Die Pilgerin
Die Reichsstadt Tremmlingen im 14. Jahrhundert: Hier führt die junge und schöne Tilla als Tochter eines wohlhabenden Kaufherrn ein behütetes Leben. Da stirbt ihr Vater - und verfügt in seinem Testament, dass sein Herz in Santiago de...
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Produktinformationen zu „Die Pilgerin “
Die Reichsstadt Tremmlingen im 14. Jahrhundert: Hier führt die junge und schöne Tilla als Tochter eines wohlhabenden Kaufherrn ein behütetes Leben. Da stirbt ihr Vater - und verfügt in seinem Testament, dass sein Herz in Santiago de Compostela begraben werden soll. Tillas Bruder schert sich jedoch nicht um den Letzten Willen seines Vaters und um dessen Wunsch, seine Tochter mit dem Sohn des Bürgermeisters zu verheiraten. Stattdessen zwingt er sie zur Ehe mit seinem besten Freund. Als Mann verkleidet flieht Tilla aus ihrer Heimatstadt. Ihr Ziel heißt Santiago de Compostela.
Lese-Probe zu „Die Pilgerin “
Die Pilgerin von Iny Lorentz Erster Teil
Das Gelübde
I.
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Die Vorhänge waren so fest zugezogen, als könne der feinste Sonnenstrahl dem Kranken schaden, und die Flamme der Öllampe neben dem Bett vermochte die Kammer kaum zu erhellen. So trüb wie das Licht war auch die Stimmung der vier Personen, die sich um Eckhardt Willingers Krankenlager versammelt hatten und auf ihn hinabblickten.
Der Kaufherr lag regungslos unter seiner Decke, und nur das leichte Heben und Senken seines Brustkorbs verriet, dass er noch atmete. Mit einem Mal aber fuhr er hoch, als wäre er aus einem tiefen Schlaf aufgeschreckt worden, und packte den Arm des Arztes mit ausgemergelten, zu Krallen gebogenen Fingern. »Sorge dafür, dass ich wieder auf die Beine komme! Ich zahle dir, was du willst. Ich brauche noch ein Jahr! Oder zumindest ein halbes! Dann kann ich in Frieden ruhen.«
Willingers Stimme, die vor wenigen Wochen noch den Ratssaal der Stadt ausgefüllt hatte, klang dünn und zittrig und seine blassblauen Augen waren weit aufgerissen. Die Furcht vor dem Tod schien ihn in einem weit höheren Maße gepackt zu haben, als man es von einem Mann erwartete, der mit klarem Blick und kühlem Verstand eines der größten Handelshäuser seiner Heimatstadt aufgebaut hatte.
Tilla, die Tochter des Kranken, maß Lenz Gassner mit zweifelndem Blick, denn sie hielt nicht viel von der Wirksamkeit seiner Heilkunst. Nach ihrem Empfinden lagen schon viel zu viele Leute auf dem Kirchhof, denen der Arzt ein langes Leben prophezeit hatte. Doch wider alle Erfahrung hoffte sie, er könne ihrem Vater wenigstens zu diesem einen Lebensjahr verhelfen. Lenz Gassner war ein hochgewachsener Mann im dunklen Talar eines Gelehrten mit dem überlegenen Habitus eines Mannes, der sich im Besitz größeren Wissens wähnt als andere. Mit einem beruhigenden Lächeln löste er Willingers Hand von seinem Arm und nahm ein kleines, mit einer dunklen Flüssigkeit gefülltes Fläschchen aus seiner Tasche. »Dieses Mittel hilft Euch gewiss wieder auf die Beine, Willinger. Es ist echter Theriak, zubereitet vom Leibarzt des bayerischen Herzogs Stephan. Dieses Mittel hat, wie ich bemerken darf, Seine Durchlaucht bereits zwei Mal von der Schwelle des Todes zurückgeholt. «
Seine Worte hallten misstönend in Tillas Ohren, denn sie gaben ihr das Gefühl, er nähme die Krankheit ihres Vaters nicht ernst. Da sie den Siechen pflegte, wusste sie, wie hinfällig er inzwischen geworden war, und fleißiges Beten schien ihr ein besseres Mittel gegen das den Kranken von innen verzehrende Fieber zu sein als Lenz Gassners Tinkturen.
Eckhardt Willinger aber versetzte die Aussicht auf die Medizin des Herzogs in freudige Erregung, und er nahm ein wenig Farbe an. »Danke, mein Guter! Ich muss wieder gesund werden, denn ich habe noch etwas Wichtiges zu erledigen, bevor ich vor unseren Herrn Jesus Christus treten kann!«
Er zwinkerte dem Arzt wie einem Mitverschworenen zu und winkte ihm, noch näher zu kommen. Gassner aber schien seinen eigenen Kenntnissen zu misstrauen, denn er trat unwillkürlich einen Schritt zurück.
»Ich muss einfach gesund werden«, wiederholte der Kranke. »Vor Jahren habe ich eine Wallfahrt zum Grabe des heiligen Apostels Jakobus in Spanien gelobt, und dieses Versprechen muss ich halten. Wenn ich dort bin, mag der Himmel mich zu sich nehmen, aber nicht früher.«
Während Willinger schwer atmend auf sein Kissen zurücksank, schnaubte sein Sohn Otfried verächtlich. »Ich hoffe, Ihr könnt meinem Vater helfen, Medicus. Er ist von dieser Wallfahrt so besessen, als hinge die ewige Seligkeit davon ab.«
Tilla fuhr zornig auf. »Da diese Wallfahrt für Vaters Seelenheil notwendig ist, müssen wir ihn mit allen Kräften unterstützen! Du aber tust gerade so, als handele es sich um eine Narretei und nicht um ein heiliges Versprechen.«
Der vierte Besucher an Willingers Bett, ein untersetzter, älterer Mann mit faltigem Gesicht und dünnen, grauen Haaren, nickte Tilla zu. »Du hast Recht, mein Kind. Keine Wallfahrt ist eine Narretei!«
»Aber muss es gleich Santiago de Compostela sein? Das liegt doch beinahe am Ende der Welt! Eine Wallfahrt zum heiligen Kilian in Würzburg oder meinetwegen auch nach Trier zum Heiligen Rock würde wirklich genügen.«
Tilla biss sich auf die Lippen, um nicht mit Worten herauszuplatzen, die nur zu einem weiteren Streit mit ihrem Bruder führen würden, und atmete tief durch. »Vater hat nun einmal versprochen, zum Grab des Apostels Jakobus zu pilgern!«
Ihr Bruder winkte ab. »Den Weg wird er ohnehin nicht mehr schaffen. Er soll froh sein, wenn er überhaupt am Leben bleibt.« Das klang so herzlos, dass der ältere Herr verärgert den Kopf schüttelte. Wohl wusste er, dass nicht alles eitel Freude war im Hause Willinger, doch dem Sohn hätte etwas mehr Ehrfurcht vor dem Vater durchaus angestanden. Otfrieds Worte wären auch außerhalb des Krankenzimmers ungehörig gewesen, sie aber dem Vater ins Gesicht zu sagen, zeugte von einem erschreckenden Mangel an der gebotenen Ehrfurcht.
»Ich hoffe und bete, dass dein Vater wieder ganz gesund wird. Der Rat unserer Stadt braucht ihn dringend, vor allem jetzt in diesen unsicheren Zeiten.« Das war eine verbale Ohrfeige für den jungen Willinger, denn laut Stadtrecht würde Otfried nach dem Tod seines Vaters dessen Ratssitz einnehmen. Koloman Laux, Bürgermeister von Tremmlingen und der beste Freund des Kranken, hielt nicht viel von dessen Sohn und hoffte, diesen nicht so schnell im Hohen Rat der Stadt sitzen zu sehen.
Otfried bedachte Laux mit einem bösen Blick, senkte dann den Kopf und bemühte sich zu versichern, auch er wäre froh, wenn sein Vater die Krankheit überwinden und das Heft im Hause Willinger wieder in die Hand nehmen könne.
»Das wird auch geschehen!« Der Kranke blickte den Arzt auffordernd an. »Jetzt gib mir schon deinen Theriak. Wenn er den Herzog wieder auf die Beine gebracht hat, wird er auch mir helfen. Hol meinen Becher, Tilla!«
Während das Mädchen die Kammer verließ, gelang es Willinger, seinem Gesicht den Anschein eines Lächelns zu geben. »Unser Herr Jesus wird mich nicht zu sich rufen, bevor ich mein Gelübde erfüllt habe.«
»Das walte Gott! Mögen er und der heilige Kilian dir noch viele Jahre guten Wirkens schenken!« Laux' Stoßgebet verriet, dass sein Vertrauen in die Himmelsmächte ebenfalls größer war als in die Fähigkeiten des Arztes.
Otfried sah nicht so aus, als wolle er sich den frommen Wünschen des Bürgermeisters anschließen, doch er schluckte eine abwertende Bemerkung hinunter, denn in diesem Augenblick kehrte Tilla mit dem Lieblingsbecher ihres Vaters zurück und übergab ihn Lenz Gassner. Der Arzt maß etwas von dem Saft ab und reichte ihn dem Kranken. Willinger war jedoch so schwach, dass Tilla ihm das Gefäß an den Mund halten musste.
»Wenn die Medizin so wirksam ist, wie sie grässlich schmeckt, werdet ihr mich wohl kaum mehr lange im Bett halten können«, stöhnte er, während er sich von seiner Tochter die Kissen richten ließ.
Da sein Patient nun die Augen schloss, nahm der Arzt die Gelegenheit wahr, sich zu verabschieden. »Es warten noch andere Kranke auf meinen Besuch«, erklärte er bedeutungsschwer und verließ die Kammer. Otfried hielt es ebenfalls nicht mehr in der Krankenstube. Unter dem Vorwand, einige kürzlich eingetroffene Geschäftsbriefe lesen zu müssen, verschwand auch er und ließ seinen Vater mit Tilla und Laux allein zurück.
Willinger wirkte eine Weile so, als sei er eingeschlafen, doch als der Bürgermeister sich verabschieden wollte, riss er die Augen auf und befahl seiner Tochter barsch, ihm ein weiteres Kissen in den Rücken zu stecken. Laux hielt seinen Freund fest, damit Tilla der Bitte nachkommen konnte. Der Kaufmann erwies sich jedoch als zu kraftlos, um ohne Hilfe aufrecht sitzen zu können. Mit einem Laut, der weniger Schmerz als Enttäuschung verriet, ließ er sich in die Polster sinken, die Tilla hinter ihm aufgestapelt hatte.
»Es will nicht mehr!«, stöhnte er mit bebenden Lippen. »Wenn Gott kein Wunder tut, werde ich dieses Bett nicht mehr lebend verlassen. Aber wenn ich die Pilgerreise nicht vollenden kann, bin ich verloren!«
»Muss es denn wirklich das Grab des heiligen Jakobus sein?« Tillas Frage erzürnte Willinger. Er packte ihr Handgelenk und hätte sie wohl durchgeschüttelt, wäre er bei Kräften gewesen.
»Ja! Ich habe eine schwere Schuld auf mich geladen, die nur in Santiago de Compostela getilgt werden kann. Als mein Vater gestorben ist, war es sein letzter Wille, dass ich dorthin pilgern und für seine Seele beten soll, denn er war ein harter Geschäftsmann und hat so manchen Konkurrenten mit rüden Methoden beiseite geschoben. Ich aber habe über seinen Wunsch gelacht und bin im Lande geblieben. Nicht einmal einen Ersatzpilger habe ich an meiner Stelle geschickt, wie es etliche andere tun! Stattdessen habe ich Vaters Wunsch als Hirngespinst abgetan und ihn schließlich vergessen. Just einen Tag aber, bevor mich dieses Fieber niederwarf, habe ich von Vater geträumt und sah ihn im Fegefeuer leiden. Er hat mich verflucht, denn mit meiner Wallfahrt zum Apostel Jakobus hätte ich es ihm ersparen können, und er drohte mir das Höllenfeuer an, würde ich mich nicht ungesäumt auf den Weg machen.«
Willingers Stimme überschlug sich, und bei seinen letzten Worten begann er am ganzen Körper zu zittern. Die Angst um sein Seelenheil war weitaus größer, als seine Zuhörer ahnten, denn er hatte noch um einiges härter geschachert als sein Vater und war vor Lug und Trug nicht zurückgeschreckt. Trotzdem war es ihm gelungen, den Anschein eines ehrbaren Handelsmanns aufrecht zu halten. Hier in seiner Heimatstadt wusste niemand um die dunklen Stellen in seinem Leben, auch Koloman Laux nicht, der sich für seinen besten Freund hielt.
»Ich muss nach Santiago pilgern! Gott kann doch nicht so grausam sein, mir dies zu verwehren. Sonst wird mir vor dem Jüngsten Gericht keine Erlösung zuteil.« Der Kranke wimmerte vor Verzweiflung.
Tilla beugte sich über ihn und streichelte seine welken Hände. »Vater, beruhige dich doch! Es wird alles gut werden.«
Willinger sah sie mit trüben Augen an. »Du bist ein gutes Mädchen, Tilla, und verstehst meine Not. Ich vergehe vor Angst vor der ewigen Verdammnis. Nur der heilige Jakobus kann mich davor erretten. Du musst mir eines versprechen: Sollte der Tod mich ereilen, bevor ich diese Pilgerfahrt antreten kann, sorge bitte dafür, dass mir mein Herz aus dem Leib genommen und in der Nähe des Apostelgrabs beerdigt wird!«
»Du wirst gewiss wieder gesund werden und selbst nach Santiago wallfahren können, Vater.« Tillas Stimme schwankte und ihr strömten Tränen übers Gesicht.
Koloman Laux trat neben sie und legte seine Hand auf ihre Schulter. »Versprich es ihm! Du siehst doch, wie sehr sein Gewissen ihn quält. Schließlich verlangt dein Vater ja nichts Unbilliges! Sollte Gott ihm die Pilgerreise verwehren, kann dein Bruder sie antreten oder einen Vertreter schicken, der das Herz nach Santiago bringt und es dort begraben lässt.«
»Nein, kein Fremder! Es muss jemand von meinem Blut sein!« Willinger keuchte und riss die Augen so entsetzt auf, als wäre der Höllenwächter bereits dabei, das Tor zu Luzifers Reich für ihn zu öffnen.
Tilla befürchtete, er würde sich so sehr aufregen, dass es mit ihm zu Ende ging, und lächelte unter Tränen. »Du wirst nach Santiago gelangen, Vater! Gelingt es dir selbst nicht mehr, dann wird dein Herz dorthin gebracht. Sollte Otfried sich weigern, deinen Willen zu erfüllen, dann werde ich an seiner Stelle gehen. Das schwöre ich dir bei meiner eigenen Seligkeit und beim Blute unseres Herrn Jesus Christus!«
Ein tiefer Seufzer brach über Willingers Lippen und er wurde sichtlich ruhiger. »Du bist ein gutes Kind, Tilla! Dir vertraue ich, und du wirst nicht allein stehen, wenn es so weit ist. Mein Freund Koloman und ich sind uns einig, was deine Zukunft betrifft. Sein Damian ist ein stattlicher Mann und braucht bald eine Frau. Möge Gott es lenken, dass ich meinen Segen zu eurem Bunde geben kann, ehe ich diese Welt verlassen muss.«
Laux ergriff die Hand seines Freundes und drückte sie sanft. »Ich kümmere mich um Tilla, aber ich lasse sie nicht nach Santiago ziehen. Otfried wird gehen! Er kann und darf sich dieser Pflicht nicht entziehen. Dafür werde ich schon kraft meines Amtes sorgen. Es wäre jedoch besser, wenn du die Verpflichtung zur Wallfahrt in dein Testament aufnimmst. Weigert dein Sohn sich dann immer noch, deinen letzten Willen zu erfüllen, bleiben ihm die Türen des Ratssaals versperrt und kein ehrlicher Handelsmann in unserer Stadt und darüber hinaus wird noch ein Geschäft mit ihm abschließen.«
»Danke, mein Freund! Ich werde deinen Rat befolgen. Doch jetzt bin ich müde und will ein wenig schlafen. Wenn ich wieder wach bin, lasse ich den Stadtschreiber kommen, damit er als Notar meinen letzten Willen beurkundet.« Der Kranke nickte Laux lächelnd zu und bat Tilla, einige der Kissen aus seinem Rücken zu entfernen. Sichtlich besorgt half diese ihrem Vater, sich bequem zu betten, und wandte den Blick erst von ihm ab, als er mit einem entspannten Gesichtsausdruck eingeschlafen war.
»Es war gut, dass du geschworen hast, deines Vaters Willen zu erfüllen. Nun kann er unbesorgt ruhen.« Mit diesen Worten wollte Laux Tilla beruhigen, aber als sie ihn verschreckt ansah, bemerkte er, wie zweideutig sie geklungen hatten. Um ihr ein wenig die Ängste zu nehmen, strich er tröstend über ihre Wange. »Bei deiner guten Pflege wird er sich gewiss wieder erholen und noch viele Jahre unter uns weilen. Schau nur! Seit du die schwere Last von seiner Seele genommen hast, sieht er schon besser aus. Ich bin sicher, dass er auf deiner Hochzeit den Becher heben und mir zutrinken wird. Jetzt aber muss ich euch allein lassen.«
Laux wandte sich zur Tür, drehte sich auf der Schwelle noch einmal um und griff nach dem Medizinfläschchen mit der Tinktur, die der Arzt Theriak genannt hatte. Mit einem Stirnrunzeln zog er den Stöpsel, roch an dem Gebräu und schüttelte sich angewidert. »Bei Gott, wie das stinkt! Davon soll ein Mensch gesund werden? Da halte ich die Kräutertränke, mit denen unser Stallknecht die Pferde behandelt, für bessere Heilmittel. Josef sagt immer, was den Pferden hilft, nützt auch den Menschen, und beinahe glaube ich, dass er Recht hat. Als ich mich letztens mit einer argen Kolik herumquälen musste, hat er mir einen Trunk gemischt - und du wirst es nicht glauben: die Winde gingen ab und meine Därme beruhigten sich wieder.«
Tilla blickte hoffnungsvoll zu Laux auf. »Glaubst du, Onkel Koloman, Euer Josef würde auch ein Mittel haben, das Vater helfen könnte?«
Der Bürgermeister schüttelte bedauernd den Kopf und wies auf den Kranken, von dessen Stirn der Schweiß nun in Strömen floss. »Dieses Fieber ist keine Kolik, mein Kind. Hier kann wirklich nur noch Gott helfen und vielleicht auch der heilige Jakobus. Wie es aussieht, sind sie gerade am Werk, denn mit dem Schweiß wird auch die Krankheit ausgeschwemmt. Sorge dafür, dass dein Vater genug zu trinken bekommt. Das Trinken ist das Wichtigste im Leben, sagt unser Josef, und damit meint er nicht nur das Bier, das er gerne die Kehle hinabrinnen lässt!« »Ich werde darauf achten«, versprach Tilla, die etwas Hoffnung zu schöpfen begann. Während Laux das Zimmer und kurz darauf auch das Haus verließ, ohne Otfried noch einmal zu begegnen, wischte sie ihrem Vater den Schweiß von der Stirn und sagte sich, dass es gewiss kein Schaden war, wenn sie noch an diesem Tag in die drei großen Kirchen der Stadt ginge, um für die Gesundung ihres Vaters zu beten.
II.
Als Koloman Laux die Straße betrat, löste sich ein junger Mann von der Hausecke. »Geht es Willinger wieder besser, Vater?«
Laux schüttelte traurig den Kopf. »Leider nein! Ich fürchte, er wird immer schwächer. Dabei wäre ich auf seine Hilfe und seine Stimme im Rat dringend angewiesen.«
Die Bemerkung entlockte dem Burschen ein eifriges Nicken. »Ganz bestimmt! Die Kreatur des Bayernherzogs ist wieder in der Stadt! Ich habe gesehen, wie er das Haus dieses Verräters Gürtler betreten hat.«
»Mäßige deine Stimme!«, fuhr Laux seinen jüngeren Sohn an. In seinen Augen war Sebastian viel zu unvorsichtig. Für ihn schien die heikle Situation der Stadt nur ein abenteuerliches Spiel zu sein. Dabei ging es um nichts weniger als die Freiheit von Tremmlingen, die Laux durch den Kaufherrn Veit Gürtler und dessen Freunde bedroht wusste.
»Ja, Vater!« Sebastian sah sich um und atmete auf, denn keiner der geschäftig vorbeieilenden Bürger war ihnen nahe genug gekommen, um seine Worte zu verstehen. »An deiner Stelle würde ich Gürtler aus dem Rat entfernen, am besten sogar aus der Stadt. Dann kann er uns nicht mehr gefährlich werden.«
»Wenn das in meiner Macht stünde, hätte ich es längst getan. Doch um einen der Hohen Räte seines Ranges entheben zu können, benötige ich das Votum von drei Viertel der Ratsmitglieder, und die sind schwerer unter einen Hut zu bekommen als ein Wespenschwarm. Etliche von ihnen werfen mir vor, ich wolle nur meine eigene Macht vergrößern, und bei diesen handelt es sich nicht einmal um Freunde von Gürtler.« Laux bedauerte längst, Sebastian ins Vertrauen gezogen zu haben. Im Gegensatz zu seinem älteren Sohn Damian war der Bursche noch zu unbedarft und sagte seine Meinung geradeheraus. Im Rat der Stadt zählten jedoch Diplomatie und geschickte Worte mehr als die ungeschminkte Wahrheit, vor der nicht wenige lieber die Augen verschlossen.
»Sei in Zukunft vorsichtiger und lungere vor allem nicht ständig vor Gürtlers Haus herum. Damit warnst du ihn nur und bringst ihn dazu, seine Absichten noch sorgfältiger zu verbergen. « Laux versetzte seinem Sohn einen leichten Stoß und gab ihm einen Wink, mit ihm zu kommen.
Sebastian hatte eigentlich nur auf seinen Vater gewartet, um ihm von der Ankunft des bayerischen Kammerherrn Georg von Kadelburg bei dessen ärgstem Widersacher im Rat zu berichten. Danach hatte er wieder seiner Wege gehen wollen, aber nun musste er ihm wie ein gescholtener Knabe nach Hause folgen. Dort würde er seinem Bruder in die Arme laufen, der keine Gelegenheit ausließ, an ihm herumzumäkeln. Damian war der Grund, der ihn veranlasste, sein Elternhaus tagsüber so oft wie möglich zu verlassen. Dabei war er sehr stolz auf das Anwesen seiner Familie. Es gehörte zu den prächtigsten in Tremmlingen und bestand aus einem an der Straße gelegenen Wohnhaus, einem Stall für Pferde und Ochsen, einer Remise mit verschiedenen Frachtwagen und Kutschen sowie zwei großen Gebäuden für die Waren, die sein Vater als Kaufherr umschlug. Es gab nur noch zwei Patrizierhäuser in der Stadt, die sich mit dem seines Vaters messen konnten. Das eine gehörte Eckhardt Willinger und das andere Veit Gürtler. Solange Willinger gesund gewesen war, hatten er und sein Vater Gürtler und dessen Anhang im Zaum halten können. Nun aber drohten sich die Machtverhältnisse im Rat zu verschieben, und Sebastian konnte seinem Vater ansehen, wie stark dieser das Ableben seines Freundes fürchtete.
Der Ratsherr blickte seinen Sohn fragend an. »Weißt du, wie Otfried Willinger zu Gürtler steht?«
Noch während Laux die Frage stellte, bereute er sie. Sebastian würde seine Worte höchstwahrscheinlich als Auftrag ansehen, beide zu überwachen, und sich dabei so dilettantisch anstellen, dass es auf ihn zurückfallen musste.
»Sie sitzen in der Krone am selben Tisch«, antwortete Sebastian nachdenklich.
Diese Auskunft war nicht besonders ergiebig, denn die Gastwirtschaft war Treffpunkt der Kaufherren und reicheren Gildemeister. Dort saßen Willinger und Gürtler nach altem Brauch an dem Tisch, der den Ratsherren vorbehalten war. Da der alte Willinger krank war, vertrat sein Sohn ihn dort. Laux suchte ebenfalls ein- oder zweimal die Woche das Gasthaus auf, um mit den anderen Kaufherren und Ratsmitgliedern im privaten Rahmen zu reden, aber er hatte Otfried dort noch nie angetroffen. Es war, als wolle ihm Willingers Sohn aus dem Weg gehen.
Er ging nicht auf die Bemerkung seines Sohnes ein, sondern ermahnte ihn noch einmal. »Lass dir nicht einfallen, Dummheiten zu machen! Damian wird dir, wenn wir nach Hause kommen, deine Aufgaben zuteilen, und diesmal wirst du sie zu seiner und meiner Zufriedenheit erledigen. Ab heute ist Schluss mit dem Herumlungern vor fremden Häusern! Sollen die Leute denken, der jüngere Sohn ihres Bürgermeisters sei ein Tunichtgut, der jeder Arbeit aus dem Weg geht?«
Sebastian ließ den Kopf hängen, denn sein Vater hatte nicht ganz Unrecht. In seinem Bestreben, ihn mit Informationen zu versorgen, hatte er schon einige Male übersehen, dass es auch andere Pflichten für ihn gab. Dennoch versuchte er, sein Handeln zu rechtfertigen. »Du musst dich nicht sorgen, Vater! Ich benehme mich wirklich ganz unauffällig. Die Leute merken nicht, dass ich die Ohren offen halte. Mir ist es vor ein paar Tagen sogar gelungen, Gürtler und Otfried Willinger zu belauschen, als diese sich in der Krone über Tilla unterhalten haben. Gürtler hat sich bei Otfried beklagt, weil er um das Mädchen hat freien wollen und vom alten Willinger abgewiesen worden ist.«
Laux blieb stehen und kniff die Augen zusammen, entspannte sich aber sofort wieder. »Tilla wird Damians Weib, das haben ihr Vater und ich beschlossen. Daher ist es eine doppelte Schande, wenn in der Wirtschaft über sie geredet wird.«
»Sie haben ihren Namen nicht fallen lassen, sondern sich hauptsächlich über die Mitgift unterhalten, die Willinger ihr zugeschrieben hat«, rückte Sebastian seine Aussage ein wenig zurecht. Unterdessen hatten sie den Zugang ihres Anwesens erreicht. Das Tor war nur angelehnt und so traten sie ein, ohne auf den Knecht zu warten, der Wache halten und es öffnen sollte. Der hatte sich im hinteren Teil des Hofes aufgehalten und eilte nun herbei. »Verzeiht, Herr, aber ich musste beim Kran aushelfen. Es waren zu wenige Männer da, um die schweren Fässer hochziehen zu können«, rief er atemlos.
»Ist schon gut!« Laux klopfte dem Knecht im Vorbeigehen auf die Schulter und schritt über den Hof, ohne sich um den Fortgang der Arbeiten zu kümmern. Seit er als Bürgermeister amtierte, war dies die Aufgabe seines älteren Sohnes und Damian machte seine Sache gut.
»Nimm dir ein Beispiel an deinem Bruder!«, sagte er zu Sebastian und befahl ihm, die Männer zu überwachen, die eben begannen, die Fässer mit Salzheringen auf den ersten Boden zu hieven.
»Aber ich wollte ...«, begann Sebastian. Das »nach Gürtler schauen« verbiss er sich, denn sein Vater war schon weitergeeilt und betrat gerade das Wohnhaus, welches im Gegensatz zum Stall und den Stapelhallen nicht aus Fachwerk bestand, sondern aus Sandsteinblöcken gemauert war.
Grummelnd blieb Sebastian zurück und gesellte sich zu den Knechten, die die Salzheringe und andere, nicht besonders wertvolle Handelsgüter in den beiden Warenscheuern verstauten. Edlere Waren wie Stoffe aus Flandern, Pelze und dergleichen wurden auf dem obersten Boden des Wohnhauses gestapelt, weil sie dort vor Dieben geschützt waren.
»Schafft endlich die Fässer vom Hof !« Sebastian gab sich keine Mühe, seinen Ärger vor den Knechten zu verbergen. Die meisten von ihnen hatten ihn aufwachsen sehen und gaben nichts auf seine schlechte Stimmung. Wie sie ihn kannten, würde er nach ein, zwei Witzen mit ihnen um die Wette lachen, denn er war kein Antreiber wie sein Bruder, der mit harschen Worten und Drohungen reagierte, wenn seine Untergebenen die Arbeit ein wenig gemütlich angehen ließen.
Kaum wurden wieder jene Bemerkungen und Anzüglichkeiten gewechselt, mit denen die Männer ihre Arbeit würzten, erschien Damian Laux in der Tür zum Wohnhaus und ließ allein durch sein Auftreten die Gespräche verstummen. Während Sebastian noch schlaksig wirkte, aber als ausnehmend hübsch galt, war Damian wuchtig gebaut und hatte ein kantiges, energisch wirkendes Gesicht mit hellen Augen, denen nichts zu entgehen schien. Er trug einen hüftlangen, grünen Überrock über einem hellen Hemd, das bis zu den Knien reichte und gemusterte Strümpfe freigab, die in bequemen Lederschuhen endeten. Auf seinem Kopf saß eine tannengrüne Kappe, unter der nur die Spitzen seiner dunkelblonden Haare hervorlugten.
Im Gegensatz zu ihm war Sebastian stutzerhaft gekleidet, und seine Farbwahl konnte man nur unglücklich nennen, denn er hatte zu einem dunkelroten Rock hellrote Strümpfe angezogen und einen kurzen Umhang übergeworfen, dessen grelle Farbe etwa zwischen den beiden anderen Rottönen lag. Damians Lippen kräuselten sich bei diesem Anblick, doch er beging nicht den Fehler, ihn wegzuschicken, damit er sich umkleiden solle. »Es freut mich, dass du mal ans Arbeiten denkst! Die meiste Zeit bleibt nämlich alles an mir hängen«, sagte er und grüßte die Knechte mit einem leichten Kopfnicken.
»Ich muss noch einmal weg, um etwas für Vater zu erledigen«, antwortete Sebastian in der Hoffnung, der ihm aufgetragenen Arbeit entgehen zu können. Damit kam er bei seinem Bruder jedoch schlecht an.
Damian interessierte sich nur für das Handelshaus. Die politischen Angelegenheiten der Stadt gingen nach seinem Dafürhalten weder ihn noch Sebastian etwas an. Irgendwann einmal, wenn Koloman Laux in die Ewigkeit eingegangen war, würde er dessen Sitz im Hohen Rat der Stadt erben und selbst Bürgermeister werden, doch diese Zeit wünschte er in sehr weite Ferne. Er liebte es, Warenströme zu leiten und das Vermögen der Familie zu vermehren, und erwartete von Sebastian, dass dieser ihn mit aller Kraft unterstützte. Das sagte er ihm nun mit sehr deutlichen Worten.
Es war die zweite Standpauke, die Sebastian an diesem Tag über sich ergehen lassen musste, und sie war in seinen Augen ebenso unberechtigt wie die erste. Er wusste jedoch, dass es keinen Sinn hatte, sich zu beschweren. Daher senkte er den Kopf, um seine Miene zu verbergen. Die Leidtragenden der Situation waren die Knechte, denn kaum hatte sein Bruder den Hof verlassen, trieb Sebastian sie unbarmherzig an, um so schnell wie möglich fertig zu werden und weiteren Aufgaben zu entgehen. In dem Augenblick, in dem das letzte Fass auf den Boden gezogen worden war, trat er durch das Tor und eilte die Straße hinab, um nachzusehen, ob der Bayer noch bei Gürtler weilte. Dann wollte er sich in die Krone setzen und den Gesprächen der Ratsherren und einflussreicheren Bürger lauschen, in der Hoffnung, etwas Wichtiges aufschnappen zu können. Ihm war klar, dass Gürtler und dessen Freunde ihre Verschwörung nicht im Wirtshaus ausposaunten, doch wenn Fortuna ihm gewogen war, gab sie ihm vielleicht einen Zipfel des Geheimnisses in die Hand.
Ihn beunruhigte, dass sein Vater Gürtlers Umtriebe auf die leichte Schulter nahm, denn er hatte sich gründlich mit den beiden Versuchen der Herzöge von Bayern beschäftigt, sich in den Besitz der freien Reichsstadt Tremmlingen zu setzen, und begriff, welche Gefahr heraufzog. Unter Kaiser Ludwig, dem Bayern, war es den Bayern für kurze Zeit gelungen, Tremmlingen zu beherrschen. Zum Glück hatte Kaiser Karl IV. die Reichsfreiheit der Stadt wiederhergestellt. Gürtlers häufiger Kontakt mit einem Vasallen des bayerischen Herzogs ließ Sebastian jedoch befürchten, dass Herzog Stephan wie seine Vorgänger plante, die Stadt seinem Machtbereich einzugliedern.
III.
Unbeleckt von politischen Verwicklungen, Gerüchten und Mutmaßungen hatte Tilla nacheinander die drei Hauptkirchen aufgesucht und ihre Gebete gesprochen. In der Apostelkirche, die neben anderen Jüngern des Herrn auch dem heiligen Jakobus geweiht war, hatte sie eine Kerze aus Bienenwachs gestiftet, allerdings nur eine kleine, denn sie besaß nicht viel Geld. Dafür aber brannte deren Flamme wunderschön und würde dem Heiligen sicher gefallen. Tilla nahm es als Zeichen, dass der Himmel ihr Flehen erhören würde. Immerhin zählte ihr Vater noch nicht zu den alten, zahnlosen Greisen, denn er hatte erst vor kurzem sein fünfundfünfzigstes Jahr vollendet und konnte gut und gerne noch ein Jahrzehnt oder sogar zwei erleben.
Zwei altersgebeugte Frauen, die eben in das Kirchenschiff traten und zu ihren Bänken schlurften, ließen Tilla hochschrecken. Sie bemerkte, dass sie in Gedanken versunken gewesen war anstatt zu beten, und schämte sich ein wenig. Nun hatte sie sehr viel Zeit in den Kirchen verbracht und das Wohlbefinden ihres Vaters darüber vergessen. Wahrscheinlich würde er schon ganz elend auf ihre Hilfe warten, dachte sie und machte sich Vorwürfe. Ilga würde ihn bestimmt nicht so gut versorgen, wie es nötig war, denn die junge Magd scheute vor dem Kranken zurück, und die alte Ria hatte nicht mehr die Kraft, ihren Herrn aufzurichten oder andere Handreichungen zu machen.
Von Gewissensbissen getrieben schoss Tilla hoch und schritt so schnell, wie es die Würde des Ortes zuließ, auf das Portal zu. Erst, als sie einen Torflügel halb aufgestoßen hatte, erinnerte sie sich daran, dass sie weder das Knie gebeugt noch in das Weihwasserbecken gegriffen hatte. Sofort trat sie einen Schritt zurück und holte das Versäumte nach. Noch während sie mit den nassen Fingern die Stirn berührte, hastete sie zur Tür hinaus und stieß mit einem Passanten zusammen, der es nicht weniger eilig hatte als sie.
Sein Griff bewahrte sie vor einem Sturz. »Danke!«, murmelte sie und wollte weiterlaufen.
Der Bursche hielt sie jedoch fest. »Tilla? Du hast wohl für deinen Vater gebetet.«
Jetzt erst erkannte sie ihr Gegenüber. »Sebastian! Bei Gott, was trägst du denn für ein Gewand?«
»Gefällt es dir? Das ist der letzte Schrei aus Italien! Die Skizze stammt von einem Geschäftsfreund meines Vaters. Ich habe sie Meister Nodler gezeigt, und er hat mir daraufhin diesen Prachtrock geschneidert.« Sebastian war der leicht schockierte Ton in Tillas Stimme entgangen, denn er ließ sie los und drehte sich einmal um die eigene Achse, damit sie ihn von allen Seiten betrachten konnte.
»Hat dieser Geschäftsfreund auch die Farben vorgegeben?«, fragte Tilla.
»Nein, die habe ich mir selbst ausgesucht. Weißt du, Rot steht mir besonders gut!« Sebastian sah Tilla dabei so freudestrahlend an, dass sie eine spöttische Bemerkung hinunterschluckte. Rot kleidete ihn auch gewiss nicht schlecht, aber in Maßen. Rote Strümpfe und ein roter Umhang hätten noch angehen können, sich aber von Kopf bis Fuß in diese Farbe zu kleiden, tat den Augen jedes Betrachters weh. In Tillas Augen hätte ein schlichteres Gewand Sebastians gutes Aussehen besser unterstrichen. Einige ihrer Freundinnen bezeichneten ihn als besonders schmucken Burschen und mehr als eine von ihnen hoffte, der Bürgermeister würde eines nicht allzu fernen Tages als Brautwerber zu ihrem Vater kommen.
Auf Tilla wirkte er jedoch wie ein junger, tapsiger Hund, der noch Pfützchen macht und dafür schwanzwedelnd um Verzeihung bettelt. Sein Gesicht, das von brünetten Locken umrahmt war und mit seinen dunkelblauen Augen fast mädchenhaft weich wirkte, verriet zu viel von seinen Gedanken. Ein Mann sollte sich besser beherrschen können, fand sie und fragte sich, wieso zwei Söhne des gleichen Paares so verschieden sein konnten. Sebastians Bruder Damian sah nicht besonders gut aus, wirkte aber sehr männlich und war ein ausgezeichneter Kaufmann, dem Tillas Vater mehr als einmal höchstes Lob gezollt hatte. Sie empfand große Achtung vor dem ältesten Sohn des Bürgermeisters, und das war gut so, denn ihr Vater und Koloman Laux waren willens, sie mit Damian zu verheiraten. Wahrscheinlich wäre der Ehevertrag längst aufgesetzt worden, hätte die Krankheit ihres Vaters dies nicht verhindert. Die geplante Verbindung war zumindest einer der Gründe, die Tilla dazu trieben, so innig für seine Genesung zu beten. Ihr Bruder kam mit Koloman Laux und dessen Söhnen nicht gut aus und favorisierte Veit Gürtler als Bewerber um ihre Hand.
Damian Laux war gewiss nicht der Mann, dem sie himmelhoch jauchzend ihr Jawort geben würde, aber er war ihr tausendmal lieber als Otfrieds Freund. Gürtler war fünfzehn Jahre älter als Sebastians Bruder, hatte ein barsches, hochfahrendes Wesen und sollte seiner ersten, vor einem Jahr verstorbenen Frau das Leben zur Hölle gemacht haben.
Sebastian stupste die in Gedanken verlorene Tilla an. »Du bist so in dich gekehrt! Steht es so schlecht um deinen Vater?«
»Es ging ihm heute schon um einiges besser als in den letzten Wochen«, versicherte Tilla ihm nicht ganz wahrheitsgemäß. »Doktor Gassner hat ihm den Theriaktrunk besorgt, den auch der Leibarzt des bayerischen Herzogs verwendet. Da muss mein Vater ja wieder gesund werden.«
»Wollen wir es hoffen! Seine Stimme wird dringend im Rat benötigt. Gürtler schwingt jetzt dort das große Wort, und der Mann ist ...« Sebastian schluckte, denn beinahe hätte er Geheimnisse preisgegeben, die ein weibliches Wesen nichts angingen.
»Ach, das verstehst du nicht!«, sagte er mit einer wegwerfenden Handbewegung.
Es juckte Tilla in den Fingern, ihm seine Überheblichkeit mit einer kräftigen Maulschelle auszutreiben. Da sie sich damit aber in eine Reihe mit jenen keifenden Weibern gestellt hätte, die zum Pranger verurteilt wurden, wenn sie es besonders schlimm trieben, wandte sie sich grußlos ab und ging weiter. Dieser grüne Junge hatte ihr wertvolle Zeit gestohlen, die sie besser bei ihrem Vater verbracht hätte.
Sebastian stiefelte hinter ihr her, wobei er selbst nicht wusste, warum er es tat, und betrachtete sie zuerst von hinten und dann von der Seite. Zuletzt überholte er sie, um in ihr Gesicht sehen zu können. Da sie die Frau seines Bruders und damit seine Schwägerin werden würde, hatte er seiner Meinung nach das Recht, sie näher in Augenschein zu nehmen. Er kam zu dem Schluss, dass Damian es hätte schlechter treffen können, auch wenn Tilla für seinen Geschmack zu groß war. Wenn sie sich gegenüberstanden, konnte er gerade noch über ihren Scheitel hinwegsehen, aber nur, wenn er etwas nach oben blickte. Auch war sie viel zu dünn für eine richtige Frau. Unter ihrem bodenlangen, braunen Kleid mit dem grauen Mieder zeichneten sich weder ihr Hintern noch ihr Busen so ab, wie es bei den anderen Mädchen ihres Alters der Fall war. Ihr Gesicht war schmal, die Nase etwas zu lang und die Lippen waren so blass, dass sie sich kaum von der Haut abhoben. Auch blickten ihre Augen viel zu kühl und zu durchdringend für eine Frau. Dazu hatte sie ihre hellblonden Haare zu straffen Zöpfen geflochten, die kaum etwas von ihrer Fülle verrieten. Sie passt zu Damian, sagte Sebastian sich schließlich, denn sie ist genauso langweilig wie er.
Tilla nahm wahr, wie abschätzig ihr Begleiter sie musterte, und presste die Lippen so fest aufeinander, dass sie wie ein Strich wirkten. Ihr war klar, dass sie nicht besonders attraktiv war, doch in ihren Kreisen war das ohne Bedeutung. Bei der Mitgift, die ihr Vater ihr zugeschrieben hatte, würden sich selbst dann geeignete Bewerber einstellen, wenn sie so hässlich wäre wie die Sünde. Ein Patrizier achtete bei seinem Eheweib auf andere Vorzüge als ein hübsches Gesicht und eine gute Figur. Ihre Magd Ilga konnte mit beidem aufwarten und würde doch froh sein müssen, wenn sie einen Mann fand, der bereit war, sie zu heiraten. Jeder Bewerber, der ein Häuschen in der Stadt besaß und sich Bürger nennen konnte, durfte auf Ilgas Hand hoffen, selbst wenn er bucklig war und ein schiefes Gesicht hatte.
Während die jungen Leute sich mit Blicken maßen, als hätten sie es mit Ferkeln auf dem Markt zu tun, wanderten sie stumm nebeneinander her. Das Dach des Willinger-Anwesens kam schon in Sicht, als ein Mann aus dem Tor eines großen Hauses trat und auf sie aufmerksam wurde. Bei Tillas Anblick krauste er die Stirn, trat ihr in den Weg und streckte ihr den Arm entgegen.
»Gott zum Gruße, Jungfer Ottilie! Es geziemt sich nicht, ohne eine Magd, welche den Anstand wahrt, mit einem jungen Burschen durch die Stadt zu schlendern. Erlaube, dass ich dich nach Hause begleite.« Ohne ihre Antwort abzuwarten, drängte er Sebastian zur Seite und ergriff ihre Hand.
Der junge Laux bleckte die Zähne und zischte einen leisen Fluch, stellte aber mit einem gewissen Gefühl der Zufriedenheit fest, dass Tilla auch nicht glücklich über ihren neuen Begleiter war. Es handelte sich um einen hageren, relativ hochgewachsenen Mann mit scharf geschnittenen Gesichtszügen, der in einen wadenlangen braunen Rock aus gutem Tuch gekleidet war und darüber einen kuttenartigen grünen Mantel mit Hängeärmeln trug. Die Kleidung wirkte eher unscheinbar, doch der goldene Siegelring an seiner rechten Hand hatte gewiss mehr gekostet, als ein normaler Handwerker im Jahr verdiente. Veit Gürtler konnte es sich leisten, einen solchen Ring zu tragen, denn neben Willinger und Laux galt er als einer der reichsten Männer in der Stadt, und seine Bedeutung war in letzter Zeit noch gewachsen.
Während der Ratsherr Sebastian in beleidigender Weise missachtete, ließ er Tilla nicht mehr los, sondern führte sie geschickt um einige besonders kotige Stellen herum, während Sebastian, der ihnen immer noch folgte, voll in den Dreck trat und einen entgegenkommenden Passanten bespritzte.
»Kannst du nicht aufpassen, du Lümmel!«, fuhr dieser ihn an.
»Die heutige Jugend ist auch nicht mehr so gut erzogen wie wir zu unserer Zeit!«, rief Gürtler dem Bürger zu und vergaß dabei ganz, dass er in Sebastians Alter als einer der größten Rüpel der Stadt gegolten hatte. Der Mann, der eben geschimpft hatte, war in dieser Hinsicht ebenfalls kein unbeschriebenes Blatt. Das war Sebastian nicht bekannt, und daher entschuldigte er sich wortreich für den Schmutzfleck, zu dem er dem anderen verholfen hatte. »Tragt ihm etwas auf, das er für Euch erfüllen kann, Meister Kaifel, und vergebt ihm dann.« Gürtler ergriff die günstige Gelegenheit, Sebastian loszuwerden und ihm gleichzeitig noch eins auszuwischen. Ein anderer Bursche hätte sich wohl mit einem Fluch entfernt, doch Sebastian wusste, dass Kaifel zu den Handwerkern zählte, die über einen gewissen Einfluss in der Stadt verfügten, auch wenn sie nicht dem Hohen Rat angehörten. Aus diesem Grund durfte er ihn nicht verärgern.
Kaifel nickte Gürtler freundlich zu und wandte sich dann mit strenger Miene an Sebastian. »Es gibt etwas, das du für mich tun kannst. Ich habe meinem Weib versprochen, vor der Abendmesse zu Hause zu sein, doch ich bin zum Ratsherrn Schrimpp gerufen worden, der eine Bestellung aufgeben will. Das wird wohl länger dauern. Wenn du so freundlich sein könntest, zu meinem Haus zu laufen und dies auszurichten, wäre ich dir sehr verbunden.
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Die Vorhänge waren so fest zugezogen, als könne der feinste Sonnenstrahl dem Kranken schaden, und die Flamme der Öllampe neben dem Bett vermochte die Kammer kaum zu erhellen. So trüb wie das Licht war auch die Stimmung der vier Personen, die sich um Eckhardt Willingers Krankenlager versammelt hatten und auf ihn hinabblickten.
Der Kaufherr lag regungslos unter seiner Decke, und nur das leichte Heben und Senken seines Brustkorbs verriet, dass er noch atmete. Mit einem Mal aber fuhr er hoch, als wäre er aus einem tiefen Schlaf aufgeschreckt worden, und packte den Arm des Arztes mit ausgemergelten, zu Krallen gebogenen Fingern. »Sorge dafür, dass ich wieder auf die Beine komme! Ich zahle dir, was du willst. Ich brauche noch ein Jahr! Oder zumindest ein halbes! Dann kann ich in Frieden ruhen.«
Willingers Stimme, die vor wenigen Wochen noch den Ratssaal der Stadt ausgefüllt hatte, klang dünn und zittrig und seine blassblauen Augen waren weit aufgerissen. Die Furcht vor dem Tod schien ihn in einem weit höheren Maße gepackt zu haben, als man es von einem Mann erwartete, der mit klarem Blick und kühlem Verstand eines der größten Handelshäuser seiner Heimatstadt aufgebaut hatte.
Tilla, die Tochter des Kranken, maß Lenz Gassner mit zweifelndem Blick, denn sie hielt nicht viel von der Wirksamkeit seiner Heilkunst. Nach ihrem Empfinden lagen schon viel zu viele Leute auf dem Kirchhof, denen der Arzt ein langes Leben prophezeit hatte. Doch wider alle Erfahrung hoffte sie, er könne ihrem Vater wenigstens zu diesem einen Lebensjahr verhelfen. Lenz Gassner war ein hochgewachsener Mann im dunklen Talar eines Gelehrten mit dem überlegenen Habitus eines Mannes, der sich im Besitz größeren Wissens wähnt als andere. Mit einem beruhigenden Lächeln löste er Willingers Hand von seinem Arm und nahm ein kleines, mit einer dunklen Flüssigkeit gefülltes Fläschchen aus seiner Tasche. »Dieses Mittel hilft Euch gewiss wieder auf die Beine, Willinger. Es ist echter Theriak, zubereitet vom Leibarzt des bayerischen Herzogs Stephan. Dieses Mittel hat, wie ich bemerken darf, Seine Durchlaucht bereits zwei Mal von der Schwelle des Todes zurückgeholt. «
Seine Worte hallten misstönend in Tillas Ohren, denn sie gaben ihr das Gefühl, er nähme die Krankheit ihres Vaters nicht ernst. Da sie den Siechen pflegte, wusste sie, wie hinfällig er inzwischen geworden war, und fleißiges Beten schien ihr ein besseres Mittel gegen das den Kranken von innen verzehrende Fieber zu sein als Lenz Gassners Tinkturen.
Eckhardt Willinger aber versetzte die Aussicht auf die Medizin des Herzogs in freudige Erregung, und er nahm ein wenig Farbe an. »Danke, mein Guter! Ich muss wieder gesund werden, denn ich habe noch etwas Wichtiges zu erledigen, bevor ich vor unseren Herrn Jesus Christus treten kann!«
Er zwinkerte dem Arzt wie einem Mitverschworenen zu und winkte ihm, noch näher zu kommen. Gassner aber schien seinen eigenen Kenntnissen zu misstrauen, denn er trat unwillkürlich einen Schritt zurück.
»Ich muss einfach gesund werden«, wiederholte der Kranke. »Vor Jahren habe ich eine Wallfahrt zum Grabe des heiligen Apostels Jakobus in Spanien gelobt, und dieses Versprechen muss ich halten. Wenn ich dort bin, mag der Himmel mich zu sich nehmen, aber nicht früher.«
Während Willinger schwer atmend auf sein Kissen zurücksank, schnaubte sein Sohn Otfried verächtlich. »Ich hoffe, Ihr könnt meinem Vater helfen, Medicus. Er ist von dieser Wallfahrt so besessen, als hinge die ewige Seligkeit davon ab.«
Tilla fuhr zornig auf. »Da diese Wallfahrt für Vaters Seelenheil notwendig ist, müssen wir ihn mit allen Kräften unterstützen! Du aber tust gerade so, als handele es sich um eine Narretei und nicht um ein heiliges Versprechen.«
Der vierte Besucher an Willingers Bett, ein untersetzter, älterer Mann mit faltigem Gesicht und dünnen, grauen Haaren, nickte Tilla zu. »Du hast Recht, mein Kind. Keine Wallfahrt ist eine Narretei!«
»Aber muss es gleich Santiago de Compostela sein? Das liegt doch beinahe am Ende der Welt! Eine Wallfahrt zum heiligen Kilian in Würzburg oder meinetwegen auch nach Trier zum Heiligen Rock würde wirklich genügen.«
Tilla biss sich auf die Lippen, um nicht mit Worten herauszuplatzen, die nur zu einem weiteren Streit mit ihrem Bruder führen würden, und atmete tief durch. »Vater hat nun einmal versprochen, zum Grab des Apostels Jakobus zu pilgern!«
Ihr Bruder winkte ab. »Den Weg wird er ohnehin nicht mehr schaffen. Er soll froh sein, wenn er überhaupt am Leben bleibt.« Das klang so herzlos, dass der ältere Herr verärgert den Kopf schüttelte. Wohl wusste er, dass nicht alles eitel Freude war im Hause Willinger, doch dem Sohn hätte etwas mehr Ehrfurcht vor dem Vater durchaus angestanden. Otfrieds Worte wären auch außerhalb des Krankenzimmers ungehörig gewesen, sie aber dem Vater ins Gesicht zu sagen, zeugte von einem erschreckenden Mangel an der gebotenen Ehrfurcht.
»Ich hoffe und bete, dass dein Vater wieder ganz gesund wird. Der Rat unserer Stadt braucht ihn dringend, vor allem jetzt in diesen unsicheren Zeiten.« Das war eine verbale Ohrfeige für den jungen Willinger, denn laut Stadtrecht würde Otfried nach dem Tod seines Vaters dessen Ratssitz einnehmen. Koloman Laux, Bürgermeister von Tremmlingen und der beste Freund des Kranken, hielt nicht viel von dessen Sohn und hoffte, diesen nicht so schnell im Hohen Rat der Stadt sitzen zu sehen.
Otfried bedachte Laux mit einem bösen Blick, senkte dann den Kopf und bemühte sich zu versichern, auch er wäre froh, wenn sein Vater die Krankheit überwinden und das Heft im Hause Willinger wieder in die Hand nehmen könne.
»Das wird auch geschehen!« Der Kranke blickte den Arzt auffordernd an. »Jetzt gib mir schon deinen Theriak. Wenn er den Herzog wieder auf die Beine gebracht hat, wird er auch mir helfen. Hol meinen Becher, Tilla!«
Während das Mädchen die Kammer verließ, gelang es Willinger, seinem Gesicht den Anschein eines Lächelns zu geben. »Unser Herr Jesus wird mich nicht zu sich rufen, bevor ich mein Gelübde erfüllt habe.«
»Das walte Gott! Mögen er und der heilige Kilian dir noch viele Jahre guten Wirkens schenken!« Laux' Stoßgebet verriet, dass sein Vertrauen in die Himmelsmächte ebenfalls größer war als in die Fähigkeiten des Arztes.
Otfried sah nicht so aus, als wolle er sich den frommen Wünschen des Bürgermeisters anschließen, doch er schluckte eine abwertende Bemerkung hinunter, denn in diesem Augenblick kehrte Tilla mit dem Lieblingsbecher ihres Vaters zurück und übergab ihn Lenz Gassner. Der Arzt maß etwas von dem Saft ab und reichte ihn dem Kranken. Willinger war jedoch so schwach, dass Tilla ihm das Gefäß an den Mund halten musste.
»Wenn die Medizin so wirksam ist, wie sie grässlich schmeckt, werdet ihr mich wohl kaum mehr lange im Bett halten können«, stöhnte er, während er sich von seiner Tochter die Kissen richten ließ.
Da sein Patient nun die Augen schloss, nahm der Arzt die Gelegenheit wahr, sich zu verabschieden. »Es warten noch andere Kranke auf meinen Besuch«, erklärte er bedeutungsschwer und verließ die Kammer. Otfried hielt es ebenfalls nicht mehr in der Krankenstube. Unter dem Vorwand, einige kürzlich eingetroffene Geschäftsbriefe lesen zu müssen, verschwand auch er und ließ seinen Vater mit Tilla und Laux allein zurück.
Willinger wirkte eine Weile so, als sei er eingeschlafen, doch als der Bürgermeister sich verabschieden wollte, riss er die Augen auf und befahl seiner Tochter barsch, ihm ein weiteres Kissen in den Rücken zu stecken. Laux hielt seinen Freund fest, damit Tilla der Bitte nachkommen konnte. Der Kaufmann erwies sich jedoch als zu kraftlos, um ohne Hilfe aufrecht sitzen zu können. Mit einem Laut, der weniger Schmerz als Enttäuschung verriet, ließ er sich in die Polster sinken, die Tilla hinter ihm aufgestapelt hatte.
»Es will nicht mehr!«, stöhnte er mit bebenden Lippen. »Wenn Gott kein Wunder tut, werde ich dieses Bett nicht mehr lebend verlassen. Aber wenn ich die Pilgerreise nicht vollenden kann, bin ich verloren!«
»Muss es denn wirklich das Grab des heiligen Jakobus sein?« Tillas Frage erzürnte Willinger. Er packte ihr Handgelenk und hätte sie wohl durchgeschüttelt, wäre er bei Kräften gewesen.
»Ja! Ich habe eine schwere Schuld auf mich geladen, die nur in Santiago de Compostela getilgt werden kann. Als mein Vater gestorben ist, war es sein letzter Wille, dass ich dorthin pilgern und für seine Seele beten soll, denn er war ein harter Geschäftsmann und hat so manchen Konkurrenten mit rüden Methoden beiseite geschoben. Ich aber habe über seinen Wunsch gelacht und bin im Lande geblieben. Nicht einmal einen Ersatzpilger habe ich an meiner Stelle geschickt, wie es etliche andere tun! Stattdessen habe ich Vaters Wunsch als Hirngespinst abgetan und ihn schließlich vergessen. Just einen Tag aber, bevor mich dieses Fieber niederwarf, habe ich von Vater geträumt und sah ihn im Fegefeuer leiden. Er hat mich verflucht, denn mit meiner Wallfahrt zum Apostel Jakobus hätte ich es ihm ersparen können, und er drohte mir das Höllenfeuer an, würde ich mich nicht ungesäumt auf den Weg machen.«
Willingers Stimme überschlug sich, und bei seinen letzten Worten begann er am ganzen Körper zu zittern. Die Angst um sein Seelenheil war weitaus größer, als seine Zuhörer ahnten, denn er hatte noch um einiges härter geschachert als sein Vater und war vor Lug und Trug nicht zurückgeschreckt. Trotzdem war es ihm gelungen, den Anschein eines ehrbaren Handelsmanns aufrecht zu halten. Hier in seiner Heimatstadt wusste niemand um die dunklen Stellen in seinem Leben, auch Koloman Laux nicht, der sich für seinen besten Freund hielt.
»Ich muss nach Santiago pilgern! Gott kann doch nicht so grausam sein, mir dies zu verwehren. Sonst wird mir vor dem Jüngsten Gericht keine Erlösung zuteil.« Der Kranke wimmerte vor Verzweiflung.
Tilla beugte sich über ihn und streichelte seine welken Hände. »Vater, beruhige dich doch! Es wird alles gut werden.«
Willinger sah sie mit trüben Augen an. »Du bist ein gutes Mädchen, Tilla, und verstehst meine Not. Ich vergehe vor Angst vor der ewigen Verdammnis. Nur der heilige Jakobus kann mich davor erretten. Du musst mir eines versprechen: Sollte der Tod mich ereilen, bevor ich diese Pilgerfahrt antreten kann, sorge bitte dafür, dass mir mein Herz aus dem Leib genommen und in der Nähe des Apostelgrabs beerdigt wird!«
»Du wirst gewiss wieder gesund werden und selbst nach Santiago wallfahren können, Vater.« Tillas Stimme schwankte und ihr strömten Tränen übers Gesicht.
Koloman Laux trat neben sie und legte seine Hand auf ihre Schulter. »Versprich es ihm! Du siehst doch, wie sehr sein Gewissen ihn quält. Schließlich verlangt dein Vater ja nichts Unbilliges! Sollte Gott ihm die Pilgerreise verwehren, kann dein Bruder sie antreten oder einen Vertreter schicken, der das Herz nach Santiago bringt und es dort begraben lässt.«
»Nein, kein Fremder! Es muss jemand von meinem Blut sein!« Willinger keuchte und riss die Augen so entsetzt auf, als wäre der Höllenwächter bereits dabei, das Tor zu Luzifers Reich für ihn zu öffnen.
Tilla befürchtete, er würde sich so sehr aufregen, dass es mit ihm zu Ende ging, und lächelte unter Tränen. »Du wirst nach Santiago gelangen, Vater! Gelingt es dir selbst nicht mehr, dann wird dein Herz dorthin gebracht. Sollte Otfried sich weigern, deinen Willen zu erfüllen, dann werde ich an seiner Stelle gehen. Das schwöre ich dir bei meiner eigenen Seligkeit und beim Blute unseres Herrn Jesus Christus!«
Ein tiefer Seufzer brach über Willingers Lippen und er wurde sichtlich ruhiger. »Du bist ein gutes Kind, Tilla! Dir vertraue ich, und du wirst nicht allein stehen, wenn es so weit ist. Mein Freund Koloman und ich sind uns einig, was deine Zukunft betrifft. Sein Damian ist ein stattlicher Mann und braucht bald eine Frau. Möge Gott es lenken, dass ich meinen Segen zu eurem Bunde geben kann, ehe ich diese Welt verlassen muss.«
Laux ergriff die Hand seines Freundes und drückte sie sanft. »Ich kümmere mich um Tilla, aber ich lasse sie nicht nach Santiago ziehen. Otfried wird gehen! Er kann und darf sich dieser Pflicht nicht entziehen. Dafür werde ich schon kraft meines Amtes sorgen. Es wäre jedoch besser, wenn du die Verpflichtung zur Wallfahrt in dein Testament aufnimmst. Weigert dein Sohn sich dann immer noch, deinen letzten Willen zu erfüllen, bleiben ihm die Türen des Ratssaals versperrt und kein ehrlicher Handelsmann in unserer Stadt und darüber hinaus wird noch ein Geschäft mit ihm abschließen.«
»Danke, mein Freund! Ich werde deinen Rat befolgen. Doch jetzt bin ich müde und will ein wenig schlafen. Wenn ich wieder wach bin, lasse ich den Stadtschreiber kommen, damit er als Notar meinen letzten Willen beurkundet.« Der Kranke nickte Laux lächelnd zu und bat Tilla, einige der Kissen aus seinem Rücken zu entfernen. Sichtlich besorgt half diese ihrem Vater, sich bequem zu betten, und wandte den Blick erst von ihm ab, als er mit einem entspannten Gesichtsausdruck eingeschlafen war.
»Es war gut, dass du geschworen hast, deines Vaters Willen zu erfüllen. Nun kann er unbesorgt ruhen.« Mit diesen Worten wollte Laux Tilla beruhigen, aber als sie ihn verschreckt ansah, bemerkte er, wie zweideutig sie geklungen hatten. Um ihr ein wenig die Ängste zu nehmen, strich er tröstend über ihre Wange. »Bei deiner guten Pflege wird er sich gewiss wieder erholen und noch viele Jahre unter uns weilen. Schau nur! Seit du die schwere Last von seiner Seele genommen hast, sieht er schon besser aus. Ich bin sicher, dass er auf deiner Hochzeit den Becher heben und mir zutrinken wird. Jetzt aber muss ich euch allein lassen.«
Laux wandte sich zur Tür, drehte sich auf der Schwelle noch einmal um und griff nach dem Medizinfläschchen mit der Tinktur, die der Arzt Theriak genannt hatte. Mit einem Stirnrunzeln zog er den Stöpsel, roch an dem Gebräu und schüttelte sich angewidert. »Bei Gott, wie das stinkt! Davon soll ein Mensch gesund werden? Da halte ich die Kräutertränke, mit denen unser Stallknecht die Pferde behandelt, für bessere Heilmittel. Josef sagt immer, was den Pferden hilft, nützt auch den Menschen, und beinahe glaube ich, dass er Recht hat. Als ich mich letztens mit einer argen Kolik herumquälen musste, hat er mir einen Trunk gemischt - und du wirst es nicht glauben: die Winde gingen ab und meine Därme beruhigten sich wieder.«
Tilla blickte hoffnungsvoll zu Laux auf. »Glaubst du, Onkel Koloman, Euer Josef würde auch ein Mittel haben, das Vater helfen könnte?«
Der Bürgermeister schüttelte bedauernd den Kopf und wies auf den Kranken, von dessen Stirn der Schweiß nun in Strömen floss. »Dieses Fieber ist keine Kolik, mein Kind. Hier kann wirklich nur noch Gott helfen und vielleicht auch der heilige Jakobus. Wie es aussieht, sind sie gerade am Werk, denn mit dem Schweiß wird auch die Krankheit ausgeschwemmt. Sorge dafür, dass dein Vater genug zu trinken bekommt. Das Trinken ist das Wichtigste im Leben, sagt unser Josef, und damit meint er nicht nur das Bier, das er gerne die Kehle hinabrinnen lässt!« »Ich werde darauf achten«, versprach Tilla, die etwas Hoffnung zu schöpfen begann. Während Laux das Zimmer und kurz darauf auch das Haus verließ, ohne Otfried noch einmal zu begegnen, wischte sie ihrem Vater den Schweiß von der Stirn und sagte sich, dass es gewiss kein Schaden war, wenn sie noch an diesem Tag in die drei großen Kirchen der Stadt ginge, um für die Gesundung ihres Vaters zu beten.
II.
Als Koloman Laux die Straße betrat, löste sich ein junger Mann von der Hausecke. »Geht es Willinger wieder besser, Vater?«
Laux schüttelte traurig den Kopf. »Leider nein! Ich fürchte, er wird immer schwächer. Dabei wäre ich auf seine Hilfe und seine Stimme im Rat dringend angewiesen.«
Die Bemerkung entlockte dem Burschen ein eifriges Nicken. »Ganz bestimmt! Die Kreatur des Bayernherzogs ist wieder in der Stadt! Ich habe gesehen, wie er das Haus dieses Verräters Gürtler betreten hat.«
»Mäßige deine Stimme!«, fuhr Laux seinen jüngeren Sohn an. In seinen Augen war Sebastian viel zu unvorsichtig. Für ihn schien die heikle Situation der Stadt nur ein abenteuerliches Spiel zu sein. Dabei ging es um nichts weniger als die Freiheit von Tremmlingen, die Laux durch den Kaufherrn Veit Gürtler und dessen Freunde bedroht wusste.
»Ja, Vater!« Sebastian sah sich um und atmete auf, denn keiner der geschäftig vorbeieilenden Bürger war ihnen nahe genug gekommen, um seine Worte zu verstehen. »An deiner Stelle würde ich Gürtler aus dem Rat entfernen, am besten sogar aus der Stadt. Dann kann er uns nicht mehr gefährlich werden.«
»Wenn das in meiner Macht stünde, hätte ich es längst getan. Doch um einen der Hohen Räte seines Ranges entheben zu können, benötige ich das Votum von drei Viertel der Ratsmitglieder, und die sind schwerer unter einen Hut zu bekommen als ein Wespenschwarm. Etliche von ihnen werfen mir vor, ich wolle nur meine eigene Macht vergrößern, und bei diesen handelt es sich nicht einmal um Freunde von Gürtler.« Laux bedauerte längst, Sebastian ins Vertrauen gezogen zu haben. Im Gegensatz zu seinem älteren Sohn Damian war der Bursche noch zu unbedarft und sagte seine Meinung geradeheraus. Im Rat der Stadt zählten jedoch Diplomatie und geschickte Worte mehr als die ungeschminkte Wahrheit, vor der nicht wenige lieber die Augen verschlossen.
»Sei in Zukunft vorsichtiger und lungere vor allem nicht ständig vor Gürtlers Haus herum. Damit warnst du ihn nur und bringst ihn dazu, seine Absichten noch sorgfältiger zu verbergen. « Laux versetzte seinem Sohn einen leichten Stoß und gab ihm einen Wink, mit ihm zu kommen.
Sebastian hatte eigentlich nur auf seinen Vater gewartet, um ihm von der Ankunft des bayerischen Kammerherrn Georg von Kadelburg bei dessen ärgstem Widersacher im Rat zu berichten. Danach hatte er wieder seiner Wege gehen wollen, aber nun musste er ihm wie ein gescholtener Knabe nach Hause folgen. Dort würde er seinem Bruder in die Arme laufen, der keine Gelegenheit ausließ, an ihm herumzumäkeln. Damian war der Grund, der ihn veranlasste, sein Elternhaus tagsüber so oft wie möglich zu verlassen. Dabei war er sehr stolz auf das Anwesen seiner Familie. Es gehörte zu den prächtigsten in Tremmlingen und bestand aus einem an der Straße gelegenen Wohnhaus, einem Stall für Pferde und Ochsen, einer Remise mit verschiedenen Frachtwagen und Kutschen sowie zwei großen Gebäuden für die Waren, die sein Vater als Kaufherr umschlug. Es gab nur noch zwei Patrizierhäuser in der Stadt, die sich mit dem seines Vaters messen konnten. Das eine gehörte Eckhardt Willinger und das andere Veit Gürtler. Solange Willinger gesund gewesen war, hatten er und sein Vater Gürtler und dessen Anhang im Zaum halten können. Nun aber drohten sich die Machtverhältnisse im Rat zu verschieben, und Sebastian konnte seinem Vater ansehen, wie stark dieser das Ableben seines Freundes fürchtete.
Der Ratsherr blickte seinen Sohn fragend an. »Weißt du, wie Otfried Willinger zu Gürtler steht?«
Noch während Laux die Frage stellte, bereute er sie. Sebastian würde seine Worte höchstwahrscheinlich als Auftrag ansehen, beide zu überwachen, und sich dabei so dilettantisch anstellen, dass es auf ihn zurückfallen musste.
»Sie sitzen in der Krone am selben Tisch«, antwortete Sebastian nachdenklich.
Diese Auskunft war nicht besonders ergiebig, denn die Gastwirtschaft war Treffpunkt der Kaufherren und reicheren Gildemeister. Dort saßen Willinger und Gürtler nach altem Brauch an dem Tisch, der den Ratsherren vorbehalten war. Da der alte Willinger krank war, vertrat sein Sohn ihn dort. Laux suchte ebenfalls ein- oder zweimal die Woche das Gasthaus auf, um mit den anderen Kaufherren und Ratsmitgliedern im privaten Rahmen zu reden, aber er hatte Otfried dort noch nie angetroffen. Es war, als wolle ihm Willingers Sohn aus dem Weg gehen.
Er ging nicht auf die Bemerkung seines Sohnes ein, sondern ermahnte ihn noch einmal. »Lass dir nicht einfallen, Dummheiten zu machen! Damian wird dir, wenn wir nach Hause kommen, deine Aufgaben zuteilen, und diesmal wirst du sie zu seiner und meiner Zufriedenheit erledigen. Ab heute ist Schluss mit dem Herumlungern vor fremden Häusern! Sollen die Leute denken, der jüngere Sohn ihres Bürgermeisters sei ein Tunichtgut, der jeder Arbeit aus dem Weg geht?«
Sebastian ließ den Kopf hängen, denn sein Vater hatte nicht ganz Unrecht. In seinem Bestreben, ihn mit Informationen zu versorgen, hatte er schon einige Male übersehen, dass es auch andere Pflichten für ihn gab. Dennoch versuchte er, sein Handeln zu rechtfertigen. »Du musst dich nicht sorgen, Vater! Ich benehme mich wirklich ganz unauffällig. Die Leute merken nicht, dass ich die Ohren offen halte. Mir ist es vor ein paar Tagen sogar gelungen, Gürtler und Otfried Willinger zu belauschen, als diese sich in der Krone über Tilla unterhalten haben. Gürtler hat sich bei Otfried beklagt, weil er um das Mädchen hat freien wollen und vom alten Willinger abgewiesen worden ist.«
Laux blieb stehen und kniff die Augen zusammen, entspannte sich aber sofort wieder. »Tilla wird Damians Weib, das haben ihr Vater und ich beschlossen. Daher ist es eine doppelte Schande, wenn in der Wirtschaft über sie geredet wird.«
»Sie haben ihren Namen nicht fallen lassen, sondern sich hauptsächlich über die Mitgift unterhalten, die Willinger ihr zugeschrieben hat«, rückte Sebastian seine Aussage ein wenig zurecht. Unterdessen hatten sie den Zugang ihres Anwesens erreicht. Das Tor war nur angelehnt und so traten sie ein, ohne auf den Knecht zu warten, der Wache halten und es öffnen sollte. Der hatte sich im hinteren Teil des Hofes aufgehalten und eilte nun herbei. »Verzeiht, Herr, aber ich musste beim Kran aushelfen. Es waren zu wenige Männer da, um die schweren Fässer hochziehen zu können«, rief er atemlos.
»Ist schon gut!« Laux klopfte dem Knecht im Vorbeigehen auf die Schulter und schritt über den Hof, ohne sich um den Fortgang der Arbeiten zu kümmern. Seit er als Bürgermeister amtierte, war dies die Aufgabe seines älteren Sohnes und Damian machte seine Sache gut.
»Nimm dir ein Beispiel an deinem Bruder!«, sagte er zu Sebastian und befahl ihm, die Männer zu überwachen, die eben begannen, die Fässer mit Salzheringen auf den ersten Boden zu hieven.
»Aber ich wollte ...«, begann Sebastian. Das »nach Gürtler schauen« verbiss er sich, denn sein Vater war schon weitergeeilt und betrat gerade das Wohnhaus, welches im Gegensatz zum Stall und den Stapelhallen nicht aus Fachwerk bestand, sondern aus Sandsteinblöcken gemauert war.
Grummelnd blieb Sebastian zurück und gesellte sich zu den Knechten, die die Salzheringe und andere, nicht besonders wertvolle Handelsgüter in den beiden Warenscheuern verstauten. Edlere Waren wie Stoffe aus Flandern, Pelze und dergleichen wurden auf dem obersten Boden des Wohnhauses gestapelt, weil sie dort vor Dieben geschützt waren.
»Schafft endlich die Fässer vom Hof !« Sebastian gab sich keine Mühe, seinen Ärger vor den Knechten zu verbergen. Die meisten von ihnen hatten ihn aufwachsen sehen und gaben nichts auf seine schlechte Stimmung. Wie sie ihn kannten, würde er nach ein, zwei Witzen mit ihnen um die Wette lachen, denn er war kein Antreiber wie sein Bruder, der mit harschen Worten und Drohungen reagierte, wenn seine Untergebenen die Arbeit ein wenig gemütlich angehen ließen.
Kaum wurden wieder jene Bemerkungen und Anzüglichkeiten gewechselt, mit denen die Männer ihre Arbeit würzten, erschien Damian Laux in der Tür zum Wohnhaus und ließ allein durch sein Auftreten die Gespräche verstummen. Während Sebastian noch schlaksig wirkte, aber als ausnehmend hübsch galt, war Damian wuchtig gebaut und hatte ein kantiges, energisch wirkendes Gesicht mit hellen Augen, denen nichts zu entgehen schien. Er trug einen hüftlangen, grünen Überrock über einem hellen Hemd, das bis zu den Knien reichte und gemusterte Strümpfe freigab, die in bequemen Lederschuhen endeten. Auf seinem Kopf saß eine tannengrüne Kappe, unter der nur die Spitzen seiner dunkelblonden Haare hervorlugten.
Im Gegensatz zu ihm war Sebastian stutzerhaft gekleidet, und seine Farbwahl konnte man nur unglücklich nennen, denn er hatte zu einem dunkelroten Rock hellrote Strümpfe angezogen und einen kurzen Umhang übergeworfen, dessen grelle Farbe etwa zwischen den beiden anderen Rottönen lag. Damians Lippen kräuselten sich bei diesem Anblick, doch er beging nicht den Fehler, ihn wegzuschicken, damit er sich umkleiden solle. »Es freut mich, dass du mal ans Arbeiten denkst! Die meiste Zeit bleibt nämlich alles an mir hängen«, sagte er und grüßte die Knechte mit einem leichten Kopfnicken.
»Ich muss noch einmal weg, um etwas für Vater zu erledigen«, antwortete Sebastian in der Hoffnung, der ihm aufgetragenen Arbeit entgehen zu können. Damit kam er bei seinem Bruder jedoch schlecht an.
Damian interessierte sich nur für das Handelshaus. Die politischen Angelegenheiten der Stadt gingen nach seinem Dafürhalten weder ihn noch Sebastian etwas an. Irgendwann einmal, wenn Koloman Laux in die Ewigkeit eingegangen war, würde er dessen Sitz im Hohen Rat der Stadt erben und selbst Bürgermeister werden, doch diese Zeit wünschte er in sehr weite Ferne. Er liebte es, Warenströme zu leiten und das Vermögen der Familie zu vermehren, und erwartete von Sebastian, dass dieser ihn mit aller Kraft unterstützte. Das sagte er ihm nun mit sehr deutlichen Worten.
Es war die zweite Standpauke, die Sebastian an diesem Tag über sich ergehen lassen musste, und sie war in seinen Augen ebenso unberechtigt wie die erste. Er wusste jedoch, dass es keinen Sinn hatte, sich zu beschweren. Daher senkte er den Kopf, um seine Miene zu verbergen. Die Leidtragenden der Situation waren die Knechte, denn kaum hatte sein Bruder den Hof verlassen, trieb Sebastian sie unbarmherzig an, um so schnell wie möglich fertig zu werden und weiteren Aufgaben zu entgehen. In dem Augenblick, in dem das letzte Fass auf den Boden gezogen worden war, trat er durch das Tor und eilte die Straße hinab, um nachzusehen, ob der Bayer noch bei Gürtler weilte. Dann wollte er sich in die Krone setzen und den Gesprächen der Ratsherren und einflussreicheren Bürger lauschen, in der Hoffnung, etwas Wichtiges aufschnappen zu können. Ihm war klar, dass Gürtler und dessen Freunde ihre Verschwörung nicht im Wirtshaus ausposaunten, doch wenn Fortuna ihm gewogen war, gab sie ihm vielleicht einen Zipfel des Geheimnisses in die Hand.
Ihn beunruhigte, dass sein Vater Gürtlers Umtriebe auf die leichte Schulter nahm, denn er hatte sich gründlich mit den beiden Versuchen der Herzöge von Bayern beschäftigt, sich in den Besitz der freien Reichsstadt Tremmlingen zu setzen, und begriff, welche Gefahr heraufzog. Unter Kaiser Ludwig, dem Bayern, war es den Bayern für kurze Zeit gelungen, Tremmlingen zu beherrschen. Zum Glück hatte Kaiser Karl IV. die Reichsfreiheit der Stadt wiederhergestellt. Gürtlers häufiger Kontakt mit einem Vasallen des bayerischen Herzogs ließ Sebastian jedoch befürchten, dass Herzog Stephan wie seine Vorgänger plante, die Stadt seinem Machtbereich einzugliedern.
III.
Unbeleckt von politischen Verwicklungen, Gerüchten und Mutmaßungen hatte Tilla nacheinander die drei Hauptkirchen aufgesucht und ihre Gebete gesprochen. In der Apostelkirche, die neben anderen Jüngern des Herrn auch dem heiligen Jakobus geweiht war, hatte sie eine Kerze aus Bienenwachs gestiftet, allerdings nur eine kleine, denn sie besaß nicht viel Geld. Dafür aber brannte deren Flamme wunderschön und würde dem Heiligen sicher gefallen. Tilla nahm es als Zeichen, dass der Himmel ihr Flehen erhören würde. Immerhin zählte ihr Vater noch nicht zu den alten, zahnlosen Greisen, denn er hatte erst vor kurzem sein fünfundfünfzigstes Jahr vollendet und konnte gut und gerne noch ein Jahrzehnt oder sogar zwei erleben.
Zwei altersgebeugte Frauen, die eben in das Kirchenschiff traten und zu ihren Bänken schlurften, ließen Tilla hochschrecken. Sie bemerkte, dass sie in Gedanken versunken gewesen war anstatt zu beten, und schämte sich ein wenig. Nun hatte sie sehr viel Zeit in den Kirchen verbracht und das Wohlbefinden ihres Vaters darüber vergessen. Wahrscheinlich würde er schon ganz elend auf ihre Hilfe warten, dachte sie und machte sich Vorwürfe. Ilga würde ihn bestimmt nicht so gut versorgen, wie es nötig war, denn die junge Magd scheute vor dem Kranken zurück, und die alte Ria hatte nicht mehr die Kraft, ihren Herrn aufzurichten oder andere Handreichungen zu machen.
Von Gewissensbissen getrieben schoss Tilla hoch und schritt so schnell, wie es die Würde des Ortes zuließ, auf das Portal zu. Erst, als sie einen Torflügel halb aufgestoßen hatte, erinnerte sie sich daran, dass sie weder das Knie gebeugt noch in das Weihwasserbecken gegriffen hatte. Sofort trat sie einen Schritt zurück und holte das Versäumte nach. Noch während sie mit den nassen Fingern die Stirn berührte, hastete sie zur Tür hinaus und stieß mit einem Passanten zusammen, der es nicht weniger eilig hatte als sie.
Sein Griff bewahrte sie vor einem Sturz. »Danke!«, murmelte sie und wollte weiterlaufen.
Der Bursche hielt sie jedoch fest. »Tilla? Du hast wohl für deinen Vater gebetet.«
Jetzt erst erkannte sie ihr Gegenüber. »Sebastian! Bei Gott, was trägst du denn für ein Gewand?«
»Gefällt es dir? Das ist der letzte Schrei aus Italien! Die Skizze stammt von einem Geschäftsfreund meines Vaters. Ich habe sie Meister Nodler gezeigt, und er hat mir daraufhin diesen Prachtrock geschneidert.« Sebastian war der leicht schockierte Ton in Tillas Stimme entgangen, denn er ließ sie los und drehte sich einmal um die eigene Achse, damit sie ihn von allen Seiten betrachten konnte.
»Hat dieser Geschäftsfreund auch die Farben vorgegeben?«, fragte Tilla.
»Nein, die habe ich mir selbst ausgesucht. Weißt du, Rot steht mir besonders gut!« Sebastian sah Tilla dabei so freudestrahlend an, dass sie eine spöttische Bemerkung hinunterschluckte. Rot kleidete ihn auch gewiss nicht schlecht, aber in Maßen. Rote Strümpfe und ein roter Umhang hätten noch angehen können, sich aber von Kopf bis Fuß in diese Farbe zu kleiden, tat den Augen jedes Betrachters weh. In Tillas Augen hätte ein schlichteres Gewand Sebastians gutes Aussehen besser unterstrichen. Einige ihrer Freundinnen bezeichneten ihn als besonders schmucken Burschen und mehr als eine von ihnen hoffte, der Bürgermeister würde eines nicht allzu fernen Tages als Brautwerber zu ihrem Vater kommen.
Auf Tilla wirkte er jedoch wie ein junger, tapsiger Hund, der noch Pfützchen macht und dafür schwanzwedelnd um Verzeihung bettelt. Sein Gesicht, das von brünetten Locken umrahmt war und mit seinen dunkelblauen Augen fast mädchenhaft weich wirkte, verriet zu viel von seinen Gedanken. Ein Mann sollte sich besser beherrschen können, fand sie und fragte sich, wieso zwei Söhne des gleichen Paares so verschieden sein konnten. Sebastians Bruder Damian sah nicht besonders gut aus, wirkte aber sehr männlich und war ein ausgezeichneter Kaufmann, dem Tillas Vater mehr als einmal höchstes Lob gezollt hatte. Sie empfand große Achtung vor dem ältesten Sohn des Bürgermeisters, und das war gut so, denn ihr Vater und Koloman Laux waren willens, sie mit Damian zu verheiraten. Wahrscheinlich wäre der Ehevertrag längst aufgesetzt worden, hätte die Krankheit ihres Vaters dies nicht verhindert. Die geplante Verbindung war zumindest einer der Gründe, die Tilla dazu trieben, so innig für seine Genesung zu beten. Ihr Bruder kam mit Koloman Laux und dessen Söhnen nicht gut aus und favorisierte Veit Gürtler als Bewerber um ihre Hand.
Damian Laux war gewiss nicht der Mann, dem sie himmelhoch jauchzend ihr Jawort geben würde, aber er war ihr tausendmal lieber als Otfrieds Freund. Gürtler war fünfzehn Jahre älter als Sebastians Bruder, hatte ein barsches, hochfahrendes Wesen und sollte seiner ersten, vor einem Jahr verstorbenen Frau das Leben zur Hölle gemacht haben.
Sebastian stupste die in Gedanken verlorene Tilla an. »Du bist so in dich gekehrt! Steht es so schlecht um deinen Vater?«
»Es ging ihm heute schon um einiges besser als in den letzten Wochen«, versicherte Tilla ihm nicht ganz wahrheitsgemäß. »Doktor Gassner hat ihm den Theriaktrunk besorgt, den auch der Leibarzt des bayerischen Herzogs verwendet. Da muss mein Vater ja wieder gesund werden.«
»Wollen wir es hoffen! Seine Stimme wird dringend im Rat benötigt. Gürtler schwingt jetzt dort das große Wort, und der Mann ist ...« Sebastian schluckte, denn beinahe hätte er Geheimnisse preisgegeben, die ein weibliches Wesen nichts angingen.
»Ach, das verstehst du nicht!«, sagte er mit einer wegwerfenden Handbewegung.
Es juckte Tilla in den Fingern, ihm seine Überheblichkeit mit einer kräftigen Maulschelle auszutreiben. Da sie sich damit aber in eine Reihe mit jenen keifenden Weibern gestellt hätte, die zum Pranger verurteilt wurden, wenn sie es besonders schlimm trieben, wandte sie sich grußlos ab und ging weiter. Dieser grüne Junge hatte ihr wertvolle Zeit gestohlen, die sie besser bei ihrem Vater verbracht hätte.
Sebastian stiefelte hinter ihr her, wobei er selbst nicht wusste, warum er es tat, und betrachtete sie zuerst von hinten und dann von der Seite. Zuletzt überholte er sie, um in ihr Gesicht sehen zu können. Da sie die Frau seines Bruders und damit seine Schwägerin werden würde, hatte er seiner Meinung nach das Recht, sie näher in Augenschein zu nehmen. Er kam zu dem Schluss, dass Damian es hätte schlechter treffen können, auch wenn Tilla für seinen Geschmack zu groß war. Wenn sie sich gegenüberstanden, konnte er gerade noch über ihren Scheitel hinwegsehen, aber nur, wenn er etwas nach oben blickte. Auch war sie viel zu dünn für eine richtige Frau. Unter ihrem bodenlangen, braunen Kleid mit dem grauen Mieder zeichneten sich weder ihr Hintern noch ihr Busen so ab, wie es bei den anderen Mädchen ihres Alters der Fall war. Ihr Gesicht war schmal, die Nase etwas zu lang und die Lippen waren so blass, dass sie sich kaum von der Haut abhoben. Auch blickten ihre Augen viel zu kühl und zu durchdringend für eine Frau. Dazu hatte sie ihre hellblonden Haare zu straffen Zöpfen geflochten, die kaum etwas von ihrer Fülle verrieten. Sie passt zu Damian, sagte Sebastian sich schließlich, denn sie ist genauso langweilig wie er.
Tilla nahm wahr, wie abschätzig ihr Begleiter sie musterte, und presste die Lippen so fest aufeinander, dass sie wie ein Strich wirkten. Ihr war klar, dass sie nicht besonders attraktiv war, doch in ihren Kreisen war das ohne Bedeutung. Bei der Mitgift, die ihr Vater ihr zugeschrieben hatte, würden sich selbst dann geeignete Bewerber einstellen, wenn sie so hässlich wäre wie die Sünde. Ein Patrizier achtete bei seinem Eheweib auf andere Vorzüge als ein hübsches Gesicht und eine gute Figur. Ihre Magd Ilga konnte mit beidem aufwarten und würde doch froh sein müssen, wenn sie einen Mann fand, der bereit war, sie zu heiraten. Jeder Bewerber, der ein Häuschen in der Stadt besaß und sich Bürger nennen konnte, durfte auf Ilgas Hand hoffen, selbst wenn er bucklig war und ein schiefes Gesicht hatte.
Während die jungen Leute sich mit Blicken maßen, als hätten sie es mit Ferkeln auf dem Markt zu tun, wanderten sie stumm nebeneinander her. Das Dach des Willinger-Anwesens kam schon in Sicht, als ein Mann aus dem Tor eines großen Hauses trat und auf sie aufmerksam wurde. Bei Tillas Anblick krauste er die Stirn, trat ihr in den Weg und streckte ihr den Arm entgegen.
»Gott zum Gruße, Jungfer Ottilie! Es geziemt sich nicht, ohne eine Magd, welche den Anstand wahrt, mit einem jungen Burschen durch die Stadt zu schlendern. Erlaube, dass ich dich nach Hause begleite.« Ohne ihre Antwort abzuwarten, drängte er Sebastian zur Seite und ergriff ihre Hand.
Der junge Laux bleckte die Zähne und zischte einen leisen Fluch, stellte aber mit einem gewissen Gefühl der Zufriedenheit fest, dass Tilla auch nicht glücklich über ihren neuen Begleiter war. Es handelte sich um einen hageren, relativ hochgewachsenen Mann mit scharf geschnittenen Gesichtszügen, der in einen wadenlangen braunen Rock aus gutem Tuch gekleidet war und darüber einen kuttenartigen grünen Mantel mit Hängeärmeln trug. Die Kleidung wirkte eher unscheinbar, doch der goldene Siegelring an seiner rechten Hand hatte gewiss mehr gekostet, als ein normaler Handwerker im Jahr verdiente. Veit Gürtler konnte es sich leisten, einen solchen Ring zu tragen, denn neben Willinger und Laux galt er als einer der reichsten Männer in der Stadt, und seine Bedeutung war in letzter Zeit noch gewachsen.
Während der Ratsherr Sebastian in beleidigender Weise missachtete, ließ er Tilla nicht mehr los, sondern führte sie geschickt um einige besonders kotige Stellen herum, während Sebastian, der ihnen immer noch folgte, voll in den Dreck trat und einen entgegenkommenden Passanten bespritzte.
»Kannst du nicht aufpassen, du Lümmel!«, fuhr dieser ihn an.
»Die heutige Jugend ist auch nicht mehr so gut erzogen wie wir zu unserer Zeit!«, rief Gürtler dem Bürger zu und vergaß dabei ganz, dass er in Sebastians Alter als einer der größten Rüpel der Stadt gegolten hatte. Der Mann, der eben geschimpft hatte, war in dieser Hinsicht ebenfalls kein unbeschriebenes Blatt. Das war Sebastian nicht bekannt, und daher entschuldigte er sich wortreich für den Schmutzfleck, zu dem er dem anderen verholfen hatte. »Tragt ihm etwas auf, das er für Euch erfüllen kann, Meister Kaifel, und vergebt ihm dann.« Gürtler ergriff die günstige Gelegenheit, Sebastian loszuwerden und ihm gleichzeitig noch eins auszuwischen. Ein anderer Bursche hätte sich wohl mit einem Fluch entfernt, doch Sebastian wusste, dass Kaifel zu den Handwerkern zählte, die über einen gewissen Einfluss in der Stadt verfügten, auch wenn sie nicht dem Hohen Rat angehörten. Aus diesem Grund durfte er ihn nicht verärgern.
Kaifel nickte Gürtler freundlich zu und wandte sich dann mit strenger Miene an Sebastian. »Es gibt etwas, das du für mich tun kannst. Ich habe meinem Weib versprochen, vor der Abendmesse zu Hause zu sein, doch ich bin zum Ratsherrn Schrimpp gerufen worden, der eine Bestellung aufgeben will. Das wird wohl länger dauern. Wenn du so freundlich sein könntest, zu meinem Haus zu laufen und dies auszurichten, wäre ich dir sehr verbunden.
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
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Autoren-Porträt von Iny Lorentz
Hinter dem Namen Iny Lorentz verbirgt sich ein Münchner Autorenpaar, dessen erster historischer Roman „Die Kastratin" die Leser auf Anhieb begeisterte. Mit „Die Wanderhure" gelang ihnen der Durchbruch; der Roman erreichte ein Millionenpublikum. Seither folgt Bestseller auf Bestseller. Besuchen Sie die Autoren auf ihrer Homepage: www.iny-lorentz.de
Bibliographische Angaben
- Autor: Iny Lorentz
- 704 Seiten, Maße: 12,5 x 18,7 cm, Taschenbuch
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 386800971X
- ISBN-13: 9783868009712
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