Die Ostdeutschen als Avantgarde
Was der Westen vom Osten lernen kann "Wer immer die Gesellschaft Ost verstehen will, muß Engler lesen." Süddeutsche Zeitung Englers facettenreiche Studie illustriert denSprung derOstdeutschen an die Front der globalisierten Weltgesellschaft. Er...
Leider schon ausverkauft
versandkostenfrei
Buch
8.95 €
Produktdetails
Produktinformationen zu „Die Ostdeutschen als Avantgarde “
Was der Westen vom Osten lernen kann "Wer immer die Gesellschaft Ost verstehen will, muß Engler lesen." Süddeutsche Zeitung Englers facettenreiche Studie illustriert denSprung derOstdeutschen an die Front der globalisierten Weltgesellschaft. Er lotet die Konsequenzen der damit einhergehenden Risiken und Chancen für die Menschen in ganz Deutschland aus. "Noch niemand hat so offen den Ostdeutschen die Ablösung der Arbeitsgesellschaft nahe gelegt. ... die wichtigste Neuerscheinung zum Thema." Literaturen
Klappentext zu „Die Ostdeutschen als Avantgarde “
Was der Westen vom Osten lernen kann"Wer immer die Gesellschaft Ost verstehen will, muß Engler lesen." Süddeutsche Zeitung
Englers facettenreiche Studie illustriert den Sprung der Ostdeutschen an die Front der globalisierten Weltgesellschaft. Er lotet die Konsequenzen der damit einhergehenden Risiken und Chancen für die Menschen in ganz Deutschland aus.
Lese-Probe zu „Die Ostdeutschen als Avantgarde “
Der dritte Schub der Massenarbeitslosigkeit in den neunziger Jahren durchbrach im Eiltempo erst die Drei- und dann die Viermillionengrenze, ließ die Arbeitslosenquote gesamtdeutsch auf über zehn Prozent, in Ostdeutschland bis in die Nähe der doppelten Prozentzahl steigen. Damit war die kritische Masse für einen Paradigmenwechsel auch auf diesem Gebiet im Westen Deutschlands definitiv erreicht, im Osten des Landes eindeutig überschritten, und wäre Politik ihrem Wesen nach Übersetzung rationaler Einsicht in bindende Entscheidungen, hätte die Bastion Arbeitsgesellschaft jetzt fallen müssen. Sie fiel nicht. Die zivile Logik der Regierenden schlug den umgekehrten Weg ein, den die militärische Logik ihnen gewiesen hatte. Hatten sie sich dort, über Partei- und Koalitionsgrenzen hinweg, auf eine Reformstrategie verständigt, so entschieden sie sich hier mit derselben Eintracht für eine Politik der Gegenreform. Parallel zur Konsolidierung der Massenarbeitslosigkeit weit jenseits der Millionengrenze erhöhte die neu gewählte Koalition aus Christdemokraten und Liberalen 1982 die Arbeitslosenbeiträge, verkürzte sie den Anspruch auf Arbeitslosengeld, verdoppelte die Sperrzeit, verschärfte die Zumutbarkeitsklauseln für die Arbeitsaufnahme, beschnitt das Unterhaltsgeld, schränkte den Anspruch auf Arbeitslosenhilfe ein, erhöhte die Rezeptgebühren und verteuerte die Heilmittel.In den folgenden Jahren, die Arbeitslosigkeit lag nun bei über zwei Millionen, hob sie die Arbeitslosenbeiträge nochmals an, kürzte die Dauer für den Arbeitslosengeldbezug und das Übergangsgeld, reduzierte Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe für Kinderlose, verringerte das Übergangsgeld ein weiteres Mal und maß arbeitslosen Jugendlichen weniger Unterstützung zu. Zwar werden einige dieser Maßnahmen in den Folgejahren teilweise revidiert, teils von derselben Regierung, teils nach dem Regierungswechsel von 1998 - zu einer prinzipiellen Umkehr führte das jedoch nicht. Die rot-grüne "Reformkoalition"
... mehr
verabschiedet sich aus der gegenwärtigen Legislaturperiode mit dem Projekt, das Arbeitslosengeld zeitlich enger zu bemessen, die Arbeitslosenhilfe der Sozialhilfe anzugleichen, und nimmt damit nicht nur eine Schmälerung der Bezüge in Kauf, sondern, weit gefährlicher, die Rückverwandlung von gesetzlichen Ansprüchen in amtliche Ermessensentscheidungen. Das ist schon unter westdeutschen Verhältnissen wirklichkeitsfremd; in Ostdeutschland, wo der Zusammenschluß von Mensch und Arbeit der Willkür eines Naturereignisses gleichkommt, tritt der Anachronismus nackt zutage, zynisch und niederträchtig.
Alles geschieht, um das Leben ohne Arbeit so abstoßend wie nur irgend erdenklich zu gestalten; um jene, die aus der legitimen Ordnung der Dinge vertrieben wurden, mit Minderwertigkeitsgefühlen zu infizieren; um den Arbeitsbesitzern einen regelrechten Horror vor dieser geächteten Daseinsweise einzuflößen. Gemeinheit und Raffinesse, mit der die Arbeitsgesellschaft ihre Sorgenkinder behandelt, sind ein genauer Gradmesser der Angst, daß das ganze Gebäude unversehens in sich zusammenstürzen könnte, wenn der inneren Alternative Raum zur Entfaltung gegeben würde. Dieselbe "freiheitliche Grundordnung", die den ungehemmten Wettbewerb zum Menschenrecht verklärt, erstickt ihn, wenn er mit Freiheiten schwanger geht, die sich nicht ins Grundbuch eintragen lassen. Angst macht erfinderisch, wie Not. Die Alternative moralisch in Mißkredit zu bringen, die Mehrheit gegen Minderheiten aufzuwiegeln, die "leben, ohne zu geben", ist ihr tägliches Geschäft. Man muß sich schon eine reichlich verdrehte und ärmliche Vorstellung vom Menschen und seinen Möglichkeiten machen, um glauben zu können, daß jenseits der Arbeitsgesellschaft nur Leere herrscht, daß die einzigen Gegenspieler der (post)industriellen Geschäftigkeit Schmarotzertum und Faulheit sind. "Was ist denn das für eine Philosophie, die zu Behauptungen führt, welche der gesunde Verstand vom entlegensten Teil Chinas bis nach Kanada ablehnt?", erregte sich Voltaire über Rousseau, der das Eigentum abschaffen wollte, und fuhr fort: "Es ist die Philosophie eines armseligen Lumpen, dessen Wunsch es ist, daß alle Reichen von den Armen ausgeraubt werden, damit die brüderliche Vereinigung der Menschen leichter zustande kommen kann." Ist das nicht eine vorzügliche Beschreibung der praktischen Philosophie der heute Regierenden? Verstoßen sie etwa weniger gegen den "gesunden Verstand", wenn sie den umgekehrten Plan verfolgen, die Verbrüderung der Menschheit durch die Schröpfung der Arbeitenden und die Drangsalierung der ökonomisch Überflüssigen zu bewerkstelligen? Kann ihnen wirklich entgehen, daß die Ausgestoßenen und gänzlich Ungedienten der Arbeitswelt längst einen eigenen sozialen Stand bilden, dem der einzelne nur um den Preis entrinnt, daß andere in ihn eintreten? Und wenn sie es bemerken, wozu dann die Einschüchterung und Beschwernis? Bei der Beantwortung dieser Fragen kommt zunächst ein wesentlicher Unterschied zwischen der Wehrpflichtigen- und der Arbeitsgesellschaft zum Tragen: die Wehrpflichtigen sind Teil eines Kontingents, dessen Stärke innerhalb längerer Zeiträume feststeht und nur langfristigen Schwankungen unterliegt, der Umfang der Arbeitnehmerschaft schwankt dagegen in jedem Augenblick und ist prinzipiell unbestimmbar. Das wirkt sich auf den Status der Arbeitslosen aus; anders als die Zivildienstleistenden sind sie nicht nur, was sie sind, nämlich arbeitslos, sondern zugleich Teil einer Reserve, Arbeitsfähige, und in dieser Eigenschaft potentielle Arbeitskräfte, die jederzeit "einberufen" werden können. Je beschwerlicher ihr Reservistendasein ist, desto bereitwilliger werden sie dem Ruf folgen. Dessen ungeachtet ist der rein ökonomische Nutzen der heutigen Arbeitslosen äußerst gering, liegt er weit unter dem der "industriellen Reservearmee" aus den Jugendzeiten des modernen Kapitalismus. Minder qualifiziert oder dem Arbeitsleben zu lange entzogen, um auf der Höhe der aktuellen Anforderungen zu sein, konkurrieren sie vielfach weit stärker untereinander und mit den Inhabern schlecht bezahlter Positionen als mit den gut ausgebildeten Kernbelegschaften der Unternehmen. Der Druck des unbeschäftigten Teils der arbeitsfähigen Bevölkerung auf den beschäftigten wächst daher auch keineswegs proportional zum Umfang der Arbeitslosigkeit; er ist vorhanden, aber nicht stark genug, um die Willfährigkeit der Arbeitenden sicherzustellen. Wo das ökonomische Argument versagt, springt das moralische ein. Was die Arbeitsbesitzer innerlich entwaffnet und sozial gefügig macht, sind weder Zahl noch Macht der Arbeitslosen, sondern deren bloße Existenz zu Bedingungen, mit denen niemand tauschen möchte. Der arbeitsethische Gebrauchswert der Arbeitslosen besteht darin, daß es sie gibt, daß sie gar nicht umhinkönnen, zu Mitwirkenden einer großen gesellschaftlichen Inszenierung zu werden, deren kathartischer Effekt in der sozialen Abschreckung besteht. Sie müssen, und das ist das Ärgste, das ihnen geschieht, zu der Musik, die sie genüßlich vorführt, auch noch tanzen.
Am langfristigen Erfolg dieser politischen Dramaturgie bestehen begründbare Zweifel. Die Verletzung der elementaren Gebote der "Arbeitsgerechtigkeit" trifft die Menschen viel härter und dauerhafter als der Verstoß gegen die Normen der Wehrgerechtigkeit. Dieser Umstand allein wird Folgen haben; dem Gemeinwesen schädliche, wenn sich die Eliten dazu entschließen sollten, den Loyalitätsverlust mit harter Hand zu überspielen, ihm förderliche, wenn sie sich wie im Fall der Wehrgerechtigkeit spät, aber nicht zu spät auf Veränderungen einlassen. Etwas Weiteres spricht gegen das krud Gegebene und für den Wandel. In den zurückliegenden drei, vier Jahrzehnten mußten die Regierten in den entwickelten kapitalistischen Industrienationen lernen, daß unabhängig von der jeweiligen Zusammensetzung der Regierung eine stets größer werdende Zahl von Menschen die Kontrolle über ihr Leben einbüßte. Der Verlust an Kontrolle ist sozial farbenblind; er ereilt jene, die im Licht und jene, die im Schatten stehen, den "flexiblen Menschen" nicht weniger als den Ruhiggestellten, die Überspannten wie die sozial Betäubten. Die einen leiden unter der Rast- und Ortlosigkeit ihres Lebens und können nichts festhalten, weder Eindrücke noch Beziehungen. Die anderen leiden unter dem Mangel an Austausch und Bewegung, können nicht loslassen und fühlen sich wie festgenagelt. Jenen vergeht vor lauter Reizen das Sehen, diesen erstirbt der Blick im Immergleichen. Die Blinden wieder sehend zu machen, die Überhitzten und Erstarrten aus der gemeinsamen Umklammerung zu lösen und wirklich miteinander zu verbünden ist der erste Grundsatz einer Soziologie, die sich als soziale Medizin versteht. Sie muß Schwächen und Stärken ihrer Patienten kennen, wissen, wo sie zunächst ergriffen werden müssen. Würde man versuchen, die Krankheit vom privilegierten Pol her zu kurieren, dadurch, daß man die Gehetzten und jederzeit Verfügbaren beruhigte, ihr erhitztes Temperament auf eine mittlere soziale Temperatur abkühlte, träfe man mit hoher Sicherheit auf Widerstand. Das Gefühl, etwas zu verlieren oder gar beraubt zu werden, stemmte sich gegen die Heilung. Um allein oder auch nur zuerst aus der Verirrung herauszufinden, fehlt es der emsigen Geschäftigkeit und dem Getriebensein der Erfolgreichen an Zeit, Besinnung und Gelassenheit; sie müssen mit der Möglichkeit einer zugleich entspannten und erfüllten Art zu sein erst wieder konfrontiert werden. Entzug ist keine gute Therapie, wenn es auch anders geht. Die Heilung muß am anderen Pol beginnen. Die Erstarrten behutsam zu erwärmen, wieder Leben ins Leben der sozial Abgeschiedenen zu bringen, sie in den Stand zu setzen, angstfrei mit der ungewollten Freiheit zu experimentieren, bedeutet dem Bestehenden etwas hinzuzufügen, zu geben statt zu nehmen. In Ostdeutschland, wo der Stand der Arbeitslosen nur ein Stand unter vielen ähnlich depravierten ist, wo das Leiden am Zustand der Gesellschaft in Kolonnen geht, wo weiterer Entzug sozialen Tod bedeuten würde, wo Trost nichts mehr bewirkt, hilft nur noch die Erweckung. Hier hat die Zukunft keine Zeit, hier müssen die neuen ständischen Freiheiten zuerst dekretiert werden, will man nicht Millionen von Menschen ins Unglück stürzen. Vorschriften über den Gebrauch der Freiheit sind nicht vonnöten, Einübung dagegen wohl. Denn als würde sich die Geschichte einen Witz erlauben, bürdet sie den Auszug aus der Arbeitsgesellschaft ausgerechnet jenen auf, die am intensivsten in sie verwoben waren. Aber wer weiß, vielleicht steht am Ende dieses Experiments die auch andere befreiende Erkenntnis, daß man sich die Arbeitsgesellschaft leichter ab- als angewöhnt, daß der Prozeß der Entgiftung schmerzloser und verlustärmer verläuft als gedacht. Avantgarde ist keine Garantie für Ankunft, nur für Aufbruch. Furcht vor dem Unbekannten ist ihr eigen, gewaltsame Abstoßung von derVergangenheit, zeitweiser Verlust von Ort und Halt, Schmerz und Herbheit.
Alles geschieht, um das Leben ohne Arbeit so abstoßend wie nur irgend erdenklich zu gestalten; um jene, die aus der legitimen Ordnung der Dinge vertrieben wurden, mit Minderwertigkeitsgefühlen zu infizieren; um den Arbeitsbesitzern einen regelrechten Horror vor dieser geächteten Daseinsweise einzuflößen. Gemeinheit und Raffinesse, mit der die Arbeitsgesellschaft ihre Sorgenkinder behandelt, sind ein genauer Gradmesser der Angst, daß das ganze Gebäude unversehens in sich zusammenstürzen könnte, wenn der inneren Alternative Raum zur Entfaltung gegeben würde. Dieselbe "freiheitliche Grundordnung", die den ungehemmten Wettbewerb zum Menschenrecht verklärt, erstickt ihn, wenn er mit Freiheiten schwanger geht, die sich nicht ins Grundbuch eintragen lassen. Angst macht erfinderisch, wie Not. Die Alternative moralisch in Mißkredit zu bringen, die Mehrheit gegen Minderheiten aufzuwiegeln, die "leben, ohne zu geben", ist ihr tägliches Geschäft. Man muß sich schon eine reichlich verdrehte und ärmliche Vorstellung vom Menschen und seinen Möglichkeiten machen, um glauben zu können, daß jenseits der Arbeitsgesellschaft nur Leere herrscht, daß die einzigen Gegenspieler der (post)industriellen Geschäftigkeit Schmarotzertum und Faulheit sind. "Was ist denn das für eine Philosophie, die zu Behauptungen führt, welche der gesunde Verstand vom entlegensten Teil Chinas bis nach Kanada ablehnt?", erregte sich Voltaire über Rousseau, der das Eigentum abschaffen wollte, und fuhr fort: "Es ist die Philosophie eines armseligen Lumpen, dessen Wunsch es ist, daß alle Reichen von den Armen ausgeraubt werden, damit die brüderliche Vereinigung der Menschen leichter zustande kommen kann." Ist das nicht eine vorzügliche Beschreibung der praktischen Philosophie der heute Regierenden? Verstoßen sie etwa weniger gegen den "gesunden Verstand", wenn sie den umgekehrten Plan verfolgen, die Verbrüderung der Menschheit durch die Schröpfung der Arbeitenden und die Drangsalierung der ökonomisch Überflüssigen zu bewerkstelligen? Kann ihnen wirklich entgehen, daß die Ausgestoßenen und gänzlich Ungedienten der Arbeitswelt längst einen eigenen sozialen Stand bilden, dem der einzelne nur um den Preis entrinnt, daß andere in ihn eintreten? Und wenn sie es bemerken, wozu dann die Einschüchterung und Beschwernis? Bei der Beantwortung dieser Fragen kommt zunächst ein wesentlicher Unterschied zwischen der Wehrpflichtigen- und der Arbeitsgesellschaft zum Tragen: die Wehrpflichtigen sind Teil eines Kontingents, dessen Stärke innerhalb längerer Zeiträume feststeht und nur langfristigen Schwankungen unterliegt, der Umfang der Arbeitnehmerschaft schwankt dagegen in jedem Augenblick und ist prinzipiell unbestimmbar. Das wirkt sich auf den Status der Arbeitslosen aus; anders als die Zivildienstleistenden sind sie nicht nur, was sie sind, nämlich arbeitslos, sondern zugleich Teil einer Reserve, Arbeitsfähige, und in dieser Eigenschaft potentielle Arbeitskräfte, die jederzeit "einberufen" werden können. Je beschwerlicher ihr Reservistendasein ist, desto bereitwilliger werden sie dem Ruf folgen. Dessen ungeachtet ist der rein ökonomische Nutzen der heutigen Arbeitslosen äußerst gering, liegt er weit unter dem der "industriellen Reservearmee" aus den Jugendzeiten des modernen Kapitalismus. Minder qualifiziert oder dem Arbeitsleben zu lange entzogen, um auf der Höhe der aktuellen Anforderungen zu sein, konkurrieren sie vielfach weit stärker untereinander und mit den Inhabern schlecht bezahlter Positionen als mit den gut ausgebildeten Kernbelegschaften der Unternehmen. Der Druck des unbeschäftigten Teils der arbeitsfähigen Bevölkerung auf den beschäftigten wächst daher auch keineswegs proportional zum Umfang der Arbeitslosigkeit; er ist vorhanden, aber nicht stark genug, um die Willfährigkeit der Arbeitenden sicherzustellen. Wo das ökonomische Argument versagt, springt das moralische ein. Was die Arbeitsbesitzer innerlich entwaffnet und sozial gefügig macht, sind weder Zahl noch Macht der Arbeitslosen, sondern deren bloße Existenz zu Bedingungen, mit denen niemand tauschen möchte. Der arbeitsethische Gebrauchswert der Arbeitslosen besteht darin, daß es sie gibt, daß sie gar nicht umhinkönnen, zu Mitwirkenden einer großen gesellschaftlichen Inszenierung zu werden, deren kathartischer Effekt in der sozialen Abschreckung besteht. Sie müssen, und das ist das Ärgste, das ihnen geschieht, zu der Musik, die sie genüßlich vorführt, auch noch tanzen.
Am langfristigen Erfolg dieser politischen Dramaturgie bestehen begründbare Zweifel. Die Verletzung der elementaren Gebote der "Arbeitsgerechtigkeit" trifft die Menschen viel härter und dauerhafter als der Verstoß gegen die Normen der Wehrgerechtigkeit. Dieser Umstand allein wird Folgen haben; dem Gemeinwesen schädliche, wenn sich die Eliten dazu entschließen sollten, den Loyalitätsverlust mit harter Hand zu überspielen, ihm förderliche, wenn sie sich wie im Fall der Wehrgerechtigkeit spät, aber nicht zu spät auf Veränderungen einlassen. Etwas Weiteres spricht gegen das krud Gegebene und für den Wandel. In den zurückliegenden drei, vier Jahrzehnten mußten die Regierten in den entwickelten kapitalistischen Industrienationen lernen, daß unabhängig von der jeweiligen Zusammensetzung der Regierung eine stets größer werdende Zahl von Menschen die Kontrolle über ihr Leben einbüßte. Der Verlust an Kontrolle ist sozial farbenblind; er ereilt jene, die im Licht und jene, die im Schatten stehen, den "flexiblen Menschen" nicht weniger als den Ruhiggestellten, die Überspannten wie die sozial Betäubten. Die einen leiden unter der Rast- und Ortlosigkeit ihres Lebens und können nichts festhalten, weder Eindrücke noch Beziehungen. Die anderen leiden unter dem Mangel an Austausch und Bewegung, können nicht loslassen und fühlen sich wie festgenagelt. Jenen vergeht vor lauter Reizen das Sehen, diesen erstirbt der Blick im Immergleichen. Die Blinden wieder sehend zu machen, die Überhitzten und Erstarrten aus der gemeinsamen Umklammerung zu lösen und wirklich miteinander zu verbünden ist der erste Grundsatz einer Soziologie, die sich als soziale Medizin versteht. Sie muß Schwächen und Stärken ihrer Patienten kennen, wissen, wo sie zunächst ergriffen werden müssen. Würde man versuchen, die Krankheit vom privilegierten Pol her zu kurieren, dadurch, daß man die Gehetzten und jederzeit Verfügbaren beruhigte, ihr erhitztes Temperament auf eine mittlere soziale Temperatur abkühlte, träfe man mit hoher Sicherheit auf Widerstand. Das Gefühl, etwas zu verlieren oder gar beraubt zu werden, stemmte sich gegen die Heilung. Um allein oder auch nur zuerst aus der Verirrung herauszufinden, fehlt es der emsigen Geschäftigkeit und dem Getriebensein der Erfolgreichen an Zeit, Besinnung und Gelassenheit; sie müssen mit der Möglichkeit einer zugleich entspannten und erfüllten Art zu sein erst wieder konfrontiert werden. Entzug ist keine gute Therapie, wenn es auch anders geht. Die Heilung muß am anderen Pol beginnen. Die Erstarrten behutsam zu erwärmen, wieder Leben ins Leben der sozial Abgeschiedenen zu bringen, sie in den Stand zu setzen, angstfrei mit der ungewollten Freiheit zu experimentieren, bedeutet dem Bestehenden etwas hinzuzufügen, zu geben statt zu nehmen. In Ostdeutschland, wo der Stand der Arbeitslosen nur ein Stand unter vielen ähnlich depravierten ist, wo das Leiden am Zustand der Gesellschaft in Kolonnen geht, wo weiterer Entzug sozialen Tod bedeuten würde, wo Trost nichts mehr bewirkt, hilft nur noch die Erweckung. Hier hat die Zukunft keine Zeit, hier müssen die neuen ständischen Freiheiten zuerst dekretiert werden, will man nicht Millionen von Menschen ins Unglück stürzen. Vorschriften über den Gebrauch der Freiheit sind nicht vonnöten, Einübung dagegen wohl. Denn als würde sich die Geschichte einen Witz erlauben, bürdet sie den Auszug aus der Arbeitsgesellschaft ausgerechnet jenen auf, die am intensivsten in sie verwoben waren. Aber wer weiß, vielleicht steht am Ende dieses Experiments die auch andere befreiende Erkenntnis, daß man sich die Arbeitsgesellschaft leichter ab- als angewöhnt, daß der Prozeß der Entgiftung schmerzloser und verlustärmer verläuft als gedacht. Avantgarde ist keine Garantie für Ankunft, nur für Aufbruch. Furcht vor dem Unbekannten ist ihr eigen, gewaltsame Abstoßung von derVergangenheit, zeitweiser Verlust von Ort und Halt, Schmerz und Herbheit.
... weniger
Autoren-Porträt von Wolfgang Engler
Wolfgang Engler, geb. 1952 in Dresden, Soziologe, Lehrtätigkeit an der Schauspielschule Ernst Busch in Berlin, seit Oktober 2005 dort Rektor. Im Herbst 2009 Gastprofessur an der Universität St. Gallen. Er publizierte zahlreiche Studien über Lebensformen in Ost und West, kritische Analysen über die Moderne, über Demokratie sowie den Wandel des Politischen und der Öffentlichkeit in den industriellen Massengesellschaften. Veröffentlicht in diversen Zeitschriften und Zeitungen (Die Zeit, taz, Süddeutsche Zeitung, Blätter für deutsche und internationale Politik u.a.). 2000 erhielt Engler den Preis für herausragende Leistungen auf dem Gebiet der öffentlichen Wirksamkeit der Soziologie.
Bibliographische Angaben
- Autor: Wolfgang Engler
- 2004, 207 Seiten, Maße: 11,5 x 19,1 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Aufbau TB
- ISBN-10: 3746681138
- ISBN-13: 9783746681139
Rezension zu „Die Ostdeutschen als Avantgarde “
"Noch niemand hat so offen den Ostdeutschen die Ablösung der Arbeitsgesellschaft nahe gelegt. ... die wichtigste Neuerscheinung zum Thema." (Literaturen)
Kommentar zu "Die Ostdeutschen als Avantgarde"
0 Gebrauchte Artikel zu „Die Ostdeutschen als Avantgarde“
Zustand | Preis | Porto | Zahlung | Verkäufer | Rating |
---|
Schreiben Sie einen Kommentar zu "Die Ostdeutschen als Avantgarde".
Kommentar verfassen