Die Psychofalle
Wie die Seelenindustrie uns zu Patienten macht
Müde und ausgebrannt?
Anstrengende und aggressive Kinder?
Zerstreut und vergesslich?
Lassen Sie sich nicht irre machen - Gefühle und Wünsche sind keine Krankheiten.
Immer mehr Menschen mit Alltagsproblemen werden als psychisch krank abgestempelt - zu...
Anstrengende und aggressive Kinder?
Zerstreut und vergesslich?
Lassen Sie sich nicht irre machen - Gefühle und Wünsche sind keine Krankheiten.
Immer mehr Menschen mit Alltagsproblemen werden als psychisch krank abgestempelt - zu...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Die Psychofalle “
Klappentext zu „Die Psychofalle “
Müde und ausgebrannt?Anstrengende und aggressive Kinder?
Zerstreut und vergesslich?
Lassen Sie sich nicht irre machen - Gefühle und Wünsche sind keine Krankheiten.
Immer mehr Menschen mit Alltagsproblemen werden als psychisch krank abgestempelt - zu Unrecht!
Immer öfter werden gesellschaftliche Probleme wie Arbeitsbedingungen oder das Schulsystem zu Psychomacken Einzelner gemacht - zu Unrecht!
Hier ist ein Buch, das sich wehrt!
Der Bestsellerautor Jörg Blech enthüllt, wie die Grenze zwischen psychisch gesund und gestört von Ärzten, Psychologen und Pharmafirmen zunehmend verschoben wird, und zeigt einen Ausweg aus der Psychofalle.
Diagnose: unbedingt lesenswert.
Lese-Probe zu „Die Psychofalle “
Die Psychofalle von Jörg BlechKAPITEL 1
Die Normalen werden wahnsinnig
Vor vielen Jahren wollte ein Arzt namens Simão Bacamarte endgültig bestimmen, wo die Grenze zwischen der Vernunft und dem Wahnsinn verläuft. »Die Vernunft verbürgt das vollkommene Gleichgewicht aller Fähigkeiten. Was darüber hinaus liegt, ist Wahnsinn, Wahnsinn und nur Wahnsinn«, erklärte der Mann, ein Sohn adliger Eltern, der als bedeutendster Arzt Brasiliens, Portugals und Spaniens galt.
Die Leitung einer angesehenen Universität schlug Doktor Bacamarte aus und ließ sich lieber in der Provinz nieder. Seine Praxis eröffnete er in Itaguaí, einem Städtchen im Westen von Rio de Janeiro. Als Erstes ging er an den Bau eines Hauses, in der schönsten Straße der Dorfes. Es hatte 50 Fenster auf jeder Seite, einen Hof in der Mitte und zahlreiche Zellen für die Insassen. Dem Asyl wurde der Name »Casa Verde« gegeben, wegen der grünen Fenster. Die Einweihung wurde mit sieben Festtagen begangen; aus den umliegenden Dörfern und Städten und sogar aus Rio de Janeiro strömten die Menschen herbei.
Nachdem die öffentlichen Festlichkeiten vorüber waren, machte der Psychiater sich an die Arbeit. Doktor Bacamarte erklärte: »Mir kommt es bei meinem Werke, der Casa Verde, in der Hauptsache darauf an, gründlich den Wahnsinn zu studieren, seine verschiedenen Grade zu beobachten, seine Fälle zu klassifizieren, endlich die Ursache des Phänomens und das allgemeine Heilmittel dafür zu finden.«
... mehr
Nach vier Monaten bildete die Casa Verde eine Ortschaft für sich. Weil die ersten Quartiere nicht mehr ausreichten, ließ Doktor Bacamarte einen Flügel mit weiteren 37 Zellen anbauen. »Der Wahnsinn, der Gegenstand meiner Studien, war bis heute eine verlorene Insel im Ozean der Vernunft«, sagte er versonnen. »Ich beginne anzunehmen, dass er ein Kontinent ist.«
Immer mehr Bürger wurden eingeliefert. Der Schrecken wuchs. Schon wusste niemand mehr, wer bei Verstand war und wer nicht. Die Kette der Einlieferungen riss nicht ab. Ganz gleich, ob einer Lügen in die Welt setzte, sich als Lästermaul hervortat, gerne Rätsel löste, die Nase in fremde Töpfe steckte oder sich voller Eitelkeit herausputzte. Egal, ob einer verschwenderisch war oder geizig - sie alle wanderten in das Asyl. Es gab keine Anhaltspunkte mehr dafür, wer im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte war. Vier Fünftel der Bevölkerung lebten in dem Haus mit den grünen Fenstern.
Jahrmarkt der Seelenleiden
Die Geschichte des Doktor Simão Bacamarte erzählt Joaquim Maria Machado de Assis (1839 bis 1908), einer der berühmtesten Schriftsteller Brasiliens, in seiner Novelle Der Irrenarzt.1 Sie scheint in einer fernen Zeit zu spielen, doch ist sie gegenwärtiger denn je. Psychiater und Psychologen sind gerade dabei, die Grenze zwischen normal und krank zu verschieben. Eine der vielen, vielen neuen seelischen Störungen, die dabei entstehen, hat am 9. November 1989 in Ostberlin ihren Lauf genommen. Auf ihrem Balkon hörte die Frau, die als eine der ersten Personen daran erkranken sollte, Rufe von der rund 200 Meter entfernten Grenze: »Tor auf!« Ungläubig sah sie, wie Tausende Menschen durch den geöffneten Schlagbaum des Übergangs Bornholmer Straße nach Westberlin strömten.
Gabriele Müller und ihr Mann verbrachten die Nacht, in der vor ihren Augen die Berliner Mauer fiel, zu Hause. Sie lag lange wach. »Die Wende habe ich als ein Glück empfunden«, erinnert sie sich. Aber zugleich zogen Sorgen durch ihren Kopf. »Mir war sofort klar, dass unser Wirtschaftssystem zusammenbrechen wird.«
Ihre dunkle Vorahnung erfüllte sich: Ein Jahr später ging ihr Arbeitgeber pleite, ein Volkseigener Betrieb für Freizeitartikel. Zelte und Faltboote aus dem Ostsortiment wollte niemand mehr haben. Gabriele Müller war jetzt ohne Arbeit.
Sie absolvierte ein Aufbaustudium zur Marketingfachwirtin, aber sie fand keinen festen Job mit Perspektive. Die bis dahin letzte Stelle als Arbeitsvermittlerin in einem Berliner Jobcenter hätte sie sehr gerne behalten, jedoch endete sie »durch Befristungsablauf«.
Es war jener Augenblick, wo die pflichttreue Gabriele Müller morgens einfach liegen blieb - und damit zum Fall für die Psychiatrie wurde.
Nach einer Kur in Bad Pyrmont kam sie ins Rehabilitationszentrum Seehof im brandenburgischen Teltow, das an den Berliner Südwesten grenzt. Die dreigeschossigen Gebäude stehen nahe der ehemaligen innerdeutschen Grenze, in einem Park mit Kirschbäumen. Die Ärzte stellten bei ihr eine »posttraumatische Verbitterungsstörung« fest.
Von dieser Krankheit hatte Gabriele Müller noch nicht gehört.
Am Ende eines langen Flurs wartet der Erstbeschreiber des Leidens. Michael Linden ist Psychiater, Psychologe und ärztlicher Direktor des Rehabilitationszentrums. Er hat in Westberlin studiert, wo er bis heute wohnt. Jeden Tag pendelt er nach Teltow in die ehemalige DDR, jenen untergegangenen Staat, dem er seine interessantesten Fälle verdankt.
Die Welle der verbitterten Menschen sei mit einer Verzögerung von etwa zehn Jahren nach der Wiedervereinigung gekommen. Viele von ihnen hätten den Übergang in die neue Arbeitswelt nicht geschafft. Andere erfuhren nach der Wende, dass der eigene Partner sie bespitzelt hatte. Linden sagt: »Zu mir kamen Menschen mit schwerwiegenden reaktiven psychischen Auffälligkeiten.«
Doch die gängigen Diagnosen hätten nicht gepasst. »Da verließ einer das Haus nicht mehr - aha, das klang doch wie eine Agoraphobie. Dann sagte er, er schlafe nicht mehr und denke an Suizid - aha, eine Depression. Dann stellte ich fest, dass er ohne jeden Grund mit seiner Frau stritt - aha, das ist eine Persönlichkeitsstörung«, sagt Linden. »Das stellte mich nicht zufrieden. Dann sah ich den nächsten Patienten - und bei dem passte das auch nicht. Ich entwickelte Instrumente, um das Nichtpassende zu erfassen. Und dann merkte ich: Aha, da gibt es eine Untergruppe von Patienten, die ich auf diese Art einheitlich beschreiben kann.«
Linden hat seine Beobachtung zuerst in einem Vortrag kundgetan und danach in der Fachzeitschrift Der Nervenarzt erläutert. Bestimmte Menschen, schreibt Linden, entwickelten nach einem negativen Lebensereignis »einen ausgeprägten und langanhaltenden Verbitterungsaffekt, weshalb von einer posttraumatischen Verbitterungsstörung (PTED) gesprochen werden kann«.3 Etwa 2 Prozent der Bevölkerung seien betroffen.
Es ist das höchste Ziel eines jeden Psychiaters, eine Störung zu entdecken, die an seinen Namen gekoppelt ist. Das ist im echten Leben nicht anders als beim literarischen Irrenarzt Simão Bacamarte.
»Wir sind ja nicht dazu da, alte Dinge wiederzukäuen, sondern wir versuchen, Neuland zu betreten«, sagt Michael Linden. »Und hin und wieder erweist sich das Neuland als tragfähig.«
Um die posttraumatische Verbitterungsstörung in der Fachwelt bekannt zu machen und sie gleichsam als offizielles, amtliches Leiden zu verankern, wandte Michael Linden sich an die größte Psychiatervereinigung der Welt: an die American Psychiatric Association (APA) in Arlington (US-Bundesstaat Virginia), die 36 000 Mitglieder zählt.
Wer eine neue psychische Krankheit in die Lehrbücher bringen will, der kommt an dieser Fachgesellschaft nicht vorbei. Die APA gibt eine Art Bibel der Psychiatrie heraus, das Diagnostische und Statistische Manual Psychischer Störungen (DSM). Was in diesem dicken Handbuch steht, das darf als anerkannte seelische Krankheit gelten. Das Handbuch beeinflusst Psychiater und Psychologen in der ganzen Welt und nimmt häufig Änderungen in der Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD) der Weltgesundheitsorganisation vorweg. Die ICD wird derzeit überarbeitet und soll vermutlich 2015 in der elften Ausgabe erscheinen.
Die Klassifikationssysteme bestimmen nicht nur, was noch normal ist und was schon verrückt. Sie beeinflussen die Marketingstrategien von pharmazeutischen Firmen, das Verschreibungsverhalten von Ärzten, die Ausgaben der Gesundheitssysteme, und sie prägen die Art und Weise, wie die Öffentlichkeit über psychische Störungen denkt.
Psychologen und Psychiater üben einen großen Druck aus, die Klassifikationssysteme immer stärker auszuweiten. Ehrgeizige Wissenschaftler wie Michael Linden bombardieren die Gremien mit Vorschlägen für immer neue Syndrome. Sie berichten von alten Menschen, die Krempel in der Wohnung horten, von Frauen, die mit Pinzetten an ihrer Haut zupfen, von Menschen, die jederzeit Sex haben wollen, von Leuten, die zu viel Kaffee trinken.
Das erzeugt einen gewaltigen Sog, um sogar gewöhnliche und in der Bevölkerung weitverbreitete Verhaltensweisen in Störungen zu verwandeln. Vieles, was heute noch als normales Verhalten durchgeht, könnte morgen als seelische Krankheit klassifiziert sein. Aus Eigenbrötelei ist auf diese Weise bereits die »schizoide Persönlichkeit« geworden, aus Schüchternheit schon die »soziale Phobie«, aus der schlechten Laune die »Dysthymie«, an der allein in Deutschland mehr als drei Millionen Menschen erkrankt sein sollen.
Oligarchen der Psychiatrie
Die Entscheidung, ob eine vermeintlich neue psychische Störung den Segen der APA erhält und damit quasi amtlich wird, ist einem Kreis von nur etwa 160 Frauen und Männern vorbehalten. Sie sind so etwas wie die Oligarchen der Psychiatrie. Sie sind durch nichts legitimiert, wenn man davon absieht, dass sie sich hochgedient haben in die Machtzirkel, sprich Arbeitskreise der APA. Hinter den Kulissen stimmen sie darüber ab, welche neuen psychischen Krankheiten in die nächste Ausgabe des DSM aufgenommen werden - der Wahnsinn entsteht durch Mehrheitsentscheid. Es ist diese Gruppe von Medizinern und Psychologen, die darüber befindet, wer Psychopharmaka nehmen, sich auf die Couch des Therapeuten legen oder gar in die Psychiatrie eingewiesen werden soll.
Nur wenige deutschsprachige Experten haben es in den erlauchten Kreis der DSM-5-Autoren geschafft. Einer von ihnen ist Hans-Ulrich Wittchen, der das Institut für Klinische Psychologie und Psychotherapie der Technischen Universität Dresden leitet. Der Mann reist von Kongress zu Kongress, ist bezahlter Berater von pharmazeutischen Firmen und gehört überdies zu den Herausgebern der deutschen DSM-Ausgabe. Allein dafür erhält er jedes Jahr Tantiemen in Höhe von einigen Tausend Euro.
In den vergangenen Jahren leerte Wittchen viele Schachteln »Lord Extra« an seinem Schreibtisch. Nach dem Tagwerk begann nämlich die Spätschicht am DSM-5. Wittchen bildete mit einem Australier, einem Südafrikaner, einer Holländerin und zehn US-Amerikanern die Gruppe für Ängste, Zwangsstörungen und Dissoziative Störungen.
Es sei »eine Ehre, eine große Ehre,« am Standardwerk DSM mitarbeiten zu dürfen, sagte Wittchen, als der Redaktionsschluss für den neuen DSM-5 herannahte. Seine Arbeit in der heißen Phase sah so aus: Er las Hunderte wissenschaftliche Publikationen und tauschte mit den Kollegen unzählige Textfassungen per E-Mail aus. Die Ausdrucke füllten einen ganzen Schrank. Zuletzt hatte Wittchen jede Woche zwei, drei Telefonkonferenzen, jeweils zwischen 20 Uhr und Mitternacht.
Hans-Ulrich Wittchen ist auf dem Höhepunkt seiner Karriere angelangt. Ein mächtiger Institutsdirektor, der dem Fach seinen Stempel aufdrücken konnte. Wittchen bezeichnet sich als einen der wissenschaftlichen Väter der Panikstörung. Das von Sigmund Freud erfundene Konzept der Angstneurose habe er auseinandergenommen, so dass es durch die Panikstörung und die generalisierte Angststörung ersetzt werden konnte. Das alles, erzählte ein strahlender Wittchen, habe bereits Eingang in das DSM-IV gefunden und stehe auch im DSM-5. Viele Passagen trügen seine Handschrift.
Ist das der Grund dafür, dass Wittchen im Gespräch eher wie ein Hüter der alten Werte erscheint, wenn er von den Scharmützeln in seiner DSM-5-Arbeitsgruppe erzählt? Ein ums andere Mal sei einer der Kollegen mit einem angeblich neuen Seelenleiden angekommen. »Also jede deviante kleine Verhaltensweise, die in der Tat manchmal hochdramatische spezielle Interventionen erfordert, wurde an irgendeiner Stelle diskutiert als eigenständige, neue Identität«, sagte er. »Richtig gespalten war unsere Gruppe bei der ›Hoarding‹-Störung und der ›Skin Picking‹-Störung. «
Am Ende unterlag Wittchen: Beide Störungen stehen in der Bibel der Psychiater als eigenständiges Krankheitsbild. Mit jeder neuen Ausgabe des DSM sind bisher neue Krankheiten hinzugekommen. Aus einem Heft von anfangs 130 Seiten ist ein Buch geworden, das zwei Kilogramm wiegt und knapp 1000 Seiten hat.
Die neuen Leiden der Seelenheilkunde
Insbesondere für Kinder ist es schwierig geworden, als normal durchzugehen. Für aufbrausende Schüler mit Neigung zu Wutanfällen haben die DSM-Autoren gerade eine zusätzliche Kategorie erschaffen: die »disruptive Launenfehlregulationsstörung « oder DMDD (nach der englischen Wortschöpfung »Disruptive Mood Dysregulation Disorder «).
Der Anteil der Kinder, die offiziell als psychisch krank eingestuft werden, ist in den Vereinigten Staaten von Amerika in einem Zeitraum von 20 Jahren auf das 35-fache gestiegen. Mehr als jeder vierte Schüler zwischen sechs und 18 Jahren hat eine Sprachtherapie bekommen. Eins von zehn Kindern war in psychotherapeutischer Behandlung. Viele schlucken Psychopharmaka.
Die Vergesslichkeit im Alter hat es ebenfalls in den Rang einer amtlichen psychiatrischen Krankheit geschafft und den Namen »milde neurokognitive Störung« erhalten.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
Nach vier Monaten bildete die Casa Verde eine Ortschaft für sich. Weil die ersten Quartiere nicht mehr ausreichten, ließ Doktor Bacamarte einen Flügel mit weiteren 37 Zellen anbauen. »Der Wahnsinn, der Gegenstand meiner Studien, war bis heute eine verlorene Insel im Ozean der Vernunft«, sagte er versonnen. »Ich beginne anzunehmen, dass er ein Kontinent ist.«
Immer mehr Bürger wurden eingeliefert. Der Schrecken wuchs. Schon wusste niemand mehr, wer bei Verstand war und wer nicht. Die Kette der Einlieferungen riss nicht ab. Ganz gleich, ob einer Lügen in die Welt setzte, sich als Lästermaul hervortat, gerne Rätsel löste, die Nase in fremde Töpfe steckte oder sich voller Eitelkeit herausputzte. Egal, ob einer verschwenderisch war oder geizig - sie alle wanderten in das Asyl. Es gab keine Anhaltspunkte mehr dafür, wer im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte war. Vier Fünftel der Bevölkerung lebten in dem Haus mit den grünen Fenstern.
Jahrmarkt der Seelenleiden
Die Geschichte des Doktor Simão Bacamarte erzählt Joaquim Maria Machado de Assis (1839 bis 1908), einer der berühmtesten Schriftsteller Brasiliens, in seiner Novelle Der Irrenarzt.1 Sie scheint in einer fernen Zeit zu spielen, doch ist sie gegenwärtiger denn je. Psychiater und Psychologen sind gerade dabei, die Grenze zwischen normal und krank zu verschieben. Eine der vielen, vielen neuen seelischen Störungen, die dabei entstehen, hat am 9. November 1989 in Ostberlin ihren Lauf genommen. Auf ihrem Balkon hörte die Frau, die als eine der ersten Personen daran erkranken sollte, Rufe von der rund 200 Meter entfernten Grenze: »Tor auf!« Ungläubig sah sie, wie Tausende Menschen durch den geöffneten Schlagbaum des Übergangs Bornholmer Straße nach Westberlin strömten.
Gabriele Müller und ihr Mann verbrachten die Nacht, in der vor ihren Augen die Berliner Mauer fiel, zu Hause. Sie lag lange wach. »Die Wende habe ich als ein Glück empfunden«, erinnert sie sich. Aber zugleich zogen Sorgen durch ihren Kopf. »Mir war sofort klar, dass unser Wirtschaftssystem zusammenbrechen wird.«
Ihre dunkle Vorahnung erfüllte sich: Ein Jahr später ging ihr Arbeitgeber pleite, ein Volkseigener Betrieb für Freizeitartikel. Zelte und Faltboote aus dem Ostsortiment wollte niemand mehr haben. Gabriele Müller war jetzt ohne Arbeit.
Sie absolvierte ein Aufbaustudium zur Marketingfachwirtin, aber sie fand keinen festen Job mit Perspektive. Die bis dahin letzte Stelle als Arbeitsvermittlerin in einem Berliner Jobcenter hätte sie sehr gerne behalten, jedoch endete sie »durch Befristungsablauf«.
Es war jener Augenblick, wo die pflichttreue Gabriele Müller morgens einfach liegen blieb - und damit zum Fall für die Psychiatrie wurde.
Nach einer Kur in Bad Pyrmont kam sie ins Rehabilitationszentrum Seehof im brandenburgischen Teltow, das an den Berliner Südwesten grenzt. Die dreigeschossigen Gebäude stehen nahe der ehemaligen innerdeutschen Grenze, in einem Park mit Kirschbäumen. Die Ärzte stellten bei ihr eine »posttraumatische Verbitterungsstörung« fest.
Von dieser Krankheit hatte Gabriele Müller noch nicht gehört.
Am Ende eines langen Flurs wartet der Erstbeschreiber des Leidens. Michael Linden ist Psychiater, Psychologe und ärztlicher Direktor des Rehabilitationszentrums. Er hat in Westberlin studiert, wo er bis heute wohnt. Jeden Tag pendelt er nach Teltow in die ehemalige DDR, jenen untergegangenen Staat, dem er seine interessantesten Fälle verdankt.
Die Welle der verbitterten Menschen sei mit einer Verzögerung von etwa zehn Jahren nach der Wiedervereinigung gekommen. Viele von ihnen hätten den Übergang in die neue Arbeitswelt nicht geschafft. Andere erfuhren nach der Wende, dass der eigene Partner sie bespitzelt hatte. Linden sagt: »Zu mir kamen Menschen mit schwerwiegenden reaktiven psychischen Auffälligkeiten.«
Doch die gängigen Diagnosen hätten nicht gepasst. »Da verließ einer das Haus nicht mehr - aha, das klang doch wie eine Agoraphobie. Dann sagte er, er schlafe nicht mehr und denke an Suizid - aha, eine Depression. Dann stellte ich fest, dass er ohne jeden Grund mit seiner Frau stritt - aha, das ist eine Persönlichkeitsstörung«, sagt Linden. »Das stellte mich nicht zufrieden. Dann sah ich den nächsten Patienten - und bei dem passte das auch nicht. Ich entwickelte Instrumente, um das Nichtpassende zu erfassen. Und dann merkte ich: Aha, da gibt es eine Untergruppe von Patienten, die ich auf diese Art einheitlich beschreiben kann.«
Linden hat seine Beobachtung zuerst in einem Vortrag kundgetan und danach in der Fachzeitschrift Der Nervenarzt erläutert. Bestimmte Menschen, schreibt Linden, entwickelten nach einem negativen Lebensereignis »einen ausgeprägten und langanhaltenden Verbitterungsaffekt, weshalb von einer posttraumatischen Verbitterungsstörung (PTED) gesprochen werden kann«.3 Etwa 2 Prozent der Bevölkerung seien betroffen.
Es ist das höchste Ziel eines jeden Psychiaters, eine Störung zu entdecken, die an seinen Namen gekoppelt ist. Das ist im echten Leben nicht anders als beim literarischen Irrenarzt Simão Bacamarte.
»Wir sind ja nicht dazu da, alte Dinge wiederzukäuen, sondern wir versuchen, Neuland zu betreten«, sagt Michael Linden. »Und hin und wieder erweist sich das Neuland als tragfähig.«
Um die posttraumatische Verbitterungsstörung in der Fachwelt bekannt zu machen und sie gleichsam als offizielles, amtliches Leiden zu verankern, wandte Michael Linden sich an die größte Psychiatervereinigung der Welt: an die American Psychiatric Association (APA) in Arlington (US-Bundesstaat Virginia), die 36 000 Mitglieder zählt.
Wer eine neue psychische Krankheit in die Lehrbücher bringen will, der kommt an dieser Fachgesellschaft nicht vorbei. Die APA gibt eine Art Bibel der Psychiatrie heraus, das Diagnostische und Statistische Manual Psychischer Störungen (DSM). Was in diesem dicken Handbuch steht, das darf als anerkannte seelische Krankheit gelten. Das Handbuch beeinflusst Psychiater und Psychologen in der ganzen Welt und nimmt häufig Änderungen in der Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD) der Weltgesundheitsorganisation vorweg. Die ICD wird derzeit überarbeitet und soll vermutlich 2015 in der elften Ausgabe erscheinen.
Die Klassifikationssysteme bestimmen nicht nur, was noch normal ist und was schon verrückt. Sie beeinflussen die Marketingstrategien von pharmazeutischen Firmen, das Verschreibungsverhalten von Ärzten, die Ausgaben der Gesundheitssysteme, und sie prägen die Art und Weise, wie die Öffentlichkeit über psychische Störungen denkt.
Psychologen und Psychiater üben einen großen Druck aus, die Klassifikationssysteme immer stärker auszuweiten. Ehrgeizige Wissenschaftler wie Michael Linden bombardieren die Gremien mit Vorschlägen für immer neue Syndrome. Sie berichten von alten Menschen, die Krempel in der Wohnung horten, von Frauen, die mit Pinzetten an ihrer Haut zupfen, von Menschen, die jederzeit Sex haben wollen, von Leuten, die zu viel Kaffee trinken.
Das erzeugt einen gewaltigen Sog, um sogar gewöhnliche und in der Bevölkerung weitverbreitete Verhaltensweisen in Störungen zu verwandeln. Vieles, was heute noch als normales Verhalten durchgeht, könnte morgen als seelische Krankheit klassifiziert sein. Aus Eigenbrötelei ist auf diese Weise bereits die »schizoide Persönlichkeit« geworden, aus Schüchternheit schon die »soziale Phobie«, aus der schlechten Laune die »Dysthymie«, an der allein in Deutschland mehr als drei Millionen Menschen erkrankt sein sollen.
Oligarchen der Psychiatrie
Die Entscheidung, ob eine vermeintlich neue psychische Störung den Segen der APA erhält und damit quasi amtlich wird, ist einem Kreis von nur etwa 160 Frauen und Männern vorbehalten. Sie sind so etwas wie die Oligarchen der Psychiatrie. Sie sind durch nichts legitimiert, wenn man davon absieht, dass sie sich hochgedient haben in die Machtzirkel, sprich Arbeitskreise der APA. Hinter den Kulissen stimmen sie darüber ab, welche neuen psychischen Krankheiten in die nächste Ausgabe des DSM aufgenommen werden - der Wahnsinn entsteht durch Mehrheitsentscheid. Es ist diese Gruppe von Medizinern und Psychologen, die darüber befindet, wer Psychopharmaka nehmen, sich auf die Couch des Therapeuten legen oder gar in die Psychiatrie eingewiesen werden soll.
Nur wenige deutschsprachige Experten haben es in den erlauchten Kreis der DSM-5-Autoren geschafft. Einer von ihnen ist Hans-Ulrich Wittchen, der das Institut für Klinische Psychologie und Psychotherapie der Technischen Universität Dresden leitet. Der Mann reist von Kongress zu Kongress, ist bezahlter Berater von pharmazeutischen Firmen und gehört überdies zu den Herausgebern der deutschen DSM-Ausgabe. Allein dafür erhält er jedes Jahr Tantiemen in Höhe von einigen Tausend Euro.
In den vergangenen Jahren leerte Wittchen viele Schachteln »Lord Extra« an seinem Schreibtisch. Nach dem Tagwerk begann nämlich die Spätschicht am DSM-5. Wittchen bildete mit einem Australier, einem Südafrikaner, einer Holländerin und zehn US-Amerikanern die Gruppe für Ängste, Zwangsstörungen und Dissoziative Störungen.
Es sei »eine Ehre, eine große Ehre,« am Standardwerk DSM mitarbeiten zu dürfen, sagte Wittchen, als der Redaktionsschluss für den neuen DSM-5 herannahte. Seine Arbeit in der heißen Phase sah so aus: Er las Hunderte wissenschaftliche Publikationen und tauschte mit den Kollegen unzählige Textfassungen per E-Mail aus. Die Ausdrucke füllten einen ganzen Schrank. Zuletzt hatte Wittchen jede Woche zwei, drei Telefonkonferenzen, jeweils zwischen 20 Uhr und Mitternacht.
Hans-Ulrich Wittchen ist auf dem Höhepunkt seiner Karriere angelangt. Ein mächtiger Institutsdirektor, der dem Fach seinen Stempel aufdrücken konnte. Wittchen bezeichnet sich als einen der wissenschaftlichen Väter der Panikstörung. Das von Sigmund Freud erfundene Konzept der Angstneurose habe er auseinandergenommen, so dass es durch die Panikstörung und die generalisierte Angststörung ersetzt werden konnte. Das alles, erzählte ein strahlender Wittchen, habe bereits Eingang in das DSM-IV gefunden und stehe auch im DSM-5. Viele Passagen trügen seine Handschrift.
Ist das der Grund dafür, dass Wittchen im Gespräch eher wie ein Hüter der alten Werte erscheint, wenn er von den Scharmützeln in seiner DSM-5-Arbeitsgruppe erzählt? Ein ums andere Mal sei einer der Kollegen mit einem angeblich neuen Seelenleiden angekommen. »Also jede deviante kleine Verhaltensweise, die in der Tat manchmal hochdramatische spezielle Interventionen erfordert, wurde an irgendeiner Stelle diskutiert als eigenständige, neue Identität«, sagte er. »Richtig gespalten war unsere Gruppe bei der ›Hoarding‹-Störung und der ›Skin Picking‹-Störung. «
Am Ende unterlag Wittchen: Beide Störungen stehen in der Bibel der Psychiater als eigenständiges Krankheitsbild. Mit jeder neuen Ausgabe des DSM sind bisher neue Krankheiten hinzugekommen. Aus einem Heft von anfangs 130 Seiten ist ein Buch geworden, das zwei Kilogramm wiegt und knapp 1000 Seiten hat.
Die neuen Leiden der Seelenheilkunde
Insbesondere für Kinder ist es schwierig geworden, als normal durchzugehen. Für aufbrausende Schüler mit Neigung zu Wutanfällen haben die DSM-Autoren gerade eine zusätzliche Kategorie erschaffen: die »disruptive Launenfehlregulationsstörung « oder DMDD (nach der englischen Wortschöpfung »Disruptive Mood Dysregulation Disorder «).
Der Anteil der Kinder, die offiziell als psychisch krank eingestuft werden, ist in den Vereinigten Staaten von Amerika in einem Zeitraum von 20 Jahren auf das 35-fache gestiegen. Mehr als jeder vierte Schüler zwischen sechs und 18 Jahren hat eine Sprachtherapie bekommen. Eins von zehn Kindern war in psychotherapeutischer Behandlung. Viele schlucken Psychopharmaka.
Die Vergesslichkeit im Alter hat es ebenfalls in den Rang einer amtlichen psychiatrischen Krankheit geschafft und den Namen »milde neurokognitive Störung« erhalten.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
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Autoren-Porträt von Jörg Blech
Jörg Blech, geboren 1966, studierte Biologie in Köln und Biochemie an der University of Sussex in Großbritannien. Er besuchte die "Henri-Nannen-Schule" in Hamburg und war anschließend Redakteur beim "Stern" und bei der "Zeit". Heute arbeitet er im Wissenschaftsressort des "Spiegel" in Hamburg. Jörg Blech ist verheiratet und Vater von zwei Töchtern.
Bibliographische Angaben
- Autor: Jörg Blech
- 2014, 288 Seiten, Maße: 13,5 x 21 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: S. Fischer Verlag GmbH
- ISBN-10: 3100044193
- ISBN-13: 9783100044198
- Erscheinungsdatum: 27.03.2014
Rezension zu „Die Psychofalle “
Jörg Blech erinnert uns daran, dass unsere Seele viel wehrhafter ist, als man uns weismachen will. 'Die Psychofalle' ist eine Lektüre, die lohnt. Hans Durrer The Huffington Post 20140404
Kommentar zu "Die Psychofalle"
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