Die Legende der Terrarch Band 2: Der Schlangenturm
Der Schlangenturm von William King
LESEPROBE
1. Kapitel
Kein Plan überlebt die Konfrontationmit dem Gegner.
Manchmal gilt das sogar für ganzeArmeen.
Armande Koth, Kriegsführung im Zeitalter der Muskete und desDrachens
»Und wo bleibenjetzt die verdammten Tanzmädchen, Halbblut?«,flüsterte Froschgesicht und spähte aus dem dichten Unterholz in den Wald umsich herum. Rik legte einen Finger auf die Lippen.Wenn der hässliche Kerl mit den hervorquellenden Augen nicht gleich den Schnabelhielt, würden sie noch beide mit aufgeschlitzter Kehle enden. Der Feind lagwomöglich nur zwanzig Schritte entfernt. Diese Wälder waren so dicht, dass sichein ganzes Regiment darin hätte verstecken können.
Rikverstand schon, warum Froschgesicht vergrätzt war. Diese Aufklärungsmissionwäre eigentlich nicht nötig gewesen. Niemand hätte gedacht, dass es jetzt schonzu Kämpfen käme. Als die taloreanische Armee dieGrenze nach Kharadrea überschritt, hatte sie damitgerechnet, auf befreundete Truppen zu treffen. Angeblich stand diese Provinzloyal zu Königin Kathea, ihrer Verbündeten, und wurdevon ihrem getreuen Stellvertreter und Onkel, Fürst Ilmarec,beherrscht.
Auf demMarsch über den Bruchzahnpass hatten die Soldaten heftig darüber spekuliert,was ihnen für ein Empfang zuteilwerden würde. In dergesamten taloreanischen Armee hatte man vonTanzmädchen und Wein gesprochen. Stattdessen aber hatten sie, seit sie aufdieser Seite der Grenze in das Tiefland eingerückt waren, nichts alsHinterhalte und Attacken durch feindliche Kavallerie erlebt. Die Dörfer lagenverlassen da, und das Vieh hatte man fortgetrieben.
Offenbargestaltete sich die Situation doch etwas anders, als man sie hatte glaubenmachen wollen; und deswegen lag Rik jetzt unterdiesem Busch und wartete darauf, dass Wiesel und der Barbar zurückkehrten undberichteten, was sie weiter vorn gesehen hatten. Er rechnete nicht mit gutenNachrichten. Das tat er nie, denn dazu war er schon zu lange bei der Armee.Wenigstens hatte es aufgehört zu regnen. Für seinen Geschmack hatten sie inletzter Zeit zu viel davon abbekommen. Schöner Sommer das, dachte er.
»Es hieß,das sei ein einfacher Auftrag«, murrte Froschgesicht. Mit seineraußergewöhnlich langen Zunge leckte er sich über die Lippen. Im Zwielicht desWaldes wirkte sein pockennarbiges Gesicht mit den hervorquellenden Augenregelrecht unheimlich, wie die Kreuzung aus einer uralten dekadenten Speziesund einer heruntergekommenen Menschenart. Legenden wollten wissen, dass nochjede Menge Vertreter der Alten Rassen in diesen Wäldern lebten. Seit den Zeitenvor der Ankunft der Terrarch waren sie die Heimat dersagenumwobenen Schlangenmenschen gewesen, und angeblich gingen ihre Geisternoch immer in diesem Wald um.
Rik zogeinen Finger über die Kehle und hoffte, dass sein Kamerad die Botschaft diesesMal verstünde. Froschgesicht warf ihm einen empörten Blick zu, hielt aber jetztden Mund.
Ringsumhatten sich die Fourageure in einer langen Liniedurch den Wald verteilt. Ihre grünen Uniformröcke passten sich der Umgebung an,und abgesehen von einer gelegentlich hervorgestoßenen mürrischen Bemerkung wares still. Wenn Rik es nicht anders gewusst hätte,hätte er nie erraten, dass sich in seiner Nähe fast vierzig Männer und ein Terrarch verbargen.
Selbst ihrnichtmenschlicher kommandierender Offizier, Leutnant Sardec,schien etwas gelernt zu haben. Er hatte seinen scharlachroten Offiziersrockgegen ein grünes Wams ausgetauscht, das sich gut in das frühsommerlicheLaubwerk einfügte. Doch Adaana wusste, dass niemand Probleme haben würde, ihnoder seine Stimme zu erkennen. Sardec war ein Terrarch, einer der Herrscher dieser Welt. Er war hochgewachsen, elfenhaft und besaß spitze Ohren undmandelförmige Augen. Sein Haar war fein wie gesponnenes Silber. Anstelle derHand, die er im Kampf mit dem Dämonengott Uran Uhltarverloren hatte, trug er jetzt einen gefährlich aussehenden Haken. Zusammen mitseinen frischen Narben wirkte er damit recht unheimlich.
Rikbetrachtete ihn mit gemischten Gefühlen. Früher einmal hatte Sardec ihn drangsaliert, weil er ein Mischling war, etwas,das Sardec als einen Affront gegen sich selbst undall seine drachenreitenden Vorfahren zu betrachtenschien. Und Rik hatte ihn dafür gehasst! Erverabscheute Sardec immer noch, aber der Offizierschien sich verändert zu haben, obwohl sich Rik nichtsicher war, woran das lag. Doch aus irgendeinem Grund hatte er die ewigenSchikanen gegen ihn eingestellt.
Vielleichtlag es daran, dass er seine Hand verloren hatte, oder an einem Zusammentreffenmit dem Dämon unter dem Gebirge vor zwei Monaten. Oder es war etwas ganzanderes. In letzter Zeit hatte sich Sardec so weitzurückgehalten, wie ein Terrarch das Menschengegenüber nur fertigbrachte. In den Höllentunnelnunterhalb der untergegangenen Stadt Achenar hatte ersich die Achtung der Männer erworben, und vielleicht hatte ihn dieser neueRespekt auch verändert. Die Kompanie erwartete von ihm, dass er sich wie einAnführer verhielt, und danach handelte er jetzt auch.
Flüchtigspürte Rik den Drang, Leon gegenüber eine Bemerkungdarüber zu machen, doch dann fiel ihm wieder ein, dass sein Freund seit zweiMonaten tot war, niedergemacht von einem Dämon aus der Alten Welt, in derselbenSchlacht, in der Sardec seine Hand verloren hatte.Selbst nach so langer Zeit hatte sich Rik mit diesemVerlust nicht abgefunden.
Er hatteLeon gekannt, solange er denken konnte. Zusammen waren sie aus denweitläufigen, zugigen Hallen des Tempelwaisenhauses von Drangsal geflüchtetund Diebe geworden. Sie waren gemeinsam in die Armee der Königin eingetretenund hatten während der gesamten Rebellion des Uhrmachers Seite an Seite gekämpft.Es schien einfach nicht möglich zu sein, dass Leon mit gerade mal achtzehnJahren gefallen war, Opfer eines Ungeheuers aus uralter Dunkelheit. Und Rik selbst hatte auch noch dazu beigetragen, diesesMonstrum auf die Welt loszulassen.
SchmerzhafteSchuldgefühle stiegen in ihm auf. Nie wieder würde er Leons Züge eines magerenGassenjungen sehen, nie mehr zuschauen, wie er auf seiner angeschlagenenTonpfeife kaute oder sich seine Glück bringende Feder an die Kappe steckte.Jetzt war niemand mehr da, der über seinen Rücken wachte, und dabei hatte Rik dieser Tage das Gefühl, einen solchen Schutz mehr dennje zu brauchen. Seit Fürst Azarothe das Kommandoübernommen und die Armee die taloreanische Grenzeüberschritten hatte, war das Leben gefährlicher geworden.
Auf einmaltauchten Wiesel und der Barbar aus dem Unterholz auf. Sie schienen sich wiedurch Zauberei aus dem Nichts zu erheben. Wiesels Fähigkeit, sich lautlos zubewegen, überraschte Rik nicht. Der ehemaligeWilddieb war der beste Jäger der Kompanie, und dabei bestand diese Kompaniesämtlich aus Männern, die sich ausgezeichnet auf das Überleben in freier Naturverstanden. Wiesel war groß und hager, mit schütterem Haar, langem Hals undhervorstehendem Adamsapfel. Aus seinen mageren, listigen Zügen ragte diegewaltige Nase wie eine Klinge hervor. Die zerfetzte Uniform schlotterte umseinen Körper herum. In einer seiner knochigen Hände hielt er ein Gewehr, undin der anderen trug er - merkwürdig unpassend in dieser Situation- eingebratenes Huhn.
Bei demBarbaren verhielt sich das schon anders. Es war geradezu seltsam, dass jemand,der so vierschrötig war, sich doch so leise zu bewegen vermochte. Er wareineinhalb Mal so groß wie Rik und weit schwerer.Rund um seinen oben kahlen Schädel wallte dichtes blondes Haar herab. Eindicker Walross-Schnurrbart bedeckte den unteren Teil seines Gesichts. Er wirkteein klein wenig schmaler als früher, doch dies blieb die einzige sichtbareNachwirkung der schweren Verwundung, die er in der unterirdischen Stadt Achenar erlitten hatte. Die Heilzauber des Magistershatten ausgezeichnet angeschlagen, doch das überraschte Riknicht.
SolcheZauberformeln bezogen ihre Wirkung zum Teil aus der eigenen Vitalität desPatienten, und davon besaß der Barbar mehr als genug. Er strahlte rohe Kraftaus - wie ein Preisbulle. Vielleicht war wirklich etwas dran an seinenPrahlereien über die Widerstandskraft seines Volkes. Der Barbar war einVerbannter aus den schneebedeckten Landen weit im Norden, einer Gegend, die dieTerrarch nie erobert hatten. Darauf war eraußerordentlich stolz, wenngleich Wiesel anzumerken pflegte, dass es dort obennichts gab, was die Terrarch würden haben wollen.
Die beidenstanden vor Sardec, dessen Versteck sie offenbarmühelos gefunden hatten.
»Und?«, wollte Sardec wissen. Ersprach leise, doch seine Stimme war weithin zu hören. Und man hätte sie auchnicht mit einer menschlichen Stimme verwechseln können. Sie besaß einenleichten metallischen Unterton und erklang im Tonfall der herrschenden Klasseder Terrarch.
»Dort vornsind Männer, Herr«, sagte Wiesel. Irgendwie wirkte er immer dreist, selbstwenn er versuchte, normal zu sprechen. Wahrscheinlich war es etwas an seinenGesichtszügen, vermutete Rik. »Besonders freundlichwirkten sie nicht. Sie hatten erst ein paar von unseren Kavalleristen an einenBaum gefesselt und dann ziemlich unfreundliche Dinge mit heißen Messern getan.«
»Bist dusicher, dass es unsere Männer waren?«
»Der einewar Sergeant Kalmek vom 17.Husarenregiment.Vorgestern Abend habe ich beim Kartenspiel gegen ihn gewonnen. Er schuldet mirnoch Geld.«
»DeineSpielschulden gehen uns hier nichts an«, gab Sardeczurück. Wie immer, wenn jemand auf Spielschulden anspielte, zuckte er leichtzusammen. Zweifellos erinnerte ihn das an Mama Hornes Salon in Rotturm, wo erund seine Offiziersfreunde sich in den Niederungen der menschlichenGesellschaft zu amüsieren pflegten. Rik versuchteerfolglos, sich seiner Verbitterung zu erwehren. Bei Mama Horne hatte Sardec das Mädchen Rena aufgelesen. Auch Rik hatte sie dort kennengelernt.Er versuchte sich einzureden, nicht eifersüchtig zu sein, doch es misslang ihm.
Wieselwandte den Blick von seinem Offizier ab. Rik konnteseine Miene genau erkennen; sie schien zu besagen, dass ihm die Schuldenwichtig waren.
»Sonst nochwas?«, fragte Sardec.
»In derNähe der Furt liegt ein großes, befestigtes Herrenhaus«, sagte Wiesel. »DieTore standen offen, und drinnen befanden sich nur wenige Männer. Alle anderenwaren offensichtlich zum Fluss runtergelaufen, umsich den Spaß nicht entgehen zu lassen.«
»Woher hastdu das Huhn, Soldat?«, wollte Sardecwissen.
»Steckte aneinem Spieß, Herr. Habs mir unter den Nagel gerissen, als ich durch dasfeindliche Lager gegangen bin.«
»Du bisteinfach in das feindliche Lager hineinspaziert?« DerLeutnant klang unverhohlen ungläubig.
»Ich habeeinem Wachposten sein Abzeichen abgenommen und beschlossen, mich einmalumzusehen, Herr. Niemand hat mir die geringste Beachtung geschenkt. Waren alleviel zu sehr damit beschäftigt, Kalmek beim Schreienzuzuhören.« Rik zweifeltenicht daran, dass sich Wiesels Geschichte genauso abgespielt hatte. Er war sofurchtlos, dass es schon an Wahnsinn grenzte, und bestimmt hatte ihm seinunverwüstlicher Gleichmut geholfen, den Bluff durchzuhalten. »Möchtet Ihr etwasHuhn, Herr? Es ist sehr gut.«
Sardecsah auf den angebotenen Braten hinunter, als hielte Wiesel einen HaufenStallmist in den Händen. Kein Terrarch würde Nahrunganrühren, von der bereits ein Mensch gekostet hatte. Langsam schüttelte er denKopf und wandte seine Aufmerksamkeit dem Barbaren zu. Der Hüne kaute auf demEnde seines Schnurrbarts. »Es ist genau, wie Wiesel sagt, Herr«, erklärte erdann. »Sie waren zu ungefähr fünfzig. Und in Uniform.«
Sardeczog eine Augenbraue hoch. »Was für Farben?«
»Sie habenblaue Armbinden getragen.«
»Das kommtmir etwas unwahrscheinlich vor«, erklärte Sardec.
»Sie trugensie aber alle, Herr«, beharrte Wiesel. Er steckte die Hand in die Tasche undzog einen langen, schmierigen Streifen blauen Stoffs hervor. Es hätte sichtatsächlich um ein eilig zurechtgemachtes Zeichen handeln können, das dafürstand, dass diese Soldaten zu den Unterstützern der Königin und Kaiserin Arachne von Sardea gehörten.
»Das istetwas Neues«, sagte Sardec. Das war es allerdings.Niemand hätte eine Armee der Blauen im Umkreis von hundert Meilen vermutetet.Doch offenbar waren ihre Nachrichten überholt. Rikwar nicht wirklich überrascht. Trotz ihrer hellseherischen Kristalle und aufDrachen fliegenden Kundschafter konnte eine Armee immer Fehler machen. Offenbarwaren nicht einmal berühmte Generäle wie Azarothedagegen gefeit.
»Bist dudir sicher, dass es nur fünfzig waren?«
»Nun, Herr«,schaltete sich Wiesel ein, »der Barbar hier hat schon einige Probleme damit,mehr als seine Finger abzuzählen, aber ich schätze auch, dass es mindestensfünfzig waren, möglicherweise sogar mehr.« Der Barbarzog ein finsteres Gesicht, doch überall im Unterholz kam leises Gelächter auf,was wahrscheinlich erklärte, warum Sardec Wieselnicht über den Mund fuhr. So kurz vor einem Kampf war jeder Scherz, der dieMoral stärkte, willkommen. Sardec sah sich nach demaffengesichtigen Sergeant Hef um. Die beiden, der Terrarch und der menschliche Offizier, schienen ihreGedanken gegenseitig zu lesen.
»Dann lasstuns vorrücken und unsere Gefangenen befreien«, befahl Sardec.»Und selbst ein paar machen. Fürst Azarothe wirdsicherlich mit ihnen reden wollen.«
Die Nachrichtverbreitete sich entlang der Frontlinie. Die Fourageureschickten sich zum Vorrücken an. Rik war froh, alsWiesel und der Barbar neben ihm Stellung bezogen. Die beiden waren gefährlicheGegner, und gemeinsam hatten sie schon viele ausweglos erscheinende Situationendurchgestanden.
»EtwasHühnchen?«, fragte Wiesel. Er riss eine Keule ab undreichte sie Rik.
»Warumnicht?«, sagte Rik. DasFleisch war herrlich saftig. Ein Gedanke an zum Tode verurteilte Männer undHenkersmahlzeiten huschte ihm durch den Kopf, doch er versuchte ihn nicht zubeachten.
© PiperVerlag
Übersetzung:Barbara Röhl
- Autor: William King
- 2007, 444 Seiten, Maße: 13,6 x 21,5 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Übersetzung: Röhl, Barbara
- Übersetzer: Barbara Röhl
- Verlag: Piper
- ISBN-10: 3492750028
- ISBN-13: 9783492750028
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