Die Reliquienjägerin
Historischer Roman
1349. In Europa wütet die Pest. Juden werden verfolgt und ermordet. Auch Rebekka flieht aus ihrer Heimatstadt Rothenburg nach Prag. Unterwegs schließt sie sich dem Mönch Engelbert an, der für König Karl Reliquien jagt. Gemeinsam...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Die Reliquienjägerin “
1349. In Europa wütet die Pest. Juden werden verfolgt und ermordet. Auch Rebekka flieht aus ihrer Heimatstadt Rothenburg nach Prag. Unterwegs schließt sie sich dem Mönch Engelbert an, der für König Karl Reliquien jagt. Gemeinsam mit ihm sucht sie die wertvollste Reliquie des Christentums.
Klappentext zu „Die Reliquienjägerin “
Die Reliquienjägerin - aus dem spannenden Bereich "Historische Romane""Die Reliquienjägerin" aus der Kategorie der historischen Romane ist das neuste Werk des Schreibkollektivs Sabine Klewe und Martin Conrath, das unter dem Pseudonym der Autoren "Sabine Martin" veröffentlicht wurde. Auf spannende und packende Art zeigt der Historienroman das Leben des jüdischen Mädchens Rebekka, die aus ihrem Elternhaus fliehen muss und ein Abenteuer eingeht, um ihr eigenes Leben zu schützen.
Wie schon in den Vorgängerwerken, beweist Sabine Martin ein großartiges Geschick historische Fakten und Fantasie zu einem einheitlichen und stimmigen Geschichtsteppich zu verweben, der den Leser nicht aus seinem Bann lässt. Die Geschichte ist voller unerwarteter Wendungen und lebhafter Charaktere. Der Leser wird in das mittelalterliche Europa gezogen und sieht sich dabei mitten im Zwist zwischen Juden und Christen und allerlei Altertümlichkeiten.
Liebevoll ausgestattet ist der Roman mit einem Glossar und einer Karte der wichtigsten Orte während Rebekkas Reise, sodass der Leser stets nachvollziehen kann, wo sich die Romanheldin aufhält. Die Reliquienjägerin ist ein schöner Beweis dafür, dass historische Romane Geschichte auf eine spannende und dennoch lehrreiche Art und Weise vermitteln können. Daher sollte das Werk in keinem Liebhaberregal für historische Romane fehlen.
Weitere historische Romane von "Sabine Martin"
- Die Tränen der Henkerin (2013)
- Die Henkerin (2012)
- Das Vermächtnis der Schreiberin (2008)
- Das Geheimnis der Madonna (2007)
Lese-Probe zu „Die Reliquienjägerin “
DIE RELIQUIENJÄGERIN von Sabine Martin »Wenn es einen Glauben gibt, der Berge versetzen kann, so ist es der Glaube an die eigene Kraft.«
Marie von Ebner-Eschenbach
Prolog
August 1341/Elul 5101
... mehr
Der Lärm war ohrenbetäubend. Ein gewaltiges Brummen, einförmig und doch vielstimmig. Der Himmel wölbte sich tiefschwarz über ihm, eine Wolke aus unzähligen Leibern verdunkelte die sengende Augustsonne.
Karl unterdrückte den Drang, sich die Ohren zuzuhalten, und reckte sein Gesicht dem Schwarm entgegen. Heuschrecken, so weit das Auge reichte, Abermillionen zierliche Körper mit schillernden Flügeln - jedes einzelne Tier ein zartes, filigranes Kunstwerk, in der Masse jedoch ein tödlicher Feind, der sich durch sattgrüne Weiden und goldene Felder fraß und ganze Regionen in Hunger und Verzweiflung stürzte.
Karl straffte die Schultern, die vibrierenden Leiber berührten sein Gesicht, ließen sich auf seinen Armen und seinem Wams nieder, Flügel streiften seine Wangen, winzige Beine krabbelten über die nackte Haut an seinem Hals und plagten seine Nase mit einem infernalischen Gestank, so, als kämen diese Wesen direkt aus der Hölle. Aber dem war nicht so. Im Gegenteil: In jeder einzelnen dieser zarten Gestalten steckte die Allmacht Gottes. Nie zuvor hatte Karl das so stark empfunden wie in diesem Augenblick. Er schwang sich von seinem Wallach und lief auf den einsamen Hügel zu, der sich über dem Berounkatal erhob, stürmte mitten hinein in die wogenden Leiber.
»Herr, seid Ihr von Sinnen? Kommt zurück! Wir sollten umkehren, bevor diese Plage uns mit ihrem teuflischen Odem vernichtet!«
Karl lachte auf und wandte sich seinem Begleiter zu. »Mein guter Montfort, ist Euer Glaube so schwach? Ich dachte, Ihr wäret ein Mann Gottes?«
Montfort schlug nach einer Heuschrecke, die sich in seinem Habit verfangen hatte. »Der bin ich in der Tat, Eure Majestät. Und genau aus diesem Grund fürchte ich seinen Zorn.« Seine Stimme wurde schrill. »Der Heuschreckenschwarm ist der nächste Vorbote der Apokalypse, Herr. Denkt an das Magdalenen- Hochwasser, das nur wenige Jahre zurückliegt! Tausende sind ertrunken! Doch die Menschen haben sich Gott nicht zugewandt. Das Ende der Welt steht unmittelbar bevor. Der Herr im Himmel zürnt uns, weil wir nach wie vor in Sünde und ohne Demut leben.«
Karl fing mit der Hand eine Heuschrecke ein und betrachtete den grünlich schillernden Körper. »Mir zürnt der Herr nicht, Montfort. Im Gegenteil, er hat Großes mit mir vor. Gerade erst hat er meinen Vater für seinen gottlosen Lebenswandel mit dem Verlust des Augenlichts bestraft. An seiner Stelle werde ich nun das Land regieren, und glaubt mir, ich werde Böhmen zu einem wahren Reich Gottes machen.« Er warf das Tier in die Luft. »Nicht nur Böhmen!«, schrie er dem Orkan der Heuschrecken entgegen. »Das gesamte Heilige Römische Reich! Ich werde mich zum Kaiser krönen lassen und dafür sorgen, dass die Ehrfurcht vor dem Herrn und seinen heiligen Gesetzen überall Einzug hält und dass die Menschen erkennen, dass Gottes Werk sich in jeder seiner Kreaturen offenbart. Das werde ich, so wahr mir Gott helfe!«
»Amen«, rief Montfort und bekreuzigte sich ein wenig zu schnell, so, als sei er nicht überzeugt von dem, was sein König sagte.
Karl unterdrückte ein Schmunzeln. Louis de Montfort war ein kluger, gebildeter Mann und der beste Ratgeber, den ein König sich wünschen konnte, doch er war ein Feigling. Unbeirrt wandte Karl sich ab und stapfte den Hügel hinauf. Die Heuschrecken ängstigten ihn nicht. Im Gegenteil, sie waren ein Zeichen der grenzenlosen Macht des himmlischen Herrn. Und dieser Herr war ihm wohlgesinnt, dessen war er sich sicher. Auf der Kuppe hielt Karl schnaufend inne. Von hier oben sah der Schwarm weit weniger bedrohlich aus, viel kleiner wirkte er, als wenn man mitten darin stand, kaum größer als ein schwarzer Nebelstreif über dem Tal. Man musste nur hoch genug hinaufsteigen, über den Dingen stehen, dann rückten sie an ihren rechtmäßigen Platz. Und es war nicht das erste Mal, dass Heuschrecken das Land plagten. Auch dieser Schwarm würde sich bald auflösen wie Nebel in der Morgensonne. Die Zeiten waren nicht leicht. Die Winter wurden immer kälter, die Sommer feuchter. Gott prüfte die Menschen, wie so oft.
»Sein Wille geschehe«, murmelte Karl in das Rauschen des Windes und der Heuschrecken. Er breitete die Arme aus. Sein rechtmäßiger Platz war hier oben, an der Spitze seines Reiches. Und hier würde er seine Burg bauen, Burg Karlstein. Gott hatte ihn hierhergeführt und ihm damit aufgetragen, eine sichere Trutzburg für die Insignien des Reiches und den unermesslichen Schatz der heiligen Reliquien zu schaffen.
»Seid willkommen, Heerscharen des Himmels!«, rief er dem Schwarm zu. »Lasst uns gemeinsam kämpfen für das Reich Gottes auf Erden, für den Sieg des wahren Glaubens über die ungläubigen Ketzer, für die stolze Stadt Prag, die ich zur Krone des Heiligen Römischen Reiches machen werde!«
Die dunkle Bedrohung
Oktober 1349/Tischri 5110
»Mach schon, du musst los, Kind!« Esther schob Rebekka sanft auf das dunkle Loch zu.
»Aber was ist mit euch?«, rief Rebekka. »Ohne euch will ich nicht von hier fort.«
Ihr Vater trat vor und nahm ihr Gesicht sanft in seine Hände. »Du bist meine Tochter, Rebekka, das wirst du immer bleiben.« Er seufzte und schaute ihr in die Augen. »Aber du bist keine von uns, du bist keine Jüdin, nicht von Geburt. Gott hat ein anderes Schicksal für dich gewählt. Seiner Stimme wirst du von nun an folgen. Sie wird dich durch die Finsternis ans Licht führen.«
Die Worte ihres Vaters trafen Rebekka wie ein Faustschlag in den Magen. »Aber wie sehen wir uns wieder?« Sie vermochte kaum ihre Angst zu beherrschen.
Ein lautes Krachen verschluckte Menachem ben Jehudas Antwort. Entsetzt schaute Rebekka die enge Kellerstiege hinauf. »Sind sie schon im Haus?«
»Nein, Kind, aber sie versuchen, die Tür aufzubrechen. Los jetzt, spute dich!« Er küsste sie auf die Stirn.
Rebekka umarmte ihre Mutter ein letztes Mal, Tränen brannten in ihren Augen. »In Prag sehen wir uns wieder.«
»Ja, in Prag.« Esther lächelte und streichelte ihr über das Haar. »Lebe wohl, mein Kind. Ich liebe dich!«
Mit zitternden Fingern griff Rebekka nach ihrem Bündel und kletterte in das Loch. Sie drehte sich nicht noch einmal um, der Anblick ihrer Eltern, wie sie dort auf der schmalen Steintreppe standen, die hinunter zur Mikwe führte, hätte ihr das Herz gebrochen. Ihre Eltern. Waren sie das überhaupt noch? Sie schob den bitteren Gedanken weg, jetzt musste sie den Weg durch diesen finsteren Kanal finden. Für Grübeleien würde später noch Zeit sein. Wenn sie in Sicherheit war. In Prag.
Langsam stolperte Rebekka vorwärts. Der Gang war niedrig und eng, nach ein paar Schritten musste sie in die Hocke gehen und wie eine Ente durch den Wasserlauf watscheln. Es war stockfinster, sie sah nicht, wohin sie trat. Ein paarmal stieß sie mit dem Fuß gegen einen Stein, doch zum Glück waren ihre Reisestiefel so robust, dass sie sich nicht verletzte. In der Finsternis des Tunnels gab es nur ein einziges Geräusch: das Platschen des Wassers, das unheimlich laut von den grob gehauenen Wänden widerhallte. Es dauerte nicht lange, da hatte Rebekka jedes Gefühl für die Zeit verloren. War sie noch immer unter dem Judenviertel? Hatte sie den Ausstieg zu dem Brunnen verpasst? Gab es diesen Ausstieg überhaupt? Was, wenn sie auf eine Stelle stieß, die zu eng war, um sie zu passieren? Bei diesem Gedanken flutete Panik durch ihren Körper. Der Zulauf, der die Mikwe mit frischem Wasser versorgte, war nicht als Fluchttunnel gebaut worden. Ihr Vater hatte lediglich einen der Alten davon sprechen hören, dass er so geräumig sei, dass man hindurchkriechen könne, wenn man von zierlicher Statur war. Vor ihr hatte es noch nie jemand versucht.
Rebekka schluckte die Beklemmung hinunter und krabbelte weiter. Der Saum ihres Kleides und auch der ihres schweren Lodenmantels waren klatschnass. Wie gut, dass Mutter das wichtige Dokument erst in Wachstuch geschlagen und dann in den Saum eingenäht hatte. Den Beutel mit ihren wenigen Habseligkeiten hatte Rebekka bisher so hoch halten können, dass er weitgehend von der Nässe verschont geblieben war. Sie dachte an die Dinge in dem Beutel, vor allem die beiden Gegenstände, auf die sie nur einen kurzen Blick hatte werfen können. Das alles musste ein Irrtum sein, ein böser Traum! Unwillkürlich fasste sie sich an den Hals. Es war kein böser Traum, da hing es, das silberne Kettchen, das ihr ganzes bisheriges Leben infrage stellte.
Mit einem Mal durchdrang ein schwacher Schimmer die Dunkelheit. Das musste der Ausstieg sein! Rebekka krabbelte schneller, froh, dass sie den finsteren Tunnel bald verlassen konnte.
Doch nur wenige Fuß später gelangte sie an eine Stelle, an der sich der Gang so verengte, dass nicht einmal ein Kind hindurchgepasst hätte. Nein! Musste sie etwa zurückkriechen? Zurück in das Judenviertel, wo die Häscher schon auf sie warteten? Oder noch schlimmer: hier unten stecken bleiben, bis sie vor Kälte und Hunger elendig starb?
Rebekka kroch die letzten Ellen vorwärts und bemerkte zu ihrer großen Erleichterung, dass sich unmittelbar vor dem Engpass zu ihrer Linken eine helle Öffnung auftat. Als sie hindurchspähte, entdeckte sie etwa vier Ellen unter sich eine dunkle Wasserfläche. Sie richtete den Blick nach oben. Ein großes, kreisrundes Loch zeigte ihr ein Stück des Abendhimmels, an dem bereits die ersten Sterne funkelten. Aus der Brunnenwand ragten vereinzelte Steine so weit aus dem Mauerwerk hervor, dass es möglich sein musste, hinaufzusteigen. Rebekka zögerte dennoch. Was, wenn genau jetzt eine Magd zum Wasserholen kam und sie entdeckte?
Nicht auszudenken, was die Leute mit ihr anstellen würden, wenn sie sie hier unten erwischten, denn die Christen waren davon überzeugt, die Juden würden die Brunnen vergiften. Sie würden glauben, sie hätten sie auf frischer Tat ertappt. Sie würden sie als Brunnenvergifterin ohne zu zögern in Stücke reißen. Andererseits konnte sie nicht ewig hier unten hocken. Es war eiskalt, das nasse Kleid klebte an ihrem durchfrorenen Körper. Zudem wurde sie erwartet.
Rebekka beugte sich vor und griff nach dem ersten Stein in Reichweite. Anfangs konnte sie sich nur mit äußerster Mühe mit ihren kalten, steifen Fingern festklammern, doch mit jedem Schritt nach oben wurden ihre Bewegungen geschickter. Schließlich wagte sie einen Blick über den Brunnenrand. Erschrocken fuhr sie zurück. Adonai, hilf! Mitten auf dem Marktplatz war sie, im Herterichsbrunnen. Wie sollte sie hier unbemerkt hinausgelangen?
Noch einmal äugte sie vorsichtig über den Rand. Der Platz war leer. Vielleicht war es später, als sie dachte, vielleicht hatte der Nachtwächter bereits die erste Runde gedreht. Noch einmal schaute sie in alle Richtungen, dann zog sie sich hoch und kletterte geschwind über den Brunnenrand. Einen Augenblick hielt sie atemlos inne. Von der gegenüberliegenden Seite des Marktplatzes drangen Geräusche herüber, laute Schreie und ein dumpfes Poltern. Hinter diesen Häusern lag das Judenviertel. Deshalb war der Platz leer! Die Meute zog durch das Viertel und versuchte die Türen aufzubrechen. Hoffentlich gelang den anderen rechtzeitig die Flucht!
Plötzlich löste sich eine Gestalt aus dem Schatten einer Hauswand. »Da seid Ihr ja endlich. Kommt! Beeilt Euch!«
Rebekka fuhr erschrocken herum. Sie wollte etwas erwidern, doch der Mann, ein Knecht in einer zerschlissenen Cotte, hatte sich bereits abgewandt und lief in die Herrngasse. Ihr blieb nichts anderes übrig, als ihm zu folgen.
Der Knecht führte sie zu einem Hoftor, stieß eine kleine Pforte auf und bedeutete ihr, ihm zu folgen. Bevor sie eintrat, blickte sie noch einmal zurück. In der Herrngasse wohnten die vornehmen Christen, die Patrizier, die die Geschicke der Stadt Rothenburg lenkten. Ihre Häuser waren aus Stein gemauert und prächtig anzusehen. Dabei war die äußere Pracht nichts gegen die Reichtümer, die sich in ihrem Inneren verbargen. Einmal hatte Rebekka ein solches Haus betreten, heimlich, als sie noch ein kleines Mädchen gewesen war. Und obwohl ihre Eltern ebenfalls wohlhabend waren und angesehene Mitglieder der jüdischen Gemeinde, hatte sie vor Staunen den Mund nicht zubekommen: Teppiche an den Wänden, überall Leuchter aus kostbarem Silber, Trinkgefäße aus Kristall und sogar gläserne Scheiben in den Fenstern, durch die das Sonnenlicht bunte Flecken auf den Boden warf! Das Haus, das sie kannte, lag ein Stück weiter die Herrngasse hinunter. Seufzend warf Rebekka einen Blick darauf, bevor sie dem Knecht durch die Pforte folgte.
Im Hof stand ein Fuhrwerk, ein Mann mit kantigem Gesicht und fast kahlem Schädel wartete daneben. »Da bist du ja, Metze.« Er trat näher.
Rebekka vermutete, dass es der Hausherr war, Hermo Mosbach, ein vornehmer Christ, dem ihr Vater nicht nur den Erlass sämtlicher Schulden, sondern auch ein Pfund Silber versprochen hatte, wenn er dafür seine Tochter sicher aus der Stadt brachte. Mosbach trug seidene Beinlinge, ein Wams aus Samt und einen schweren blauen Mantel, der von einer kunstvoll gefertigten silbernen Schnalle zusammengehalten wurde. »Hast du das Geld?«
»Ja, Herr.« Rebekka schluckte. »Ich habe Anweisung, es Euch erst zu geben, wenn Ihr mich wohlbehalten aus Rothenburg geleitet habt.«
»Hört, hört«, brummte der Mann. Er musterte sie von oben bis unten. Etwas Abschätzendes lag in seinem Blick, so als prüfe er die Ware eines Schlachters. »Meinetwegen«, sagte er dann. »Ich habe es nicht eilig. Du aber schon, oder? Also rasch! Auf den Wagen mit dir! Die Stadttore werden gleich geschlossen.« Er reichte ihr eine Gugel. »Und zieh das über. Muss ja nicht gleich jeder sehen, wer da mit mir auf dem Wagen sitzt.«
Rebekka gehorchte, und kurz darauf rollten sie auf das Rödertor zu. Die Wachen griffen bereits zu den schweren Balken, die das Tor für die Nacht verriegeln würden.
»Haltet ein!«, rief Mosbach ihnen zu, als das Fuhrwerk vorgefahren war.
Die Wachen drehten sich um, erkannten den vornehmen Herrn und verneigten sich. »Ihr seid spät dran, edler Herr Mosbach«, sagte einer der Männer. »Wenn Ihr jetzt noch herausfahrt, müsst Ihr die Nacht im Freien verbringen.«
Mosbach seufzte und hob in gespielter Verzweiflung die Schultern. »Was hilft es? Dringende Geschäfte auf meinem Gut. Sie dulden keinen Aufschub. Also bitte, lasst mich und meine Magd ausfahren, seid so gut, Hauptmann.«
Rebekka senkte den Kopf so tief, dass die Wachen unmöglich ihr Gesicht erkennen konnten.
»Dann werdet Ihr und Eure Magd wohl auf dem Hof nächtigen müssen.« Der Hauptmann zwinkerte anzüglich. »Eine angenehme Nachtruhe wünsche ich, Herr!« Er gab den übrigen Wachmännern ein Zeichen, das Tor noch einmal zu öffnen.
Mosbach schnalzte mit der Zunge, der Gaul setzte sich wieder in Bewegung, und der Wagen rollte aus der Stadt. Kaum waren sie auf der Landstraße, ließ Mosbach das Tier antraben. Das Tageslicht war nahezu verloschen, doch der fast volle Mond schien hell, und die Straße war breit und gut befestigt, sodass die nächtliche Fahrt nicht allzu gefährlich war.
Rebekka zog den feuchten Umhang enger um ihre Schultern. Der Winter nahte, letzte Woche hatten sie Sukkot gefeiert, das Fest der Laubhütten. Der Monat Tischri neigte sich dem Ende zu, ein sicheres Zeichen, dass die dunkle Jahreszeit endgültig angebrochen war. Verstohlen blickte sie zu dem Mann, in dessen Hand ihr Leben lag. Hermo Mosbach starrte missmutig geradeaus.
»Fahren wir die Nacht durch bis Nürnberg?«, wagte Rebekka schließlich zu fragen. In der Stadt, die etwa zwei Tagesmärsche östlich von Rothenburg lag, wartete ein christlicher Kaufmann darauf, Rebekka nach Prag mitzunehmen. Im Gegensatz zu Mosbach wusste er jedoch nicht, dass sie auf der Flucht war.
Mosbach sah sie lange an, bevor er sprach. »Nein, in einem durch geht das nicht. Das Pferd muss sich erholen. Außerdem können wir nur so lange weiterfahren, wie der Mond hoch genug steht. Danach müssen wir bis Sonnenaufgang rasten.«
Rebekka fröstelte. Rasten! Mitten in der Nacht mit einem fremden Mann im Wald das Lager aufschlagen! Ob ihr Vater das gewusst hatte? Vertraute er dem Christen so sehr? Oder war es ihm am Ende gleich, was mit ihr geschah, jetzt, wo sie nicht mehr seine Tochter war?
Schweigend fuhren sie weiter. Als der Mond hinter den Baumwipfeln verschwand, lenkte Mosbach den Wagen auf ein kleines Stück Wiese am Rand der Landstraße. Rebekka, die irgendwann vor Erschöpfung eingenickt war, erwachte von dem unvermittelten Ruckeln auf dem unebenen Untergrund und blickte sich verwirrt um.
»Hier rasten wir, bis es hell wird«, erklärte Mosbach.
Rebekka nickte stumm. Als der Wagen hielt, stieg sie mit steifen Beinen hinunter. Das Gras glitzerte feucht im Dämmerlicht. Eine kalte Brise fuhr ihr unter das Kleid. Sie blickte zu dem Gefährt. Bisher hatte sie sich nicht für die Ladung interessiert, doch nun wollte sie wissen, ob zwischen den Fässern und Ballen auf der Ladefläche vielleicht ein trockenes Plätzchen war, wo sie sich ausstrecken konnte.
Plötzlich stand Mosbach dicht hinter ihr. »Wie wäre es jetzt mit der Belohnung?«, fragte er mit rauer Stimme. »Schließlich hab ich deinetwegen ein lustiges Schauspiel verpasst.«
Rebekka drehte sich um. Erst begriff sie nicht, doch dann dämmerte ihr, was für ein Schauspiel Mosbach meinte. Die Hatz auf die Juden, denen man die Schuld an dem Schwarzen Tod gab, der im ganzen Reich wütete und bereits Tausende dahingerafft hatte. Rothenburg war bisher verschont geblieben, dennoch hatte es in den letzten Wochen immer wieder Übergriffe gegeben. Erst wenige Tage zuvor hatten einige junge Männer Simon ben David halb totgeschlagen, den jüdischen Schlachter, bei dem die Christen gewöhnlich die Teile des Fleisches kauften, die die Juden selbst nicht essen durften. Er würde die Teile anspucken, bevor er sie den Christen feilbot, hatten sie behauptet, und sie damit vergiften wollen. Und dann hatten die Rothenburger Juden auch noch den Schutz des Königs verloren. Ausgerechnet zu Jom Kippur, dem Tag der Versöhnung, hatte der städtische Ausrufer auf dem Marktplatz den Erlass Karls IV. verkündet. Mit ihm entband der König die Stadt von der Pflicht, die Juden zu schützen. Von dem Augenblick an waren sie Freiwild gewesen. Wie konnte der König nur so grausam sein!
Mosbach beugte sich vor. »Nun mach schon, her damit!« Er streckte die Hand aus, fuhr ihr unter den Mantel, riss ihr den Geldbeutel weg und stopfte ihn in seine Wamstasche. Dann packte er ihrgrobandie Brust.
Entsetzt wich Rebekka zurück.
»Komm schon, stell dich nicht so an, du dumme Judenfotze. Kannst ruhig ein bisschen nett sein zu deinem Retter.« Er riss ihr Gugel und Kopftuch herunter und packte sie am Haar.
»Nicht! Bitte!« Rebekka schob ihn weg. »Behaltet das Geld, nehmt alles, wenn Ihr wollt, doch bitte lasst mich los!«
Mosbach schien sie gar nicht zu hören. Mit der einen Hand hielternochimmer ihrHaarumklammert, mit der anderen griff er unter ihr Kleid und kniff ihr in den nackten Schenkel.
Rebekka schrie auf. »Adonai, steh mir bei!«
»Dein Judengott wird dir nicht helfen, du kleines Miststück «, flüsterte Mosbach ihr ins Ohr. Mit einem kräftigen Stoß warf er sie zu Boden. Der Aufprall war hart und schmerzvoll, benommen schnappte Rebekka nach Luft. Schon war Mosbach über ihr, sein schwerer, stinkender Körper presste sie ins feuchte Gras. Er drückte ihr eine Hand auf den Hals, sodass sie kaum noch Luft bekam, mit der anderen zog er ihr das Kleid hoch. Seine Knie pressten sich zwischen ihre Beine, zwangen sie auseinander. Mosbach nestelte an seinen Beinlingen herum, grunzte dabei vor Gier. Rebekka schloss die Augen, flehte stumm den Herrgott um Beistand an, doch der Griff um ihren Hals verstärkte sich. Sie suchte fieberhaft nach einem Ausweg, bemühte sich mit allen Kräften, ihren Peiniger abzuschütteln, bis die Atemnot ihr die Sinne raubte. Dann senkte sich Dunkelheit über sie.
***
Engelbert von der Hardenburg, Ritterbruder des Deutschen Ordens, zog den dunklen Wollumhang enger um die Schultern. Ihm war nicht kalt, im Gegenteil, er spürte Hitze aufsteigen. Der Umhang sollte ihn nicht vor der Kälte schützen, sondern vor neugierigen Blicken, die von seiner weißen Ordenstracht mit dem schwarzen Kreuz magisch angezogen wurden. Gleich würde er Abt Ambrosius gegenüberstehen, von dem er etwas haben wollte, das dieser nicht hergeben wollte: zwei Fingerknochen des heiligen Franziskus, eine Reliquie von unschätzbarem Wert. Engelbert hatte eine fette Summe Geld und eine nicht unbeträchtliche Zahl an Vergünstigungen geboten, doch Ambrosius hatte den Kopf geschüttelt.
»Ich verkaufe nicht«, hatte er verkündet. »Um keinen Preis.«
So war der Stand der Verhandlungen. Engelbert wusste natürlich, was Ambrosius unter »um keinen Preis« verstand: noch mehr Silber, noch mehr Zugeständnisse, noch mehr Land und Güter. Und er wusste, dass der Abt ihn betrügen wollte, aber er hatte keine Ahnung, wie. Ambrosius war gefürchtet, sein Einfluss reichte weit. Nicht weit genug jedoch, um dem Gesandten des Königs ohne triftigen Grund einen Wunsch abzuschlagen.
Seit drei Wochen verhandelten sie, der Abt hatte sich immer neue Schliche ausgedacht, um alles in die Länge zu ziehen. Ende September war Engelbert gemeinsam mit dem König triumphal in Nürnberg eingezogen, nachdem der Aufstand, der vor über einem Jahr begonnen hatte, endgültig niedergeschlagen war. Karl hatte den alten Rat wieder eingesetzt, alle Urkunden des Rats der Aufständischen für ungültig erklärt und einen Landfrieden für Franken eingerichtet, den die Städte Nürnberg und Rothenburg, die Bischöfe von Bamberg und Würzburg, die Pfalzgrafen in Bayern, die Burggrafen Johann und Albrecht und die Fränkischen Landgrafen unterzeichnet hatten.
Karl war noch geblieben, bis die Aufständischen abgeurteilt waren. Die meisten Männer wurden mit Verbannung bestraft, einige Söhne einflussreicher Familien entgingen der Verurteilung, ja blieben sogar im Rat. Engelbert hatte die Ereignisse ohne großes Interesse verfolgt. Politik war ein schmutziges Geschäft.
Inzwischen war der König samt seinem Gefolge wieder abgereist, denn zu Allerheiligen sollte seine zweite Gemahlin Anna in Prag zur Königin gekrönt werden. Vor seiner Abreise hatte Karl nochmals betont, wie viel ihm an der Reliquie lag. Gleichwohl hatte er Engelbert vorerst verboten, das Objekt seiner Begierde zu rauben, denn noch wankte seine Stellung als König, und er musste jeden Schritt mit Bedacht tun.
»Macht ihm ein Angebot, das er nicht abschlagen kann, mein lieber Engelbert. Aber lasst Euch nichts zuschulden kommen«, hatte Karl angeordnet. »Und falls doch, lasst Euch nicht erwischen.«
Engelbert hatte sich stumm verneigt und es sich verkniffen, seine Gedanken auszusprechen: Karls Ruf war schon lange dahin, zu oft hatte er in die Truhen der Klöster und Kirchen gegriffen, ohne zu fragen, und manchmal war der Griff so ruppig gewesen, dass Blut dabei geflossen war.
Aber heute würde Engelbert das Geschäft mit Ambrosius zu Ende bringen, so oder so. Entschlossen durchquerte er die Gasse und hielt auf die imposanten Mauern des Klosters zu.
Die Pforte erschien Engelbert von der Hardenburg besonders abweisend. Es war nicht einfach eine Holztür, nein, es war ein Portal, das einer Burg würdig war. Wer hier hineinwollte, war entweder ein geladener Gast, dem bereitwillig geöffnet wurde, oder er war ein Feind - aber dann musste er erst versuchen, das harte Eichenholz und die zähen Eisenbeschläge mit roher Gewalt zu sprengen. Das ganze Kloster war wehrhaft ausgelegt und erinnerte Engelbert an ähnliche Hindernisse, die er in seiner Laufbahn als Krieger Gottes hatte überwinden müssen.
Noch bevor er den bronzenen Engelskopf, der als Türklopfer diente, mit der Hand berühren konnte, schwang die Pforte auf. Abt Ambrosius persönlich erschien auf der Schwelle.
»Mein lieber Engelbert, wie schön, Euch zu sehen. Ich hoffe, es geht Euch gut?«
Er lächelte honigsüß, und jeder, der den Abt nicht kannte, hätte ihm seine Freundlichkeit abgenommen. Er sah wie ein zuvorkommender Gastwirt aus, ganz von dem Willen beseelt, seinem Kunden den Aufenthalt zu versüßen.
Engelbert neigte leicht den Kopf. »Ganz meinerseits, verehrter Abt. Und gut wird es mir gehen, wenn wir unser Geschäft zum Abschluss gebracht haben.«
Engelbert folgte Ambrosius in dessen Schreibstube. Inzwischen kannte er dort jedes Bodenbrett und jede Einzelheit der kunstvollen Wandteppiche, die den Kreuzweg Jesu Christi zeigten. Aber heute hatte er keine Muße, sich in die Bilder zu vertiefen. Er zog einen Beutel unter dem Umhang hervor, prall gefüllt mit Silbermünzen, und knallte ihn auf das Schreibpult des Abtes.
»Was sagt Ihr dazu, Bruder Ambrosius?«, fragte er mit einem dünnen Lächeln. »Ein wahrhaft fürstliches Schmerzensgeld für den Verlust zweier winziger Knöchelchen, meint Ihr nicht auch?«
Ambrosius verzog keine Miene. »Ihr führt mich in Versuchung, in der Tat, Bruder Engelbert.«
Engelbert drohte der Geduldsfaden zu reißen. Wenn dieser selbstgefällige Abt nicht hören wollte, dann würde er fühlen müssen. »Ihr wisst, von welch tiefer Frömmigkeit unser König ist«, erwiderte er mühsam beherrscht.
»Alle Welt weiß das.« Abt Ambrosius lächelte spitz. »Es heißt, so manch einer schließe seine Reliquien in die schwersten Truhen ein und werfe anschließend den Schlüssel in den Brunnen, und dennoch seien sie vor der Sammelwut unseres hochverehrten Königs Karl nicht sicher.«
»Dummes Gewäsch.« Engelbert winkte ab. Gott sei Dank hatte der Abt nicht herausgefunden, warum Karl diese Reliquie unbedingt in seinen Besitz bringen wollte: Die Finger des heiligen Franziskus sollten im Fundament der Kapelle der Burg Karlstein ihre letzte Ruhestätte finden und Karl stets daran erinnern, dass er in Demut und Gehorsam leben wollte, dass er verzichten wollte auf Hurerei und Verschwendungssucht. »Bisher ist noch jeder angemessen entlohnt worden - wenn er eingesehen hat, dass die Belange des Königs wichtiger sind als die kleinlichen Bedürfnisse seiner Untertanen. Karl ist ein großmütiger König, aber wie jeder gute Vater weiß er auch, dass er manchmal Strenge walten lassen muss, um sein Volk auf dem rechten Weg zu halten. Falls ihm Zweifel an Eurer bedingungslosen Treue kommen sollten . . .«
Engelbert holte Luft und musterte sein Gegenüber. Doch er nahm keine Regung wahr. Also musste er mehr Druck machen.
»Wie Ihr wisst, hat der König in seiner Großmut bisher darüber hinweggesehen, dass der Rat der Aufständischen in Euren Mauern getagt hat.« Engelbert hob einen Zeigefinger, um jeglichen Einwand des Abtes zu unterbinden. »Und Ihr möchtet doch sicherlich nicht, dass Karl seinen väterlichen Freund Papst Clemens VI. wegen Eurer zweifelhaften Gesinnung um Rat bittet, oder?«
Engelbert ließ die Drohung wirken.
Ambrosius war blass geworden. »Aber auch die Klöster brauchen den Beistand der Heiligen«, sagte er in weinerlichem Ton.
Engelbert fiel nicht auf sein Possenspiel herein. »Und die Einkünfte durch Pilger, ich weiß. Das haben wir doch schon ein Dutzend Mal durchgekaut. Entscheidet Euch. Jetzt!«
Einen Moment schwiegen beide, blickten stumm herab auf den Gegenstand der Verhandlungen, der zwischen ihnen auf dem Tisch stand: eine kleine Schatulle, unter deren fest verschlossenem Deckel die zwei Fingerknochen des heiligen Franziskus verborgen waren.
Der Abt schluckte. »Eben. Diese Einkünfte würden uns fehlen. Wie sollen wir da gottgefällig unsere Pflichten erfüllen? « Er legte die Hände zusammen, knetete sie und begann zu plappern wie ein Händler auf dem Markt. »In aller Bescheidenheit, was haltet ihr davon: Bei Sontheim, einem Ort südlich von Nürnberg, gibt es ein unwichtiges Gut mit mäßig ertragreichen Ländereien, das der König dem Bischof von Würzburg als Lehen gegeben hat.«
Engelbert kannte das Gut. Die Erträge waren nicht mäßig, sondern ausgezeichnet. Niemals würde es der König sich mit dem Bischof von Würzburg verderben, um diesem Gierschlund von Ambrosius das Maul zu stopfen. Genug war genug. Neben dem Beutel mit Silbermünzen hatte der Abt ihm schon ein Stück Land vor den Toren der Stadt abgeschwatzt. Ambrosius hatte den Bogen überspannt.
Engelbert griff nach dem Beutel. »Ich fürchte, wir kommen nicht ins Geschäft, Abt. Wirklich bedauerlich. Ich werde dem König ausrichten, dass Ihr ihm nicht gehorchen, ja dass ich annehmen muss, dass Ihr Euch sogar gegen ihn auflehnen wollt. Die Gästekammern im Verlies der Prager Burg sollen recht ungemütlich sein, man muss sie teilen mit ausgehungerten Ratten, und die Bediensteten dort unten spielen gerne mit glühenden Zangen.« Engelbert drehte sich zur Tür und ging los.
Ambrosius hob die Hände. »Aber, aber!«, rief er. »Wartet. Handelt nicht übereilt! Was für ein bedauerliches Missverständnis! Wie könnte ich mich den Wünschen meines Königs entgegenstellen? Ihr sollt die Reliquie haben. Zum vereinbarten Preis. Selbstverständlich.«
Engelbert verzog die Lippen zu einem abfälligen Grinsen und wandte sich wieder dem Abt zu. »Öffnet die Schatulle.«
Ambrosius zögerte einen Wimpernschlag, verdammt, was führte er im Schilde?
Schließlich schob der Abt den Deckel zur Seite. Auf blauem Samt lagen zwei kleine Knochen. Engelbert wusste inzwischen genug über menschliche Anatomie, um beurteilen zu können, dass es sich tatsächlich um zwei Fingerknochen handelte und nicht um Schweinezehen. Aber waren es auch wirklich Fingerknochen des heiligen Franziskus? Seine Gebeine waren sehr begehrt, man munkelte, es gebe inzwischen so viele Knochen des Heiligen, dass man fünf Gräber mit ihnen füllen könnte.
Engelbert hob den Blick. »Wo ist das Fingerreliquiar?«
Ambrosius wiegte seinen massigen Schädel. »Es ist leider zerbrochen und daher nicht mehr geeignet . . .«
»Ja, ja, schon gut. Die Cedula?«
© 2014 by Bastei Lübbe AG, Köln
Der Lärm war ohrenbetäubend. Ein gewaltiges Brummen, einförmig und doch vielstimmig. Der Himmel wölbte sich tiefschwarz über ihm, eine Wolke aus unzähligen Leibern verdunkelte die sengende Augustsonne.
Karl unterdrückte den Drang, sich die Ohren zuzuhalten, und reckte sein Gesicht dem Schwarm entgegen. Heuschrecken, so weit das Auge reichte, Abermillionen zierliche Körper mit schillernden Flügeln - jedes einzelne Tier ein zartes, filigranes Kunstwerk, in der Masse jedoch ein tödlicher Feind, der sich durch sattgrüne Weiden und goldene Felder fraß und ganze Regionen in Hunger und Verzweiflung stürzte.
Karl straffte die Schultern, die vibrierenden Leiber berührten sein Gesicht, ließen sich auf seinen Armen und seinem Wams nieder, Flügel streiften seine Wangen, winzige Beine krabbelten über die nackte Haut an seinem Hals und plagten seine Nase mit einem infernalischen Gestank, so, als kämen diese Wesen direkt aus der Hölle. Aber dem war nicht so. Im Gegenteil: In jeder einzelnen dieser zarten Gestalten steckte die Allmacht Gottes. Nie zuvor hatte Karl das so stark empfunden wie in diesem Augenblick. Er schwang sich von seinem Wallach und lief auf den einsamen Hügel zu, der sich über dem Berounkatal erhob, stürmte mitten hinein in die wogenden Leiber.
»Herr, seid Ihr von Sinnen? Kommt zurück! Wir sollten umkehren, bevor diese Plage uns mit ihrem teuflischen Odem vernichtet!«
Karl lachte auf und wandte sich seinem Begleiter zu. »Mein guter Montfort, ist Euer Glaube so schwach? Ich dachte, Ihr wäret ein Mann Gottes?«
Montfort schlug nach einer Heuschrecke, die sich in seinem Habit verfangen hatte. »Der bin ich in der Tat, Eure Majestät. Und genau aus diesem Grund fürchte ich seinen Zorn.« Seine Stimme wurde schrill. »Der Heuschreckenschwarm ist der nächste Vorbote der Apokalypse, Herr. Denkt an das Magdalenen- Hochwasser, das nur wenige Jahre zurückliegt! Tausende sind ertrunken! Doch die Menschen haben sich Gott nicht zugewandt. Das Ende der Welt steht unmittelbar bevor. Der Herr im Himmel zürnt uns, weil wir nach wie vor in Sünde und ohne Demut leben.«
Karl fing mit der Hand eine Heuschrecke ein und betrachtete den grünlich schillernden Körper. »Mir zürnt der Herr nicht, Montfort. Im Gegenteil, er hat Großes mit mir vor. Gerade erst hat er meinen Vater für seinen gottlosen Lebenswandel mit dem Verlust des Augenlichts bestraft. An seiner Stelle werde ich nun das Land regieren, und glaubt mir, ich werde Böhmen zu einem wahren Reich Gottes machen.« Er warf das Tier in die Luft. »Nicht nur Böhmen!«, schrie er dem Orkan der Heuschrecken entgegen. »Das gesamte Heilige Römische Reich! Ich werde mich zum Kaiser krönen lassen und dafür sorgen, dass die Ehrfurcht vor dem Herrn und seinen heiligen Gesetzen überall Einzug hält und dass die Menschen erkennen, dass Gottes Werk sich in jeder seiner Kreaturen offenbart. Das werde ich, so wahr mir Gott helfe!«
»Amen«, rief Montfort und bekreuzigte sich ein wenig zu schnell, so, als sei er nicht überzeugt von dem, was sein König sagte.
Karl unterdrückte ein Schmunzeln. Louis de Montfort war ein kluger, gebildeter Mann und der beste Ratgeber, den ein König sich wünschen konnte, doch er war ein Feigling. Unbeirrt wandte Karl sich ab und stapfte den Hügel hinauf. Die Heuschrecken ängstigten ihn nicht. Im Gegenteil, sie waren ein Zeichen der grenzenlosen Macht des himmlischen Herrn. Und dieser Herr war ihm wohlgesinnt, dessen war er sich sicher. Auf der Kuppe hielt Karl schnaufend inne. Von hier oben sah der Schwarm weit weniger bedrohlich aus, viel kleiner wirkte er, als wenn man mitten darin stand, kaum größer als ein schwarzer Nebelstreif über dem Tal. Man musste nur hoch genug hinaufsteigen, über den Dingen stehen, dann rückten sie an ihren rechtmäßigen Platz. Und es war nicht das erste Mal, dass Heuschrecken das Land plagten. Auch dieser Schwarm würde sich bald auflösen wie Nebel in der Morgensonne. Die Zeiten waren nicht leicht. Die Winter wurden immer kälter, die Sommer feuchter. Gott prüfte die Menschen, wie so oft.
»Sein Wille geschehe«, murmelte Karl in das Rauschen des Windes und der Heuschrecken. Er breitete die Arme aus. Sein rechtmäßiger Platz war hier oben, an der Spitze seines Reiches. Und hier würde er seine Burg bauen, Burg Karlstein. Gott hatte ihn hierhergeführt und ihm damit aufgetragen, eine sichere Trutzburg für die Insignien des Reiches und den unermesslichen Schatz der heiligen Reliquien zu schaffen.
»Seid willkommen, Heerscharen des Himmels!«, rief er dem Schwarm zu. »Lasst uns gemeinsam kämpfen für das Reich Gottes auf Erden, für den Sieg des wahren Glaubens über die ungläubigen Ketzer, für die stolze Stadt Prag, die ich zur Krone des Heiligen Römischen Reiches machen werde!«
Die dunkle Bedrohung
Oktober 1349/Tischri 5110
»Mach schon, du musst los, Kind!« Esther schob Rebekka sanft auf das dunkle Loch zu.
»Aber was ist mit euch?«, rief Rebekka. »Ohne euch will ich nicht von hier fort.«
Ihr Vater trat vor und nahm ihr Gesicht sanft in seine Hände. »Du bist meine Tochter, Rebekka, das wirst du immer bleiben.« Er seufzte und schaute ihr in die Augen. »Aber du bist keine von uns, du bist keine Jüdin, nicht von Geburt. Gott hat ein anderes Schicksal für dich gewählt. Seiner Stimme wirst du von nun an folgen. Sie wird dich durch die Finsternis ans Licht führen.«
Die Worte ihres Vaters trafen Rebekka wie ein Faustschlag in den Magen. »Aber wie sehen wir uns wieder?« Sie vermochte kaum ihre Angst zu beherrschen.
Ein lautes Krachen verschluckte Menachem ben Jehudas Antwort. Entsetzt schaute Rebekka die enge Kellerstiege hinauf. »Sind sie schon im Haus?«
»Nein, Kind, aber sie versuchen, die Tür aufzubrechen. Los jetzt, spute dich!« Er küsste sie auf die Stirn.
Rebekka umarmte ihre Mutter ein letztes Mal, Tränen brannten in ihren Augen. »In Prag sehen wir uns wieder.«
»Ja, in Prag.« Esther lächelte und streichelte ihr über das Haar. »Lebe wohl, mein Kind. Ich liebe dich!«
Mit zitternden Fingern griff Rebekka nach ihrem Bündel und kletterte in das Loch. Sie drehte sich nicht noch einmal um, der Anblick ihrer Eltern, wie sie dort auf der schmalen Steintreppe standen, die hinunter zur Mikwe führte, hätte ihr das Herz gebrochen. Ihre Eltern. Waren sie das überhaupt noch? Sie schob den bitteren Gedanken weg, jetzt musste sie den Weg durch diesen finsteren Kanal finden. Für Grübeleien würde später noch Zeit sein. Wenn sie in Sicherheit war. In Prag.
Langsam stolperte Rebekka vorwärts. Der Gang war niedrig und eng, nach ein paar Schritten musste sie in die Hocke gehen und wie eine Ente durch den Wasserlauf watscheln. Es war stockfinster, sie sah nicht, wohin sie trat. Ein paarmal stieß sie mit dem Fuß gegen einen Stein, doch zum Glück waren ihre Reisestiefel so robust, dass sie sich nicht verletzte. In der Finsternis des Tunnels gab es nur ein einziges Geräusch: das Platschen des Wassers, das unheimlich laut von den grob gehauenen Wänden widerhallte. Es dauerte nicht lange, da hatte Rebekka jedes Gefühl für die Zeit verloren. War sie noch immer unter dem Judenviertel? Hatte sie den Ausstieg zu dem Brunnen verpasst? Gab es diesen Ausstieg überhaupt? Was, wenn sie auf eine Stelle stieß, die zu eng war, um sie zu passieren? Bei diesem Gedanken flutete Panik durch ihren Körper. Der Zulauf, der die Mikwe mit frischem Wasser versorgte, war nicht als Fluchttunnel gebaut worden. Ihr Vater hatte lediglich einen der Alten davon sprechen hören, dass er so geräumig sei, dass man hindurchkriechen könne, wenn man von zierlicher Statur war. Vor ihr hatte es noch nie jemand versucht.
Rebekka schluckte die Beklemmung hinunter und krabbelte weiter. Der Saum ihres Kleides und auch der ihres schweren Lodenmantels waren klatschnass. Wie gut, dass Mutter das wichtige Dokument erst in Wachstuch geschlagen und dann in den Saum eingenäht hatte. Den Beutel mit ihren wenigen Habseligkeiten hatte Rebekka bisher so hoch halten können, dass er weitgehend von der Nässe verschont geblieben war. Sie dachte an die Dinge in dem Beutel, vor allem die beiden Gegenstände, auf die sie nur einen kurzen Blick hatte werfen können. Das alles musste ein Irrtum sein, ein böser Traum! Unwillkürlich fasste sie sich an den Hals. Es war kein böser Traum, da hing es, das silberne Kettchen, das ihr ganzes bisheriges Leben infrage stellte.
Mit einem Mal durchdrang ein schwacher Schimmer die Dunkelheit. Das musste der Ausstieg sein! Rebekka krabbelte schneller, froh, dass sie den finsteren Tunnel bald verlassen konnte.
Doch nur wenige Fuß später gelangte sie an eine Stelle, an der sich der Gang so verengte, dass nicht einmal ein Kind hindurchgepasst hätte. Nein! Musste sie etwa zurückkriechen? Zurück in das Judenviertel, wo die Häscher schon auf sie warteten? Oder noch schlimmer: hier unten stecken bleiben, bis sie vor Kälte und Hunger elendig starb?
Rebekka kroch die letzten Ellen vorwärts und bemerkte zu ihrer großen Erleichterung, dass sich unmittelbar vor dem Engpass zu ihrer Linken eine helle Öffnung auftat. Als sie hindurchspähte, entdeckte sie etwa vier Ellen unter sich eine dunkle Wasserfläche. Sie richtete den Blick nach oben. Ein großes, kreisrundes Loch zeigte ihr ein Stück des Abendhimmels, an dem bereits die ersten Sterne funkelten. Aus der Brunnenwand ragten vereinzelte Steine so weit aus dem Mauerwerk hervor, dass es möglich sein musste, hinaufzusteigen. Rebekka zögerte dennoch. Was, wenn genau jetzt eine Magd zum Wasserholen kam und sie entdeckte?
Nicht auszudenken, was die Leute mit ihr anstellen würden, wenn sie sie hier unten erwischten, denn die Christen waren davon überzeugt, die Juden würden die Brunnen vergiften. Sie würden glauben, sie hätten sie auf frischer Tat ertappt. Sie würden sie als Brunnenvergifterin ohne zu zögern in Stücke reißen. Andererseits konnte sie nicht ewig hier unten hocken. Es war eiskalt, das nasse Kleid klebte an ihrem durchfrorenen Körper. Zudem wurde sie erwartet.
Rebekka beugte sich vor und griff nach dem ersten Stein in Reichweite. Anfangs konnte sie sich nur mit äußerster Mühe mit ihren kalten, steifen Fingern festklammern, doch mit jedem Schritt nach oben wurden ihre Bewegungen geschickter. Schließlich wagte sie einen Blick über den Brunnenrand. Erschrocken fuhr sie zurück. Adonai, hilf! Mitten auf dem Marktplatz war sie, im Herterichsbrunnen. Wie sollte sie hier unbemerkt hinausgelangen?
Noch einmal äugte sie vorsichtig über den Rand. Der Platz war leer. Vielleicht war es später, als sie dachte, vielleicht hatte der Nachtwächter bereits die erste Runde gedreht. Noch einmal schaute sie in alle Richtungen, dann zog sie sich hoch und kletterte geschwind über den Brunnenrand. Einen Augenblick hielt sie atemlos inne. Von der gegenüberliegenden Seite des Marktplatzes drangen Geräusche herüber, laute Schreie und ein dumpfes Poltern. Hinter diesen Häusern lag das Judenviertel. Deshalb war der Platz leer! Die Meute zog durch das Viertel und versuchte die Türen aufzubrechen. Hoffentlich gelang den anderen rechtzeitig die Flucht!
Plötzlich löste sich eine Gestalt aus dem Schatten einer Hauswand. »Da seid Ihr ja endlich. Kommt! Beeilt Euch!«
Rebekka fuhr erschrocken herum. Sie wollte etwas erwidern, doch der Mann, ein Knecht in einer zerschlissenen Cotte, hatte sich bereits abgewandt und lief in die Herrngasse. Ihr blieb nichts anderes übrig, als ihm zu folgen.
Der Knecht führte sie zu einem Hoftor, stieß eine kleine Pforte auf und bedeutete ihr, ihm zu folgen. Bevor sie eintrat, blickte sie noch einmal zurück. In der Herrngasse wohnten die vornehmen Christen, die Patrizier, die die Geschicke der Stadt Rothenburg lenkten. Ihre Häuser waren aus Stein gemauert und prächtig anzusehen. Dabei war die äußere Pracht nichts gegen die Reichtümer, die sich in ihrem Inneren verbargen. Einmal hatte Rebekka ein solches Haus betreten, heimlich, als sie noch ein kleines Mädchen gewesen war. Und obwohl ihre Eltern ebenfalls wohlhabend waren und angesehene Mitglieder der jüdischen Gemeinde, hatte sie vor Staunen den Mund nicht zubekommen: Teppiche an den Wänden, überall Leuchter aus kostbarem Silber, Trinkgefäße aus Kristall und sogar gläserne Scheiben in den Fenstern, durch die das Sonnenlicht bunte Flecken auf den Boden warf! Das Haus, das sie kannte, lag ein Stück weiter die Herrngasse hinunter. Seufzend warf Rebekka einen Blick darauf, bevor sie dem Knecht durch die Pforte folgte.
Im Hof stand ein Fuhrwerk, ein Mann mit kantigem Gesicht und fast kahlem Schädel wartete daneben. »Da bist du ja, Metze.« Er trat näher.
Rebekka vermutete, dass es der Hausherr war, Hermo Mosbach, ein vornehmer Christ, dem ihr Vater nicht nur den Erlass sämtlicher Schulden, sondern auch ein Pfund Silber versprochen hatte, wenn er dafür seine Tochter sicher aus der Stadt brachte. Mosbach trug seidene Beinlinge, ein Wams aus Samt und einen schweren blauen Mantel, der von einer kunstvoll gefertigten silbernen Schnalle zusammengehalten wurde. »Hast du das Geld?«
»Ja, Herr.« Rebekka schluckte. »Ich habe Anweisung, es Euch erst zu geben, wenn Ihr mich wohlbehalten aus Rothenburg geleitet habt.«
»Hört, hört«, brummte der Mann. Er musterte sie von oben bis unten. Etwas Abschätzendes lag in seinem Blick, so als prüfe er die Ware eines Schlachters. »Meinetwegen«, sagte er dann. »Ich habe es nicht eilig. Du aber schon, oder? Also rasch! Auf den Wagen mit dir! Die Stadttore werden gleich geschlossen.« Er reichte ihr eine Gugel. »Und zieh das über. Muss ja nicht gleich jeder sehen, wer da mit mir auf dem Wagen sitzt.«
Rebekka gehorchte, und kurz darauf rollten sie auf das Rödertor zu. Die Wachen griffen bereits zu den schweren Balken, die das Tor für die Nacht verriegeln würden.
»Haltet ein!«, rief Mosbach ihnen zu, als das Fuhrwerk vorgefahren war.
Die Wachen drehten sich um, erkannten den vornehmen Herrn und verneigten sich. »Ihr seid spät dran, edler Herr Mosbach«, sagte einer der Männer. »Wenn Ihr jetzt noch herausfahrt, müsst Ihr die Nacht im Freien verbringen.«
Mosbach seufzte und hob in gespielter Verzweiflung die Schultern. »Was hilft es? Dringende Geschäfte auf meinem Gut. Sie dulden keinen Aufschub. Also bitte, lasst mich und meine Magd ausfahren, seid so gut, Hauptmann.«
Rebekka senkte den Kopf so tief, dass die Wachen unmöglich ihr Gesicht erkennen konnten.
»Dann werdet Ihr und Eure Magd wohl auf dem Hof nächtigen müssen.« Der Hauptmann zwinkerte anzüglich. »Eine angenehme Nachtruhe wünsche ich, Herr!« Er gab den übrigen Wachmännern ein Zeichen, das Tor noch einmal zu öffnen.
Mosbach schnalzte mit der Zunge, der Gaul setzte sich wieder in Bewegung, und der Wagen rollte aus der Stadt. Kaum waren sie auf der Landstraße, ließ Mosbach das Tier antraben. Das Tageslicht war nahezu verloschen, doch der fast volle Mond schien hell, und die Straße war breit und gut befestigt, sodass die nächtliche Fahrt nicht allzu gefährlich war.
Rebekka zog den feuchten Umhang enger um ihre Schultern. Der Winter nahte, letzte Woche hatten sie Sukkot gefeiert, das Fest der Laubhütten. Der Monat Tischri neigte sich dem Ende zu, ein sicheres Zeichen, dass die dunkle Jahreszeit endgültig angebrochen war. Verstohlen blickte sie zu dem Mann, in dessen Hand ihr Leben lag. Hermo Mosbach starrte missmutig geradeaus.
»Fahren wir die Nacht durch bis Nürnberg?«, wagte Rebekka schließlich zu fragen. In der Stadt, die etwa zwei Tagesmärsche östlich von Rothenburg lag, wartete ein christlicher Kaufmann darauf, Rebekka nach Prag mitzunehmen. Im Gegensatz zu Mosbach wusste er jedoch nicht, dass sie auf der Flucht war.
Mosbach sah sie lange an, bevor er sprach. »Nein, in einem durch geht das nicht. Das Pferd muss sich erholen. Außerdem können wir nur so lange weiterfahren, wie der Mond hoch genug steht. Danach müssen wir bis Sonnenaufgang rasten.«
Rebekka fröstelte. Rasten! Mitten in der Nacht mit einem fremden Mann im Wald das Lager aufschlagen! Ob ihr Vater das gewusst hatte? Vertraute er dem Christen so sehr? Oder war es ihm am Ende gleich, was mit ihr geschah, jetzt, wo sie nicht mehr seine Tochter war?
Schweigend fuhren sie weiter. Als der Mond hinter den Baumwipfeln verschwand, lenkte Mosbach den Wagen auf ein kleines Stück Wiese am Rand der Landstraße. Rebekka, die irgendwann vor Erschöpfung eingenickt war, erwachte von dem unvermittelten Ruckeln auf dem unebenen Untergrund und blickte sich verwirrt um.
»Hier rasten wir, bis es hell wird«, erklärte Mosbach.
Rebekka nickte stumm. Als der Wagen hielt, stieg sie mit steifen Beinen hinunter. Das Gras glitzerte feucht im Dämmerlicht. Eine kalte Brise fuhr ihr unter das Kleid. Sie blickte zu dem Gefährt. Bisher hatte sie sich nicht für die Ladung interessiert, doch nun wollte sie wissen, ob zwischen den Fässern und Ballen auf der Ladefläche vielleicht ein trockenes Plätzchen war, wo sie sich ausstrecken konnte.
Plötzlich stand Mosbach dicht hinter ihr. »Wie wäre es jetzt mit der Belohnung?«, fragte er mit rauer Stimme. »Schließlich hab ich deinetwegen ein lustiges Schauspiel verpasst.«
Rebekka drehte sich um. Erst begriff sie nicht, doch dann dämmerte ihr, was für ein Schauspiel Mosbach meinte. Die Hatz auf die Juden, denen man die Schuld an dem Schwarzen Tod gab, der im ganzen Reich wütete und bereits Tausende dahingerafft hatte. Rothenburg war bisher verschont geblieben, dennoch hatte es in den letzten Wochen immer wieder Übergriffe gegeben. Erst wenige Tage zuvor hatten einige junge Männer Simon ben David halb totgeschlagen, den jüdischen Schlachter, bei dem die Christen gewöhnlich die Teile des Fleisches kauften, die die Juden selbst nicht essen durften. Er würde die Teile anspucken, bevor er sie den Christen feilbot, hatten sie behauptet, und sie damit vergiften wollen. Und dann hatten die Rothenburger Juden auch noch den Schutz des Königs verloren. Ausgerechnet zu Jom Kippur, dem Tag der Versöhnung, hatte der städtische Ausrufer auf dem Marktplatz den Erlass Karls IV. verkündet. Mit ihm entband der König die Stadt von der Pflicht, die Juden zu schützen. Von dem Augenblick an waren sie Freiwild gewesen. Wie konnte der König nur so grausam sein!
Mosbach beugte sich vor. »Nun mach schon, her damit!« Er streckte die Hand aus, fuhr ihr unter den Mantel, riss ihr den Geldbeutel weg und stopfte ihn in seine Wamstasche. Dann packte er ihrgrobandie Brust.
Entsetzt wich Rebekka zurück.
»Komm schon, stell dich nicht so an, du dumme Judenfotze. Kannst ruhig ein bisschen nett sein zu deinem Retter.« Er riss ihr Gugel und Kopftuch herunter und packte sie am Haar.
»Nicht! Bitte!« Rebekka schob ihn weg. »Behaltet das Geld, nehmt alles, wenn Ihr wollt, doch bitte lasst mich los!«
Mosbach schien sie gar nicht zu hören. Mit der einen Hand hielternochimmer ihrHaarumklammert, mit der anderen griff er unter ihr Kleid und kniff ihr in den nackten Schenkel.
Rebekka schrie auf. »Adonai, steh mir bei!«
»Dein Judengott wird dir nicht helfen, du kleines Miststück «, flüsterte Mosbach ihr ins Ohr. Mit einem kräftigen Stoß warf er sie zu Boden. Der Aufprall war hart und schmerzvoll, benommen schnappte Rebekka nach Luft. Schon war Mosbach über ihr, sein schwerer, stinkender Körper presste sie ins feuchte Gras. Er drückte ihr eine Hand auf den Hals, sodass sie kaum noch Luft bekam, mit der anderen zog er ihr das Kleid hoch. Seine Knie pressten sich zwischen ihre Beine, zwangen sie auseinander. Mosbach nestelte an seinen Beinlingen herum, grunzte dabei vor Gier. Rebekka schloss die Augen, flehte stumm den Herrgott um Beistand an, doch der Griff um ihren Hals verstärkte sich. Sie suchte fieberhaft nach einem Ausweg, bemühte sich mit allen Kräften, ihren Peiniger abzuschütteln, bis die Atemnot ihr die Sinne raubte. Dann senkte sich Dunkelheit über sie.
***
Engelbert von der Hardenburg, Ritterbruder des Deutschen Ordens, zog den dunklen Wollumhang enger um die Schultern. Ihm war nicht kalt, im Gegenteil, er spürte Hitze aufsteigen. Der Umhang sollte ihn nicht vor der Kälte schützen, sondern vor neugierigen Blicken, die von seiner weißen Ordenstracht mit dem schwarzen Kreuz magisch angezogen wurden. Gleich würde er Abt Ambrosius gegenüberstehen, von dem er etwas haben wollte, das dieser nicht hergeben wollte: zwei Fingerknochen des heiligen Franziskus, eine Reliquie von unschätzbarem Wert. Engelbert hatte eine fette Summe Geld und eine nicht unbeträchtliche Zahl an Vergünstigungen geboten, doch Ambrosius hatte den Kopf geschüttelt.
»Ich verkaufe nicht«, hatte er verkündet. »Um keinen Preis.«
So war der Stand der Verhandlungen. Engelbert wusste natürlich, was Ambrosius unter »um keinen Preis« verstand: noch mehr Silber, noch mehr Zugeständnisse, noch mehr Land und Güter. Und er wusste, dass der Abt ihn betrügen wollte, aber er hatte keine Ahnung, wie. Ambrosius war gefürchtet, sein Einfluss reichte weit. Nicht weit genug jedoch, um dem Gesandten des Königs ohne triftigen Grund einen Wunsch abzuschlagen.
Seit drei Wochen verhandelten sie, der Abt hatte sich immer neue Schliche ausgedacht, um alles in die Länge zu ziehen. Ende September war Engelbert gemeinsam mit dem König triumphal in Nürnberg eingezogen, nachdem der Aufstand, der vor über einem Jahr begonnen hatte, endgültig niedergeschlagen war. Karl hatte den alten Rat wieder eingesetzt, alle Urkunden des Rats der Aufständischen für ungültig erklärt und einen Landfrieden für Franken eingerichtet, den die Städte Nürnberg und Rothenburg, die Bischöfe von Bamberg und Würzburg, die Pfalzgrafen in Bayern, die Burggrafen Johann und Albrecht und die Fränkischen Landgrafen unterzeichnet hatten.
Karl war noch geblieben, bis die Aufständischen abgeurteilt waren. Die meisten Männer wurden mit Verbannung bestraft, einige Söhne einflussreicher Familien entgingen der Verurteilung, ja blieben sogar im Rat. Engelbert hatte die Ereignisse ohne großes Interesse verfolgt. Politik war ein schmutziges Geschäft.
Inzwischen war der König samt seinem Gefolge wieder abgereist, denn zu Allerheiligen sollte seine zweite Gemahlin Anna in Prag zur Königin gekrönt werden. Vor seiner Abreise hatte Karl nochmals betont, wie viel ihm an der Reliquie lag. Gleichwohl hatte er Engelbert vorerst verboten, das Objekt seiner Begierde zu rauben, denn noch wankte seine Stellung als König, und er musste jeden Schritt mit Bedacht tun.
»Macht ihm ein Angebot, das er nicht abschlagen kann, mein lieber Engelbert. Aber lasst Euch nichts zuschulden kommen«, hatte Karl angeordnet. »Und falls doch, lasst Euch nicht erwischen.«
Engelbert hatte sich stumm verneigt und es sich verkniffen, seine Gedanken auszusprechen: Karls Ruf war schon lange dahin, zu oft hatte er in die Truhen der Klöster und Kirchen gegriffen, ohne zu fragen, und manchmal war der Griff so ruppig gewesen, dass Blut dabei geflossen war.
Aber heute würde Engelbert das Geschäft mit Ambrosius zu Ende bringen, so oder so. Entschlossen durchquerte er die Gasse und hielt auf die imposanten Mauern des Klosters zu.
Die Pforte erschien Engelbert von der Hardenburg besonders abweisend. Es war nicht einfach eine Holztür, nein, es war ein Portal, das einer Burg würdig war. Wer hier hineinwollte, war entweder ein geladener Gast, dem bereitwillig geöffnet wurde, oder er war ein Feind - aber dann musste er erst versuchen, das harte Eichenholz und die zähen Eisenbeschläge mit roher Gewalt zu sprengen. Das ganze Kloster war wehrhaft ausgelegt und erinnerte Engelbert an ähnliche Hindernisse, die er in seiner Laufbahn als Krieger Gottes hatte überwinden müssen.
Noch bevor er den bronzenen Engelskopf, der als Türklopfer diente, mit der Hand berühren konnte, schwang die Pforte auf. Abt Ambrosius persönlich erschien auf der Schwelle.
»Mein lieber Engelbert, wie schön, Euch zu sehen. Ich hoffe, es geht Euch gut?«
Er lächelte honigsüß, und jeder, der den Abt nicht kannte, hätte ihm seine Freundlichkeit abgenommen. Er sah wie ein zuvorkommender Gastwirt aus, ganz von dem Willen beseelt, seinem Kunden den Aufenthalt zu versüßen.
Engelbert neigte leicht den Kopf. »Ganz meinerseits, verehrter Abt. Und gut wird es mir gehen, wenn wir unser Geschäft zum Abschluss gebracht haben.«
Engelbert folgte Ambrosius in dessen Schreibstube. Inzwischen kannte er dort jedes Bodenbrett und jede Einzelheit der kunstvollen Wandteppiche, die den Kreuzweg Jesu Christi zeigten. Aber heute hatte er keine Muße, sich in die Bilder zu vertiefen. Er zog einen Beutel unter dem Umhang hervor, prall gefüllt mit Silbermünzen, und knallte ihn auf das Schreibpult des Abtes.
»Was sagt Ihr dazu, Bruder Ambrosius?«, fragte er mit einem dünnen Lächeln. »Ein wahrhaft fürstliches Schmerzensgeld für den Verlust zweier winziger Knöchelchen, meint Ihr nicht auch?«
Ambrosius verzog keine Miene. »Ihr führt mich in Versuchung, in der Tat, Bruder Engelbert.«
Engelbert drohte der Geduldsfaden zu reißen. Wenn dieser selbstgefällige Abt nicht hören wollte, dann würde er fühlen müssen. »Ihr wisst, von welch tiefer Frömmigkeit unser König ist«, erwiderte er mühsam beherrscht.
»Alle Welt weiß das.« Abt Ambrosius lächelte spitz. »Es heißt, so manch einer schließe seine Reliquien in die schwersten Truhen ein und werfe anschließend den Schlüssel in den Brunnen, und dennoch seien sie vor der Sammelwut unseres hochverehrten Königs Karl nicht sicher.«
»Dummes Gewäsch.« Engelbert winkte ab. Gott sei Dank hatte der Abt nicht herausgefunden, warum Karl diese Reliquie unbedingt in seinen Besitz bringen wollte: Die Finger des heiligen Franziskus sollten im Fundament der Kapelle der Burg Karlstein ihre letzte Ruhestätte finden und Karl stets daran erinnern, dass er in Demut und Gehorsam leben wollte, dass er verzichten wollte auf Hurerei und Verschwendungssucht. »Bisher ist noch jeder angemessen entlohnt worden - wenn er eingesehen hat, dass die Belange des Königs wichtiger sind als die kleinlichen Bedürfnisse seiner Untertanen. Karl ist ein großmütiger König, aber wie jeder gute Vater weiß er auch, dass er manchmal Strenge walten lassen muss, um sein Volk auf dem rechten Weg zu halten. Falls ihm Zweifel an Eurer bedingungslosen Treue kommen sollten . . .«
Engelbert holte Luft und musterte sein Gegenüber. Doch er nahm keine Regung wahr. Also musste er mehr Druck machen.
»Wie Ihr wisst, hat der König in seiner Großmut bisher darüber hinweggesehen, dass der Rat der Aufständischen in Euren Mauern getagt hat.« Engelbert hob einen Zeigefinger, um jeglichen Einwand des Abtes zu unterbinden. »Und Ihr möchtet doch sicherlich nicht, dass Karl seinen väterlichen Freund Papst Clemens VI. wegen Eurer zweifelhaften Gesinnung um Rat bittet, oder?«
Engelbert ließ die Drohung wirken.
Ambrosius war blass geworden. »Aber auch die Klöster brauchen den Beistand der Heiligen«, sagte er in weinerlichem Ton.
Engelbert fiel nicht auf sein Possenspiel herein. »Und die Einkünfte durch Pilger, ich weiß. Das haben wir doch schon ein Dutzend Mal durchgekaut. Entscheidet Euch. Jetzt!«
Einen Moment schwiegen beide, blickten stumm herab auf den Gegenstand der Verhandlungen, der zwischen ihnen auf dem Tisch stand: eine kleine Schatulle, unter deren fest verschlossenem Deckel die zwei Fingerknochen des heiligen Franziskus verborgen waren.
Der Abt schluckte. »Eben. Diese Einkünfte würden uns fehlen. Wie sollen wir da gottgefällig unsere Pflichten erfüllen? « Er legte die Hände zusammen, knetete sie und begann zu plappern wie ein Händler auf dem Markt. »In aller Bescheidenheit, was haltet ihr davon: Bei Sontheim, einem Ort südlich von Nürnberg, gibt es ein unwichtiges Gut mit mäßig ertragreichen Ländereien, das der König dem Bischof von Würzburg als Lehen gegeben hat.«
Engelbert kannte das Gut. Die Erträge waren nicht mäßig, sondern ausgezeichnet. Niemals würde es der König sich mit dem Bischof von Würzburg verderben, um diesem Gierschlund von Ambrosius das Maul zu stopfen. Genug war genug. Neben dem Beutel mit Silbermünzen hatte der Abt ihm schon ein Stück Land vor den Toren der Stadt abgeschwatzt. Ambrosius hatte den Bogen überspannt.
Engelbert griff nach dem Beutel. »Ich fürchte, wir kommen nicht ins Geschäft, Abt. Wirklich bedauerlich. Ich werde dem König ausrichten, dass Ihr ihm nicht gehorchen, ja dass ich annehmen muss, dass Ihr Euch sogar gegen ihn auflehnen wollt. Die Gästekammern im Verlies der Prager Burg sollen recht ungemütlich sein, man muss sie teilen mit ausgehungerten Ratten, und die Bediensteten dort unten spielen gerne mit glühenden Zangen.« Engelbert drehte sich zur Tür und ging los.
Ambrosius hob die Hände. »Aber, aber!«, rief er. »Wartet. Handelt nicht übereilt! Was für ein bedauerliches Missverständnis! Wie könnte ich mich den Wünschen meines Königs entgegenstellen? Ihr sollt die Reliquie haben. Zum vereinbarten Preis. Selbstverständlich.«
Engelbert verzog die Lippen zu einem abfälligen Grinsen und wandte sich wieder dem Abt zu. »Öffnet die Schatulle.«
Ambrosius zögerte einen Wimpernschlag, verdammt, was führte er im Schilde?
Schließlich schob der Abt den Deckel zur Seite. Auf blauem Samt lagen zwei kleine Knochen. Engelbert wusste inzwischen genug über menschliche Anatomie, um beurteilen zu können, dass es sich tatsächlich um zwei Fingerknochen handelte und nicht um Schweinezehen. Aber waren es auch wirklich Fingerknochen des heiligen Franziskus? Seine Gebeine waren sehr begehrt, man munkelte, es gebe inzwischen so viele Knochen des Heiligen, dass man fünf Gräber mit ihnen füllen könnte.
Engelbert hob den Blick. »Wo ist das Fingerreliquiar?«
Ambrosius wiegte seinen massigen Schädel. »Es ist leider zerbrochen und daher nicht mehr geeignet . . .«
»Ja, ja, schon gut. Die Cedula?«
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Bibliographische Angaben
- Autor: Sabine Martin
- 2014, 1. Aufl., 509 Seiten, Maße: 12,5 x 18,6 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Verlag: Bastei Lübbe
- ISBN-10: 3404168968
- ISBN-13: 9783404168965
- Erscheinungsdatum: 13.03.2014
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