Die Schleife an Stalins Bart
Erst jetzt kann Erika Rieman über ihre gestohlene Jugend sprechen - über Hunger, Misshandlung und Angst.
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Erst jetzt kann Erika Rieman über ihre gestohlene Jugend sprechen - über Hunger, Misshandlung und Angst.
Die Schleife an Stalins Bart von Erika Riemann
LESEPROBE
Da sind Hände.Hände unter meinen Achseln, die mich zerren, später Hände, die mir dieverkrusteten Kleider vom Leib streifen. Mein Körper wird auf eine Pritschegelegt. Jemand wäscht mich. Derselbe Mensch beträufelt meine Lippen mitWasser. Von meiner fernen Warte aus beobachte ich das Geschehen.Habe ich noch etwas damit zu tun? Bin ich vielleicht doch nicht tot?
Ich bin im Krankenrevier gelandet. Das beständige Stöhnen rechts undlinks von mir geleitet mich allmählich zurück in das Reich der Lebenden. Alsmein Bewusstsein wieder einsetzt, stelle ich fest, dass mir zwei Tage und eineNacht fehlen. So lange muss ich zwischen den beiden Türen eingesperrt gewesensein. Es dauert, bis ich akzeptiere, dass dieses spröde, vertrocknete StückFleisch mein Körper ist. Er funktioniert, aber das bedeutet auch, ich mussweiterleben. Als die Erstarrung weicht, versinke ich in einem Ozean von Tränen. Sierollen über mein Gesicht, gespeist aus einer einfach nicht versiegenden Quelle.Es gibt keinen Grund, keine Worte für den Schmerz. Eine unendlicheTrostlosigkeit liegt grauund schwer über mir, und meine Fantasie reicht nicht aus, mir irgendeinenanderen Zustand vorzustellen. Nach achtTagen kehre ich in meine Zelle zurück. Zögernd versuche ich zu erzählen, was geschehen ist. Aber bereits nach wenigen Worten verzerren sich die Gesichterum mich herum zu Masken desUnglaubens. Augenbrauen schnellen in die Höhe, Mundwinkel zuckenverdächtig, ich bilde mir ein, murrende Laute des Zweifels zu hören.Schließlich reduziere ich die Geschichte aufnackte Fakten. »Sie haben mich zwei Tage und eine Nacht zwischen eineDoppeltür gesperrt. Es war schrecklich.« Was ich dort erlebt habe, begrabe ich tief in meinem Innern an einem Ort, woich es selbst bald nicht mehr findenkann.
Neue Schreckenbahnen sich an. Die Begehrlichkeit in den Augen der Posten ist nicht mehr zuübersehen. Abends halte ich mich grundsätzlich im Hintergrund, und bisher ist derKelch,einen der Soldaten begleiten zu müssen, an mir vorübergegangen.Aber immer häufiger zischt mir ihr »Zelischka« entgegen, wenn ich ihnen meinenSpucknapf hinstrecke. Eines Mittags ertönt dann auch das Kommando: »Zelischka, mitkommen!«
Es isthelllichter Tag, und die grölende Horde spricht gegen ein intimes Tete-ä-tete.Unter Gejohle werde ich die Treppen nachoben getrieben. Oben angekommen, stehe ich mit dem Rücken zur Wand. Es gibtkein Entkommen vor ihren grapschendenPranken, aber bald genügt ihnen das nicht mehr. Im Chor wird eine Parole intoniert. Sie sprechen Russisch, aber ein Missverständnis ist ausgeschlossen.»Ausziehen, ausziehen! «
Schon machen sich Hände an meinen Knöpfen zu schaffen. Meine Kleiderfliegen zu Boden, dann stehe ich den Männern nackt gegenüber. In einem letztenVersuch, mich zu schützen, schließe ich die Augen. Ich will die Gier unddie Lust,mit der sie sich an meiner Hilflosigkeit weiden, wenigstens nichtsehen. Deswegen bemerke ich die Blechschüssel auch nicht gleich, die vonirgendwoher auftaucht. Ehe ich noch recht begreife, wie mir geschieht, kauereich bereits in dem Essensgefäß. Von vielen Armen gepackt, erhebt sich das Behältnismit mir in die Luft. Ich werde hin und her geschwenkt und sause dann unter demGejuchze der Männer in rasender Fahrt denTreppenabsatz hinunter. Am Ende der Treppe nimmt mich ein anderer Trupp in Empfang. Die Sachescheint den Jungs mordsmäßigen Spaß zu bereiten. Immer höher lassen sie michfliegen, mit immer wilderem Schwung geht es auf die nächste Treppe. Hin und wiederüberschlägt sich mein Gefängnis, und ich kugele Hals über Kopf die letztenStufen hinab.
Längst sind mir Hören und Sehenvergangen. Nur flüchtig registriere ich imVorbeiflitzen die tausend Augen des Männertraktes. Dort hängen sie an den Gittern,und auch ihnen verschafft meineDemütigung offenbar Genuss. Von allen Wändender alten Festung scheint das Prusten und Johlen widerzuhallen.
Irgendwann binich ganz unten angelangt. Tiefer geht es nicht mehr.
Einer wirft mirmeine Sachen hin, die anderen zerstreuen sich, immer noch lachend.
Ich bin kaum inder Lage, mich anzuziehen. Meine Hände zittern derart, dass mir der Soldat beimSchließen der Knöpfe behilflich sein muss.
Ein weiteres Mallande ich mehr tot als lebendig in meiner Zelle. Die Frauen lassen mich bald inRuhe, mein Schweigen bildeteine unüberwindliche Mauer zwischen mir und ihnen. Mit welchen Worten ließen sich auch die Scham und die Demütigung beschreiben, die ich empfinde.
Wenige Abendespäter torkelt erneut einer der Posten in die Zelle. Er ist offenbar nichtauf eine beliebige Frau aus, sein Blick sucht nach jemand Bestimmtem. Ichmache mich so klein wie irgend möglich, aber es hilft nichts. Wiedermuss ich hinaus, muss ihm folgen. Diesmal sind die Absichten sonnenklar,selbst in meiner Unerfahrenheit habe ich eine Vorstellung, was mich erwartet.
Auf dem Weg in seine Unterkunft suche ich fieberhaft nach einem Ausweg. Mein Gezeter halltlaut in den leeren Gängen desGefängnisses. Charlie, so heißt der Kerl, treibt mich mit Tritten voran. MitSchlägen versucht er mich zum Schweigen zu bringen. Mit einem Mal kommt uns einMann entgegen. Er trägt keineUniform, spricht den Soldaten aber aufRussisch an. Es folgt ein erregter Wortwechsel zwischen den beiden. Ich verstehe nichts, nur ein Wortfällt mehrfach: Syphilis, aber auchdamit kann ich nichts anfangen. Im Laufe der Unterhaltung weicht dieBegierde aus den Zügen meines Entführers,und an ihre Stelle tritt eine angeekelte Miene. Endlich lässt er sogar meinen Arm los, den er bis dahin umklammert hielt. Noch halb im Zweifel musterter mich nun, als hätte ich Pest und Cholera in mir vereint. Schließlich stößt er eine Salve russischerBeschimpfungen aus und überlässt michdem anderen Mann. Der gibt mir einenschmerzhaften Tritt in den Hintern und treibt mich nun seinerseits vor sich her. Es geht in die entgegengesetzte Richtung.Ich habe zwar um Rettung gebetet, aber ob der Tausch für mich von Vorteil ist, bezweifle ich angesichts des finsterenBlicks neben mir.
Dann stehen wir in derKrankenstation. »Setz dich!« Kaum hat sich die Tür hinter uns geschlossen, schautmein Begleiter gleich wesentlich freundlicher.
»Tut mir Leid,der Tritt«, erklärt er mir in fließendem Deutsch. »Aber es musste schon echtaussehen, der Kerl hat mir sowieso nur halb geglaubt.«
Es stellt sichheraus, dass mein Retter selbst Gefangener ist. Ihn hat man zu zehn Jahrenverurteilt, weil er mit einer Deutschen befreundet war. Seine Freundin befindetsich ebenfalls als Häftling in Torgau, und er ist ein wenig enttäuscht, als ich den Kopf schüttle.»Nein, den Namen habe ich nie gehört. Inmeiner Zelle sitzt sie nicht.« »Sie haben mich als Arzt eingeteilt, also kannich dich hierbehalten. Dann bist du fürs Erste sicher.«Seine väterliche Freundlichkeit undsein Angebot, mich zu beschützen, kommen so unverhofft, dass ich mit denTränen kämpfe. Er erinnert mich anmeinen Großvater, und solche Erinnerungen sind Gift für die Fassade, mit der ich mich gegen die Außenwelt gewappnet habe. (...)
© PiperVerlag
Autoren-Porträt von ErikaRiemann
Mitvierzehn Jahren, im Herbst 1945, begeht Erika Riemann einen Fehler, der sie umihre Jugend bringt. Mit ein paar Freunden besichtigt sie die neue Schule, dienun von einem Stalinporträt geziert wird. Zum Spaß bemalt sie Stalin mitLippenstift- und wird dafür acht Jahre ins Gefängnis gesteckt. Erika Riemannhat nach der Haftzeit in vielen Jobs gearbeitet, zwei Ehen geführt und dreiKinder zur Weltgebracht. Sie lebt in Hamburg und arbeitet ehrenamtlich mitOrganisationen zusammen, die sich mit der Dokumentation ähnlicher Fälle wieihrem befassen.
Interview mitErika Riemann
Sie haben als 14-jährige für einen Schulmädchenstreichin der DDR mit acht Jahren Gefängnis bezahlen müssen.Wie oft haben Sie sich gewünscht, die Uhr zurückdrehen zu können?
Aus welcher Perspektive stellenSie diese Frage: Meinen Sie aus der Zeit der Haft oder von heute aus betrachtet?Aus heutiger Perspektive würde ich die Uhr gerne zurückdrehen, da mir sehr vielSchönes entgangen ist. So sind mir die Pubertätsjahre, die im Leben ganz, ganzwichtig sind, verloren gegangen. Dadurch habe ich Fehler gemacht in derErziehung meiner eigenen Kinder, da ich keine Erfahrung hatte. Das ist ein ganzwichtiger Punkt in meinem Leben.
Was, glauben Sie, hat die Zeit im Gefängnis mit Ihnengemacht?
Diese Zeit hat mich totalverändert. Wenn ich frei gewesen wäre, wäre mein Leben mit Sicherheit andersverlaufen. Das, was ich aus der Haftzeit mitgenommen habe, ist bis heute einstarkes Hilfesyndrom. Ich bin sehr sozial engagiert.
Gab es noch andere Mitinsassen, die wegen eben solcherLächerlichkeiten Haftstrafen verbüßen mussten?
Ja, sehr viele. Eigentlichdie meisten. Ein junges Mädchen hatte im Büro einen Witz erzählt. Er ging so:"Hast Du schon mal Stalin-Speck gegessen?" "Nein!" "Kannstdu auch nicht, das Schwein lebt noch." Dafür erhielt dieses Mädchen eine15-jährige Haftstrafe. Ein anderer Witz, für den Leute ins Gefängnis kamen,lautete so: Steht ein Kind mit einem Grasbüschel in der Hand vor einemStalin-Bild und sagt zu Stalin: "Beiß da mal rein!" Da kommt einälterer Herr vorbei und fragt, warum Stalin denn ins Gras beißen solle."Meine Mama hat gesagt, wenn er ins Gras gebissen hat, dann geht es unsallen besser", antwortete das Mädchen.
Als Kind eingesperrt, als Frau entlassen - wie habenSie sich in der Freiheit wieder zurechtgefunden?
Ich bin bei meiner Entlassung24 Jahre alt gewesen. Aber ich habe mich benommen wie eine 15-Jährige. Körperlichwar ich wie 24, geistig stehen geblieben. Meine Mutter war aus der DDRgeflüchtet und lebte in Hamburg. Ich bin ihr dorthin 1954 gefolgt. Ich habe ander Bar gearbeitet, habe Gymnastiklehrerin gelernt, eineKrankenpflegeausbildung gemacht, um meinen Mann pflegen zu können. Ich habe alsFischbrötchenverkäuferin gearbeitet. Heute bekomme ich sehr viel Anerkennungund Zuneigung als Autorin. Ich habe ein sehr erfülltes Leben. Manchmal kann iches gar nicht fassen, dass man so viel Glück und Freude erleben kann.
Viele Menschen sehen auch in schlechten Erlebnisseneinen Sinn für Ihr Leben. Können Sie in Ihrem schweren Schicksal einen Wertentdecken?
Wenn ich diese schwere Zeitnicht erlebt hätte, wäre es mir vermutlich unmöglich gewesen, meinen schwerkranken Mann 19 Jahre lang zu pflegen und ihn nicht ins Heim zu geben. MeinMann hat vier Herzinfarkte, zwei Schlaganfälle und einige Operationen überlebt.In dieser Situation war ich sehr allein. Selbst meine Kinder haben sichzurückgezogen. Diese Zeit konnte ich nur durchstehen, weil ich im Gefängnisdurch eine sehr harte Schule gegangen bin. In dieser Zeit habe ich den Glaubenan Gott verloren. Aber heute habe ich zum Glauben zurückgefunden. Ohne Glaubeund Hoffnung kann man nicht leben.
Die Fragen stellte Mathias Voigt, literaturtest.de.
- Autor: Erika Riemann
- 2007, 6. Aufl., 253 Seiten, 6 Abbildungen, Maße: 12 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Mitarbeit: Hoffmann, Claudia
- Verlag: Piper
- ISBN-10: 3492240933
- ISBN-13: 9783492240932
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