Die Netzhaut
Thriller
Der 12-jährige Jo will seinem Leben ein Ende setzen und wird in letzter Minute gerettet. Doch um welchen Preis?
Jahre später verschwindet in Oslo die junge Psychologin Mailin Bjerke. Was niemand ahnt: in ihrer Praxis fehlt...
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Produktinformationen zu „Die Netzhaut “
Der 12-jährige Jo will seinem Leben ein Ende setzen und wird in letzter Minute gerettet. Doch um welchen Preis?
Jahre später verschwindet in Oslo die junge Psychologin Mailin Bjerke. Was niemand ahnt: in ihrer Praxis fehlt die Patientenakte eines Gewalttäters. Im fernen Amsterdam gibt sich ihre Schwester Liss die Schuld an Mailins Verschwinden, denn ihr dubioser Liebhaber hatte mit Mailins Tod gedroht, wenn Liss ihn verlassen würde. Liss reist nach Oslo, um Mailin zu finden auf eigene Faust und blind für jede Gefahr. Dann taucht eine verstümmelte Frauenleiche auf.
Lese-Probe zu „Die Netzhaut “
Die Netzhaut von Torkil DamhaugSeptember 1996
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Mittlere Gefahrenstufe. Die gelbe Flagge ist gehisst. Die Brandung schlägt hoch an den Strand, obwohl es erst zwölf ist. Er wirft das Handtuch in den Sand und läuft ins Wasser, behält das gelbe T-Shirt an. Das Wasser reicht ihm bis zum Nabel. Er macht ein paar Schwimmzüge, wirft sich in die sich brechenden Wellen, krault zu den Bojen und zieht an ihnen vorbei. Er spürt ein unheilvolles Kribbeln und Brausen in der Brust, doch selbst wenn sie die rote Flagge gehisst hätten, wäre er ins Wasser gegangen. Rote Flagge bedeutet höchste Gefahr.
Niemand schwimmt heute so weit hinaus wie er. Er dreht sich zum Strand um. Wie ihm aufgetragen worden ist, hält Truls Nini an der Hand. Hier, jenseits der Bojen, kann er gerade noch hören, wie sie jedes Mal quiekt, wenn die Ausläufer einer Welle über ihre Füße schwappen.
Weiter draußen werden die Wellentäler tiefer. Plötzlich öffnen sie sich, und er fällt nach unten, wird emporgehoben und stürzt über den nächsten Wellenkamm wieder hinab. Er muss sich anstrengen, um sich an der Oberfläche zu halten und nicht nach unten gezogen zu werden. Er prustet und schnaubt, wird hinaufgetragen und nach unten gedrückt. Die Wellen folgen dicht aufeinander, und wenn er sich auf der Krone befindet, kann er die Linie am Horizont erkennen, an der sich Himmel und graublaues Wasser berühren. Er weiß, dass sich das Wasser hinter dieser Linie bis nach Afrika erstreckt. Wie weit würde er kommen, wenn er auf diese unsichtbare Küste zuschwimmen würde? Jede Welle, die ihn hinabzieht und empor trägt, beantwortet er mit einer Bewegung seines Oberkörpers, die ihm das Gefühl gibt, der Stärkere zu sein. Wie lange wird er durchhalten, ehe er aufgeben und sich dem Willen der Wellen beugen muss?
Nicht einmal heute Vormittag, als sie bei bestem Wetter zur Landung ansetzten, hatte er das Land auf der anderen Seite erkennen können. Er hatte sich zu seiner Mutter umgedreht, die in der Mitte saß, um sie zu fragen, wie viele Kilometer ihrer Meinung nach zwischen den beiden Küsten lagen. Doch er sah ihren Augen an, dass sie nicht mehr in der Lage war, solche Fragen zu beantworten. Hatte es bereits am frühen Morgen gemerkt, bevor sie das Flugzeug bestiegen. Direkt neben Gate 1 hatten sie im Café gesessen. Um drei Uhr nachts waren sie aufgestanden, um rechtzeitig am Flughafen zu sein. Nini lag in ihrem Buggy und schlief. Truls hatte sich auf seinem Stuhl zusammengerollt und war ebenfalls eingeschlafen. Er selbst starrte auf das Rollfeld.
»Willst du was zu trinken, Jo?«, fragte Arne und zwinkerte ihm kumpelhaft zu, was bedeutete, dass Jo eine Cola haben konnte. Er wusste, dass hinter dieser Frage etwas anderes steckte. Und richtig: Kurz darauf kam Arne mit einer Cola, Kartoffelchips und einem Stück Kuchen zurück. Auch gut. Dass er sich selbst ein Bier gekauft hatte, war Jo egal. Arne konnte trinken, was er wollte. Aber der Mutter Rotwein mitzubringen war definitiv eine schlechte Idee. Es ist Viertel vor sechs am Morgen, und deine Mutter trinkt Wein. Kein normaler Erwachsener tut das. Sie hatte seit Tagen keinen Tropfen mehr angerührt, und Jo hatte gedacht, dass sie es auf dieser Reise - mit Sonne, Strand und all dem, wonach sie sich immer gesehnt hatte - vielleicht nicht nötig haben würde zu trinken. Doch noch bevor sie an Bord gingen, hatte sie drei Gläser geleert. Sie wollte Jo gar nicht mehr loslassen, fuhr ihm ständig durch die Haare und sagte nicht mehr »Flugzeug«, sondern »Flugseuch«, und auf einmal waren sogar Arnes Witze so wahnsinnig komisch, dass sie den Kopf zurückwarf und hickste.
Als sie dann im »Flugseuch« saßen und die Flugbegleiterinnen mit ihren blau-weißen Uniformen ihre Servierwagen hinter sich herzogen, bestellte Arne einen Cognac für sie, Obwohl er wusste, wie das enden würde. Vielleicht tat er es deshalb. Jo lehnte sich gegen die Scheibe und tat so, als schliefe er. Er hätte am liebsten einen Fallschirm gehabt und den Notausgang geöffnet, um über Deutschland Oder Polen Oder wo auch immer abzuspringen und in einem fremden Land zu landen, wo ihn niemand kannte und niemand etwas von Mutter Oder Arne, dem Wichser, wusste.
Ein paar Stunden später lagen sie mit einem Drink in ihren Liegestühlen am Pool, und seine Mutter ließ ihr Glas fallen, das auf den Steinfliesen zersprang. Da hielt es JO nicht länger aus, stand auf und lief zum Strand hinunter.
»Nimm Truls und Nini mit!«, befahl Arne.
Gemeinsam mit seinem kleinen Bruder trottete Jo den steilen, steinigen Abhang hinunter. Seine kleine Schwester lag in ihrem Buggy. Eine kleine Familie. Wenn er nun einfach mit Truls und Nini abhaute und wieder nach Hause fuhr? Nein, nicht nach Hause. Lieber an einen anderen Ort, an dem er sich einen Job beschaffen und für ihren Unterhalt sorgen konnte. Dann mussten sie Arne nicht mehr sehen und bekamen nicht mehr mit, wie sich die Mutter um den Verstand soff, Gläser zerbrach und sich vor fremden Menschen danebenbenahm.
Aber das war noch lange nicht das Schlimmste, was an ihrem ersten Ferientag geschah. Das geschah am Abend. Jo bringt Nini ins Bett, nachdem er ihr die Allergiemedizin und das Schlafmittel gegeben hat. Flößt es ihr mit sanfter Gewalt ein, obwohl sie protestiert. Die Mutter hat ihm ein ums andere Mal gesagt, dass er nicht vergessen darf, ihr alle vier Tabletten zu geben, bevor er sie ins Bett bringt. Und dann erzählt Truls ihm plötzlich, dass ihre Mutter Nini die Tabletten schon gegeben hat, bevor sie hinausging. Sie hat vergessen, es Jo zu sagen. Also hat Nini heute die doppelte Dosis bekommen. Kein Wunder, dass sie jetzt schläft wie ein Stein. Liegt da, Ohne sich zu rühren.
Jo bleibt eine Zeitlang bei ihnen sitzen. Truls hat einen Stapel Phantom-Comics neben sich, die er von Arne bekommen hat. Truls sagt, Arne sei cool, weil er ihm seine alten Comics überlasse. Das geht nur die beiden etwas an. Arne hat die Comics seit seiner Kindheit gesammelt. Er war Mitglied des Phantom-Klubs und besaß den berühmten Siegelring des Helden. Auch den hat Truls übernommen. Jo nimmt von Arne schon lange nichts mehr an. Und wenn, dann stopft er es tief in seinen Kleiderschrank und kümmert sich nicht mehr darum. Ob es nun ein ManU-Trikot ist Oder die Eintrittskarte zu einem Fußballspiel.
Ein weiteres Mal beugt er sich zu Nini hinab, um sich zu vergewissern, dass sie atmet. Ihre Atemzüge sind langsam und tief, also haben ihr die zusätzlichen Pillen Offenbar keinen Schaden zugefügt. Dennoch nimmt er sich vor, ins Restaurant zu gehen und seine Mutter zu fragen. Sicherheitshalber. Obwohl ihm allein der Gedanke, ihr in ihrem jetzigen Zustand gegenüberzutreten, Übelkeit bereitet.
Aus den Lautsprechern, die sich auf der Bühne befinden, dröhnt ihm Musik entgegen. Irgend so ein Discozeugs. Weder die Mutter noch Arne ertragen es, wenn er zu Hause die Musik aufdreht, doch hier gelten andere Regeln. So ist das eben in den Ferien. Regeln werden geändert oder fallengelassen.
Er sieht nur fremde Gesichter, als er sich im Restaurant umsieht. Hofft, dass seine Mutter und Arne nicht da sind. Dass sie vielleicht spazieren oder woanders hingegangen sind, oder vielleicht sind sie schon wieder zurück in der Wohnung ... Da entdeckt er seine Mutter an einem Tisch im hintersten Winkel des Raumes. Ihr Kopf lehnt an der Schulter eines Mannes, den Jo noch nie gesehen hat. Arne vergnügt sich auf der Tanzfläche. Er und der Typ, an dem die Mutter klebt, haben offenbar die Frauen getauscht. Und Arne knutscht jetzt mit einer Schmalen, Dunkelhaarigen auf der Tanzfläche herum. Er steht auf schlanke Frauen und grinst immer, wenn er Mutter am Bauch packt und ihre SpeckrOllen über den Hosenbund zieht.
Jo bleibt an der Terrassentür stehen. Er spürt immer noch das Meer in seinem Körper. Er könnte hinunterschleichen, ehe die Erwachsenen ihn entdecken, und sich erneut in die Brandung werfen, ohne die Wellen zu sehen, die im Dunkeln heranrollen. Einfach spüren, wie sie ihn hinabziehen und hin und her schleudern. Doch wenn er nicht in der Bar bleibt, könnte der Mutter etwas zustoßen. Sie könnte die Treppe runterfallen, vergewaltigt werden oder im Swimmingpool ertrinken. Arne kümmert sich sowieso nicht. Plötzlich steht die Mutter schwankend auf und fällt nach vorne. Der fremde Mann fängt sie auf, ehe sie den Tisch umreißen kann. Zwei, drei Gläser kippen über die Kante. Alle drehen sich um und glotzen in ihre Richtung. Die Frau, mit der Arne tanzt, eilt an den Tisch. Sie schlingt die Arme um Mutters Taille und ruft ihr etwas zu. Sie und der Fremde helfen ihr den Absatz hinauf, der zur Theke führt. Sie gehen direkt an Jo vorbei. Die Mutter ist leichenblass und scheint ihn nicht zu erkennen. Ihr Rock ist nach oben gerutscht und gibt ihren Slip frei. Sie torkelt weiter, gestützt von der schmalen Frau. Als sie auf die Toilette verschwinden, folgt ihnen Jo und wartet vor der Tür. Er hört merkwürdige Geräusche, dann einen Schrei seiner Mutter. Er hat sie schon früher betrunken erlebt, aber noch nie so schreien gehört. Als sei sie dem Tode nahe. Er fasst um die Türklinke. Da spürte er eine Hand auf seiner Schulter.
»Geh da nicht rein.«
Jo windet sich, er will die Hand abschütteln. Zuerst hat er geglaubt, es sei der Mann von Mutters Tisch, aber es ist ein Fremder.
»Jemand ist bei deiner Mutter. Du brauchst nicht auf sie aufzupassen.«
Irgendetwas veranlasst Jo, die Türklinke loszulassen. Vielleicht ist es die Stimme, die ihm bekannt vorkommt. Er blickt zu dem Fremden auf. Es ist ein Mann in Arnes Alter. Er ist unrasiert und hat die Sonnenbrille auf den Kopf geschoben.
»Das geht Sie nichts an«, brummt Jo, aber er ist nicht böse. »Kann schon sein«, entgegnet der Mann.
Und trotzdem hat er sich eingemischt.
»Komm mit«, sagt er. »Ich spendiere dir eine Cola.«
Er geht auf die Terrasse voraus, ohne sich umzudrehen. Er trägt eine Shorts und ein schwarzes kurzärmliges Hemd. Sein halblanges Haar ist nach hinten gestrichen und reicht ihm über den Hemdkragen. Jo hört seine Mutter nicht mehr schreien, steht zögerlich da. Dann trottet er dem Mann hinterher.
Sie setzen sich an einen Tisch am Ende der Terrasse. Tief unter ihnen schlägt das Meer an die Felsen. Die Brandung scheint stärker geworden zu sein, und Jo denkt immer noch daran, wie es wäre, nach unten zu laufen und sich in die Fluten zu stürzen. Die Dunkelheit färbt das Wasser schwarz, es ist sicher noch warm.
Auch der fremde Mann trinkt eine Cola. Und jetzt fällt Jo ein, woher er seine Stimme kennt. Aus dem Fernsehen. Vor kurzem war er auch auf der Titelseite der Aftenposten.
»Ich hab Sie in der Zeitung gesehen«, sagt er. »Und im Fernsehen.«
»Das ist gut möglich.«
»Werden Sie von vielen Leuten erkannt?«
»Ja, von ziemlich vielen. Die meisten Leute glotzen einen an, als könnten sie nicht fassen, dass ich, obwohl ich schon mal im Fernsehen war, ein Mensch aus Fleisch und Blut bin, der zu Mittag isst und aufs Klo muss.« Der fremde Mann lächelt. »Aber Norweger sind höfliche Leute. Wenn sie dich genug angeglotzt haben, lassen sie dich in der Regel in Ruhe. Eigentlich sind alle befangen und haben Angst, sich zu blamieren, genau wie du und ich.«
Jo trinkt einen Schluck von seiner Cola und wirft einen Blick ins Restaurant.
»Nicht meine Mutter. Die benimmt sich ständig daneben.« Der Mann lehnt sich zurück.
»Sie ist betrunken«, stellt er fest. »Alle verändern sich, wenn sie trinken.«
Jo versucht, von seiner Mutter abzulenken.
»Trinken Sie denn gar nicht?« Er zeigt auf das Colaglas. »Ich meine, Wein oder Schnaps oder so was?«
»Nur wenn ich muss. Du heißt Jo, stimmt's?«
»Woher wissen Sie das?«
»Ich habe gehört, wie dein Vater nach dir gerufen hat, als wir aus dem Flugzeug stiegen.«
»Arne ist nicht mein Vater.«
»Verstehe. Du weißt nicht, wie ich heiße?«
»Hab den Namen bestimmt schon gehört. Aber ich kann mich nicht erinnern.«
Der Mann klopft sich auf die Brusttaschen und zieht eine flach gedrückte Zigarettenschachtel hervor.
»Kannst mich übrigens duzen. Sag einfach Jakka zu mir.« »Jakka? Komischer Name ... «
Der Mann steckt sich die Zigarette an.
»So wurde ich genannt, als ich in deinem Alter war. Wie alt bist du? Dreizehn, vierzehn?«
»Zwölf«, antwortet Jo und ist ein bisschen stolz.
»Ein paar Freunde nennen mich immer noch so, wenn wir uns treffen«, erklärt der Mann.
»Gefällt dir das?«, fragt Jo lächelnd. »Dass sie dich Jakka nennen?«
Jakka streicht sich über sein unrasiertes Kinn.
»Da, wo ich herkomme, haben alle einen Spitznamen, der hat oft was mit dem Beruf des Vaters zu tun. Mein Vater hatte einen Klamottenladen beziehungsweise einen Konfektionshandel, wie das damals hieß, und Jakka fand ich vollkommen okay. Heute gefällt mir der Name eigentlich noch besser. War in jedem Fall cooler als Hobel oder Locke. Ganz zu schweigen von Schnitzel.«
Er lacht, und Jo muss auch lachen.
»Ich heiße auch nicht wirklich Jo, das sind nur die Anfangsbuchstaben von meinem Namen.«
»Ach so?«
»Wenn jemand meinen vollständigen Namen ausspricht, dann erwürge ich ihn! «
»Ups, also dann bleibe ich auch lieber bei Jo.«
»Das ist kein Witz. In der Schule haben mal Leute versucht, mir einen Spitznamen zu verpassen. Die bereuen das noch heute.«
Jakka zieht an seiner Zigarette.
»Ganz deiner Meinung, Jo. Man muss sich Respekt verschaffen.«
Übersetzung: Knut Krüger
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Mittlere Gefahrenstufe. Die gelbe Flagge ist gehisst. Die Brandung schlägt hoch an den Strand, obwohl es erst zwölf ist. Er wirft das Handtuch in den Sand und läuft ins Wasser, behält das gelbe T-Shirt an. Das Wasser reicht ihm bis zum Nabel. Er macht ein paar Schwimmzüge, wirft sich in die sich brechenden Wellen, krault zu den Bojen und zieht an ihnen vorbei. Er spürt ein unheilvolles Kribbeln und Brausen in der Brust, doch selbst wenn sie die rote Flagge gehisst hätten, wäre er ins Wasser gegangen. Rote Flagge bedeutet höchste Gefahr.
Niemand schwimmt heute so weit hinaus wie er. Er dreht sich zum Strand um. Wie ihm aufgetragen worden ist, hält Truls Nini an der Hand. Hier, jenseits der Bojen, kann er gerade noch hören, wie sie jedes Mal quiekt, wenn die Ausläufer einer Welle über ihre Füße schwappen.
Weiter draußen werden die Wellentäler tiefer. Plötzlich öffnen sie sich, und er fällt nach unten, wird emporgehoben und stürzt über den nächsten Wellenkamm wieder hinab. Er muss sich anstrengen, um sich an der Oberfläche zu halten und nicht nach unten gezogen zu werden. Er prustet und schnaubt, wird hinaufgetragen und nach unten gedrückt. Die Wellen folgen dicht aufeinander, und wenn er sich auf der Krone befindet, kann er die Linie am Horizont erkennen, an der sich Himmel und graublaues Wasser berühren. Er weiß, dass sich das Wasser hinter dieser Linie bis nach Afrika erstreckt. Wie weit würde er kommen, wenn er auf diese unsichtbare Küste zuschwimmen würde? Jede Welle, die ihn hinabzieht und empor trägt, beantwortet er mit einer Bewegung seines Oberkörpers, die ihm das Gefühl gibt, der Stärkere zu sein. Wie lange wird er durchhalten, ehe er aufgeben und sich dem Willen der Wellen beugen muss?
Nicht einmal heute Vormittag, als sie bei bestem Wetter zur Landung ansetzten, hatte er das Land auf der anderen Seite erkennen können. Er hatte sich zu seiner Mutter umgedreht, die in der Mitte saß, um sie zu fragen, wie viele Kilometer ihrer Meinung nach zwischen den beiden Küsten lagen. Doch er sah ihren Augen an, dass sie nicht mehr in der Lage war, solche Fragen zu beantworten. Hatte es bereits am frühen Morgen gemerkt, bevor sie das Flugzeug bestiegen. Direkt neben Gate 1 hatten sie im Café gesessen. Um drei Uhr nachts waren sie aufgestanden, um rechtzeitig am Flughafen zu sein. Nini lag in ihrem Buggy und schlief. Truls hatte sich auf seinem Stuhl zusammengerollt und war ebenfalls eingeschlafen. Er selbst starrte auf das Rollfeld.
»Willst du was zu trinken, Jo?«, fragte Arne und zwinkerte ihm kumpelhaft zu, was bedeutete, dass Jo eine Cola haben konnte. Er wusste, dass hinter dieser Frage etwas anderes steckte. Und richtig: Kurz darauf kam Arne mit einer Cola, Kartoffelchips und einem Stück Kuchen zurück. Auch gut. Dass er sich selbst ein Bier gekauft hatte, war Jo egal. Arne konnte trinken, was er wollte. Aber der Mutter Rotwein mitzubringen war definitiv eine schlechte Idee. Es ist Viertel vor sechs am Morgen, und deine Mutter trinkt Wein. Kein normaler Erwachsener tut das. Sie hatte seit Tagen keinen Tropfen mehr angerührt, und Jo hatte gedacht, dass sie es auf dieser Reise - mit Sonne, Strand und all dem, wonach sie sich immer gesehnt hatte - vielleicht nicht nötig haben würde zu trinken. Doch noch bevor sie an Bord gingen, hatte sie drei Gläser geleert. Sie wollte Jo gar nicht mehr loslassen, fuhr ihm ständig durch die Haare und sagte nicht mehr »Flugzeug«, sondern »Flugseuch«, und auf einmal waren sogar Arnes Witze so wahnsinnig komisch, dass sie den Kopf zurückwarf und hickste.
Als sie dann im »Flugseuch« saßen und die Flugbegleiterinnen mit ihren blau-weißen Uniformen ihre Servierwagen hinter sich herzogen, bestellte Arne einen Cognac für sie, Obwohl er wusste, wie das enden würde. Vielleicht tat er es deshalb. Jo lehnte sich gegen die Scheibe und tat so, als schliefe er. Er hätte am liebsten einen Fallschirm gehabt und den Notausgang geöffnet, um über Deutschland Oder Polen Oder wo auch immer abzuspringen und in einem fremden Land zu landen, wo ihn niemand kannte und niemand etwas von Mutter Oder Arne, dem Wichser, wusste.
Ein paar Stunden später lagen sie mit einem Drink in ihren Liegestühlen am Pool, und seine Mutter ließ ihr Glas fallen, das auf den Steinfliesen zersprang. Da hielt es JO nicht länger aus, stand auf und lief zum Strand hinunter.
»Nimm Truls und Nini mit!«, befahl Arne.
Gemeinsam mit seinem kleinen Bruder trottete Jo den steilen, steinigen Abhang hinunter. Seine kleine Schwester lag in ihrem Buggy. Eine kleine Familie. Wenn er nun einfach mit Truls und Nini abhaute und wieder nach Hause fuhr? Nein, nicht nach Hause. Lieber an einen anderen Ort, an dem er sich einen Job beschaffen und für ihren Unterhalt sorgen konnte. Dann mussten sie Arne nicht mehr sehen und bekamen nicht mehr mit, wie sich die Mutter um den Verstand soff, Gläser zerbrach und sich vor fremden Menschen danebenbenahm.
Aber das war noch lange nicht das Schlimmste, was an ihrem ersten Ferientag geschah. Das geschah am Abend. Jo bringt Nini ins Bett, nachdem er ihr die Allergiemedizin und das Schlafmittel gegeben hat. Flößt es ihr mit sanfter Gewalt ein, obwohl sie protestiert. Die Mutter hat ihm ein ums andere Mal gesagt, dass er nicht vergessen darf, ihr alle vier Tabletten zu geben, bevor er sie ins Bett bringt. Und dann erzählt Truls ihm plötzlich, dass ihre Mutter Nini die Tabletten schon gegeben hat, bevor sie hinausging. Sie hat vergessen, es Jo zu sagen. Also hat Nini heute die doppelte Dosis bekommen. Kein Wunder, dass sie jetzt schläft wie ein Stein. Liegt da, Ohne sich zu rühren.
Jo bleibt eine Zeitlang bei ihnen sitzen. Truls hat einen Stapel Phantom-Comics neben sich, die er von Arne bekommen hat. Truls sagt, Arne sei cool, weil er ihm seine alten Comics überlasse. Das geht nur die beiden etwas an. Arne hat die Comics seit seiner Kindheit gesammelt. Er war Mitglied des Phantom-Klubs und besaß den berühmten Siegelring des Helden. Auch den hat Truls übernommen. Jo nimmt von Arne schon lange nichts mehr an. Und wenn, dann stopft er es tief in seinen Kleiderschrank und kümmert sich nicht mehr darum. Ob es nun ein ManU-Trikot ist Oder die Eintrittskarte zu einem Fußballspiel.
Ein weiteres Mal beugt er sich zu Nini hinab, um sich zu vergewissern, dass sie atmet. Ihre Atemzüge sind langsam und tief, also haben ihr die zusätzlichen Pillen Offenbar keinen Schaden zugefügt. Dennoch nimmt er sich vor, ins Restaurant zu gehen und seine Mutter zu fragen. Sicherheitshalber. Obwohl ihm allein der Gedanke, ihr in ihrem jetzigen Zustand gegenüberzutreten, Übelkeit bereitet.
Aus den Lautsprechern, die sich auf der Bühne befinden, dröhnt ihm Musik entgegen. Irgend so ein Discozeugs. Weder die Mutter noch Arne ertragen es, wenn er zu Hause die Musik aufdreht, doch hier gelten andere Regeln. So ist das eben in den Ferien. Regeln werden geändert oder fallengelassen.
Er sieht nur fremde Gesichter, als er sich im Restaurant umsieht. Hofft, dass seine Mutter und Arne nicht da sind. Dass sie vielleicht spazieren oder woanders hingegangen sind, oder vielleicht sind sie schon wieder zurück in der Wohnung ... Da entdeckt er seine Mutter an einem Tisch im hintersten Winkel des Raumes. Ihr Kopf lehnt an der Schulter eines Mannes, den Jo noch nie gesehen hat. Arne vergnügt sich auf der Tanzfläche. Er und der Typ, an dem die Mutter klebt, haben offenbar die Frauen getauscht. Und Arne knutscht jetzt mit einer Schmalen, Dunkelhaarigen auf der Tanzfläche herum. Er steht auf schlanke Frauen und grinst immer, wenn er Mutter am Bauch packt und ihre SpeckrOllen über den Hosenbund zieht.
Jo bleibt an der Terrassentür stehen. Er spürt immer noch das Meer in seinem Körper. Er könnte hinunterschleichen, ehe die Erwachsenen ihn entdecken, und sich erneut in die Brandung werfen, ohne die Wellen zu sehen, die im Dunkeln heranrollen. Einfach spüren, wie sie ihn hinabziehen und hin und her schleudern. Doch wenn er nicht in der Bar bleibt, könnte der Mutter etwas zustoßen. Sie könnte die Treppe runterfallen, vergewaltigt werden oder im Swimmingpool ertrinken. Arne kümmert sich sowieso nicht. Plötzlich steht die Mutter schwankend auf und fällt nach vorne. Der fremde Mann fängt sie auf, ehe sie den Tisch umreißen kann. Zwei, drei Gläser kippen über die Kante. Alle drehen sich um und glotzen in ihre Richtung. Die Frau, mit der Arne tanzt, eilt an den Tisch. Sie schlingt die Arme um Mutters Taille und ruft ihr etwas zu. Sie und der Fremde helfen ihr den Absatz hinauf, der zur Theke führt. Sie gehen direkt an Jo vorbei. Die Mutter ist leichenblass und scheint ihn nicht zu erkennen. Ihr Rock ist nach oben gerutscht und gibt ihren Slip frei. Sie torkelt weiter, gestützt von der schmalen Frau. Als sie auf die Toilette verschwinden, folgt ihnen Jo und wartet vor der Tür. Er hört merkwürdige Geräusche, dann einen Schrei seiner Mutter. Er hat sie schon früher betrunken erlebt, aber noch nie so schreien gehört. Als sei sie dem Tode nahe. Er fasst um die Türklinke. Da spürte er eine Hand auf seiner Schulter.
»Geh da nicht rein.«
Jo windet sich, er will die Hand abschütteln. Zuerst hat er geglaubt, es sei der Mann von Mutters Tisch, aber es ist ein Fremder.
»Jemand ist bei deiner Mutter. Du brauchst nicht auf sie aufzupassen.«
Irgendetwas veranlasst Jo, die Türklinke loszulassen. Vielleicht ist es die Stimme, die ihm bekannt vorkommt. Er blickt zu dem Fremden auf. Es ist ein Mann in Arnes Alter. Er ist unrasiert und hat die Sonnenbrille auf den Kopf geschoben.
»Das geht Sie nichts an«, brummt Jo, aber er ist nicht böse. »Kann schon sein«, entgegnet der Mann.
Und trotzdem hat er sich eingemischt.
»Komm mit«, sagt er. »Ich spendiere dir eine Cola.«
Er geht auf die Terrasse voraus, ohne sich umzudrehen. Er trägt eine Shorts und ein schwarzes kurzärmliges Hemd. Sein halblanges Haar ist nach hinten gestrichen und reicht ihm über den Hemdkragen. Jo hört seine Mutter nicht mehr schreien, steht zögerlich da. Dann trottet er dem Mann hinterher.
Sie setzen sich an einen Tisch am Ende der Terrasse. Tief unter ihnen schlägt das Meer an die Felsen. Die Brandung scheint stärker geworden zu sein, und Jo denkt immer noch daran, wie es wäre, nach unten zu laufen und sich in die Fluten zu stürzen. Die Dunkelheit färbt das Wasser schwarz, es ist sicher noch warm.
Auch der fremde Mann trinkt eine Cola. Und jetzt fällt Jo ein, woher er seine Stimme kennt. Aus dem Fernsehen. Vor kurzem war er auch auf der Titelseite der Aftenposten.
»Ich hab Sie in der Zeitung gesehen«, sagt er. »Und im Fernsehen.«
»Das ist gut möglich.«
»Werden Sie von vielen Leuten erkannt?«
»Ja, von ziemlich vielen. Die meisten Leute glotzen einen an, als könnten sie nicht fassen, dass ich, obwohl ich schon mal im Fernsehen war, ein Mensch aus Fleisch und Blut bin, der zu Mittag isst und aufs Klo muss.« Der fremde Mann lächelt. »Aber Norweger sind höfliche Leute. Wenn sie dich genug angeglotzt haben, lassen sie dich in der Regel in Ruhe. Eigentlich sind alle befangen und haben Angst, sich zu blamieren, genau wie du und ich.«
Jo trinkt einen Schluck von seiner Cola und wirft einen Blick ins Restaurant.
»Nicht meine Mutter. Die benimmt sich ständig daneben.« Der Mann lehnt sich zurück.
»Sie ist betrunken«, stellt er fest. »Alle verändern sich, wenn sie trinken.«
Jo versucht, von seiner Mutter abzulenken.
»Trinken Sie denn gar nicht?« Er zeigt auf das Colaglas. »Ich meine, Wein oder Schnaps oder so was?«
»Nur wenn ich muss. Du heißt Jo, stimmt's?«
»Woher wissen Sie das?«
»Ich habe gehört, wie dein Vater nach dir gerufen hat, als wir aus dem Flugzeug stiegen.«
»Arne ist nicht mein Vater.«
»Verstehe. Du weißt nicht, wie ich heiße?«
»Hab den Namen bestimmt schon gehört. Aber ich kann mich nicht erinnern.«
Der Mann klopft sich auf die Brusttaschen und zieht eine flach gedrückte Zigarettenschachtel hervor.
»Kannst mich übrigens duzen. Sag einfach Jakka zu mir.« »Jakka? Komischer Name ... «
Der Mann steckt sich die Zigarette an.
»So wurde ich genannt, als ich in deinem Alter war. Wie alt bist du? Dreizehn, vierzehn?«
»Zwölf«, antwortet Jo und ist ein bisschen stolz.
»Ein paar Freunde nennen mich immer noch so, wenn wir uns treffen«, erklärt der Mann.
»Gefällt dir das?«, fragt Jo lächelnd. »Dass sie dich Jakka nennen?«
Jakka streicht sich über sein unrasiertes Kinn.
»Da, wo ich herkomme, haben alle einen Spitznamen, der hat oft was mit dem Beruf des Vaters zu tun. Mein Vater hatte einen Klamottenladen beziehungsweise einen Konfektionshandel, wie das damals hieß, und Jakka fand ich vollkommen okay. Heute gefällt mir der Name eigentlich noch besser. War in jedem Fall cooler als Hobel oder Locke. Ganz zu schweigen von Schnitzel.«
Er lacht, und Jo muss auch lachen.
»Ich heiße auch nicht wirklich Jo, das sind nur die Anfangsbuchstaben von meinem Namen.«
»Ach so?«
»Wenn jemand meinen vollständigen Namen ausspricht, dann erwürge ich ihn! «
»Ups, also dann bleibe ich auch lieber bei Jo.«
»Das ist kein Witz. In der Schule haben mal Leute versucht, mir einen Spitznamen zu verpassen. Die bereuen das noch heute.«
Jakka zieht an seiner Zigarette.
»Ganz deiner Meinung, Jo. Man muss sich Respekt verschaffen.«
Übersetzung: Knut Krüger
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
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Autoren-Porträt von Torkil Damhaug
Torkil Damhaug, geboren 1958 in Lillehammer, studierte Medizin und Psychologie. Er arbeitete in Akerhus als Psychiater, bevor er sich ab 1996 dem Schreiben von psychologischen Thrillern widmete.
Bibliographische Angaben
- Autor: Torkil Damhaug
- 2011, 1, 543 Seiten, Maße: 13,6 x 21,5 cm, Hochw. Broschur mit Klappeinb.
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3868005927
- ISBN-13: 9783868005929
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