Die Medica von Bologna
Roman
Bologna, 1552: Frauen ist ein Medizinstudium nicht erlaubt. Desewegen besucht Carla heimlich Vorlesungen an der Uni. Dort verliebt sie sich in Professor Gaspare Tagliacozzi. Doch sie wird immer wieder von ihm enttäuscht.
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Produktinformationen zu „Die Medica von Bologna “
Bologna, 1552: Frauen ist ein Medizinstudium nicht erlaubt. Desewegen besucht Carla heimlich Vorlesungen an der Uni. Dort verliebt sie sich in Professor Gaspare Tagliacozzi. Doch sie wird immer wieder von ihm enttäuscht.
Klappentext zu „Die Medica von Bologna “
Bologna 1552. Mit einem entstellenden Feuermal - für die Inquisition ein Schandmal der Sünde - kommt Carla zur Welt. Um sich von diesem Makel zu befreien, träumt sie davon, eine Medica zu werden. Doch ein Medizinstudium ist ihr als Frau verwehrt. Sie gibt nicht auf. Heimlich besucht sie Vorlesungen an der Universität, wo der charismatische Chirurg Gaspare Tagliacozzi die Kunst der Gesichtsoperationen lehrt. Sie hofft auf seine begnadeten Hände und verliebt sich dabei rettungslos in ihn. Doch Gaspare, der ihre Liebe nur zum Schein erwidert, schickt sie auf eine tödliche Mission ...
Lese-Probe zu „Die Medica von Bologna “
Die Medica von Bologna von Wolf SernoTEIL I - Marco
Das Feuermal - La voglia di vino
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Ich bin eine vergessene Frau. Von den achtundvierzig Jahren, die ich auf dieser verrückten Welt lebe, habe ich die letzten sechzehn Jahre in strenger Abgeschiedenheit verbringen müssen, getrennt von den Menschen, die mir nahestanden, verlassen von ihrer Liebe, ihrer Güte, ihrer Treue.
Zum Schweigen verdammt.
Sechzehn Jahre sind eine halbe Ewigkeit, in der ich mühsam gelernt habe, mich in mein Schicksal zu fügen und meinen Kopf in Demut zu beugen. Und doch: Immer wieder denke ich, dass ich meine Stimme erheben und die Geschichte meines Lebens erzählen soll. Nicht, um meiner Eitelkeit Genüge zu tun, sondern um die Wahrheit ans Licht zu bringen.
Ich will deshalb die Dinge beim Namen nennen, ich will berichten, wie sie wirklich waren, nach bestem Wissen und Gewissen, ohne schmückendes Beiwerk und ohne etwas zu verschweigen. Denn die Wahrheit, so heißt es, ist unteilbar, und schon die halbe Wahrheit kommt einer Lüge gleich.
Wer diese Zeilen liest, wird es wahrscheinlich in einer fernen Zeit tun, wenn die Arkaden der Universität von Bologna schon lange nicht mehr stehen und der Wind ihre Überreste bis zur Unkenntlichkeit glattgeschliffen hat. Unzählige Wasser werden bis dahin den Reno und die Savena hinabgeflossen sein, doch die Wahrheit wird ihre Gültigkeit behalten, denn sie ist unabänderlich bis zum Tage des Jüngsten Gerichts.
Mein Name ist Carla Maria Castagnolo. Ich wurde anno 15 5 2 im Zeichen des Widders geboren, weshalb ich die Eigenschaften dieses Sternzeichens von jeher im Blut habe: das heiße Herz und den kühlen Kopf. Feuer und Wasser waren es, die in mir um die Oberhand rangen, solange ich denken kann. Doch war ich bisweilen auch halbherzig, eigensinnig und sogar rachsüchtig, was dazu führte, dass ich mir selbst im Wege stand und mich hasste. So manches Mal war mein Fleisch stärker als mein Kopf, mein Eigensinn größer als die gebotene Einsicht. Viele Fehler habe ich deshalb in meinem Leben gemacht, Fehler, aus denen ich gelernt habe, auch wenn ich keineswegs sicher bin, ob ich einige von ihnen nicht wiederholen würde - denn mein Wille, die Welt gerechter zu machen, ist ungebrochen.
Vor Gott sind alle Menschen gleich, so steht es in der Heiligen Schrift. Doch warum gilt ein Bauer weniger als ein Adliger, ein Armer weniger als ein Reicher, eine Frau weniger als ein Mann? Warum soll das Leben des Einfältigen weniger wert sein als das des Klugen, das Leben eines Sklaven weniger als das seines Herrn?
Und warum ist das Geschick des Arztes umso größer, je schwerer der Geldbeutel des Kranken wiegt?
Wir alle werden nackt und ohne Sünde geboren. Jedes Kind, ob Junge oder Mädchen, wird von Gott gleichermaßen geliebt und hat für die Dauer seines Lebens den gleichen Anspruch auf Gesundheit, Geborgenheit und Entfaltung - unabhängig davon, in welches Haus es hineingeboren wurde. Das ist die Erkenntnis, die der Wahrheit entspringt. Der ganzen Wahrheit.
Warum erzähle ich das alles? Weil ich, bevor meine Geschichte beginnt, keinen Zweifel daran lassen will, wie ich denke. Und weil ich deutlich machen will, wie das Glas gefärbt ist, durch das ich die Welt betrachte.
Während ich dieses sage, liegt meine Hand auf einer goldenen Maske. Es ist eine Venusmaske, gewidmet der Göttin der Liebe, des Verlangens und der Schönheit. Sie ist kühl und glatt, und die Berührung mit ihrer Oberfläche inspiriert meine Sinne. Ihr Schein ist so funkelnd hell, dass sie sogar einen dämmrigen Raum mit Licht erfüllen kann. Warum sie das Kostbarste ist, was ich noch besitze, werde ich später berichten, ebenso, wie ich später von meinem Diener Latif berichten werde, der sich bereit erklärt hat, diese meine Worte aufzuschreiben. Latif ist treu und verschwiegen, und nichts Menschliches ist ihm fremd. Er wird mir helfen, meine Geschichte festzuhalten - auch dann, wenn es um Dinge geht, über die ich eigentlich niemals sprechen wollte.
Denn ich selbst kann nicht mehr schreiben. Seit einigen Jahren hat mich die Schüttellähmung geschlagen, eine Krankheit, die sich neben anderen tückischen Symptomen im Zittern der Hände äußert. Doch ich will nicht klagen, finchè c'e vita, c'e speranza, wie es heißt.
Also fange ich an.
Meine erste Erinnerung, ich war drei oder vier Jahre alt, ist ein Streit. Ein heftiger Streit zwischen zwei Frauen, von denen ich nur eine kannte - meine Mutter. Die andere Frau hieß Signora Donace. Sie war eine Kundin meiner Mutter, die als Schneiderin für die vornehmen Damen Bolognas arbeitete. Doch Signora Donace wirkte an jenem Morgen alles andere als vornehm, denn sie schrie wie das Weib eines Kesselflickers, während sie ein Kleid in die Höhe hielt und heftig an dessen Ärmeln zerrte. Das Kleid kam mir riesengroß vor, so groß wie eine Wolke am Himmel, nur dass es nicht weiß war, sondern feuerrot. Es war gänzlich aus Seidenorganza gefertigt, mit hochgesetzter Taille und tiefem Dekolleté. Das Mieder und die Oberärmel zierten filigrane Goldgitter, und an den Seiten wurde es mit farblich zu den Gittern passenden Schnürungen geschlossen.
Aber all das wusste ich damals noch nicht. Ich sah nur die gewaltige rote Wolke, während die Worte der fremden Frau wie ein Wasserfall auf meine Mutter einstürzten: Sie habe keine festgenähten, sondern abnehm- und austauschbare Ärmel gewollt, zeterte Signora Donace, Ärmel, die resedagelb seien, Ärmel, die im unteren Bereich weiter seien, bauschiger, großzügiger, Ärmel, die überdies Schlitze aufwiesen, tiefe Schlitze, wie es die Mode vorschriebe, ob die hochgelobte Signora Castagnolo noch nie etwas von der neuesten Mode gehört habe, mit diesem Fetzen könne sie sich als Gattin eines Patriziers niemals auf der Piazza Maggiore sehen lassen, sie würde sich vor ihren Freundinnen unsterblich blamieren und so weiter und so weiter.
Je lauter Signora Donace wurde, desto leiser sprach meine Mutter. Sie wandte immer wieder ein, sie habe nur angefertigt, was die gnädige Frau bei ihr in Auftrag gegeben hätte. Genau das habe sie getan, mehr könne sie doch nicht tun.
Die Signora schimpfte weiter und herrschte meine Mutter an, was sie sich einbilde, ob sie eine Dame der ersten Gesellschaft Bolognas Lügen strafen wolle, das ginge nun wirklich zu weit. Das müsse sie sich nicht bieten lassen. Und sie riss die rote Wolke hoch und schleuderte sie wütend von sich.
Ich hatte mich bis dahin hinter den Stoffballen neben dem Schneidertisch aufgehalten und dort mit meinen Puppen gespielt, doch durch den immer lauter werdenden Streit bekam ich Angst und wollte fortlaufen. Ich kam nicht weit. Denn die rote Wolke flog auf mich zu, füllte plötzlich das ganze Zimmer aus und begrub mich unter sich. Ich konnte nichts mehr sehen. Ich strampelte. Ich verhedderte mich, konnte nicht vor und zurück. Panik stieg in mir hoch, ich begann aus Leibeskräften zu brüllen.
»Wer schreit da so?«, begehrte Signora Donace zu wissen. »Ist das ein Kind?«
»Ja, Signora«, antwortete meine Mutter, »es ist meine Tochter. «
»Ihr solltet ihr das Schreien abgewöhnen. Es zeugt von schlechtem Benehmen!«
»Ja«, sagte meine Mutter tonlos.
Signora Donace entfernte sich rasch.
Sie kam nie wieder.
Einige Jahre später, ich erinnere mich noch genau, bat ich meine Mutter, sie zu einer Kundin in die Stadt begleiten zu dürfen. Wir wohnten damals in einem einfachen Haus am Ende der Strada San Felice, im äußersten Westen, wo das Stadtbild noch weitgehend von Feldern und Wiesen geprägt war. Die Menschen, die dort lebten, hatten wenig zu beißen, und auch meine Mutter fragte sich oftmals am Morgen, was sie am Abend kochen sollte. Doch das wusste ich natürlich nicht, meine Sorgen waren ganz anderer Art. Mich reizte die große Stadt, deren Dächer und Türme täglich aus der Ferne herübergrüßten und deren Geräusche in meinen Ohren wie das Summen von tausend Bienen klangen.
»Kann ich mit, Mamma?«, fragte ich.
»Nein, Carla.« Meine Mutter schüttelte den Kopf. »Es ist besser, wenn du hierbleibst.«
»Bitte, Mamma! Ich war noch nie mit, immer lässt du mich allein.«
»Glaub mir, es ist besser so.«
»Nur dieses Mal, bitte!« Ich begann zu weinen. Die Aussicht, wieder viele Stunden auf meine Mutter warten zu müssen, bedrückte mich. Es gab keine Menschenseele, die mir während ihrer Abwesenheit Gesellschaft leisten konnte, denn ich hatte weder Geschwister noch Verwandte. »Bitte, bitte!«
Meiner Mutter fiel es schwer, mir meinen Wunsch abzuschlagen, das sah ich, deshalb weinte ich noch lauter, doch der Moment ihres Zögerns war schon vorbei. »Sei vernünftig«, sagte sie, »ich bin bald zurück, und wenn Signora Vascellini heute ihre Rechnung bezahlt, kaufe ich ein Hühnchen auf dem Markt und koche uns eine Suppe.«
»Nein!« Ich stampfte mit dem Fuß auf. »Nein, nein, nein!« Aber auch dieser Protest half nichts. Meine Mutter seufzte nur und wandte sich ab. Ich sah, wie sie den großen Weidenkorb nahm, in dem sie die Produkte ihrer Nähkunst zu transportieren pflegte, und auf die Haustür zuging. »Du kannst nicht mitkommen, Carla. Wenn du älter bist, wirst du verstehen, warum es nicht geht. Nun weine nicht mehr. Arrivederci, meine Kleine.«
Die Tür fiel ins Schloss, meine Mutter sperrte von außen ab, und ich blieb zurück.
Ich schluchzte noch ein wenig, dann beruhigte ich mich. Es machte keinen Sinn mehr, zu weinen. Ich setzte mich im Schneidersitz auf den Boden und nahm Bella, meine Lieblingspuppe, auf den Arm. Ich begann, sie hin und her zu wiegen, und fragte: »Bella, warum nimmt Mamma mich nie mit?« Aber Bella, die wie alle meine Puppen sprechen konnte, schwieg diesmal.
Das verdross mich. Ich legte sie zurück in ihr Bettchen und stand auf. Mein Blick ging zur Tür, durch die meine Mutter vor wenigen Augenblicken verschwunden war. »Ich will zu den Bienen«, murmelte ich, »ja, zu den Bienen.« Und kurz entschlossen schlüpfte ich durch das offene Fenster, das auf der Hinterseite des Hauses zum Garten hinauswies.
Als ich draußen war, musste ich wegen der grellen Sonne blinzeln, aber ich war den Weg in die Stadt schon so viele Male in Gedanken gelaufen, dass ich mich sogar blind zurechtgefunden hätte. Meine Mutter, die an diesem Tag ein hochgeschlossenes Kleid aus lindgrünem Tuch und ein mit Glasperlen verziertes Haarnetz trug, war schon ein gutes Stück entfernt. Sie hatte bereits die Brücke passiert, die über den Canale di Castiglioni führte, und auch die kleine Kirche Santa Maria de la Carità hinter sich gelassen. Ich fing ng an zu rennen und hatte sie bald darauf eingeholt. Damit sie mich nicht entdeckte, ging ich auf der anderen Straßenseite und folgte ihr im Schatten der Häuser.
Je näher wir der Stadt kamen, desto belebter wurde die Strada San Felice. Staunend beobachtete ich, wie immer mehr Menschen vor mir auftauchten, Menschen, die in unterschiedlichste Richtungen strebten, bunt gekleidet, schwatzend, lachend, pfeifend oder fluchend, dazwischen Karren, Kutschen und oftmals ein Reiter, der hoch zu Ross vorbeipreschte. Immer wieder blieb ich stehen, um zu schauen. Ich konnte mich nicht sattsehen an dem lebhaften Treiben um mich herum.
Viel fehlte nicht, und ich hätte meine Mutter aus den Augen verloren, denn plötzlich wandte sie sich nach links und schlug den Weg zur Piazza Maggiore ein. Dieser belebte Platz im Zentrum Bolognas dient seit jeher vielerlei Zwecken; er ist der Ort für Feste, Paraden und Versammlungen, für Märkte und Messen und sogar für Hinrichtungen, die vor dem Palazzo del Podestà stattfinden. Vor allem aber ist dort der große Neptunbrunnen, Fontana del Nettuno genannt, ein Treffpunkt für alle Bürger der Stadt.
Meine Mutter jedoch schien niemanden auf dem Platz treffen zu wollen. Sie schritt zielstrebig über die weiträumige Fläche und bog bald darauf in die Via de Foscarari ein, wo sie in einem prächtigen Patrizier-Palazzo verschwand.
Unbemerkt folgte ich ihr und stand wenig später vor der hohen zweiflügeligen Eingangstür. Wieder eine Tür, die im Weg ist, dachte ich enttäuscht. Doch während ich noch unschlüssig von einem Bein aufs andere trat, bemerkte ich, dass einer der Flügel nicht ganz geschlossen war.
Sollte ich es wagen?
Ich wagte es. Ich nahm all meinen Mut zusammen und betrat das große Haus. Drinnen empfingen mich Kühle, Halbdunkel und ein unangenehmer Geruch nach abgestandenen Speisen. Ich fröstelte. Mein Herz, das mir zuvor schon bis zum Hals geklopft hatte, begann zu rasen. Angst kroch in mir hoch. Nein, hier wollte ich auf keinen Fall bleiben! Doch plötzlich hörte ich Stimmen aus dem oberen Stockwerk. Ich lauschte. Eine davon war mir vertraut. Sie gehörte meiner Mutter. Welch eine Erleichterung! Wo meine Mutter war, war Sicherheit. Schnell lief ich die Stufen der großen Treppe empor und stürmte in das Zimmer, aus dem die Stimmen kamen. Ich war froh, das Verfolgungsspiel beenden zu können, sehr froh sogar. Und weil ich mich so freute, war ich sicher, dass meine Mutter sich ebenfalls über das unverhoffte Wiedersehen freuen würde.
Es kam ganz anders. Als sie mich erblickte, riss sie den Mund auf, als sei der Leibhaftige in sie gefahren, und gab einen erstickten Laut von sich. Mehrere vornehme Damen, die an einem ovalen Tisch saßen, auf dem Wein, Gebäck, kandierte Früchte und weiteres Zuckerwerk standen, schauten ebenso entsetzt drein. Eine von ihnen, eine Frau mit üppigem Busen, rief: »Sant'lddio!«, und zeigte mit dem Finger auf mich. »Was ist das für eine Kreatur?«
Meine Mutter rang um Fassung, bevor sie mühsam die Antwort hervorbrachte: »Verzeiht, Signora Vascellini, das ist ... meine Tochter.«
Signora Vascellini bekreuzigte sich. »Der Allmächtige schütze uns. Sie trägt eine voglia di peccato!«
»Glaubt mir, Signora, das hat nichts zu bedeuten, wirklich nicht.«
»Woher wollt Ihr das wissen? Was sagt der Herr Pfarrer Eurer Gemeinde dazu? Weiß die heilige Kirche überhaupt davon?«
Meine Mutter streckte sich. »Das Kind ist vor Gott und der Welt in San Pietro getauft.«
»Verlasst sofort mein Haus«
»Aber Signora, gentilissima Signora! Bitte, habt ein Einsehen! Wir gehen sofort, nur, äh, da ist noch die offene Rechnung für das taubenblaue Brokatkleid. Ich brachte es Euch schon vor zwei Wochen. Könntet Ihr nicht wenigstens einen Teil ...?«
»Darüber reden wir ein anderes Mal. Die Kreatur hat mich so erschreckt, dass ich zu keinem klaren Gedanken mehr fähig bin.« Signora Vascellini blickte in die Runde. »Oder ergeht es euch anders, meine Lieben?«
Die Damen am Tisch verneinten einstimmig.
»Dann geht jetzt.«
Meine Mutter sank in sich zusammen. »Jawohl, Signora«, murmelte sie, »aber das Kind kann nichts dafür, das arme Kind kann nichts dafür ...« Sie nahm ihren Weidenkorb, in dem die Schaustücke lagen, von denen sie so gern eines veräußert hätte, und ergriff meine Hand. Beim Hinausgehen drehte sie sich noch einmal um und fragte leise: »Darf ich nächster Tage noch einmal wiederkommen, Signora?«
»Ja, ja, meinetwegen.« Für Signora Vascellini war das Gespräch beendet. Doch wenige Schritte später rief sie meiner Mutter nach: »Aber kommt ohne das Kind!«
Der Rückweg verlief schweigend. Meine Mutter schaute weder nach links noch nach rechts, während sie immer schneller ging und ich Mühe hatte, Schritt zu halten. Ich spürte, wie sehr sie gedemütigt worden war, und ich spürte auch, dass die Demütigung etwas mit mir zu tun hatte. »Mamma, was ist eine Kreatur?«, fragte ich.
Meine Mutter presste die Lippen aufeinander und eilte weiter.
Ich wiederholte meine Frage.
»Das brauchst du nicht zu wissen, dafür bist du noch zu jung.«
»Immer bin ich für alles zu jung.«
»So ist das nun mal, wenn man Kind ist.«
Je schroffer die Antworten meiner Mutter ausfielen, desto unwohler fühlte ich mich in meiner Haut. Gewiss, ich hatte nicht gehorcht und war ihr heimlich zu der dickbusigen Signora Vascellini in den Palazzo gefolgt, was sicher falsch gewesen war. Aber dass die Signora und ihre Freundinnen so heftig reagiert hatten, musste einen anderen Grund haben. Einen, den ich nicht kannte. Damals wusste ich noch nichts von dem Aberwitz, der in den Köpfen vieler herumgeisterte, denn ich kannte die Menschen nicht. Ich wusste nichts von ihrer Engstirnigkeit, ihrer Eitelkeit, ihrer Bosheit, ich wusste nicht, dass ihr Herz härter als Stein sein konnte und ihre Seele schwärzer als der Tod. Manches Mal denke ich, es wäre besser gewesen, ich hätte das alles niemals erfahren, aber diese Überlegung ist
lächerlich und schwach. So schwach, wie ich mich an jenem Tage fühlte, als ich mit meiner Mutter auf dem Nachhauseweg war.
Ich fing an zu weinen: »Und was ist eine voglia di ... voglia di ... ?«
Meine Mutter blieb stehen und wandte mir ihr Gesicht zu. »Hör auf zu weinen, Carla, bitte.«
»Aber die Frau war so hässlich zu uns.«
»Kümmere dich einfach nicht um das, was Signora Vascellini gesagt hat.«
»Ja, Mamma. Was ist eine voglia di ... ?«
»Was eine voglia di peccato ist, wirst du noch früh genug erfahren. Viel zu früh, fürchte ich. Merke dir lieber ein anderes Wort: Es lautet ›abiuro!‹«
»Abiuro!«, wiederholte ich folgsam. »Was heißt denn das?« Der Gesichtsausdruck meiner Mutter bekam etwas Feierliches. »Es heißt: Ich schwöre ab.«
»Klingt komisch.«
»Die Bedeutung erkläre ich dir ein anderes Mal. Abiuro ist vielleicht ein sehr wichtiges Wort für dich.«
»Ja, Mamma.«
Den Rest des Weges legten wir wieder wortlos zurück. Doch kurz bevor wir ans Ende der Strada San Felice kamen, wurde unser Schweigen jäh unterbrochen. Ein paar freche Nachbarskinder hatten sich im nahen Gebüsch versteckt. »Strega!«, brüllten sie laut, und: »Maliarda!«
Die Schelte galt mir. Es war schon öfter vorgekommen, dass sie mich als Hexe und Zauberin beschimpft hatten. Sie waren laut, dreckig und aggressiv. Eine Begegnung mit ihnen hatte ich stets vermieden und war jedes Mal so schnell wie möglich davongelaufen.
Doch heute war das nicht nötig. Ich war in Begleitung meiner Mutter, und meine Mutter verscheuchte die Bande. »Hör nicht auf die Rotznasen«, sagte sie und zog mich fort. »Da vorn ist unser Haus.« Sie schloss die Tür auf und ging an den Herd, wo sie das Feuer neu entfachte und Reis zu kochen begann, denn Signora Vascellinis Geiz hatte den Kauf eines Suppenhuhns verhindert. »Reis tut es auch«, meinte sie und verteilte anschließend etwas Gorgonzola auf den dampfenden Körnern.
»Ja«, sagte ich.
Wir sprachen gemeinsam das Tischgebet und aßen.
Als wir fertig waren, legte meine Mutter den Löffel beiseite: »Und nun will ich wissen, warum du mir in die Stadt gefolgt bist. Ich hatte es dir ausdrücklich verboten, und du hast es trotzdem getan. Warum also?«
Diese Frage hatte ich die ganze Zeit befürchtet, denn ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte. Ich zog die Stirn kraus und beschloss, es mit der Wahrheit zu versuchen: »Ach, nur so, ich wollte in der Stadt die Bienen angucken.«
»Was für Bienen?«
»Die Bienen, die immer summen.«
»Wie bitte?«
»Ich hab sie genau gehört, Mamma! Hier hab ich sie gehört, die ganze Zeit, aber in der Stadt sind überhaupt keine Bienen.«
Meine Mutter sah mich lange an. In ihren Augen standen Zweifel und Angst. Dann sagte sie wie zu sich selbst: »Vielleicht ist es nur das Summen in deinem Kopf.«
Später hörte ich sie inbrünstig vor dem kleinen Hausaltar beten. »O Herr, du großer, gütiger Gott«, flehte sie, »sei gnädig und barmherzig. Gib, dass nicht wahr wird, was im Zweiten Buch Mose steht, verhindere es, verhindere es mit all deiner Macht ... und lasse die Zauberinnen am Leben!«
Sie unterbrach sich und fuhr dann so leise fort, dass es kaum zu vernehmen war: »Denn manchmal, o Herr, sind sie es nur zum Schein.«
Copyright © 2010 by Droemer Verlag
Ich bin eine vergessene Frau. Von den achtundvierzig Jahren, die ich auf dieser verrückten Welt lebe, habe ich die letzten sechzehn Jahre in strenger Abgeschiedenheit verbringen müssen, getrennt von den Menschen, die mir nahestanden, verlassen von ihrer Liebe, ihrer Güte, ihrer Treue.
Zum Schweigen verdammt.
Sechzehn Jahre sind eine halbe Ewigkeit, in der ich mühsam gelernt habe, mich in mein Schicksal zu fügen und meinen Kopf in Demut zu beugen. Und doch: Immer wieder denke ich, dass ich meine Stimme erheben und die Geschichte meines Lebens erzählen soll. Nicht, um meiner Eitelkeit Genüge zu tun, sondern um die Wahrheit ans Licht zu bringen.
Ich will deshalb die Dinge beim Namen nennen, ich will berichten, wie sie wirklich waren, nach bestem Wissen und Gewissen, ohne schmückendes Beiwerk und ohne etwas zu verschweigen. Denn die Wahrheit, so heißt es, ist unteilbar, und schon die halbe Wahrheit kommt einer Lüge gleich.
Wer diese Zeilen liest, wird es wahrscheinlich in einer fernen Zeit tun, wenn die Arkaden der Universität von Bologna schon lange nicht mehr stehen und der Wind ihre Überreste bis zur Unkenntlichkeit glattgeschliffen hat. Unzählige Wasser werden bis dahin den Reno und die Savena hinabgeflossen sein, doch die Wahrheit wird ihre Gültigkeit behalten, denn sie ist unabänderlich bis zum Tage des Jüngsten Gerichts.
Mein Name ist Carla Maria Castagnolo. Ich wurde anno 15 5 2 im Zeichen des Widders geboren, weshalb ich die Eigenschaften dieses Sternzeichens von jeher im Blut habe: das heiße Herz und den kühlen Kopf. Feuer und Wasser waren es, die in mir um die Oberhand rangen, solange ich denken kann. Doch war ich bisweilen auch halbherzig, eigensinnig und sogar rachsüchtig, was dazu führte, dass ich mir selbst im Wege stand und mich hasste. So manches Mal war mein Fleisch stärker als mein Kopf, mein Eigensinn größer als die gebotene Einsicht. Viele Fehler habe ich deshalb in meinem Leben gemacht, Fehler, aus denen ich gelernt habe, auch wenn ich keineswegs sicher bin, ob ich einige von ihnen nicht wiederholen würde - denn mein Wille, die Welt gerechter zu machen, ist ungebrochen.
Vor Gott sind alle Menschen gleich, so steht es in der Heiligen Schrift. Doch warum gilt ein Bauer weniger als ein Adliger, ein Armer weniger als ein Reicher, eine Frau weniger als ein Mann? Warum soll das Leben des Einfältigen weniger wert sein als das des Klugen, das Leben eines Sklaven weniger als das seines Herrn?
Und warum ist das Geschick des Arztes umso größer, je schwerer der Geldbeutel des Kranken wiegt?
Wir alle werden nackt und ohne Sünde geboren. Jedes Kind, ob Junge oder Mädchen, wird von Gott gleichermaßen geliebt und hat für die Dauer seines Lebens den gleichen Anspruch auf Gesundheit, Geborgenheit und Entfaltung - unabhängig davon, in welches Haus es hineingeboren wurde. Das ist die Erkenntnis, die der Wahrheit entspringt. Der ganzen Wahrheit.
Warum erzähle ich das alles? Weil ich, bevor meine Geschichte beginnt, keinen Zweifel daran lassen will, wie ich denke. Und weil ich deutlich machen will, wie das Glas gefärbt ist, durch das ich die Welt betrachte.
Während ich dieses sage, liegt meine Hand auf einer goldenen Maske. Es ist eine Venusmaske, gewidmet der Göttin der Liebe, des Verlangens und der Schönheit. Sie ist kühl und glatt, und die Berührung mit ihrer Oberfläche inspiriert meine Sinne. Ihr Schein ist so funkelnd hell, dass sie sogar einen dämmrigen Raum mit Licht erfüllen kann. Warum sie das Kostbarste ist, was ich noch besitze, werde ich später berichten, ebenso, wie ich später von meinem Diener Latif berichten werde, der sich bereit erklärt hat, diese meine Worte aufzuschreiben. Latif ist treu und verschwiegen, und nichts Menschliches ist ihm fremd. Er wird mir helfen, meine Geschichte festzuhalten - auch dann, wenn es um Dinge geht, über die ich eigentlich niemals sprechen wollte.
Denn ich selbst kann nicht mehr schreiben. Seit einigen Jahren hat mich die Schüttellähmung geschlagen, eine Krankheit, die sich neben anderen tückischen Symptomen im Zittern der Hände äußert. Doch ich will nicht klagen, finchè c'e vita, c'e speranza, wie es heißt.
Also fange ich an.
Meine erste Erinnerung, ich war drei oder vier Jahre alt, ist ein Streit. Ein heftiger Streit zwischen zwei Frauen, von denen ich nur eine kannte - meine Mutter. Die andere Frau hieß Signora Donace. Sie war eine Kundin meiner Mutter, die als Schneiderin für die vornehmen Damen Bolognas arbeitete. Doch Signora Donace wirkte an jenem Morgen alles andere als vornehm, denn sie schrie wie das Weib eines Kesselflickers, während sie ein Kleid in die Höhe hielt und heftig an dessen Ärmeln zerrte. Das Kleid kam mir riesengroß vor, so groß wie eine Wolke am Himmel, nur dass es nicht weiß war, sondern feuerrot. Es war gänzlich aus Seidenorganza gefertigt, mit hochgesetzter Taille und tiefem Dekolleté. Das Mieder und die Oberärmel zierten filigrane Goldgitter, und an den Seiten wurde es mit farblich zu den Gittern passenden Schnürungen geschlossen.
Aber all das wusste ich damals noch nicht. Ich sah nur die gewaltige rote Wolke, während die Worte der fremden Frau wie ein Wasserfall auf meine Mutter einstürzten: Sie habe keine festgenähten, sondern abnehm- und austauschbare Ärmel gewollt, zeterte Signora Donace, Ärmel, die resedagelb seien, Ärmel, die im unteren Bereich weiter seien, bauschiger, großzügiger, Ärmel, die überdies Schlitze aufwiesen, tiefe Schlitze, wie es die Mode vorschriebe, ob die hochgelobte Signora Castagnolo noch nie etwas von der neuesten Mode gehört habe, mit diesem Fetzen könne sie sich als Gattin eines Patriziers niemals auf der Piazza Maggiore sehen lassen, sie würde sich vor ihren Freundinnen unsterblich blamieren und so weiter und so weiter.
Je lauter Signora Donace wurde, desto leiser sprach meine Mutter. Sie wandte immer wieder ein, sie habe nur angefertigt, was die gnädige Frau bei ihr in Auftrag gegeben hätte. Genau das habe sie getan, mehr könne sie doch nicht tun.
Die Signora schimpfte weiter und herrschte meine Mutter an, was sie sich einbilde, ob sie eine Dame der ersten Gesellschaft Bolognas Lügen strafen wolle, das ginge nun wirklich zu weit. Das müsse sie sich nicht bieten lassen. Und sie riss die rote Wolke hoch und schleuderte sie wütend von sich.
Ich hatte mich bis dahin hinter den Stoffballen neben dem Schneidertisch aufgehalten und dort mit meinen Puppen gespielt, doch durch den immer lauter werdenden Streit bekam ich Angst und wollte fortlaufen. Ich kam nicht weit. Denn die rote Wolke flog auf mich zu, füllte plötzlich das ganze Zimmer aus und begrub mich unter sich. Ich konnte nichts mehr sehen. Ich strampelte. Ich verhedderte mich, konnte nicht vor und zurück. Panik stieg in mir hoch, ich begann aus Leibeskräften zu brüllen.
»Wer schreit da so?«, begehrte Signora Donace zu wissen. »Ist das ein Kind?«
»Ja, Signora«, antwortete meine Mutter, »es ist meine Tochter. «
»Ihr solltet ihr das Schreien abgewöhnen. Es zeugt von schlechtem Benehmen!«
»Ja«, sagte meine Mutter tonlos.
Signora Donace entfernte sich rasch.
Sie kam nie wieder.
Einige Jahre später, ich erinnere mich noch genau, bat ich meine Mutter, sie zu einer Kundin in die Stadt begleiten zu dürfen. Wir wohnten damals in einem einfachen Haus am Ende der Strada San Felice, im äußersten Westen, wo das Stadtbild noch weitgehend von Feldern und Wiesen geprägt war. Die Menschen, die dort lebten, hatten wenig zu beißen, und auch meine Mutter fragte sich oftmals am Morgen, was sie am Abend kochen sollte. Doch das wusste ich natürlich nicht, meine Sorgen waren ganz anderer Art. Mich reizte die große Stadt, deren Dächer und Türme täglich aus der Ferne herübergrüßten und deren Geräusche in meinen Ohren wie das Summen von tausend Bienen klangen.
»Kann ich mit, Mamma?«, fragte ich.
»Nein, Carla.« Meine Mutter schüttelte den Kopf. »Es ist besser, wenn du hierbleibst.«
»Bitte, Mamma! Ich war noch nie mit, immer lässt du mich allein.«
»Glaub mir, es ist besser so.«
»Nur dieses Mal, bitte!« Ich begann zu weinen. Die Aussicht, wieder viele Stunden auf meine Mutter warten zu müssen, bedrückte mich. Es gab keine Menschenseele, die mir während ihrer Abwesenheit Gesellschaft leisten konnte, denn ich hatte weder Geschwister noch Verwandte. »Bitte, bitte!«
Meiner Mutter fiel es schwer, mir meinen Wunsch abzuschlagen, das sah ich, deshalb weinte ich noch lauter, doch der Moment ihres Zögerns war schon vorbei. »Sei vernünftig«, sagte sie, »ich bin bald zurück, und wenn Signora Vascellini heute ihre Rechnung bezahlt, kaufe ich ein Hühnchen auf dem Markt und koche uns eine Suppe.«
»Nein!« Ich stampfte mit dem Fuß auf. »Nein, nein, nein!« Aber auch dieser Protest half nichts. Meine Mutter seufzte nur und wandte sich ab. Ich sah, wie sie den großen Weidenkorb nahm, in dem sie die Produkte ihrer Nähkunst zu transportieren pflegte, und auf die Haustür zuging. »Du kannst nicht mitkommen, Carla. Wenn du älter bist, wirst du verstehen, warum es nicht geht. Nun weine nicht mehr. Arrivederci, meine Kleine.«
Die Tür fiel ins Schloss, meine Mutter sperrte von außen ab, und ich blieb zurück.
Ich schluchzte noch ein wenig, dann beruhigte ich mich. Es machte keinen Sinn mehr, zu weinen. Ich setzte mich im Schneidersitz auf den Boden und nahm Bella, meine Lieblingspuppe, auf den Arm. Ich begann, sie hin und her zu wiegen, und fragte: »Bella, warum nimmt Mamma mich nie mit?« Aber Bella, die wie alle meine Puppen sprechen konnte, schwieg diesmal.
Das verdross mich. Ich legte sie zurück in ihr Bettchen und stand auf. Mein Blick ging zur Tür, durch die meine Mutter vor wenigen Augenblicken verschwunden war. »Ich will zu den Bienen«, murmelte ich, »ja, zu den Bienen.« Und kurz entschlossen schlüpfte ich durch das offene Fenster, das auf der Hinterseite des Hauses zum Garten hinauswies.
Als ich draußen war, musste ich wegen der grellen Sonne blinzeln, aber ich war den Weg in die Stadt schon so viele Male in Gedanken gelaufen, dass ich mich sogar blind zurechtgefunden hätte. Meine Mutter, die an diesem Tag ein hochgeschlossenes Kleid aus lindgrünem Tuch und ein mit Glasperlen verziertes Haarnetz trug, war schon ein gutes Stück entfernt. Sie hatte bereits die Brücke passiert, die über den Canale di Castiglioni führte, und auch die kleine Kirche Santa Maria de la Carità hinter sich gelassen. Ich fing ng an zu rennen und hatte sie bald darauf eingeholt. Damit sie mich nicht entdeckte, ging ich auf der anderen Straßenseite und folgte ihr im Schatten der Häuser.
Je näher wir der Stadt kamen, desto belebter wurde die Strada San Felice. Staunend beobachtete ich, wie immer mehr Menschen vor mir auftauchten, Menschen, die in unterschiedlichste Richtungen strebten, bunt gekleidet, schwatzend, lachend, pfeifend oder fluchend, dazwischen Karren, Kutschen und oftmals ein Reiter, der hoch zu Ross vorbeipreschte. Immer wieder blieb ich stehen, um zu schauen. Ich konnte mich nicht sattsehen an dem lebhaften Treiben um mich herum.
Viel fehlte nicht, und ich hätte meine Mutter aus den Augen verloren, denn plötzlich wandte sie sich nach links und schlug den Weg zur Piazza Maggiore ein. Dieser belebte Platz im Zentrum Bolognas dient seit jeher vielerlei Zwecken; er ist der Ort für Feste, Paraden und Versammlungen, für Märkte und Messen und sogar für Hinrichtungen, die vor dem Palazzo del Podestà stattfinden. Vor allem aber ist dort der große Neptunbrunnen, Fontana del Nettuno genannt, ein Treffpunkt für alle Bürger der Stadt.
Meine Mutter jedoch schien niemanden auf dem Platz treffen zu wollen. Sie schritt zielstrebig über die weiträumige Fläche und bog bald darauf in die Via de Foscarari ein, wo sie in einem prächtigen Patrizier-Palazzo verschwand.
Unbemerkt folgte ich ihr und stand wenig später vor der hohen zweiflügeligen Eingangstür. Wieder eine Tür, die im Weg ist, dachte ich enttäuscht. Doch während ich noch unschlüssig von einem Bein aufs andere trat, bemerkte ich, dass einer der Flügel nicht ganz geschlossen war.
Sollte ich es wagen?
Ich wagte es. Ich nahm all meinen Mut zusammen und betrat das große Haus. Drinnen empfingen mich Kühle, Halbdunkel und ein unangenehmer Geruch nach abgestandenen Speisen. Ich fröstelte. Mein Herz, das mir zuvor schon bis zum Hals geklopft hatte, begann zu rasen. Angst kroch in mir hoch. Nein, hier wollte ich auf keinen Fall bleiben! Doch plötzlich hörte ich Stimmen aus dem oberen Stockwerk. Ich lauschte. Eine davon war mir vertraut. Sie gehörte meiner Mutter. Welch eine Erleichterung! Wo meine Mutter war, war Sicherheit. Schnell lief ich die Stufen der großen Treppe empor und stürmte in das Zimmer, aus dem die Stimmen kamen. Ich war froh, das Verfolgungsspiel beenden zu können, sehr froh sogar. Und weil ich mich so freute, war ich sicher, dass meine Mutter sich ebenfalls über das unverhoffte Wiedersehen freuen würde.
Es kam ganz anders. Als sie mich erblickte, riss sie den Mund auf, als sei der Leibhaftige in sie gefahren, und gab einen erstickten Laut von sich. Mehrere vornehme Damen, die an einem ovalen Tisch saßen, auf dem Wein, Gebäck, kandierte Früchte und weiteres Zuckerwerk standen, schauten ebenso entsetzt drein. Eine von ihnen, eine Frau mit üppigem Busen, rief: »Sant'lddio!«, und zeigte mit dem Finger auf mich. »Was ist das für eine Kreatur?«
Meine Mutter rang um Fassung, bevor sie mühsam die Antwort hervorbrachte: »Verzeiht, Signora Vascellini, das ist ... meine Tochter.«
Signora Vascellini bekreuzigte sich. »Der Allmächtige schütze uns. Sie trägt eine voglia di peccato!«
»Glaubt mir, Signora, das hat nichts zu bedeuten, wirklich nicht.«
»Woher wollt Ihr das wissen? Was sagt der Herr Pfarrer Eurer Gemeinde dazu? Weiß die heilige Kirche überhaupt davon?«
Meine Mutter streckte sich. »Das Kind ist vor Gott und der Welt in San Pietro getauft.«
»Verlasst sofort mein Haus«
»Aber Signora, gentilissima Signora! Bitte, habt ein Einsehen! Wir gehen sofort, nur, äh, da ist noch die offene Rechnung für das taubenblaue Brokatkleid. Ich brachte es Euch schon vor zwei Wochen. Könntet Ihr nicht wenigstens einen Teil ...?«
»Darüber reden wir ein anderes Mal. Die Kreatur hat mich so erschreckt, dass ich zu keinem klaren Gedanken mehr fähig bin.« Signora Vascellini blickte in die Runde. »Oder ergeht es euch anders, meine Lieben?«
Die Damen am Tisch verneinten einstimmig.
»Dann geht jetzt.«
Meine Mutter sank in sich zusammen. »Jawohl, Signora«, murmelte sie, »aber das Kind kann nichts dafür, das arme Kind kann nichts dafür ...« Sie nahm ihren Weidenkorb, in dem die Schaustücke lagen, von denen sie so gern eines veräußert hätte, und ergriff meine Hand. Beim Hinausgehen drehte sie sich noch einmal um und fragte leise: »Darf ich nächster Tage noch einmal wiederkommen, Signora?«
»Ja, ja, meinetwegen.« Für Signora Vascellini war das Gespräch beendet. Doch wenige Schritte später rief sie meiner Mutter nach: »Aber kommt ohne das Kind!«
Der Rückweg verlief schweigend. Meine Mutter schaute weder nach links noch nach rechts, während sie immer schneller ging und ich Mühe hatte, Schritt zu halten. Ich spürte, wie sehr sie gedemütigt worden war, und ich spürte auch, dass die Demütigung etwas mit mir zu tun hatte. »Mamma, was ist eine Kreatur?«, fragte ich.
Meine Mutter presste die Lippen aufeinander und eilte weiter.
Ich wiederholte meine Frage.
»Das brauchst du nicht zu wissen, dafür bist du noch zu jung.«
»Immer bin ich für alles zu jung.«
»So ist das nun mal, wenn man Kind ist.«
Je schroffer die Antworten meiner Mutter ausfielen, desto unwohler fühlte ich mich in meiner Haut. Gewiss, ich hatte nicht gehorcht und war ihr heimlich zu der dickbusigen Signora Vascellini in den Palazzo gefolgt, was sicher falsch gewesen war. Aber dass die Signora und ihre Freundinnen so heftig reagiert hatten, musste einen anderen Grund haben. Einen, den ich nicht kannte. Damals wusste ich noch nichts von dem Aberwitz, der in den Köpfen vieler herumgeisterte, denn ich kannte die Menschen nicht. Ich wusste nichts von ihrer Engstirnigkeit, ihrer Eitelkeit, ihrer Bosheit, ich wusste nicht, dass ihr Herz härter als Stein sein konnte und ihre Seele schwärzer als der Tod. Manches Mal denke ich, es wäre besser gewesen, ich hätte das alles niemals erfahren, aber diese Überlegung ist
lächerlich und schwach. So schwach, wie ich mich an jenem Tage fühlte, als ich mit meiner Mutter auf dem Nachhauseweg war.
Ich fing an zu weinen: »Und was ist eine voglia di ... voglia di ... ?«
Meine Mutter blieb stehen und wandte mir ihr Gesicht zu. »Hör auf zu weinen, Carla, bitte.«
»Aber die Frau war so hässlich zu uns.«
»Kümmere dich einfach nicht um das, was Signora Vascellini gesagt hat.«
»Ja, Mamma. Was ist eine voglia di ... ?«
»Was eine voglia di peccato ist, wirst du noch früh genug erfahren. Viel zu früh, fürchte ich. Merke dir lieber ein anderes Wort: Es lautet ›abiuro!‹«
»Abiuro!«, wiederholte ich folgsam. »Was heißt denn das?« Der Gesichtsausdruck meiner Mutter bekam etwas Feierliches. »Es heißt: Ich schwöre ab.«
»Klingt komisch.«
»Die Bedeutung erkläre ich dir ein anderes Mal. Abiuro ist vielleicht ein sehr wichtiges Wort für dich.«
»Ja, Mamma.«
Den Rest des Weges legten wir wieder wortlos zurück. Doch kurz bevor wir ans Ende der Strada San Felice kamen, wurde unser Schweigen jäh unterbrochen. Ein paar freche Nachbarskinder hatten sich im nahen Gebüsch versteckt. »Strega!«, brüllten sie laut, und: »Maliarda!«
Die Schelte galt mir. Es war schon öfter vorgekommen, dass sie mich als Hexe und Zauberin beschimpft hatten. Sie waren laut, dreckig und aggressiv. Eine Begegnung mit ihnen hatte ich stets vermieden und war jedes Mal so schnell wie möglich davongelaufen.
Doch heute war das nicht nötig. Ich war in Begleitung meiner Mutter, und meine Mutter verscheuchte die Bande. »Hör nicht auf die Rotznasen«, sagte sie und zog mich fort. »Da vorn ist unser Haus.« Sie schloss die Tür auf und ging an den Herd, wo sie das Feuer neu entfachte und Reis zu kochen begann, denn Signora Vascellinis Geiz hatte den Kauf eines Suppenhuhns verhindert. »Reis tut es auch«, meinte sie und verteilte anschließend etwas Gorgonzola auf den dampfenden Körnern.
»Ja«, sagte ich.
Wir sprachen gemeinsam das Tischgebet und aßen.
Als wir fertig waren, legte meine Mutter den Löffel beiseite: »Und nun will ich wissen, warum du mir in die Stadt gefolgt bist. Ich hatte es dir ausdrücklich verboten, und du hast es trotzdem getan. Warum also?«
Diese Frage hatte ich die ganze Zeit befürchtet, denn ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte. Ich zog die Stirn kraus und beschloss, es mit der Wahrheit zu versuchen: »Ach, nur so, ich wollte in der Stadt die Bienen angucken.«
»Was für Bienen?«
»Die Bienen, die immer summen.«
»Wie bitte?«
»Ich hab sie genau gehört, Mamma! Hier hab ich sie gehört, die ganze Zeit, aber in der Stadt sind überhaupt keine Bienen.«
Meine Mutter sah mich lange an. In ihren Augen standen Zweifel und Angst. Dann sagte sie wie zu sich selbst: »Vielleicht ist es nur das Summen in deinem Kopf.«
Später hörte ich sie inbrünstig vor dem kleinen Hausaltar beten. »O Herr, du großer, gütiger Gott«, flehte sie, »sei gnädig und barmherzig. Gib, dass nicht wahr wird, was im Zweiten Buch Mose steht, verhindere es, verhindere es mit all deiner Macht ... und lasse die Zauberinnen am Leben!«
Sie unterbrach sich und fuhr dann so leise fort, dass es kaum zu vernehmen war: »Denn manchmal, o Herr, sind sie es nur zum Schein.«
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Autoren-Porträt von Wolf Serno
Wolf Serno arbeitete 30 Jahre als Texter und Creative Director in der Werbung. Mit seinem Debüt-Roman "Der Wanderchirurg" - dem ersten der fesselnden Saga um Vitus von Campodios - gelang ihm auf Anhieb ein Bestseller, dem viele weitere folgten, unter anderem: "Der Balsamträger", "Hexenkammer", "Der Puppenkönig" sowie "Das Spiel des Puppenkönigs", "Die Medica von Bologna", "Das Lied der Klagefrau" und "Der Medicus von Heidelberg".Wolf Serno, der zu seinen Hobbys "viel lesen, weit reisen, gut essen" zählt, lebt mit seiner Frau und seinen Hunden in Hamburg.
Bibliographische Angaben
- Autor: Wolf Serno
- 2012, 3. Aufl., 640 Seiten, 6 Abbildungen, Maße: 12,5 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Droemer/Knaur
- ISBN-10: 3426500213
- ISBN-13: 9783426500217
- Erscheinungsdatum: 23.02.2012
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