vielleicht vage bewußt, oder möglicherweise hatten sie, was plausibler ist,die antijüdischen Bilder und Glaubensvorstellungen verinnerlicht, ohne sie alseine Ideologie zu erkennen, die durch staatliche Propaganda und derenunentwegten Einsatz systematisch verschärft wurde.
Während die wesentliche Mobilisierungsfunktion «des Juden» vom Regime undseinen Dienststellen manipuliert wurde, erfolgte die Förderung einer anderen -nicht weniger entscheidenden - Funktion eher intuitiv. Hitlers Führung hat manoft als «charismatisch» definiert, als eine Führung, die auf jenerquasi-göttlichen Rolle basierte, die charismatischen Führern von denVolksmassen, welche ihnen folgen, zugeschrieben wird. Im Laufe der folgendenKapitel werden wir immer wieder auf die Bindung zurückkommen, die zwischen ihm,der Partei und dem Volk bestand. Hier mag die Feststellung genügen, daß Hitlers persönliche Kontrolle über die überwältigendeMehrheit der Deutschen drei verschiedenen und übergeschichtlichenErlösungscredos entstammte und sie, so weit der Inhalt seiner Botschaftreichte, zum Ausdruck brachte: dem Glauben an die letztlicheReinheit der Rassengemeinschaft, an die Überwältigung von Bolschewismus und«Plutokratie» und an die endliche Erlösung in einem Tausendjährigen Reich (dieallseits bekannten christlichen Themen entlehnt war). In jeder dieserTraditionen repräsentierte der Jude das Böse schlechthin. In diesem Sinneverwandelte sich Hitler durch seinen Kampf in einen göttlichen Führer, da er anallen drei Fronten gegen denselben metahistorischenFeind kämpfte: den Juden.
Überall imdeutschen Machtbereich in Europa wirkten institutionelle Machtkämpfe, dieallgemeine Jagd nach Vorteilen und das Gewicht etablierter Interessengruppenauf die Entfaltung des ideologischen Furors ein. Dieersten beiden Faktoren sind in einer Vielzahl von Untersuchungen beschriebenund interpretiert worden, und sie werden hier in vollem Umfang einbezogen; derdritte Aspekt jedoch, von dem weniger häufig die Rede ist, scheint mirwesentlich in dieser Geschichte zu sein.
In der hochentwickelten modernen deutschenGesellschaft und zumindest in Teilen des besetzten Europa mußteselbst Hitlers Autorität und die der Parteiführung bei der Umsetzung jederbeliebigen politischen Strategie die Forderungen massiver Interessengruppenberücksichtigen, seien es diejenigen von Parteimachthabern (den Gauleitern),der Industrie, der Kirchen, der Bauernschaft oder der Kleingewerbetreibendenusw. Mit anderen Worten, die Imperative der antijüdischen Ideologie mußten sich auch auf eine Vielzahl strukturellerHindernisse einstellen, die sich vom Wesen und von der Dynamik modernerGesellschaften schlechthin herleiteten.
Niemand würde eine derartige Selbstverständlichkeit bestreiten; gerade deshalbist ein Faktum von zentraler Bedeutung: Nicht eine einzige gesellschaftlicheGruppe, keine Religionsgemeinschaft, keine Forschungsinstitution oderBerufsvereinigung in Deutschland und in ganz Europa erklärte ihre Solidaritätmit den Juden. (Auch von der Haltung der christlichen Kirchen wird hier zusprechen sein.) Im Gegenteil: Viele Gesellschaftsgruppen, viele Machtgruppenwaren unmittelbar in die Enteignung der Juden verwickelt und, sei es auch aus Gier, stark an ihrem völligen Verschwindeninteressiert. Somit konnten sich nationalsozialistischeund mit ihnen verwandte antijüdische politische Strategien bis zu ihrenextremsten Konsequenzen entfalten, ohne daßirgendwelche nennenswerten Gegenkräfte sie hieran gehindert hätten.
III
Am 27. Juni1945 schrieb die weltberühmte jüdisch-österreichische Chemikerin Lise Meitner,die 1939 aus Deutschland nach Schweden emigriert war, an ihren ehemaligenKollegen und Freund Otto Hahn, der seine Arbeit im Reich fortgesetzt hatte.Nach dem Hinweis, daß er und die anderen deutschenWissenschaftler viel über die immer schlimmere Verfolgung der Juden gewußt hätten, fuhr Meitner fort: «Ihr habt auch alle fürNazi-Deutschland gearbeitet und habt auch nie nur einen passiven Widerstand zumachen versucht. Gewiß, um Euer Gewissen los zukaufen, habt Ihr hier und da einem bedrängten Menschen geholfen, aber Millionenunschuldiger Menschen hinmorden lassen, und keinerlei Protest wurde laut.»Meitners cri de coeur,der über Hahn an die prominentesten Naturwissenschaftler Deutschlands gerichtetwar, von denen keiner ein aktives Parteimitglied, keiner in verbrecherischeAktivitäten verwickelt war, hätte ebensogut für diegesamte intellektuelle und geistliche Elite des Reiches (selbstverständlich miteinigen Ausnahmen) und für weite Teile der Eliten in den besetzten Ländern undin den Satellitenstaaten Europas gelten können. Und was für die Eliten galt,das galt mit noch größerem Recht für die Bevölkerung der einzelnen Länder(wiederum mit Ausnahmen). Hier waren, wie gesagt, das Nazisystem und dereuropäische Hintergrund eng miteinander verknüpft.
Einige grundlegende Fragen zu den Einstellungen und Reaktionen von Zuschauernkönnen wir immer noch nicht genau beantworten. Das ist entweder auf die Fragenselbst zurückzuführen oder auf das Fehlen wichtiger Dokumente. Die allgemeine Wahrnehmungder Ereignisse läßt sich zum Teil immer noch schwereinschätzen. Eine große Menge von dokumentarischem Material wird jedoch zeigen,daß zwar in Westeuropa, in Skandinavien und in denBalkanländern die Wahrnehmungen, was das Schicksal der deportierten Judenanging, bis Ende 1943 oder sogar bis Anfang 1944 verschwommen gewesen seinmögen, nicht aber in Deutschland selbst und natürlich auch in Osteuropa nicht.Ohne die hier folgenden Interpretationen vorwegzunehmen, läßtsich sagen: Es kann kaum ein Zweifel daran bestehen, daßes Ende 1942 oder spätestens Anfang 1943 einer gewaltigen Zahl von Deutschen,Polen, Weißrussen, Ukrainern und Balten klar vor Augen stand, daß die Juden zur totalen Ausrottung verurteilt waren.
Schwieriger zu erfassen ist die Folge einer derartigen Information. Während derKrieg, die Verfolgung und die Deportationen in ihre letzte Phase eintraten undwährend das Wissen um die Vernichtung sich immer weiter verbreitete, nahm aufdem ganzen Kontinent auch der Antisemitismus zu. Zeitgenossen registriertendiesen paradoxen Trend, dessen Interpretation zu einem beherrschenden Thema imdritten (und letzten) Teil dieser Darstellung werden wird.
Ungeachtet aller Probleme der Interpretation sind die Einstellungen undReaktionen von Zuschauern reichlich dokumentiert. VertraulicheStimmungsberichte des SD, des Sicherheitsdienstes der SS, bieten ebenso wieBerichte anderer Dienststellen aus Staat und Partei ein alles in allemzuverlässiges Bild deutscher Einstellungen. Die Tagebücher von Joseph Goebbels,eine der Hauptquellen dafür, wie sehr Hitler von den Juden besessen war,beschäftigen sich ebenfalls systematisch mit deutschen Reaktionen auf dasJudenproblem, wie sie sich von der Spitze des Systems her darstellten, währendSoldatenbriefe Proben der Einstellungen bieten, die sozusagen auf der unterstenEbene geäußert wurden. In den meisten besetzten Ländern oder Satellitenstaatenberichteten deutsche Diplomaten regelmäßig über die Stimmung in derBevölkerung, beispielsweise angesichts der Deportationen, und offizielleQuellen der lokalen Verwaltung wie etwa die rapportsdes préfets in Frankreich, gingen ebenfalls aufdiese Thematik ein. Individuelle Reaktionen von Zuschauern, auch solche, dievon jüdischen Tagebuchschreibern registriert wurden, werden in das Gesamtbildeingehen, und gelegentlich bieten an einem bestimmten Ort geführte Tagebücher,deren Eintragungen sich, wie im Falle des polnischen Arztes Zygmunt Klukowski, über eine ganze Periode hinweg erstrecken, einlebendiges Bild der Einsichten eines Individuums über die sich wandelndeGesamtszenerie.
Bei den Fragen nach den Zuschauern, die für uns aufgrund der Unzugänglichkeitentscheidender Dokumente nicht zu beantworten sind, steht die Haltung desVatikans und vor allem die von Papst Pius XII. bis heute im Vordergrund.Ungeachtet einer umfangreichen Sekundärliteratur und der Verfügbarkeit einigerneuer Dokumente stellt die Tatsache, daß esHistorikern nicht möglich ist, Zugang zu den Archiven des Vatikans zu erhalten,eine erhebliche Einschränkung dar. Ich werde die Einstellung des Papstes soeingehend behandeln, wie es die gegenwärtige Quellenlage zuläßt,aber der Historiker steht hier vor einem Hindernis, das sich hätte beseitigenlassen, bislang aber noch nicht aus dem Weg geräumt worden ist.
In ihremeigenen Rahmen, getrennt von der detaillierten Geschichte deutscher politischerStrategien und Maßnahmen oder von den Einstellungen und Reaktionen vonZuschauern, ist die Geschichte der Opfer sorgfältig dokumentiert worden, zunächstwährend der Kriegsjahre und dann natürlich seit dem Ende des Krieges. Hier gabes durchaus Studien über die politischen Strategien von Herrschaft und Mord,die aber nur skizzenhaft waren. Das Schwergewicht lag von Anfang an auf dergründlichen Sammlung dokumentarischer Spuren und Zeugnisse zum Leben und Todder Juden: Es ging um die Einstellungen und Strategien der jüdischen Führung,um die Versklavung und Vernichtung jüdischer Arbeiter, die Aktivitätenverschiedener jüdischer Parteien und politischer Jugendorganisationen, um denAlltag im Ghetto, die Deportationen, den bewaffneten Widerstand, denmassenhaften Tod an jedem einzelnen der Hunderte von Tötungsorten, die sichüber das gesamte besetzte Europa verteilten. Auch wenn bald nach dem Krieg hitzigeDebatten und systematische Interpretationen zusammen mit der fortlaufendenSammlung von «Spuren» zu einem untrennbaren Bestandteil dieserGeschichtsschreibung wurden, ist doch die Geschichte der Juden eine in sichgeschlossene Welt und überwiegend die Domäne jüdischer Historiker geblieben.Selbstverständlich kann die Geschichte der Juden während des Holocaust nichtdie Geschichte des Holocaust sein; ohne sie jedoch läßtsich die allgemeine Geschichte dieser Ereignisse nicht schreiben.
In ihrem höchst umstrittenen Buch Eichmann in Jerusalem legte HannahArendt ganz direkt einen Teil der Verantwortung für die Vernichtung der JudenEuropas auf die Schultern der verschiedenen jüdischen Führungsgruppen, derJudenräte. Diese weitgehend unbegründete These machte aus Juden Kollaborateurebei der Vernichtung ihres eigenen Volkes. In Wirklichkeit war jeder Einfluß, den die Opfer auf den Verlauf ihrer eigenen Viktimisierung haben konnten, marginal, aber mancheInterventionen fanden (mit welchem Ergebnis auch immer) in einigen wenigennationalen Kontexten statt. So hatten in mehreren derartigen Situationenjüdische Führer einen beschränkten, aber nicht völlig unbedeutenden Einfluß (positiver oder negativer Art) auf den Verlauf derEntscheidungen, die von nationalen Behörden gefällt wurden. Wahrnehmbar wardies, wie wir sehen werden, in Vichy, in Budapest, Bukarest, Sofia, vielleichtin Bratislava und natürlich in den Beziehungen zwischen jüdischenRepräsentanten und den alliierten und neutralen Regierungen. Überdies hat aufeine besonders tragische Weise der jüdische bewaffnete Widerstand - hier und daauch die Aktivität jüdisch-kommunistischer Widerstandsgruppen wie der GruppeBaum in Berlin -, sei es in Warschau, Treblinka oder Sobibór,möglicherweise zu einer beschleunigten Vernichtung der verbleibenden jüdischenSklavenarbeiterschaft geführt (zumindest bis Mitte 1944).
Von außerordentlicher Bedeutung war auch die Interaktion zwischen den Juden inden besetzten Ländern, den Satellitenstaaten, den Deutschen und der sieumgebenden Bevölkerung auf der unteren Ebene. Von dem Augenblick an, als dieVernichtungspolitik in Gang gesetzt wurde, waren alle Schritte, die von Judenunternommen wurden, um das Bemühen der Nazis zur Vernichtung jedes Einzelnen zubehindern, ein unmittelbarer Gegenzug - und sei es auf minimaler individuellerEbene: Beamte, Polizisten oder Denunzianten bestechen, Familien dafür bezahlen,daß sie Kinder oder Erwachsene verstecken, in dieWälder oder ins Gebirge fliehen, in kleine Dörfer verschwinden, konvertieren,sich Widerstandsgruppen anschließen, Lebensmittel stehlen - alles, was einemMenschen einfiel und das Überleben ermöglichte, hieß, der deutschen Zielsetzungein Hindernis in den Weg zu legen. Auf dieser Mikro-Ebene fand die grundlegendeund fortlaufende Interaktion der Juden mit den Kräften statt, die bei derDurchführung der «Endlösung» am Werk waren. Diese Mikro-Ebene bedarf dernachhaltigsten Untersuchung. Und hier gibt es Dokumente in Hülle und Fülle.
Die Geschichte der Vernichtung der europäischen Juden läßtsich aus der Perspektive der Opfer nicht nur durch spätere Zeugnisse (Aussagenvor Gericht, Interviews und Memoiren) rekonstruieren, sondern auch mit Hilfeder ungewöhnlich großen Zahl von Tagebüchern (und Briefen), die während derEreignisse geschrieben und im Laufe der darauffolgendenJahrzehnte aufgefunden wurden. Diese Tagebücher und Briefe schrieben Judenaller europäischen Länder, aus allen Lebensbereichen, allen Altersgruppen, dieentweder unter unmittelbarer deutscher Herrschaft oder mittelbar in der Sphäreder Verfolgung lebten. Selbstverständlich muß man dieTagebücher mit der gleichen kritischen Aufmerksamkeit benutzen wie jedes andereDokument, vor allem dann, wenn sie nach dem Krieg von dem überlebendenVerfasser oder von überlebenden Familienmitgliedern publiziert worden sind. AlsQuelle für die Geschichte des jüdischen Lebens während der Jahre der Verfolgungund Vernichtung bleiben sie jedoch entscheidend und unersetzlich.
Ob die Mehrzahl der jüdischen Tagebuchschreiber in der Frühphase des Kriegesdeshalb mit dem Schreiben begann oder die Aufzeichnungen fortführte, weil siefür eine künftige Geschichte über die Ereignisse Buch führen wollte, läßt sich schwer feststellen; als sich aber die Verfolgungverschlimmerte, wurden sich die meisten von ihnen ihrer Rolle als Chronistenund Memoirenschreiber ihrer Epoche sowie als Interpreten und Kommentatorenihres persönlichen Schicksals bewußt. Bald vertrautenHunderte, ja wahrscheinlich Tausende von Zeugen ihre Beobachtungen der Verschwiegenheitihrer privaten Aufzeichnungen an. Große Ereignisse und vieles, was alltäglicheVorfälle betraf, Einstellungen und Reaktionen der umgebenden Welt verschmolzenzu einem immer umfassenderen, wenn auch gelegentlich widersprüchlichen Bild.Sie gestatten Einblicke in Einstellungen auf höchster politischer Ebene(beispielsweise in Vichy-Frankreich und in Rumänien), sie schildern in allenEinzelheiten die Initiativen und die alltägliche Brutalität der Täter, dieReaktionen der Bevölkerung, das Leben und die Vernichtung ihrer eigenenGemeinschaften, aber sie halten auch die Welt ihres Alltags fest. StarkeÄußerungen von Hoffnung und Illusionen treten zutage; die wildesten Gerüchte,die phantastischsten Interpretationen der Ereignisse erscheinen zumindest eineZeitlang als plausibel. Für viele werden die katastrophalen Ereignisse auch zueiner Herausforderung für ihre früheren Überzeugungen, für die Bedeutung ihresideologischen oder religiösen Engagements, für die Werte, die ihr Lebenbestimmt haben.
Jenseits ihrer allgemeinen historischen Bedeutung gleichen solche persönlichenChroniken Blitzlichtern, die Teile einer Landschaft erleuchten: Sie bestätigenAhnungen, sie warnen uns vor der Mühelosigkeit vager Verallgemeinerungen.Manchmal wiederholen sie nur mit unvergleichlicher Überzeugungskraft dasBekannte. Um es mit Walter Laqueur zu sagen: «Es gibtgewisse Situationen, die so extrem sind, daß es eineraußerordentlichen Anstrengung bedarf, um ihre Ungeheuerlichkeit zu begreifen,sofern man sie nicht miterlebt hat.»
Bis heute hat man die individuelle Stimme vorwiegend als eine Spurwahrgenommen, als die Spur, welche die Juden hinterlassen haben,welche Zeugnis ablegt, ihr Schicksal bestätigt und veranschaulicht. In denfolgenden Kapiteln werden die Stimmen der Tagebuchschreiber aber noch eine ganzandere Rolle spielen. Gerade durch ihr Wesen, kraft ihrer Menschlichkeit undFreiheit, kann eine individuelle Stimme, die sich plötzlich im Verlauf dergewöhnlichen historischen Erzählung von Ereignissen wie den hier dargestelltenerhebt, eine glatte Interpretation und die (meist unwillkürliche)Selbstgefälligkeit wissenschaftlicher Distanz und «Objektivität» durchbrechen.In einer Geschichte des Weizenpreises am Vorabend der Französischen Revolutionwäre eine derartige disruptive Funktion kaumerforderlich, aber für die historische Repräsentation von massenhafterVernichtung und anderen Abfolgen massenhaften Leidens, die von einer Business-as-usual-Historiographie zwangsläufigdomestiziert und sozusagen «verflacht» wird, ist sie unentbehrlich.
Jeder von uns nimmt die Wirkung der individuellen Stimme anders wahr, und jederMensch wird durch die unerwarteten «Schreie und geflüsterten Worte», die unsimmer wieder dazu zwingen, abrupt innezuhalten, auf andere Weise herausgefordert.Einige beiläufige Reflexionen über bereits wohlbekannte Ereignisse mögengenügen, entweder infolge ihrer kraftvollen Beredsamkeit oder wegen ihrerhilflosen Ungeschicklichkeit; oftmals kann die Unmittelbarkeit des Schreieseines Zeugen, in dem Entsetzen, Verzweiflung oder unbegründete Hoffnung liegen,unsere emotionale Reaktion auslösen und unsere vorgängige, gut geschützteWahrnehmung extremer historischer Ereignisse erschüttern.
Kehren wirzu Moffies Photographie zurück, zu dem auf sein Jackettaufgenähten Stern mit seiner abstoßenden Inschrift und zu dessen Bedeutung: Wiealle Träger dieses Zeichens sollte der junge Doktor der Medizin von derErdoberfläche verschwinden. Sobald man ihre Botschaft verstanden hat, löstdiese Photographie Fassungslosigkeit aus. Sie ist eine quasi-instinktiveReaktion, ehe das Wissen sich einstellt, um sie sozusagen zu unterdrücken. MitFassungslosigkeit ist hier etwas gemeint, das aus der Tiefe der eigenenunmittelbaren Weltwahrnehmung aufsteigt, der Wahrnehmung dessen, was normal istund was «unglaublich» bleibt. Das Ziel des historischen Wissens besteht darin,die Fassungslosigkeit zu domestizieren, sie wegzuerklären. In diesem Buchmöchte ich eine gründliche historische Untersuchung über die Vernichtung der JudenEuropas vorlegen, ohne das anfängliche Gefühl der Fassungslosigkeit völlig zubeseitigen oder einzuhegen.
© Verlag C.H. Beck
Aus dem Englischen von MartinPfeiffer
- Autor: Saul Friedländer
- 2006, 2. Aufl., 869 Seiten, 2 Abbildungen, Maße: 15,4 x 22,8 cm, Leinen, Deutsch
- Übersetzer: Martin Pfeiffer
- Verlag: Beck
- ISBN-10: 3406549667
- ISBN-13: 9783406549663
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