Die Schopenhauer-Kur
Roman
Was tun, wenn man gerade eine tödliche Diagnose erhalten hat? Vor diese Frage sieht sich der erfolgreiche Psychoanalytiker Julius Hertzfeldt nach einem scheinbaren Routinecheck bei seinem Hausarzt gestellt. Jahrelang hat der 65jährige anderen...
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Produktinformationen zu „Die Schopenhauer-Kur “
Was tun, wenn man gerade eine tödliche Diagnose erhalten hat? Vor diese Frage sieht sich der erfolgreiche Psychoanalytiker Julius Hertzfeldt nach einem scheinbaren Routinecheck bei seinem Hausarzt gestellt. Jahrelang hat der 65jährige anderen dabei geholfen, sich der Endlichkeit von allem zu stellen - jetzt muss er sich mit seiner eigenen auseinandersetzen. War seine Arbeit wirklich bedeutungsvoll? Was ist mit jenen Patienten, bei denen er versagt hat? Besonders ein Fall, der Jahrzehnte zurückliegt, macht ihm zu schaffen. Damals hatte er einen Mann wegen dessen Sexsucht behandelt - über drei Jahre lang und absolut ergebnislos. Was ist aus diesem Philip Slate geworden? Als Hertzfeldt seinen Patienten von damals wieder findet, macht er eine erstaunliche Entdeckung: Slate behauptet, sich selbst geheilt zu haben, und zwar mit Hilfe der Lektüre von Arthur Schopenhauer. Er arbeitet inzwischen sogar als eine Art philosophischer Berater, und er will noch mehr: eine Lizenz als ausgewiesener Therapeut. Dazu braucht er einen Supervisor. Ob Hertzfeldt ihn nicht betreuen wolle? Dieser ist fassungslos, denn sein ehemaliger Patient ist noch derselbe arrogante, ichbezogene, skrupellose Mann wie früher. Schließlich sagt Hertzfeldt zu - unter einer Bedingung: Slate muss im Gegenzug seine Therapiegruppe besuchen ...
Klappentext zu „Die Schopenhauer-Kur “
Was tun, wenn man gerade eine tödliche Diagnose erhalten hat? Vor diese Frage sieht sich der erfolgreiche Psychoanalytiker Julius Hertzfeldt nach einem scheinbaren Routinecheck bei seinem Hausarzt gestellt. Jahrelang hat der 65jährige anderen dabei geholfen, sich der Endlichkeit von allem zu stellen - jetzt muss er sich mit seiner eigenen auseinandersetzen. War seine Arbeit wirklich bedeutungsvoll? Hat er im Leben seiner Patienten tatsächlich eine Spur hinterlassen? Was ist mit jenen, bei denen er versagt hat?Nun, wo er weiser und reifer ist, könnte er sie da retten? Besonders ein Fall, der Jahrzehnte zurückliegt, macht ihm zu schaffen. Damals hatte er einen Mann wegen dessen Sexsucht behandelt - über drei Jahre lang und absolut ergebnislos. Was ist aus diesem Philip Slate geworden? Als Hertzfeld seinen Patienten von damals tatsächlich wieder findet, macht er eine erstaunliche Entdeckung: Slate behauptet, sich selbst geheilt zu haben, und zwar mit Hilfe der Lektüre von Arthur Schopenhauer. Er arbeitet inzwischen sogar als eine Art philosophischer Berater, und er will noch mehr: eine Lizenz als ausgewiesener Therapeut. Dazu braucht er einen Supervisor. Ob Hertzfeldt ihn nicht betreuen wolle? Dieser ist fassungslos, denn sein ehemaliger Patient ist noch derselbe arrogante, ich-bezogene, skrupellose Mann wie früher. Schließlich sagt Hertzfeldt zu - unter einer Bedingung: Slate muss im Gegenzug seine Therapiegruppe besuchen. Ein faustischer Pakt. Bald befinden sich Julius und Philip samt ihrer unterschiedlichen therapeutischen Ansätze im Wettstreit um Herz und Verstand der einzelnen Gruppenmitglieder ...
Wo Philosophie und Psychologie sich begegnen: ein ebenso ideenreiches wie spannendes Buch über die Liebe und das Begehren, die Endlichkeit und die wahren Werte im Leben.
Was tun, wenn man gerade eine tödliche Diagnose erhalten hat? Vor diese Frage sieht sich der erfolgreiche Psychoanalytiker Julius Hertzfeldt nach einem scheinbaren Routinecheck bei seinem Hausarzt gestellt. Jahrelang hat der 65jährige anderen dabei geholfen, sich der Endlichkeit von allem zu stellen - jetzt muss er sich mit seiner eigenen auseinandersetzen. War seine Arbeit wirklich bedeutungsvoll? Was ist mit jenen Patienten, bei denen er versagt hat? Besonders ein Fall, der Jahrzehnte zurückliegt, macht ihm zu schaffen. Damals hatte er einen Mann wegen dessen Sexsucht behandelt - über drei Jahre lang und absolut ergebnislos. Was ist aus diesem Philip Slate geworden? Als Hertzfeldt seinen Patienten von damals wieder findet, macht er eine erstaunliche Entdeckung: Slate behauptet, sich selbst geheilt zu haben, und zwar mit Hilfe der Lektüre von Arthur Schopenhauer. Er arbeitet inzwischen sogar als eine Art philosophischer Berater, und er will noch mehr: eine Lizenz als ausgewiesener Therapeut. Dazu braucht er einen Supervisor. Ob Hertzfeldt ihn nicht betreuen wolle? Dieser ist fassungslos, denn sein ehemaliger Patient ist noch derselbe arrogante, ichbezogene, skrupellose Mann wie früher. Schließlich sagt Hertzfeldt zu - unter einer Bedingung: Slate muss im Gegenzug seine Therapiegruppe besuchen ...
"Der amerikanische Romancier Irvin D. Yalom konfrontiert in seinem neuen Buch philosophische Spekulation mit Psychologie - und schrieb einen so klugen wie spannenden Schmöker. (...)Yalom gelingt es, durch seinen mühelos-lockeren Stil, den Leser zu fesseln.(...) Herausgekommen ist ein beachtliches (Lehr-)Werk, dem es auf unterhaltsame Art gelingt, psychologische Praxis mit der Philosophie Arthur Schopenhauers zu verbinden, eine für die Literatur heilsame Verbindung von Intellekt und Lust am Erzählen." Spiegel online
"Der amerikanische Romancier Irvin D. Yalom konfrontiert in seinem neuen Buch philosophische Spekulation mit Psychologie - und schrieb einen so klugen wie spannenden Schmöker. (...)Yalom gelingt es, durch seinen mühelos-lockeren Stil, den Leser zu fesseln.(...) Herausgekommen ist ein beachtliches (Lehr-)Werk, dem es auf unterhaltsame Art gelingt, psychologische Praxis mit der Philosophie Arthur Schopenhauers zu verbinden, eine für die Literatur heilsame Verbindung von Intellekt und Lust am Erzählen." Spiegel online
Lese-Probe zu „Die Schopenhauer-Kur “
1Julius kannte die Betrachtungen über Leben und Tod so gut wie jeder andere. Er stimmte mit den Stoikern überein, die da sagten: "Sobald wir geboren werden, fangen wir an zu sterben", und mit Epikur, der zu dem Schluss kam: "Wo ich bin, ist der Tod nicht, und wo der Tod ist, bin ich nicht. Warum also den Tod fürchten?" Als Arzt und Psychiater hatte er Sterbenden genau diese Trostworte ins Ohr geflüstert.
Obgleich er solch düstere Erwägungen im Falle seiner Patienten für sinnvoll hielt, hatte er nie angenommen, dass sie etwas mit ihm zu tun haben könnten. Das heißt, bis zu jenem schrecklichen Moment vor vier Wochen, an dem sich sein Leben für immer verändert hatte.
Es kam zu diesem Moment im Verlauf einer alljährlichen Routineuntersuchung beim Arzt. Sein Internist - ein alter Freund und Kommilitone aus Studientagen - hatte die Untersuchung gerade beendet und Julius wie immer aufgefordert, sich anzukleiden und zum abschließenden Gespräch in sein Büro zu kommen.
Herb saß an seinem Schreibtisch und blätterte Julius' Krankenakte durch. "Insgesamt siehst du für einen hässlichen Fünfundsechzigjährigen recht gut aus. Die Prostata ist ein bisschen geschwollen, aber das ist meine auch. Blutwerte, Cholesterin und Fettstoffwechsel sind in Ordnung - dafür sorgen die Medikamente und deine Diät. Hier hast du das Rezept für dein Lipitor, das deinen Cholesterinspiegel im Zusammenspiel mit dem Joggen ausreichend senkt. Du kannst dir also ruhig mal was gönnen: Iss ab und zu ein Ei. Ich verdrücke jeden Sonntag zwei zum Frühstück. Und hier ist das Rezept für dein Synthroid. Ich habe die Dosis ein wenig erhöht. Deine Schilddrüse stellt langsam den Betrieb ein - die gesunden Zellen sterben ab und werden durch fibröses Gewebe ersetzt. Absolut gutartig, wie du weißt. Passiert uns allen; ich nehme selbst Schilddrüsenhormone.
Ja, Julius, keiner unserer Körperteile entgeht dem Schicksal des Alterns. Neben deiner Schilddrüse baut die Knorpelmasse in deinen Knien ab, deine
... mehr
Haarbälge gehen ein, und deine oberen Lendenwirbel sind auch nicht mehr das, was sie mal waren. Außerdem verschlechtert sich offenbar der Zustand deiner Haut: deine Epithelzellen verschleißen eben einfach - schau dir die Altersflecken auf deinen Wangen an, diese flachen braunen Erhebungen." Er hielt einen kleinen Spiegel hoch, damit Julius sich inspizieren konnte. "Das sind bestimmt ein Dutzend mehr als bei der letzten Untersuchung. Wie viel Zeit verbringst du in der Sonne? Trägst du einen breitkrempigen Hut, wie ich es dir empfohlen habe? Ich möchte, dass du deswegen einen Dermatologen aufsuchst. Bob King ist gut. Er hat seine Praxis gleich im Gebäude nebenan. Kennst du ihn?"
Julius nickte.
"Die unansehnlichen kann er mit einem Tropfen flüssigen Stickstoffs abbrennen. Bei mir hat er letzten Monat etliche entfernt. Keine große Sache - dauert fünf, zehn Minuten. Eine Menge Internisten machen das inzwischen selbst. Außerdem sitzt da einer auf deinem Rücken, den er sich mal anschauen soll. Du kannst ihn nicht sehen; er ist direkt unter dem lateralen Teil deines rechten Schulterblatts. Er sieht anders aus als die anderen - ungleichmäßig pigmentiert und nicht scharf begrenzt. Wahrscheinlich nichts, aber wir sollten ihn checken lassen. Okay, Alter?"
"Wahrscheinlich nichts, aber wir sollten ihn checken lassen." Julius hörte die Anspannung und gezwungene Beiläufigkeit in Herbs Stimme. Doch er ließ sich nicht täuschen; die Worte "ungleichmäßig pigmentiert und nicht scharf begrenzt", gesprochen von einem Arzt zum anderen, gaben Grund zur Besorgnis. Sie waren der Code für ein potenzielles Melanom, und jetzt, im Rückblick, identifizierte Julius diese Worte, diesen einmaligen Moment, als den Zeitpunkt, an dem sein sorgenfreies Leben endete und der Tod sich in seiner ganzen grässlichen Wirklichkeit materialisierte. Der Tod war gekommen, um zu bleiben, er wich ihm nicht mehr von der Seite, und all die Schrecken, die folgten, waren vorhersehbare Nachwehen.
Bob King war vor Jahren Julius' Patient gewesen, wie eine beträchtliche Anzahl von Ärzten in San Francisco. Julius herrschte seit dreißig Jahren über die psychiatrische Gemeinde der Stadt. In seiner Position als Professor für Psychiatrie an der University of California hatte er massenweise Studenten ausgebildet und war vor fünf Jahren Präsident der American Psychiatric Association geworden.
Sein Ruf? Ein Arzt für Ärzte, ohne Wenn und Aber. Ein Retter in letzter Minute, ein gerissener Hexenmeister, der willens war, alles zu tun, um seinen Patienten zu helfen. Das war auch der Grund gewesen, weswegen Bob King Julius vor zehn Jahren aufgesucht hatte, um seine seit langem bestehende Abhängigkeit von Vicodin (die von süchtigen Ärzten bevorzugte Droge, weil sie so leicht zugänglich ist) behandeln zu lassen. King steckte damals in ernsthaften Schwierigkeiten. Sein Vicodin-Bedarf hatte sich drastisch erhöht, seine Ehe war in Gefahr, seine Arbeit litt darunter, und er musste sich jeden Abend betäuben, um einschlafen zu können.
Bob hatte es mit einer Therapie versuchen wollen, doch ihm waren alle Türen verschlossen. Jeder Therapeut, den er konsultierte, bestand darauf, er solle an einem Entzugsprogramm für suchtkranke Ärzte teilnehmen, ein Plan, dem Bob sich widersetzte, weil ihm der Gedanke verhasst war, sich in Therapiegruppen vor anderen Ärzten bloßzustellen. Die Therapeuten insistierten. Wenn sie einen praktizierenden Süchtigen ohne das offizielle Entzugsprogramm behandelten, gingen sie das Risiko einer Strafverfolgung durch die Gesundheitsbehörde oder das eines persönlichen Rechtsstreits ein (falls der Patient beispielsweise bei seiner klinischen Arbeit ein falsches Urteil fällte).
Julius war damals die letzte Zuflucht gewesen. Sonst hätte er seine Praxis schließen und Urlaub nehmen müssen, um sich in einer anderen Stadt anonym behandeln zu lassen. Julius ging das Risiko ein und vertraute darauf, dass Bob King den Vicodin-Entzug auch so schaffte. Und obgleich die Therapie schwierig war, wie sie es bei Suchtkranken immer ist, behandelte Julius Bob für die nächsten drei Jahre ohne die Hilfe eines Entzugsprogramms. Es blieb eines der Geheimnisse, die jeder Psychiater hat - ein therapeutischer Erfolg, der auf keinen Fall erörtert oder publiziert werden durfte.
Julius saß in seinem Wagen, nachdem er die Praxis seines Internisten verlassen hatte. Sein Herz hämmerte so heftig, dass das Auto zu erzittern schien. Er holte tief Luft, um seine wachsende Panik in den Griff zu bekommen, dann noch einmal und noch einmal und klappte sein Handy auf, um mit flatternden Händen einen umgehenden Termin bei Bob King zu vereinbaren.
"Das gefällt mir nicht", sagte Bob am nächsten Vormittag, als er Julius' Rücken mit einem großen, runden Vergrößerungsglas studierte. "Hier, schauen Sie selbst; mit zwei Spiegeln geht das."
Bob ließ ihn vor dem Wandspiegel Aufstellung nehmen und hielt einen großen Handspiegel an das Mal. Julius sah den Dermatologen an: blond, rötliches Gesicht, dicke Brillengläser, die auf einer langen, imposanten Nase thronten - er erinnerte sich daran, wie Bob ihm erzählt hatte, dass die anderen Kinder ihn gehänselt und "Gurkennase" gerufen hatten. Er hatte sich in den zehn Jahren nicht sehr verändert. Er wirkte gehetzt, ebenso wie er es in seiner Zeit als Julius' Patient gewesen war, als er schnaufend und pustend immer ein paar Minuten zu spät gekommen war. Oft war ihm damals der Spruch des weißen Kaninchens aus Alice im Wunderland in den Sinn gekommen: "Jemine! Jemine! Ich komme bestimmt zu spät!", wenn Bob in sein Sprechzimmer stürzte. Er hatte zugenommen, war aber so klein wie eh und je. Er sah aus wie ein Dermatologe. Wer hat jemals einen hochgewachsenen Dermatologen erblickt? Dann schaute Julius ihm in die Augen - oh, oh, sie schienen besorgt-, die Pupillen waren riesig.
"Hier ist das Viech." Julius sah im Spiegel, dass Bob mit dem Radiergummi-Ende eines Stifts darauf zeigte. "Dieses flache Mal unter Ihrem rechten Schulterblatt. Sehen Sie es?"
Julius nickte.
Bob hielt ein kleines Lineal daran und fuhr fort: "Es misst fast einen Zentimeter. Sicher erinnern Sie sich an die ABCD-Regel aus Ihrem Dermatologiekurs an der Uni-"
Julius unterbrach ihn. "Ich erinnere mich an nichts aus dem Dermatologiekurs. Betrachten Sie mich als Idioten."
"Okay. ABCD. A wie Asymmetrie - schauen Sie hier." Er schob den Stift auf Teile des Flecks. "Er ist nicht vollkommen rund wie die anderen auf Ihrem Rücken- sehen Sie diesen und den hier?" Er deutete auf zwei Pigmentmale, die dicht daneben lagen.
Julius versuchte, seine Spannung abzubauen, indem er tief Luft holte.
"B wie Begrenzung - schauen Sie: Ich weiß, es ist schwer zu erkennen." Bob zeigte erneut auf den Fleck unter dem Schulterblatt. "Sie sehen in diesem oberen Bereich, wie scharf die Grenze gezogen ist, hier dagegen, zur Mitte hin, ist sie verschwommen, verläuft einfach in die umliegende Haut. C wie Color, Färbung. Hier, auf dieser Seite, wirkt das Mal hellbraun. Wenn ich es vergrößere, sehe ich einen Spritzer Rot, ein bisschen Schwarz, vielleicht sogar Grau. D wie Durchmesser; wie ich schon sagte, ungefähr ein Zentimeter. Das ist nicht ungewöhnlich, aber wir wissen nicht, wie alt es ist, ich meine, wie schnell es wächst. Herb Katz meint, bei der Untersuchung im letzten Jahr war es noch nicht zu sehen. Und schließlich ist bei Vergrößerung deutlich zu erkennen, dass das Zentrum geschwürig ist."
Während er den Spiegel beiseite legte, sagte er: "Ziehen Sie Ihr Hemd wieder an, Julius." Nachdem sein Patient es zugeknöpft hatte, setzte King sich auf den kleinen Hocker im Untersuchungszimmer und fing an: "Also, Julius, Sie kennen die Literatur hierüber. Es gibt offensichtlich Anlass zur Sorge."
"Hören Sie, Bob", erwiderte Julius. "Ich weiß, dass unsere frühere Beziehung es Ihnen schwer macht, aber bitte fordern Sie mich nicht auf, Ihnen die Arbeit abzunehmen. Gehen Sie nicht davon aus, dass ich irgendetwas über Hautkrankheiten weiß. Denken Sie daran, dass mein Geisteszustand im Moment zwischen Entsetzen und Panik schwankt. Ich möchte, dass Sie die Sache in die Hand nehmen, dass Sie mir gegenüber vollkommen ehrlich sind und sich um mich kümmern. So, wie ich es damals bei Ihnen getan habe. Und, Bob, sehen Sie mich an! Wenn Sie meinem Blick dauernd ausweichen, ängstige ich mich noch zu Tode."
"Sie haben Recht. Tut mir Leid." King schaute ihm offen in die Augen. "Sie haben sich verdammt gut um mich gekümmert. Ich werde für Sie dasselbe tun." Er räusperte sich. "Okay, ich habe den starken Verdacht, dass es ein Melanom ist."
Als er bemerkte, wie Julius zusammenzuckte, fügte er hinzu: "Trotzdem, die Diagnose allein bedeutet wenig. Die meisten - vergessen Sie das nicht -, die meisten Melanome lassen sich durchaus behandeln, auch wenn manche Miststücke sind. Wir müssen die Sache angehen: Ist es wirklich ein Melanom? Falls ja, wie tief ist es? Hat es schon gestreut? Der erste Schritt ist also eine Biopsie und die Verschickung einer Probe an den Pathologen.
Sobald wir hier fertig sind, ziehe ich einen Chirurgen hinzu, der den Fleck herausschneidet. Ich werde dabei an seiner Seite sein. Als Nächstes kommt die Untersuchung eines Teilstücks durch den Pathologen, und wenn der Befund negativ ist, umso besser, dann war's das! Ist er positiv, handelt es sich also um ein Melanom, werden wir den verdächtigsten Lymphknoten entfernen oder, falls notwendig, auch mehrere. Ein Krankenhausaufenthalt ist nicht erforderlich - die ganze Prozedur wird ambulant vor sich gehen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass keine Hauttransplantation nötig sein wird und Sie höchstens einen Tag pausieren müssen. Allerdings werden Sie an der Stelle des Eingriffs ein paar Tage lang Beschwerden verspüren. Mehr kann ich im Moment nicht sagen. Wir müssen die Biopsie abwarten. Vertrauen Sie mir. Ich habe mit Hunderten solcher Fälle zu tun gehabt. Okay? Meine Mitarbeiterin ruft Sie später an und gibt Ihnen die Details hinsichtlich Zeit und Ort und etwaiger Vorbereitungen durch. Okay?"
Julius nickte. Beide erhoben sich.
"Tut mir Leid", sagte Bob. "Ich wünschte, ich könnte Ihnen all das ersparen, aber das kann ich nicht." Er reichte Julius eine Mappe. "Vielleicht wollen Sie das Zeug hier gar nicht, aber ich gebe es Patienten in Ihrer Situation immer mit. Es hängt von der Persönlichkeit ab: Manche fühlen sich getröstet durch Informationen, andere möchten lieber nicht Bescheid wissen und werfen es schon auf dem Heimweg weg. Hoffentlich kann ich Ihnen nach dem Eingriff etwas Ermutigenderes sagen."
Doch es sollte nichts Ermutigenderes mehr geben - die nächsten Neuigkeiten waren noch düsterer. Drei Tage nach der Biopsie trafen sie sich wieder. "Wollen Sie es lesen?", fragte Bob und streckte ihm den endgültigen Befund des Pathologen entgegen. Als er sah, wie Julius den Kopf schüttelte, blätterte Bob den Bericht durch und begann: "Okay, schauen wir mal. Ich muss Ihnen sagen: Es klingt nicht gut. Das Wichtigste: Es ist ein Melanom mit mehreren ... äh ... bemerkenswerten Eigenschaften: Es reicht tief, über vier Millimeter, ist geschwürig, und fünf Lymphknoten sind befallen."
"Und das bedeutet? Los, Bob, reden Sie nicht drum herum. 'Bemerkenswert, vier Millimeter, geschwürig, fünf Lymphknoten'? Reden Sie Klartext. Sprechen Sie mit mir, als ob ich ein Laie wäre."
"Das sind schlechte Nachrichten. Es ist ein ziemlich großes Melanom, und es hat bereits auf die Lymphknoten übergegriffen. Die Gefahr dabei ist eine weitere Streuung, aber das wissen wir erst nach der CT, die ich für morgen um acht vereinbart habe."
Zwei Tage später setzten sie ihr Gespräch fort. Bob berichtete, dass der CT-Befund negativ war - keinerlei Hinweise auf eine weitere Ausbreitung irgendwo sonst im Körper. Das waren die ersten guten Neuigkeiten. "Aber trotzdem, Julius, es ist ein gefährliches Melanom."
"Wie gefährlich?" Julius räusperte sich, seine Stimme klang heiser. "Wovon sprechen wir? Wie hoch ist die Überlebensrate?"
"Sie wissen, dass wir diese Frage nur mit statistischen Werten beantworten können. Jeder Mensch ist anders. Aber bei einem geschwürigen Melanom, vier Millimeter tief, und fünf befallenen Lymphknoten zeigt die Statistik eine fünfjährige Überlebensrate von unter fünfundzwanzig Prozent."
Julius saß etliche Momente mit gesenktem Kopf, klopfendem Herzen und Tränen in den Augen da, ehe er bat: "Weiter. Sie sind aufrichtig. Ich muss wissen, was ich meinen Patienten sagen soll. Wie schaut der Verlauf in meinem Fall aus? Was wird passieren?"
"Es ist unmöglich, das genau vorherzusagen, denn es passiert erst einmal nichts, so lange bis das Melanom nicht an anderer Stelle wieder auftritt. In dem Fall könnte es, besonders, wenn es metastasiert, rasch gehen, dann ist von Wochen oder Monaten die Rede. Was Sie Ihren Patienten sagen sollen - schwer zu sagen, aber es wäre nicht unrealistisch, auf mindestens
noch ein Jahr bei guter Gesundheit zu hoffen."
Julius nickte langsam mit gesenktem Kopf.
"Wo sind Ihre Angehörigen, Julius? Hätten Sie nicht jemanden mitbringen sollen?"
"Ich glaube, Sie haben vom Tod meiner Frau vor zehn Jahren gehört. Mein Sohn ist an der Ostküste und meine Tochter in Santa Barbara. Ich habe ihnen noch nichts gesagt; ich fand es nicht sinnvoll, ihr Leben unnötig durcheinanderzubringen. Im Allgemeinen lecke ich meine Wunden sowieso lieber allein, aber ich bin mir sicher, dass meine Tochter sofort herkommen wird."
"Julius, es tut mir so Leid, Ihnen dies alles sagen zu müssen. Lassen Sie mich unser Gespräch mit einer positiven Nachricht beenden. Inzwischen wird mit Hochdruck geforscht - es gibt etwa ein Dutzend äußerst rege Labors in diesem Land und in Übersee. Aus unbekannten Gründen hat sich das Auftreten von Melanomen in den letzten Jahren nahezu verdoppelt, es ist deshalb ein intensives Forschungsgebiet. Gut möglich, dass wir kurz vor einem Durchbruch stehen."
Die nächste Woche verlebte Julius in einer Art Trance. Seine Tochter Evelyn, Professorin für klassische Literatur, sagte ihre Vorlesungen ab und kam sofort, um einige Tage mit ihm zu verbringen. Er führte ausführliche Gespräche mit ihr, seinem Sohn, seiner Schwester, seinem Bruder und mit engen Freunden. Oft wachte er mitten in der Nacht panisch auf, schreiend und nach Luft ringend. Er sagte seine Sitzungen ab, sowohl die mit seinen Einzelpatienten als auch die seiner Therapiegruppe, und sann Stunden darüber nach, wie und was er ihnen erzählen sollte.
Der Spiegel sagte ihm, dass er nicht aussah wie ein Mann, der sein Lebensende erreicht hat. Sein täglicher Fünf-Kilometer-Lauf hatte seinen Körper jung und drahtig erhalten, ohne ein Gramm Fett. Um Augen und Mund waren ein paar Falten. Nicht viele - sein Vater war ohne eine einzige gestorben. Julius hatte grüne Augen; er war immer stolz auf sie gewesen. Einen eindringlichen und aufrichtigen Blick. Augen, denen man vertrauen konnte, Augen, die jedem Blick trotzten. Junge Augen, die Augen des sechzehnjährigen Julius. Der Sterbende und der Sechzehnjährige schauten einander über die Jahrzehnte hinweg an.
Er sah auf seine Lippen. Volle, freundliche Lippen. Lippen, die sogar jetzt in der Zeit der Verzweiflung stets ein warmherziges Lächeln zu zeigen schienen. Er hatte einen dichten Schopf ungebärdiger schwarzer Locken, die nur an den Schläfen grau wurden. Als er noch ein Teenager in der Bronx war, pflegte der alte, weißhaarige, rotgesichtige antisemitische Friseur, dessen winziger Laden zwischen Meyers Süßwarengeschäft und Morris' Fleischerei lag, sein widerspenstiges Haar zu verfluchen, während er mit einem Stahlkamm daran zerrte und es schnitt und ausdünnte. Mittlerweile waren Meyer, Morris und der Friseur tot, und der kleine sechzehnjährige Julius stand auf der Warteliste des Todes.Eines Nachmittags versuchte er, ein Gefühl der Kontrolle zu gewinnen, indem er in der Bibliothek der medizinischen Fakultät die Literatur über Melanome las, doch das erwies sich als fruchtlos. Schlimmer als fruchtlos - es machte alles nur noch schlimmer.
Julius nickte.
"Die unansehnlichen kann er mit einem Tropfen flüssigen Stickstoffs abbrennen. Bei mir hat er letzten Monat etliche entfernt. Keine große Sache - dauert fünf, zehn Minuten. Eine Menge Internisten machen das inzwischen selbst. Außerdem sitzt da einer auf deinem Rücken, den er sich mal anschauen soll. Du kannst ihn nicht sehen; er ist direkt unter dem lateralen Teil deines rechten Schulterblatts. Er sieht anders aus als die anderen - ungleichmäßig pigmentiert und nicht scharf begrenzt. Wahrscheinlich nichts, aber wir sollten ihn checken lassen. Okay, Alter?"
"Wahrscheinlich nichts, aber wir sollten ihn checken lassen." Julius hörte die Anspannung und gezwungene Beiläufigkeit in Herbs Stimme. Doch er ließ sich nicht täuschen; die Worte "ungleichmäßig pigmentiert und nicht scharf begrenzt", gesprochen von einem Arzt zum anderen, gaben Grund zur Besorgnis. Sie waren der Code für ein potenzielles Melanom, und jetzt, im Rückblick, identifizierte Julius diese Worte, diesen einmaligen Moment, als den Zeitpunkt, an dem sein sorgenfreies Leben endete und der Tod sich in seiner ganzen grässlichen Wirklichkeit materialisierte. Der Tod war gekommen, um zu bleiben, er wich ihm nicht mehr von der Seite, und all die Schrecken, die folgten, waren vorhersehbare Nachwehen.
Bob King war vor Jahren Julius' Patient gewesen, wie eine beträchtliche Anzahl von Ärzten in San Francisco. Julius herrschte seit dreißig Jahren über die psychiatrische Gemeinde der Stadt. In seiner Position als Professor für Psychiatrie an der University of California hatte er massenweise Studenten ausgebildet und war vor fünf Jahren Präsident der American Psychiatric Association geworden.
Sein Ruf? Ein Arzt für Ärzte, ohne Wenn und Aber. Ein Retter in letzter Minute, ein gerissener Hexenmeister, der willens war, alles zu tun, um seinen Patienten zu helfen. Das war auch der Grund gewesen, weswegen Bob King Julius vor zehn Jahren aufgesucht hatte, um seine seit langem bestehende Abhängigkeit von Vicodin (die von süchtigen Ärzten bevorzugte Droge, weil sie so leicht zugänglich ist) behandeln zu lassen. King steckte damals in ernsthaften Schwierigkeiten. Sein Vicodin-Bedarf hatte sich drastisch erhöht, seine Ehe war in Gefahr, seine Arbeit litt darunter, und er musste sich jeden Abend betäuben, um einschlafen zu können.
Bob hatte es mit einer Therapie versuchen wollen, doch ihm waren alle Türen verschlossen. Jeder Therapeut, den er konsultierte, bestand darauf, er solle an einem Entzugsprogramm für suchtkranke Ärzte teilnehmen, ein Plan, dem Bob sich widersetzte, weil ihm der Gedanke verhasst war, sich in Therapiegruppen vor anderen Ärzten bloßzustellen. Die Therapeuten insistierten. Wenn sie einen praktizierenden Süchtigen ohne das offizielle Entzugsprogramm behandelten, gingen sie das Risiko einer Strafverfolgung durch die Gesundheitsbehörde oder das eines persönlichen Rechtsstreits ein (falls der Patient beispielsweise bei seiner klinischen Arbeit ein falsches Urteil fällte).
Julius war damals die letzte Zuflucht gewesen. Sonst hätte er seine Praxis schließen und Urlaub nehmen müssen, um sich in einer anderen Stadt anonym behandeln zu lassen. Julius ging das Risiko ein und vertraute darauf, dass Bob King den Vicodin-Entzug auch so schaffte. Und obgleich die Therapie schwierig war, wie sie es bei Suchtkranken immer ist, behandelte Julius Bob für die nächsten drei Jahre ohne die Hilfe eines Entzugsprogramms. Es blieb eines der Geheimnisse, die jeder Psychiater hat - ein therapeutischer Erfolg, der auf keinen Fall erörtert oder publiziert werden durfte.
Julius saß in seinem Wagen, nachdem er die Praxis seines Internisten verlassen hatte. Sein Herz hämmerte so heftig, dass das Auto zu erzittern schien. Er holte tief Luft, um seine wachsende Panik in den Griff zu bekommen, dann noch einmal und noch einmal und klappte sein Handy auf, um mit flatternden Händen einen umgehenden Termin bei Bob King zu vereinbaren.
"Das gefällt mir nicht", sagte Bob am nächsten Vormittag, als er Julius' Rücken mit einem großen, runden Vergrößerungsglas studierte. "Hier, schauen Sie selbst; mit zwei Spiegeln geht das."
Bob ließ ihn vor dem Wandspiegel Aufstellung nehmen und hielt einen großen Handspiegel an das Mal. Julius sah den Dermatologen an: blond, rötliches Gesicht, dicke Brillengläser, die auf einer langen, imposanten Nase thronten - er erinnerte sich daran, wie Bob ihm erzählt hatte, dass die anderen Kinder ihn gehänselt und "Gurkennase" gerufen hatten. Er hatte sich in den zehn Jahren nicht sehr verändert. Er wirkte gehetzt, ebenso wie er es in seiner Zeit als Julius' Patient gewesen war, als er schnaufend und pustend immer ein paar Minuten zu spät gekommen war. Oft war ihm damals der Spruch des weißen Kaninchens aus Alice im Wunderland in den Sinn gekommen: "Jemine! Jemine! Ich komme bestimmt zu spät!", wenn Bob in sein Sprechzimmer stürzte. Er hatte zugenommen, war aber so klein wie eh und je. Er sah aus wie ein Dermatologe. Wer hat jemals einen hochgewachsenen Dermatologen erblickt? Dann schaute Julius ihm in die Augen - oh, oh, sie schienen besorgt-, die Pupillen waren riesig.
"Hier ist das Viech." Julius sah im Spiegel, dass Bob mit dem Radiergummi-Ende eines Stifts darauf zeigte. "Dieses flache Mal unter Ihrem rechten Schulterblatt. Sehen Sie es?"
Julius nickte.
Bob hielt ein kleines Lineal daran und fuhr fort: "Es misst fast einen Zentimeter. Sicher erinnern Sie sich an die ABCD-Regel aus Ihrem Dermatologiekurs an der Uni-"
Julius unterbrach ihn. "Ich erinnere mich an nichts aus dem Dermatologiekurs. Betrachten Sie mich als Idioten."
"Okay. ABCD. A wie Asymmetrie - schauen Sie hier." Er schob den Stift auf Teile des Flecks. "Er ist nicht vollkommen rund wie die anderen auf Ihrem Rücken- sehen Sie diesen und den hier?" Er deutete auf zwei Pigmentmale, die dicht daneben lagen.
Julius versuchte, seine Spannung abzubauen, indem er tief Luft holte.
"B wie Begrenzung - schauen Sie: Ich weiß, es ist schwer zu erkennen." Bob zeigte erneut auf den Fleck unter dem Schulterblatt. "Sie sehen in diesem oberen Bereich, wie scharf die Grenze gezogen ist, hier dagegen, zur Mitte hin, ist sie verschwommen, verläuft einfach in die umliegende Haut. C wie Color, Färbung. Hier, auf dieser Seite, wirkt das Mal hellbraun. Wenn ich es vergrößere, sehe ich einen Spritzer Rot, ein bisschen Schwarz, vielleicht sogar Grau. D wie Durchmesser; wie ich schon sagte, ungefähr ein Zentimeter. Das ist nicht ungewöhnlich, aber wir wissen nicht, wie alt es ist, ich meine, wie schnell es wächst. Herb Katz meint, bei der Untersuchung im letzten Jahr war es noch nicht zu sehen. Und schließlich ist bei Vergrößerung deutlich zu erkennen, dass das Zentrum geschwürig ist."
Während er den Spiegel beiseite legte, sagte er: "Ziehen Sie Ihr Hemd wieder an, Julius." Nachdem sein Patient es zugeknöpft hatte, setzte King sich auf den kleinen Hocker im Untersuchungszimmer und fing an: "Also, Julius, Sie kennen die Literatur hierüber. Es gibt offensichtlich Anlass zur Sorge."
"Hören Sie, Bob", erwiderte Julius. "Ich weiß, dass unsere frühere Beziehung es Ihnen schwer macht, aber bitte fordern Sie mich nicht auf, Ihnen die Arbeit abzunehmen. Gehen Sie nicht davon aus, dass ich irgendetwas über Hautkrankheiten weiß. Denken Sie daran, dass mein Geisteszustand im Moment zwischen Entsetzen und Panik schwankt. Ich möchte, dass Sie die Sache in die Hand nehmen, dass Sie mir gegenüber vollkommen ehrlich sind und sich um mich kümmern. So, wie ich es damals bei Ihnen getan habe. Und, Bob, sehen Sie mich an! Wenn Sie meinem Blick dauernd ausweichen, ängstige ich mich noch zu Tode."
"Sie haben Recht. Tut mir Leid." King schaute ihm offen in die Augen. "Sie haben sich verdammt gut um mich gekümmert. Ich werde für Sie dasselbe tun." Er räusperte sich. "Okay, ich habe den starken Verdacht, dass es ein Melanom ist."
Als er bemerkte, wie Julius zusammenzuckte, fügte er hinzu: "Trotzdem, die Diagnose allein bedeutet wenig. Die meisten - vergessen Sie das nicht -, die meisten Melanome lassen sich durchaus behandeln, auch wenn manche Miststücke sind. Wir müssen die Sache angehen: Ist es wirklich ein Melanom? Falls ja, wie tief ist es? Hat es schon gestreut? Der erste Schritt ist also eine Biopsie und die Verschickung einer Probe an den Pathologen.
Sobald wir hier fertig sind, ziehe ich einen Chirurgen hinzu, der den Fleck herausschneidet. Ich werde dabei an seiner Seite sein. Als Nächstes kommt die Untersuchung eines Teilstücks durch den Pathologen, und wenn der Befund negativ ist, umso besser, dann war's das! Ist er positiv, handelt es sich also um ein Melanom, werden wir den verdächtigsten Lymphknoten entfernen oder, falls notwendig, auch mehrere. Ein Krankenhausaufenthalt ist nicht erforderlich - die ganze Prozedur wird ambulant vor sich gehen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass keine Hauttransplantation nötig sein wird und Sie höchstens einen Tag pausieren müssen. Allerdings werden Sie an der Stelle des Eingriffs ein paar Tage lang Beschwerden verspüren. Mehr kann ich im Moment nicht sagen. Wir müssen die Biopsie abwarten. Vertrauen Sie mir. Ich habe mit Hunderten solcher Fälle zu tun gehabt. Okay? Meine Mitarbeiterin ruft Sie später an und gibt Ihnen die Details hinsichtlich Zeit und Ort und etwaiger Vorbereitungen durch. Okay?"
Julius nickte. Beide erhoben sich.
"Tut mir Leid", sagte Bob. "Ich wünschte, ich könnte Ihnen all das ersparen, aber das kann ich nicht." Er reichte Julius eine Mappe. "Vielleicht wollen Sie das Zeug hier gar nicht, aber ich gebe es Patienten in Ihrer Situation immer mit. Es hängt von der Persönlichkeit ab: Manche fühlen sich getröstet durch Informationen, andere möchten lieber nicht Bescheid wissen und werfen es schon auf dem Heimweg weg. Hoffentlich kann ich Ihnen nach dem Eingriff etwas Ermutigenderes sagen."
Doch es sollte nichts Ermutigenderes mehr geben - die nächsten Neuigkeiten waren noch düsterer. Drei Tage nach der Biopsie trafen sie sich wieder. "Wollen Sie es lesen?", fragte Bob und streckte ihm den endgültigen Befund des Pathologen entgegen. Als er sah, wie Julius den Kopf schüttelte, blätterte Bob den Bericht durch und begann: "Okay, schauen wir mal. Ich muss Ihnen sagen: Es klingt nicht gut. Das Wichtigste: Es ist ein Melanom mit mehreren ... äh ... bemerkenswerten Eigenschaften: Es reicht tief, über vier Millimeter, ist geschwürig, und fünf Lymphknoten sind befallen."
"Und das bedeutet? Los, Bob, reden Sie nicht drum herum. 'Bemerkenswert, vier Millimeter, geschwürig, fünf Lymphknoten'? Reden Sie Klartext. Sprechen Sie mit mir, als ob ich ein Laie wäre."
"Das sind schlechte Nachrichten. Es ist ein ziemlich großes Melanom, und es hat bereits auf die Lymphknoten übergegriffen. Die Gefahr dabei ist eine weitere Streuung, aber das wissen wir erst nach der CT, die ich für morgen um acht vereinbart habe."
Zwei Tage später setzten sie ihr Gespräch fort. Bob berichtete, dass der CT-Befund negativ war - keinerlei Hinweise auf eine weitere Ausbreitung irgendwo sonst im Körper. Das waren die ersten guten Neuigkeiten. "Aber trotzdem, Julius, es ist ein gefährliches Melanom."
"Wie gefährlich?" Julius räusperte sich, seine Stimme klang heiser. "Wovon sprechen wir? Wie hoch ist die Überlebensrate?"
"Sie wissen, dass wir diese Frage nur mit statistischen Werten beantworten können. Jeder Mensch ist anders. Aber bei einem geschwürigen Melanom, vier Millimeter tief, und fünf befallenen Lymphknoten zeigt die Statistik eine fünfjährige Überlebensrate von unter fünfundzwanzig Prozent."
Julius saß etliche Momente mit gesenktem Kopf, klopfendem Herzen und Tränen in den Augen da, ehe er bat: "Weiter. Sie sind aufrichtig. Ich muss wissen, was ich meinen Patienten sagen soll. Wie schaut der Verlauf in meinem Fall aus? Was wird passieren?"
"Es ist unmöglich, das genau vorherzusagen, denn es passiert erst einmal nichts, so lange bis das Melanom nicht an anderer Stelle wieder auftritt. In dem Fall könnte es, besonders, wenn es metastasiert, rasch gehen, dann ist von Wochen oder Monaten die Rede. Was Sie Ihren Patienten sagen sollen - schwer zu sagen, aber es wäre nicht unrealistisch, auf mindestens
noch ein Jahr bei guter Gesundheit zu hoffen."
Julius nickte langsam mit gesenktem Kopf.
"Wo sind Ihre Angehörigen, Julius? Hätten Sie nicht jemanden mitbringen sollen?"
"Ich glaube, Sie haben vom Tod meiner Frau vor zehn Jahren gehört. Mein Sohn ist an der Ostküste und meine Tochter in Santa Barbara. Ich habe ihnen noch nichts gesagt; ich fand es nicht sinnvoll, ihr Leben unnötig durcheinanderzubringen. Im Allgemeinen lecke ich meine Wunden sowieso lieber allein, aber ich bin mir sicher, dass meine Tochter sofort herkommen wird."
"Julius, es tut mir so Leid, Ihnen dies alles sagen zu müssen. Lassen Sie mich unser Gespräch mit einer positiven Nachricht beenden. Inzwischen wird mit Hochdruck geforscht - es gibt etwa ein Dutzend äußerst rege Labors in diesem Land und in Übersee. Aus unbekannten Gründen hat sich das Auftreten von Melanomen in den letzten Jahren nahezu verdoppelt, es ist deshalb ein intensives Forschungsgebiet. Gut möglich, dass wir kurz vor einem Durchbruch stehen."
Die nächste Woche verlebte Julius in einer Art Trance. Seine Tochter Evelyn, Professorin für klassische Literatur, sagte ihre Vorlesungen ab und kam sofort, um einige Tage mit ihm zu verbringen. Er führte ausführliche Gespräche mit ihr, seinem Sohn, seiner Schwester, seinem Bruder und mit engen Freunden. Oft wachte er mitten in der Nacht panisch auf, schreiend und nach Luft ringend. Er sagte seine Sitzungen ab, sowohl die mit seinen Einzelpatienten als auch die seiner Therapiegruppe, und sann Stunden darüber nach, wie und was er ihnen erzählen sollte.
Der Spiegel sagte ihm, dass er nicht aussah wie ein Mann, der sein Lebensende erreicht hat. Sein täglicher Fünf-Kilometer-Lauf hatte seinen Körper jung und drahtig erhalten, ohne ein Gramm Fett. Um Augen und Mund waren ein paar Falten. Nicht viele - sein Vater war ohne eine einzige gestorben. Julius hatte grüne Augen; er war immer stolz auf sie gewesen. Einen eindringlichen und aufrichtigen Blick. Augen, denen man vertrauen konnte, Augen, die jedem Blick trotzten. Junge Augen, die Augen des sechzehnjährigen Julius. Der Sterbende und der Sechzehnjährige schauten einander über die Jahrzehnte hinweg an.
Er sah auf seine Lippen. Volle, freundliche Lippen. Lippen, die sogar jetzt in der Zeit der Verzweiflung stets ein warmherziges Lächeln zu zeigen schienen. Er hatte einen dichten Schopf ungebärdiger schwarzer Locken, die nur an den Schläfen grau wurden. Als er noch ein Teenager in der Bronx war, pflegte der alte, weißhaarige, rotgesichtige antisemitische Friseur, dessen winziger Laden zwischen Meyers Süßwarengeschäft und Morris' Fleischerei lag, sein widerspenstiges Haar zu verfluchen, während er mit einem Stahlkamm daran zerrte und es schnitt und ausdünnte. Mittlerweile waren Meyer, Morris und der Friseur tot, und der kleine sechzehnjährige Julius stand auf der Warteliste des Todes.Eines Nachmittags versuchte er, ein Gefühl der Kontrolle zu gewinnen, indem er in der Bibliothek der medizinischen Fakultät die Literatur über Melanome las, doch das erwies sich als fruchtlos. Schlimmer als fruchtlos - es machte alles nur noch schlimmer.
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Autoren-Porträt von Irvin D. Yalom
Irvin D. Yalom wurde 1931 als Sohn russischer Einwanderer in Washington, D.C. geboren. Er gilt als einer der einflussreichsten Psychoanalytiker in den USA und ist vielfach ausgezeichnet. Seine Fachbücher gelten als Klassiker. Seine Romane wurden international zu Bestsellern und zeigen, dass die Psychoanalyse Stoff für die schönsten und aufregendsten Geschichten bietet.Almuth Carstens, geb. 1948 in Kiel, hat u. a. Soziologie studiert, lebt in Berlin und arbeitet als Übersetzerin.
Bibliographische Angaben
- Autor: Irvin D. Yalom
- 2005, 6, 445 Seiten, Maße: 14 x 22,5 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Carstens, Almuth
- Übersetzer: Almuth Carstens
- Verlag: BTB
- ISBN-10: 3442751268
- ISBN-13: 9783442751266
Rezension zu „Die Schopenhauer-Kur “
"Wie in früheren Büchern verwebt der US-Psychoanalytiker und Autor Irvin D. Yalom in "Die Schopenhauer-Kur" geschickt Psychologisches und Philosophisches in eine fesselnde Romanhandlung."
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