Die Schicksalsleserin
Verflucht ist, wer sein Schicksal kennt
Wien 1529: Der Sturm des osmanischen Heeres fegt auf die Stadt zu. Die junge Madelin wird bei der Flucht von ihrer ungleichen Schwester getrennt. Madelin ist mutig, voller Leben und voller Liebe. Doch sie...
Wien 1529: Der Sturm des osmanischen Heeres fegt auf die Stadt zu. Die junge Madelin wird bei der Flucht von ihrer ungleichen Schwester getrennt. Madelin ist mutig, voller Leben und voller Liebe. Doch sie...
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Produktinformationen zu „Die Schicksalsleserin “
Verflucht ist, wer sein Schicksal kennt
Wien 1529: Der Sturm des osmanischen Heeres fegt auf die Stadt zu. Die junge Madelin wird bei der Flucht von ihrer ungleichen Schwester getrennt. Madelin ist mutig, voller Leben und voller Liebe. Doch sie gerät zwischen die Fronten des Kampfes um das letzte Bollwerk der Christenheit. Die Schicksalsleserin ahnt nicht, dass sie selbst den Schlüssel zum Wohl oder Wehe der Stadt in der Hand hält: ein geheimnisvolles Tarotspiel.
Wien 1529: Der Sturm des osmanischen Heeres fegt auf die Stadt zu. Die junge Madelin wird bei der Flucht von ihrer ungleichen Schwester getrennt. Madelin ist mutig, voller Leben und voller Liebe. Doch sie gerät zwischen die Fronten des Kampfes um das letzte Bollwerk der Christenheit. Die Schicksalsleserin ahnt nicht, dass sie selbst den Schlüssel zum Wohl oder Wehe der Stadt in der Hand hält: ein geheimnisvolles Tarotspiel.
Klappentext zu „Die Schicksalsleserin “
Wien 1529: Der Sturm des osmanischen Heeres fegt auf die Stadt zu. Die junge Madelin wird bei der Flucht von ihrer ungleichen Schwester getrennt. Madelin ist mutig, voller Leben und voller Liebe. Doch sie gerät zwischen die Fronten des Kampfes um das letzte Bollwerk der Christenheit. Die Schicksalsleserin ahnt nicht, dass sie selbst den Schlüssel zum Wohl oder Wehe der Stadt in der Hand hält: ein geheimnisvolles Tarotspiel.
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Die Schicksalsleserin von Lena FalkenhagenProlog
Das Primglöcklein am Stephansdom der Stadt Wien schlug mit hellem Klang eine Viertelstunde an.Ahnungslose Stille hing zwischen den Fachwerkhäusern der nächtlichen Gassen, das Straßenpflaster des Stubenviertels glänzte noch vom spät- sommerlichen Regen. Dunkelheit hatte ihre kühlen Finger nach den Häusern ausgestreckt und liebkoste die Gemäuer; jeder unbescholtene Bürger hatte die Türen und Fensterläden längst hinter sich verriegelt, das Feuer im Herd herunterbrennen lassen und die Kerzen zur Nacht verlöscht.
Als sich in einer Toreinfahrt eine Gestalt bewegte, waren ihre Umrisse kaum wahrnehmbar. Das sachte Schwingen des langen grauen Umhangs hätte einem Beobachter erst bei genauerem Hinschauen offenbart, dass dort jemand stand. Doch um diese mitternächtliche Stunde lag die Bäckerstraße bei der Nova Structura, dem hoch aufragenden neuen Gebäude der Universität Wien, verwaist da.
Der Mann im langen Umhang blickte sich noch einmal absichernd nach rechts und links um, bevor er sich aus der Toreinfahrt löste. Er kreuzte gemessenen Schrittes die Straße und tauchte in den Schatten des gegenüberliegenden Hauses ab, dessen steinkühle Mauern ihn stumm in Empfang nahmen. Dann schob er die Tür zu dem Gebäude auf und schlüpfte hinein.
Nur das Mondlicht, das in blassem Farbspiel durch die Glasfenster fiel, erhellte zaghaft das Innere des Gebäudes. Einige atemlose Herzschläge verharrte die Gestalt, lauschend, ob sich irgendwo etwas regte. Dann eilte der Mann die Treppe hinauf, in Richtung Bibliothek. Das Schaben der Stiefel auf dem Steinboden und das leise Stöhnen der Treppenstufen durchbrachen die Stille in den schummerigen Gängen kaum.
... mehr
Bei einer zweifl ügeligen holzgeschnitzten Tür hielt er erneut inne. Das Mondlicht fiel durch ein gläsernes Mosaik mit der heiligen Katharina und tauchte den Gang in warme Braun- und Rottöne. Er drückte eine verzierte Klinke hinunter und zog daran, doch die Tür gab nicht nach. Stoff raschelte, Metall schlug an Metall. Einen kurzen Moment verharrte der Mann und lauschte, ob jemand auf das Geräusch aufmerksam geworden war.Als die Stille anhielt, entließ er leise pfeifend den angehaltenen Atem. Er schob erst einen, dann einen zweiten und einen dritten Diebschlüssel in das große Schloss der Bibliothekstür. Schließlich wählte er einen vierten, der passte. Das lange Eiseninstrument glitt in das Schlüsselloch, er bewegte es hin und her, bis es die Schlossfalle fand und sie aus ihrer Verschlusslage drückte. Der Mechanismus knackte laut und sandte ein Echo durch den Treppenflur.Wieder verharrte der Eindringling für einige Augenblicke. Die beiden metallischen Köpfe, die spiegelbildlich auf dem Türschloss angebracht waren, schienen ihn im Mondlicht vorwurfsvoll anzustarren. Als immer noch alles still blieb, schob er die Tür mit quietschenden Angeln leise auf. Er warf einen letzten Blick in den leeren Flur, bevor er in die Kammer glitt.
An der Wand hing ein großer Bogen Karton, auf dem sich eine Übersicht der Bücher befand. Die Fenster des Raumes waren vergittert, die Tür von innen mit Eisenriemen verstärkt. Die festen Lederrücken wirkten teils frisch gegerbt, teils alt und brüchig. Ihr Äußeres täuschte über ihren Wert hinweg - manche waren an Pulte gekettet, damit man sie nicht entwenden konnte. Die winzigen Fenster in der Bibliothek ließen spärliches Licht hereinfallen, doch es reichte offenbar, um der Gestalt den Weg zu weisen: Ohne sich weiter um Vorsicht zu bemühen, ging der Mann zielstrebig zu einem Regal hinüber. Der Schall der Schritte auf dem Holzboden wurde von den ledergebundenen Büchern weitgehend gedämpft. Bald griff er sich einen bestimmten Band heraus, trug ihn vorsichtig zu einem der vom Mond erhellten Pulte am Fenster, legte ihn darauf ab und studierte die Signatur. Er nickte zufrieden und schlug es auf.
Auf den Seiten waren Dreiecke, Kreise, Rechtecke abgebildet; manche durchschnitten von Linien, andere mit kleinen Zahlen versehen. Die behandschuhte Hand blätterte grob durch die Seiten, bis ein gefalteter Bogen herausrutschte. Eilig griff er danach und schlug ihn auf. Zum Vorschein kam eine einfache Karte, die Wien zeigte, mehr einem Gemälde ähnlich denn einem Plan. Der Mauerkranz wirkte wie ein Ei, zwei Flüsse schlängelten sich mit engen Schwüngen über das Papier. Die Ränder waren von oben bis unten angefüllt mit langen Kolumnen aus Zeichen und Kritzeleien. Winzige, aber dennoch detailgetreue Zeichnungen von Gebäuden mit Türmchen, Erkern und Gauben dienten als Orientierungspunkte, manche mit geschwungener Schrift gekennzeichnet. Ste Stephan stand da. Newer Markt an anderer Stelle. Daneben fanden sich winzige, eng geschriebene Zahlenkolonnen mit weiteren Bezeichnungen. Kerner Tor zu Laslas Turme war an einer Stelle geschrieben. Darauf folgte ein Eintrag von 2394 Fuß. Laslasturme bis hinüber zum Purghtor war ein weiterer Eintrag.
Das einsame Bellen eines Hundes auf der Straße schreckte die Gestalt aus ihrem Studium der Karte auf. Schnell faltete der Eindringling den Bogen wieder zusammen und ließ ihn unter dem grauen bodenlangen Umhang verschwinden. Er klappte das Buch zu, und kaum hatte er es wieder an seinen Platz zurückgestellt, erklangen im Treppenhaus Schritte.
Der Mann huschte zur Tür, als sich auch schon der Hall besohlter Stiefel auf der Treppe näherte. Ein Nachtwächter? Kam er mit oder ohne Hund? Die Klinke einer nahen Tür wurde gedrückt, daran gerüttelt - sie war offenbar verschlossen. Die Gestalt huschte in den toten Winkel hinter der Bibliothekstür, als deren Klinke sich auch schon bewegte. Leise knarrend öffnete sich die Tür einen schmalen Spalt breit und ließ einen Kegel flackernden Lichtes hereinfallen. Jemand schnaufte erstaunt. »Die ist ja offen.«
Der Spalt vergrößerte sich, dann wurde die Tür zur Bibliothek weit geöffnet. Der Fremde im grauen Umhang dahinter erstarrte, als er einen bärtigen Mann eintreten sah. Der große Raum wurde von seiner angehobenen Laterne nur unzureichend erhellt. Ein Hund war nicht dabei, zweifellos hätte er den Verborgenen sofort im Dunkeln entdeckt. »Verdammte Studenten«, murmelte der Bärtige und schnüffelte, als ginge er einem merkwürdigen Geruch nach. Dann machte er ein paar weitere Schritte in den Raum hinein und leuchtete eine Nische zwischen zwei Regalen aus, verharrte einen Moment und lauschte. Die Gestalt hinter der Tür hielt die Luft an.
Der Nachtwächter neigte den Kopf, als könne er die Schatten der Bibliothek flüstern hören. Dann nickte er. »Kein Verlass auf diese Gesellen.Wissen nicht mal, wie man einen Schlüssel bedient!« Er wandte sich um und ging wieder hinaus. Die Tür fiel ins Schloss, dann klapperte der Schlüssel. Die Schritte entfernten sich.
Der Mann im grauen Umhang löste sich aus der Ecke und trat ans Fenster. Dort stand er lauschend, bis die Nova Structura und die Bäckerstraße wieder still dalagen. Dann öffnete er geschickt die Bibliothekstür mit dem Diebschlüssel, huschte hinaus in den Gang und verschloss sie hinter sich wieder auf dieselbe Weise. Mit schnellen Schritten eilte der Eindringling die Treppe hinunter und verharrte an der Eingangstüre. Als auch draußen nichts zu hören war, tastete er nach der Karte unter dem Umhang, wie um sicherzustellen, dass sie auch gut verwahrt war. Dann zog er die Tür auf und huschte hinaus auf die Straße. Nur wenige Augenblicke später hatte ihn die Dunkelheit verschluckt.
Endlich kam die Bäckerstraße Wiens in der Nacht des zwölften September 1529 wieder zur Ruhe. Es sollte eine der letzten Nächte dieses Jahres sein, die nicht von Krieg und Unruhen heimgesucht waren.
Kapitel 1
Rollender Donner weckte Madelin inmitten der Nacht. Dunkelheit herrschte in der Scheune, die nur ab und an von einem flackernden Blitz erhellt wurde.Am Eingang brannte ein niedriges Feuer.
Die junge Frau blinzelte sich den Schlaf aus den Augen und begann ein vertrautes morgendliches Ritual: Sie versuchte sich zu erinnern, wo sie gestern Abend ihr Haupt zur Ruhe gebettet hatte. Pressburg? Schwechat? Nein, all diese Orte hatte die Reisegruppe bereits in hastiger Fahrt hinter sich gebracht. Jetzt wusste sie es wieder, sie lag in der Scheune eines Weinbauern, eine Tagesreise von Wien entfernt.
Als Madelin ein gequältes Stöhnen von der anderen Seite der Scheune vernahm, war sie sofort hellwach. Es war wieder so weit: Franziskus, ihr lieber Freund und Weggefährte, rang einmal mehr mit sich selbst. Ein heller Blitz durchzuckte die Finsternis und beleuchtete ein dämonisches Bild: Franziskus' dürrer Leib bäumte sich in verrenkter, unmenschlicher Pose unter seiner Wolldecke auf, sein Gesicht war zu einem teuflischen Grinsen verzerrt, die Augen lagen im Schatten ihrer Höhlen. Eine neue Welle von Krämpfen durchfuhr den schmalen Mann, und er schlug mit den Armen um sich, als gälte es, einen unsichtbaren Feind zu vertreiben.
Daneben stand der Glatzkopf Miro, der breitschultrige Akrobat. »Ich ... ich weiß nicht, wie ich ihn anfassen soll ...«, stammelte er.
Madelin sprang auf, rüttelte Scheck, den Spielmann, der neben ihr lag, an der Schulter und lief zu ihnen hinüber. In Franziskus' Gepäck fand sie den festen Lederriemen, der bereits Bissspuren trug, und eilte damit an die Seite des zuckenden Gefährten. Sie räumte erst hastig sämtliche harten Gegenstände und Steine neben dem Lager aus dem Weg, an denen er sich hätte verletzen können. Dann kniete Madelin neben ihm nieder.
Franziskus' Körper bäumte sich auf, Schaum trat ihm vor den Mund und die Zähne knirschten furchterregend. Sein Gesicht wirkte noch immer wie eine hohnlachende Fratze, deren Anblick Madelin Schauer den Rücken hinabsandte. Als ein neuer Krampf seinen Körper durchfuhr, schlug sein Arm unvermittelt aus und traf die überraschte Frau an der Lippe. Ein kurzer Schreckensschrei entfuhr ihr, dann kam der Schmerz.
Madelin presste die kühlen Finger auf die Wunde. »Miro«, bat sie, »du musst ihn festhalten.«
Der Akrobat zögerte. »Kann nicht Scheck ...?«, fragte er und deutete zu dem Spielmann hinüber, der nur langsam wach wurde.
»Nein, Scheck kann nicht. Halt ihn an den Schultern fest!« Der breitschultrige Mann hockte sich hinter Franziskus. Er versuchte seinen Kopf zu greifen, zog die Hände jedoch bei jeder Regung des dürren Mannes fort. »Wie der Deibel«, stieß Miro hervor, sprang auf und machte ein paar Schritte zurück. Er war bleich im Gesicht.
»Scheck!«, rief Madelin. Die Dringlichkeit in ihrer Stimme ließ den Spielmann schließlich hochfahren. Es dauerte nur ein paar Herzschläge, bis er an ihrer Seite stand.
»Verdammt. Schon wieder?« Scheck nahm ohne zu zögern den Platz ein, den Miro gerade geräumt hatte, wartete auf einen günstigen Moment und griff beherzt nach den Schultern des Tobenden. Dann drückte er ihn mit ganzer Kraft auf den Boden.
Jetzt erst wagte Madelin, sich dem Kopf des Freundes zu nähern. Obwohl Franziskus ihr sonst niemals ein Haar krümmen würde, musste sie jetzt achtgeben. In diesem Zustand war er nicht er selbst. Als sich die beiden Zahnreihen zu einem erstickten Schrei öffneten, schob sie ihm mit flinken Fingern den Lederriemen dazwischen.
»Achtung!«, rief Scheck, als Franziskus sich kräftig in seinem Griff wand. Madelin fuhr zurück, als sich die Zähne über dem Riemen schlossen. Dann ließ Scheck ihn toben. »Geschafft ...«
Wie üblich kam nach der Aufregung die Sorge. Madelin stand auf, wischte sich fahrig die Hände am roten Rock ab und atmete ein paarmal tief durch.
»Das ist das dritte Mal diese Woche«, sagte der Spielmann und legte ihr den Arm um die Schultern, um sie zu beruhigen.
»Ja«, sagte Madelin. »Wenn man nur wüsste, was ihn so plagt.«
»Morgen sind wir in Wien, kleine Taube. Dort gibt es nicht nur hinterwäldlerische Priester, die von Schwefel und Verdammnis daherschwätzen. Dort lehren sie auch Medizin an der Universität! Irgendjemand wird uns sagen können, was mit ihm los ist. Und wie man seine Anfälle heilen kann.«
»Hab noch nie einen Arzt gesehen, der jemanden gesund gemacht hat«, brummte Miro hinter ihnen. »Schon gar niemanden, der den Deibel im Leibe hat.«
»Das weißt' nicht«, murmelte die junge Frau.
Ihre Gedanken wanderten zum Ziel ihrer Reise.Wien. Madelin hatte ihrer Heimatstadt vor Jahren den Rücken gekehrt. Damals hatte sie sich geschworen, nie wieder in die alten Mauern zurückzukehren. Sechs Jahre lang war sie diesem Eid treu geblieben, und es war ihr nicht schwergefallen. Morgen würde sie ihn brechen und das, obwohl sie allein die Vorstellung hasste, wieder einen Fuß in die Gassen zwischen Stubentor und Schottenkloster, zwischen Kärntner Turm und Salztor setzen zu müssen.
Madelin seufzte. Sie mochte sich sträuben, so viel sie wollte, doch sie hatte keine Wahl. Die kleine Gemeinschaft hatte an diesem zweiundzwanzigsten September des Jahres 1529 von Pressburg her etliche beschwerliche Meilen hinter sich gebracht, um die Großstadt an der Donau zu erreichen. Sie hatten sich für diesen Weg um Franziskus' willen entschieden. Jetzt hing ihrer aller Leben davon ab, dass sie die Mauern Wiens bald erreichten, denn die Osmanen stießen nach Norden vor. An der Seite des gefürchteten Kriegervolkes ritten Tod und Verderben.
Madelin fühlte Schecks sorgenvollen Blick auf sich ruhen. »Bist du denn sicher, dass du dorthin mitgehen willst?«, fragte er.
»Wir haben uns alle dafür entschieden, nicht nach Prag und damit weg von den Osmanen zu ziehen«, erwiderte sie. »Wien hat dicke Steinmauern. Dort werden wir in Sicherheit sein.«
»Trifft das auch auf dich zu?«, fragte Scheck sanft. »Wirst auch du in Sicherheit sein?«
»Was soll ich denn sonst tun? Vor den Mauern warten, bis die Osmanen kommen? Oder alleine nach Prag weiterziehen?«
Scheck zuckte mit den Schultern und wies auf ihre dunklen Haarsträhnen. »Ich meine ja nur. Was, wenn den Leuten in Wien auffällt, dass du Ähnlichkeit mit einer Osmanin hast?«
»Die Leute haben mich schon immer schief angeschaut, weil ich anders aussehe, Scheck«, sagte Madelin. Sie strich sich die dunkle Haarsträhne hinters Ohr und senkte den Blick.
»Sicher. Aber das war in Friedenszeiten«, sagte der Spielmann. »In Kriegszeiten mögen sie dich für eine Spionin halten. Und was mit Spionen geschieht, ist weithin bekannt.«
»Sie werden aufgeknüpft«, sagte sie leise. Scheck nickte nur.
Madelin fühlte einen Knoten im Hals. Doch die Zeit der Entscheidungen war verstrichen. Sie war diejenige, die sich in der Stadt auskannte. Wenn sie herausfinden wollte, welcher Dämon den Freund heimsuchte, dann musste sie den Gang nach Wien riskieren. Osmanen hin oder her.
»Legen wir uns schlafen«, sagte sie mit fester Stimme. »Wir haben morgen noch eine anstrengende Fahrt vor uns.«
In der Früh saß Madelin vor der Scheune auf einem Baumstamm und flocht sich das lange dunkelbraune Haar. Sie hatte wieder in die feuchten Kleider schlüpfen müssen, die über Nacht nur teilweise getrocknet waren. Heute war der Regen endlich versiegt, der die Straßen des spätsommerlichen Wiener Beckens in Schlammgruben verwandelt hatte.Als die junge Frau die frische Luft durch die Nase einsog, roch es bereits nach Herbst, obwohl die Bäume noch nicht ihr Farbenkleid gewechselt hatten. In Gras und Büschen herrschte rege Betriebsamkeit - offenbar spürten auch die Tiere, dass der Winter früh käme dieses Jahr.
Wie alle Menschen, die dieser Tage auf der Straße waren, flohen die fünf Gefährten vor den Osmanen nach Westen. Zwar eilte dem Heer sein Ruf schon seit Monaten voraus - Ende Juli sollte Sultan Süleyman der Prächtige mit seiner Armee in Belgrad angekommen sein, hatte man erzählt. Doch damals hatten nur wenige im nördlichen Ungarn dieser Nachricht Glauben geschenkt. Das Heer musste nordwärts gezogen sein und hatte Mitte September Buda erreicht. Die Berichte der wenigen Überlebenden hatten auch die letzten Zweifl er bekehrt.
Die Menschen in Buda - oder Ofen, wie man es in der Fremde nannte - hatten dem feindlichen Heer nichts entgegenzusetzen gehabt.Also hatten sie die Stadt auf das Wort des Sultans Süleyman hin übergeben, dass sämtliche Einwohner verschont werden sollten. Die Tore hatten kaum offen gestanden, da waren die Osmanen schon wie ein Rudel hungriger Wölfe eingefallen. Die Grausamkeiten an der Stadtbevölkerung, von denen die Flüchtigen berichteten, hatten die Menschen des ganzen Umlandes in Scharen gen Norden und Westen fliehen lassen. Ungarn lag nun vollständig in der Hand der Türken. Und niemand zweifelte daran, dass sie bald vor dem Goldenen Apfel stehen würden - vor Wien.
Die junge Frau stand auf, rieb sich die kühlen Wangen und trat an den Eingang der Scheune. Von dort ließ sie den Blick über die darin versammelten Gaukler schweifen. Scheck, der lausbübische Lautenspieler, hielt trotz der frühen Stunde sein Instrument auf dem Schoß und ließ die Finger andächtig über die Saiten gleiten. Das offen stehende rote Wams über dem alten Hemd verlieh ihm die Verwegenheit eines Landsknechts, er hatte sein langes hellbraunes Haar zurückgebunden. Miro,Akrobat und Bärenführer, hockte verschlafen im Lederwams und mit einem gefüllten Becher in der Hand am Boden, sein zottiges Tier saß an einen Holzbalken angekettet nass und missmutig neben ihm. Erisbert, der Tinkturenverkäufer, trug ein robenartiges grünes Gewand und tat das, was er am besten konnte: Er schwätzte. Zuhörer war heute ein gewisser Wulf, der Knecht des Weinhauers und Bauern, dem die Scheune gehörte.
Zum Schluss hefteten sich Madelins Blicke besorgt auf das letzte Mitglied der kleinen Gemeinschaft. Franziskus, der dünne Ikonenmaler, schien momentan zu Scherzen aufgelegt, doch sein fröhlicher Ton konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass es ihm schlechtging. Er trug ein weites braunes Kaufmannsgewand mit Fellkragen, das seinen Körper noch magerer wirken ließ, und stützte sich auf seinem Lager ab, als sei er gerade von der Folterbank gestiegen. Einmal hatte Franziskus ihnen beschrieben, dass ihm nach einem Anfall tatsächlich sämtliche Gliedmaßen im Körper schmerzten, als hätte jemand überall, ohne eine Stelle auszulassen, Tausende kleiner Nadeln hineingestochen. Um seinetwillen war sie froh, dass sie Wien bald erreichen würden.
Morgen würde Madelin also heimkehren. Ihr Magen krampfte sich unweigerlich zusammen. Sie musste an die Halbschwester und die Mutter denken, die sie dort mit gutem Grund zurückgelassen hatte. Sie hatte keiner von beiden je wieder unter die Augen treten wollen. Doch zumindest mit ihrer Schwester Anna würde sie sprechen müssen; sie selbst besaß kein Geld, um einen studierten Mann für Franziskus' Untersuchung zu bezahlen.Anna, die genauso ein Bastardkind wie Madelin war, nur von einem anderen Vater, hatte den wohlhabenden Goldschmied Friedrich Ebenrieder geheiratet. Madelin hoffte insgeheim, ihre Schwester würde ihr einen kleinen Teil ihres Reichtums abgeben oder zumindest leihen, auch wenn sie als Fahrende nicht wusste, wie sie das Geld jemals zurückzahlen sollte. Ein kleines Teufelchen in ihrem Kopf fragte sie, warum sie Geld zurückzahlen sollte, das ihr sowieso zugestanden hätte. Doch Madelin verbot ihm den Mund und setzte sich zu Franziskus auf die Decke.
»Trink das, Madelin.« Der Freund reichte ihr einen dampfenden Becher aus Steingut. Als die junge Frau daran schnupperte, roch sie den vertrauten Duft von heißem Gewürzwein. Sie griff dankbar danach und genoss die Wärme des Gefäßes an ihren Fingern. Es gab kaum etwas Schlimmeres, als nach dem Schlaf in feuchtkalte Kleider steigen zu müssen, besonders an einem so kühlen Morgen wie diesem. Dabei war doch nicht mal der September vorbei! »Wer ist der edle Spender?«, fragte sie nach dem ersten Schluck.
»Wulf hat jedem von uns einen Becher gebracht«, erklärte Franziskus. »Wir haben sie aber auch bezahlt.«
»Bezahlt?« Madelins Stirn furchte sich. »Womit denn? Wir haben doch kaum ein paar Pfennige!«
»Mit ein paar Liedern von Scheck.«
»Ach so«, sagte Madelin. »Wie kommt es, dass Scheck denn so früh schon wach ist?«
»Ihn verlangte es so sehr wie uns nach etwas Warmem.«
Madelin nahm ein paar weitere Schlucke aus dem Becher und spürte dem Wein nach, dessen Säure angenehm auf ihrer Zunge brannte. Die Erschöpfung in Armen und Beinen und die wunden Füße schienen ihr mit leichtem Kopf gleich etwas erträglicher zu sein. »Kann ich verstehen«, erwiderte sie schließlich. Ein solches Getränk tat ihnen allen gut, und Franziskus brauchte alle Wärme, die er bekommen konnte. Sie musterte ihn. »Wie fühlst du dich?«
»Gut fühl ich mich, wie immer.«
Doch Madelin wusste, dass er log. Die Anstrengungen des Wetters und der Reise zehrten sichtlich an ihm. In Wien gab es eine Universität mit sowohl einer theologischen wie einer medizinischen Fakultät. Dort würde es jemanden geben, der herausfinden könnte, ob man dem Freund noch würde helfen können - und wenn ja, wie. Bis dahin musste sie mit der Ungewissheit leben, ob ihr Weggefährte, mit dem sie einen Karren teilte, wirklich einen Dämon in der Seele trug. Sie lächelte ihm tapfer zu.
Madelin horchte auf, als der Spielmann Scheck eines ihrer Lieblingslieder anstimmte. Sie ging hinüber, wo Wulf, der Knecht, an einem Balken lehnte und dem Lautenspiel lauschte. Die junge Frau hockte sich auf das Stroh am Boden und stellte ihren Becher ab. Dann knotete sie die Kordel auf, die die kleine Ledertasche an ihrem Gürtel zuband, und zog ein Leinentuch heraus, das ihren kostbarsten Besitz enthielt. Der kräftige Knecht des Weinhauers musterte sie misstrauisch. Sie versuchte, seine Blicke zu ignorieren, die sie an Schecks Worte erinnerten.War sie in Wien wirklich sicher?
Vorsichtig schlug Madelin das Leinen auf, das einen größeren Stoß Karten vor Staub und Regen schützte. Auf dickes Papier waren Drucke von Bildern mit Symbolen aufgezogen. Obenauf lag die Karte mit dem Narren, der mehr einem Faun denn einem Menschen glich. Sein struppiges blondes Haar war schmutzig und mit Federn geschmückt, die Kleidung sah zerschlissen und abgewetzt aus. Der Mann schritt zufrieden lächelnd dahin, in der Hand trug er einen Wanderstab. Madelin legte diese Karte immer obenauf, denn sie erinnerte sie an die Irrwege des Menschen.
»Wie schön sie sind!«, sagte Wulf und sah ihr über die Schulter. Seine Neugier hatte offenbar sein Misstrauen besiegt, denn er war zu ihr herübergekommen und hatte sich neben sie gehockt.
Madelin nickte. Er hatte Recht, die Farbenpracht der Bilder auf den Karten übertraf alles, was ein einfacher Mann wie Wulf in seinem Leben bislang gesehen haben dürfte. Leuchtende Rot- und Blautöne sprachen von der Kostbarkeit der Farben, schienen jedoch neben der hauchdünnen Blattgoldschicht, die auf jeder Karte angebracht war, beinahe zu verblassen. Manche Stellen waren abgerieben vom steten Gebrauch, doch insgesamt war Madelin stolz darauf, wie gut die Karten nach all den Jahren der Wanderschaft noch erhalten waren. Sie reinigte sie vorsichtig mit dem Leinentuch und sorgte immer dafür, dass sie trocken und sauber lagerten. Und sie gab sie niemals aus der Hand.
Copyright © 2010 by Wilhelm Heyne Verlag, München in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Bei einer zweifl ügeligen holzgeschnitzten Tür hielt er erneut inne. Das Mondlicht fiel durch ein gläsernes Mosaik mit der heiligen Katharina und tauchte den Gang in warme Braun- und Rottöne. Er drückte eine verzierte Klinke hinunter und zog daran, doch die Tür gab nicht nach. Stoff raschelte, Metall schlug an Metall. Einen kurzen Moment verharrte der Mann und lauschte, ob jemand auf das Geräusch aufmerksam geworden war.Als die Stille anhielt, entließ er leise pfeifend den angehaltenen Atem. Er schob erst einen, dann einen zweiten und einen dritten Diebschlüssel in das große Schloss der Bibliothekstür. Schließlich wählte er einen vierten, der passte. Das lange Eiseninstrument glitt in das Schlüsselloch, er bewegte es hin und her, bis es die Schlossfalle fand und sie aus ihrer Verschlusslage drückte. Der Mechanismus knackte laut und sandte ein Echo durch den Treppenflur.Wieder verharrte der Eindringling für einige Augenblicke. Die beiden metallischen Köpfe, die spiegelbildlich auf dem Türschloss angebracht waren, schienen ihn im Mondlicht vorwurfsvoll anzustarren. Als immer noch alles still blieb, schob er die Tür mit quietschenden Angeln leise auf. Er warf einen letzten Blick in den leeren Flur, bevor er in die Kammer glitt.
An der Wand hing ein großer Bogen Karton, auf dem sich eine Übersicht der Bücher befand. Die Fenster des Raumes waren vergittert, die Tür von innen mit Eisenriemen verstärkt. Die festen Lederrücken wirkten teils frisch gegerbt, teils alt und brüchig. Ihr Äußeres täuschte über ihren Wert hinweg - manche waren an Pulte gekettet, damit man sie nicht entwenden konnte. Die winzigen Fenster in der Bibliothek ließen spärliches Licht hereinfallen, doch es reichte offenbar, um der Gestalt den Weg zu weisen: Ohne sich weiter um Vorsicht zu bemühen, ging der Mann zielstrebig zu einem Regal hinüber. Der Schall der Schritte auf dem Holzboden wurde von den ledergebundenen Büchern weitgehend gedämpft. Bald griff er sich einen bestimmten Band heraus, trug ihn vorsichtig zu einem der vom Mond erhellten Pulte am Fenster, legte ihn darauf ab und studierte die Signatur. Er nickte zufrieden und schlug es auf.
Auf den Seiten waren Dreiecke, Kreise, Rechtecke abgebildet; manche durchschnitten von Linien, andere mit kleinen Zahlen versehen. Die behandschuhte Hand blätterte grob durch die Seiten, bis ein gefalteter Bogen herausrutschte. Eilig griff er danach und schlug ihn auf. Zum Vorschein kam eine einfache Karte, die Wien zeigte, mehr einem Gemälde ähnlich denn einem Plan. Der Mauerkranz wirkte wie ein Ei, zwei Flüsse schlängelten sich mit engen Schwüngen über das Papier. Die Ränder waren von oben bis unten angefüllt mit langen Kolumnen aus Zeichen und Kritzeleien. Winzige, aber dennoch detailgetreue Zeichnungen von Gebäuden mit Türmchen, Erkern und Gauben dienten als Orientierungspunkte, manche mit geschwungener Schrift gekennzeichnet. Ste Stephan stand da. Newer Markt an anderer Stelle. Daneben fanden sich winzige, eng geschriebene Zahlenkolonnen mit weiteren Bezeichnungen. Kerner Tor zu Laslas Turme war an einer Stelle geschrieben. Darauf folgte ein Eintrag von 2394 Fuß. Laslasturme bis hinüber zum Purghtor war ein weiterer Eintrag.
Das einsame Bellen eines Hundes auf der Straße schreckte die Gestalt aus ihrem Studium der Karte auf. Schnell faltete der Eindringling den Bogen wieder zusammen und ließ ihn unter dem grauen bodenlangen Umhang verschwinden. Er klappte das Buch zu, und kaum hatte er es wieder an seinen Platz zurückgestellt, erklangen im Treppenhaus Schritte.
Der Mann huschte zur Tür, als sich auch schon der Hall besohlter Stiefel auf der Treppe näherte. Ein Nachtwächter? Kam er mit oder ohne Hund? Die Klinke einer nahen Tür wurde gedrückt, daran gerüttelt - sie war offenbar verschlossen. Die Gestalt huschte in den toten Winkel hinter der Bibliothekstür, als deren Klinke sich auch schon bewegte. Leise knarrend öffnete sich die Tür einen schmalen Spalt breit und ließ einen Kegel flackernden Lichtes hereinfallen. Jemand schnaufte erstaunt. »Die ist ja offen.«
Der Spalt vergrößerte sich, dann wurde die Tür zur Bibliothek weit geöffnet. Der Fremde im grauen Umhang dahinter erstarrte, als er einen bärtigen Mann eintreten sah. Der große Raum wurde von seiner angehobenen Laterne nur unzureichend erhellt. Ein Hund war nicht dabei, zweifellos hätte er den Verborgenen sofort im Dunkeln entdeckt. »Verdammte Studenten«, murmelte der Bärtige und schnüffelte, als ginge er einem merkwürdigen Geruch nach. Dann machte er ein paar weitere Schritte in den Raum hinein und leuchtete eine Nische zwischen zwei Regalen aus, verharrte einen Moment und lauschte. Die Gestalt hinter der Tür hielt die Luft an.
Der Nachtwächter neigte den Kopf, als könne er die Schatten der Bibliothek flüstern hören. Dann nickte er. »Kein Verlass auf diese Gesellen.Wissen nicht mal, wie man einen Schlüssel bedient!« Er wandte sich um und ging wieder hinaus. Die Tür fiel ins Schloss, dann klapperte der Schlüssel. Die Schritte entfernten sich.
Der Mann im grauen Umhang löste sich aus der Ecke und trat ans Fenster. Dort stand er lauschend, bis die Nova Structura und die Bäckerstraße wieder still dalagen. Dann öffnete er geschickt die Bibliothekstür mit dem Diebschlüssel, huschte hinaus in den Gang und verschloss sie hinter sich wieder auf dieselbe Weise. Mit schnellen Schritten eilte der Eindringling die Treppe hinunter und verharrte an der Eingangstüre. Als auch draußen nichts zu hören war, tastete er nach der Karte unter dem Umhang, wie um sicherzustellen, dass sie auch gut verwahrt war. Dann zog er die Tür auf und huschte hinaus auf die Straße. Nur wenige Augenblicke später hatte ihn die Dunkelheit verschluckt.
Endlich kam die Bäckerstraße Wiens in der Nacht des zwölften September 1529 wieder zur Ruhe. Es sollte eine der letzten Nächte dieses Jahres sein, die nicht von Krieg und Unruhen heimgesucht waren.
Kapitel 1
Rollender Donner weckte Madelin inmitten der Nacht. Dunkelheit herrschte in der Scheune, die nur ab und an von einem flackernden Blitz erhellt wurde.Am Eingang brannte ein niedriges Feuer.
Die junge Frau blinzelte sich den Schlaf aus den Augen und begann ein vertrautes morgendliches Ritual: Sie versuchte sich zu erinnern, wo sie gestern Abend ihr Haupt zur Ruhe gebettet hatte. Pressburg? Schwechat? Nein, all diese Orte hatte die Reisegruppe bereits in hastiger Fahrt hinter sich gebracht. Jetzt wusste sie es wieder, sie lag in der Scheune eines Weinbauern, eine Tagesreise von Wien entfernt.
Als Madelin ein gequältes Stöhnen von der anderen Seite der Scheune vernahm, war sie sofort hellwach. Es war wieder so weit: Franziskus, ihr lieber Freund und Weggefährte, rang einmal mehr mit sich selbst. Ein heller Blitz durchzuckte die Finsternis und beleuchtete ein dämonisches Bild: Franziskus' dürrer Leib bäumte sich in verrenkter, unmenschlicher Pose unter seiner Wolldecke auf, sein Gesicht war zu einem teuflischen Grinsen verzerrt, die Augen lagen im Schatten ihrer Höhlen. Eine neue Welle von Krämpfen durchfuhr den schmalen Mann, und er schlug mit den Armen um sich, als gälte es, einen unsichtbaren Feind zu vertreiben.
Daneben stand der Glatzkopf Miro, der breitschultrige Akrobat. »Ich ... ich weiß nicht, wie ich ihn anfassen soll ...«, stammelte er.
Madelin sprang auf, rüttelte Scheck, den Spielmann, der neben ihr lag, an der Schulter und lief zu ihnen hinüber. In Franziskus' Gepäck fand sie den festen Lederriemen, der bereits Bissspuren trug, und eilte damit an die Seite des zuckenden Gefährten. Sie räumte erst hastig sämtliche harten Gegenstände und Steine neben dem Lager aus dem Weg, an denen er sich hätte verletzen können. Dann kniete Madelin neben ihm nieder.
Franziskus' Körper bäumte sich auf, Schaum trat ihm vor den Mund und die Zähne knirschten furchterregend. Sein Gesicht wirkte noch immer wie eine hohnlachende Fratze, deren Anblick Madelin Schauer den Rücken hinabsandte. Als ein neuer Krampf seinen Körper durchfuhr, schlug sein Arm unvermittelt aus und traf die überraschte Frau an der Lippe. Ein kurzer Schreckensschrei entfuhr ihr, dann kam der Schmerz.
Madelin presste die kühlen Finger auf die Wunde. »Miro«, bat sie, »du musst ihn festhalten.«
Der Akrobat zögerte. »Kann nicht Scheck ...?«, fragte er und deutete zu dem Spielmann hinüber, der nur langsam wach wurde.
»Nein, Scheck kann nicht. Halt ihn an den Schultern fest!« Der breitschultrige Mann hockte sich hinter Franziskus. Er versuchte seinen Kopf zu greifen, zog die Hände jedoch bei jeder Regung des dürren Mannes fort. »Wie der Deibel«, stieß Miro hervor, sprang auf und machte ein paar Schritte zurück. Er war bleich im Gesicht.
»Scheck!«, rief Madelin. Die Dringlichkeit in ihrer Stimme ließ den Spielmann schließlich hochfahren. Es dauerte nur ein paar Herzschläge, bis er an ihrer Seite stand.
»Verdammt. Schon wieder?« Scheck nahm ohne zu zögern den Platz ein, den Miro gerade geräumt hatte, wartete auf einen günstigen Moment und griff beherzt nach den Schultern des Tobenden. Dann drückte er ihn mit ganzer Kraft auf den Boden.
Jetzt erst wagte Madelin, sich dem Kopf des Freundes zu nähern. Obwohl Franziskus ihr sonst niemals ein Haar krümmen würde, musste sie jetzt achtgeben. In diesem Zustand war er nicht er selbst. Als sich die beiden Zahnreihen zu einem erstickten Schrei öffneten, schob sie ihm mit flinken Fingern den Lederriemen dazwischen.
»Achtung!«, rief Scheck, als Franziskus sich kräftig in seinem Griff wand. Madelin fuhr zurück, als sich die Zähne über dem Riemen schlossen. Dann ließ Scheck ihn toben. »Geschafft ...«
Wie üblich kam nach der Aufregung die Sorge. Madelin stand auf, wischte sich fahrig die Hände am roten Rock ab und atmete ein paarmal tief durch.
»Das ist das dritte Mal diese Woche«, sagte der Spielmann und legte ihr den Arm um die Schultern, um sie zu beruhigen.
»Ja«, sagte Madelin. »Wenn man nur wüsste, was ihn so plagt.«
»Morgen sind wir in Wien, kleine Taube. Dort gibt es nicht nur hinterwäldlerische Priester, die von Schwefel und Verdammnis daherschwätzen. Dort lehren sie auch Medizin an der Universität! Irgendjemand wird uns sagen können, was mit ihm los ist. Und wie man seine Anfälle heilen kann.«
»Hab noch nie einen Arzt gesehen, der jemanden gesund gemacht hat«, brummte Miro hinter ihnen. »Schon gar niemanden, der den Deibel im Leibe hat.«
»Das weißt' nicht«, murmelte die junge Frau.
Ihre Gedanken wanderten zum Ziel ihrer Reise.Wien. Madelin hatte ihrer Heimatstadt vor Jahren den Rücken gekehrt. Damals hatte sie sich geschworen, nie wieder in die alten Mauern zurückzukehren. Sechs Jahre lang war sie diesem Eid treu geblieben, und es war ihr nicht schwergefallen. Morgen würde sie ihn brechen und das, obwohl sie allein die Vorstellung hasste, wieder einen Fuß in die Gassen zwischen Stubentor und Schottenkloster, zwischen Kärntner Turm und Salztor setzen zu müssen.
Madelin seufzte. Sie mochte sich sträuben, so viel sie wollte, doch sie hatte keine Wahl. Die kleine Gemeinschaft hatte an diesem zweiundzwanzigsten September des Jahres 1529 von Pressburg her etliche beschwerliche Meilen hinter sich gebracht, um die Großstadt an der Donau zu erreichen. Sie hatten sich für diesen Weg um Franziskus' willen entschieden. Jetzt hing ihrer aller Leben davon ab, dass sie die Mauern Wiens bald erreichten, denn die Osmanen stießen nach Norden vor. An der Seite des gefürchteten Kriegervolkes ritten Tod und Verderben.
Madelin fühlte Schecks sorgenvollen Blick auf sich ruhen. »Bist du denn sicher, dass du dorthin mitgehen willst?«, fragte er.
»Wir haben uns alle dafür entschieden, nicht nach Prag und damit weg von den Osmanen zu ziehen«, erwiderte sie. »Wien hat dicke Steinmauern. Dort werden wir in Sicherheit sein.«
»Trifft das auch auf dich zu?«, fragte Scheck sanft. »Wirst auch du in Sicherheit sein?«
»Was soll ich denn sonst tun? Vor den Mauern warten, bis die Osmanen kommen? Oder alleine nach Prag weiterziehen?«
Scheck zuckte mit den Schultern und wies auf ihre dunklen Haarsträhnen. »Ich meine ja nur. Was, wenn den Leuten in Wien auffällt, dass du Ähnlichkeit mit einer Osmanin hast?«
»Die Leute haben mich schon immer schief angeschaut, weil ich anders aussehe, Scheck«, sagte Madelin. Sie strich sich die dunkle Haarsträhne hinters Ohr und senkte den Blick.
»Sicher. Aber das war in Friedenszeiten«, sagte der Spielmann. »In Kriegszeiten mögen sie dich für eine Spionin halten. Und was mit Spionen geschieht, ist weithin bekannt.«
»Sie werden aufgeknüpft«, sagte sie leise. Scheck nickte nur.
Madelin fühlte einen Knoten im Hals. Doch die Zeit der Entscheidungen war verstrichen. Sie war diejenige, die sich in der Stadt auskannte. Wenn sie herausfinden wollte, welcher Dämon den Freund heimsuchte, dann musste sie den Gang nach Wien riskieren. Osmanen hin oder her.
»Legen wir uns schlafen«, sagte sie mit fester Stimme. »Wir haben morgen noch eine anstrengende Fahrt vor uns.«
In der Früh saß Madelin vor der Scheune auf einem Baumstamm und flocht sich das lange dunkelbraune Haar. Sie hatte wieder in die feuchten Kleider schlüpfen müssen, die über Nacht nur teilweise getrocknet waren. Heute war der Regen endlich versiegt, der die Straßen des spätsommerlichen Wiener Beckens in Schlammgruben verwandelt hatte.Als die junge Frau die frische Luft durch die Nase einsog, roch es bereits nach Herbst, obwohl die Bäume noch nicht ihr Farbenkleid gewechselt hatten. In Gras und Büschen herrschte rege Betriebsamkeit - offenbar spürten auch die Tiere, dass der Winter früh käme dieses Jahr.
Wie alle Menschen, die dieser Tage auf der Straße waren, flohen die fünf Gefährten vor den Osmanen nach Westen. Zwar eilte dem Heer sein Ruf schon seit Monaten voraus - Ende Juli sollte Sultan Süleyman der Prächtige mit seiner Armee in Belgrad angekommen sein, hatte man erzählt. Doch damals hatten nur wenige im nördlichen Ungarn dieser Nachricht Glauben geschenkt. Das Heer musste nordwärts gezogen sein und hatte Mitte September Buda erreicht. Die Berichte der wenigen Überlebenden hatten auch die letzten Zweifl er bekehrt.
Die Menschen in Buda - oder Ofen, wie man es in der Fremde nannte - hatten dem feindlichen Heer nichts entgegenzusetzen gehabt.Also hatten sie die Stadt auf das Wort des Sultans Süleyman hin übergeben, dass sämtliche Einwohner verschont werden sollten. Die Tore hatten kaum offen gestanden, da waren die Osmanen schon wie ein Rudel hungriger Wölfe eingefallen. Die Grausamkeiten an der Stadtbevölkerung, von denen die Flüchtigen berichteten, hatten die Menschen des ganzen Umlandes in Scharen gen Norden und Westen fliehen lassen. Ungarn lag nun vollständig in der Hand der Türken. Und niemand zweifelte daran, dass sie bald vor dem Goldenen Apfel stehen würden - vor Wien.
Die junge Frau stand auf, rieb sich die kühlen Wangen und trat an den Eingang der Scheune. Von dort ließ sie den Blick über die darin versammelten Gaukler schweifen. Scheck, der lausbübische Lautenspieler, hielt trotz der frühen Stunde sein Instrument auf dem Schoß und ließ die Finger andächtig über die Saiten gleiten. Das offen stehende rote Wams über dem alten Hemd verlieh ihm die Verwegenheit eines Landsknechts, er hatte sein langes hellbraunes Haar zurückgebunden. Miro,Akrobat und Bärenführer, hockte verschlafen im Lederwams und mit einem gefüllten Becher in der Hand am Boden, sein zottiges Tier saß an einen Holzbalken angekettet nass und missmutig neben ihm. Erisbert, der Tinkturenverkäufer, trug ein robenartiges grünes Gewand und tat das, was er am besten konnte: Er schwätzte. Zuhörer war heute ein gewisser Wulf, der Knecht des Weinhauers und Bauern, dem die Scheune gehörte.
Zum Schluss hefteten sich Madelins Blicke besorgt auf das letzte Mitglied der kleinen Gemeinschaft. Franziskus, der dünne Ikonenmaler, schien momentan zu Scherzen aufgelegt, doch sein fröhlicher Ton konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass es ihm schlechtging. Er trug ein weites braunes Kaufmannsgewand mit Fellkragen, das seinen Körper noch magerer wirken ließ, und stützte sich auf seinem Lager ab, als sei er gerade von der Folterbank gestiegen. Einmal hatte Franziskus ihnen beschrieben, dass ihm nach einem Anfall tatsächlich sämtliche Gliedmaßen im Körper schmerzten, als hätte jemand überall, ohne eine Stelle auszulassen, Tausende kleiner Nadeln hineingestochen. Um seinetwillen war sie froh, dass sie Wien bald erreichen würden.
Morgen würde Madelin also heimkehren. Ihr Magen krampfte sich unweigerlich zusammen. Sie musste an die Halbschwester und die Mutter denken, die sie dort mit gutem Grund zurückgelassen hatte. Sie hatte keiner von beiden je wieder unter die Augen treten wollen. Doch zumindest mit ihrer Schwester Anna würde sie sprechen müssen; sie selbst besaß kein Geld, um einen studierten Mann für Franziskus' Untersuchung zu bezahlen.Anna, die genauso ein Bastardkind wie Madelin war, nur von einem anderen Vater, hatte den wohlhabenden Goldschmied Friedrich Ebenrieder geheiratet. Madelin hoffte insgeheim, ihre Schwester würde ihr einen kleinen Teil ihres Reichtums abgeben oder zumindest leihen, auch wenn sie als Fahrende nicht wusste, wie sie das Geld jemals zurückzahlen sollte. Ein kleines Teufelchen in ihrem Kopf fragte sie, warum sie Geld zurückzahlen sollte, das ihr sowieso zugestanden hätte. Doch Madelin verbot ihm den Mund und setzte sich zu Franziskus auf die Decke.
»Trink das, Madelin.« Der Freund reichte ihr einen dampfenden Becher aus Steingut. Als die junge Frau daran schnupperte, roch sie den vertrauten Duft von heißem Gewürzwein. Sie griff dankbar danach und genoss die Wärme des Gefäßes an ihren Fingern. Es gab kaum etwas Schlimmeres, als nach dem Schlaf in feuchtkalte Kleider steigen zu müssen, besonders an einem so kühlen Morgen wie diesem. Dabei war doch nicht mal der September vorbei! »Wer ist der edle Spender?«, fragte sie nach dem ersten Schluck.
»Wulf hat jedem von uns einen Becher gebracht«, erklärte Franziskus. »Wir haben sie aber auch bezahlt.«
»Bezahlt?« Madelins Stirn furchte sich. »Womit denn? Wir haben doch kaum ein paar Pfennige!«
»Mit ein paar Liedern von Scheck.«
»Ach so«, sagte Madelin. »Wie kommt es, dass Scheck denn so früh schon wach ist?«
»Ihn verlangte es so sehr wie uns nach etwas Warmem.«
Madelin nahm ein paar weitere Schlucke aus dem Becher und spürte dem Wein nach, dessen Säure angenehm auf ihrer Zunge brannte. Die Erschöpfung in Armen und Beinen und die wunden Füße schienen ihr mit leichtem Kopf gleich etwas erträglicher zu sein. »Kann ich verstehen«, erwiderte sie schließlich. Ein solches Getränk tat ihnen allen gut, und Franziskus brauchte alle Wärme, die er bekommen konnte. Sie musterte ihn. »Wie fühlst du dich?«
»Gut fühl ich mich, wie immer.«
Doch Madelin wusste, dass er log. Die Anstrengungen des Wetters und der Reise zehrten sichtlich an ihm. In Wien gab es eine Universität mit sowohl einer theologischen wie einer medizinischen Fakultät. Dort würde es jemanden geben, der herausfinden könnte, ob man dem Freund noch würde helfen können - und wenn ja, wie. Bis dahin musste sie mit der Ungewissheit leben, ob ihr Weggefährte, mit dem sie einen Karren teilte, wirklich einen Dämon in der Seele trug. Sie lächelte ihm tapfer zu.
Madelin horchte auf, als der Spielmann Scheck eines ihrer Lieblingslieder anstimmte. Sie ging hinüber, wo Wulf, der Knecht, an einem Balken lehnte und dem Lautenspiel lauschte. Die junge Frau hockte sich auf das Stroh am Boden und stellte ihren Becher ab. Dann knotete sie die Kordel auf, die die kleine Ledertasche an ihrem Gürtel zuband, und zog ein Leinentuch heraus, das ihren kostbarsten Besitz enthielt. Der kräftige Knecht des Weinhauers musterte sie misstrauisch. Sie versuchte, seine Blicke zu ignorieren, die sie an Schecks Worte erinnerten.War sie in Wien wirklich sicher?
Vorsichtig schlug Madelin das Leinen auf, das einen größeren Stoß Karten vor Staub und Regen schützte. Auf dickes Papier waren Drucke von Bildern mit Symbolen aufgezogen. Obenauf lag die Karte mit dem Narren, der mehr einem Faun denn einem Menschen glich. Sein struppiges blondes Haar war schmutzig und mit Federn geschmückt, die Kleidung sah zerschlissen und abgewetzt aus. Der Mann schritt zufrieden lächelnd dahin, in der Hand trug er einen Wanderstab. Madelin legte diese Karte immer obenauf, denn sie erinnerte sie an die Irrwege des Menschen.
»Wie schön sie sind!«, sagte Wulf und sah ihr über die Schulter. Seine Neugier hatte offenbar sein Misstrauen besiegt, denn er war zu ihr herübergekommen und hatte sich neben sie gehockt.
Madelin nickte. Er hatte Recht, die Farbenpracht der Bilder auf den Karten übertraf alles, was ein einfacher Mann wie Wulf in seinem Leben bislang gesehen haben dürfte. Leuchtende Rot- und Blautöne sprachen von der Kostbarkeit der Farben, schienen jedoch neben der hauchdünnen Blattgoldschicht, die auf jeder Karte angebracht war, beinahe zu verblassen. Manche Stellen waren abgerieben vom steten Gebrauch, doch insgesamt war Madelin stolz darauf, wie gut die Karten nach all den Jahren der Wanderschaft noch erhalten waren. Sie reinigte sie vorsichtig mit dem Leinentuch und sorgte immer dafür, dass sie trocken und sauber lagerten. Und sie gab sie niemals aus der Hand.
Copyright © 2010 by Wilhelm Heyne Verlag, München in der Verlagsgruppe Random House GmbH
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Autoren-Porträt von Lena Falkenhagen
Lena Falkenhagen, geboren 1973 in Celle, arbeitete nach ihrem Studium der Germanistik und Anglistik als Übersetzerin, Lektorin und Autorin für Fantasy-Rollenspiele. Als Redakteurin Aventuriens gestaltet sie die größte phantastische Rollenspielwelt Deutschlands mit. Nach "Das Mädchen und der Schwarze Tod" und "Die Lichtermagd" ist Die Schicksalsleserin ihr dritter historischer Roman. Die Preisträgerin des DeLiA-Romanpreises 2010 lebt in Hannover, wo sie an ihrem vierten Roman arbeitet.
Bibliographische Angaben
- Autor: Lena Falkenhagen
- 2010, 511 Seiten, Maße: 11,8 x 18,8 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Heyne
- ISBN-10: 3453471032
- ISBN-13: 9783453471030
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