Die Schwanendiebe
Roman
Von der Autorin des Bestsellers »Der Historiker«: In einem Washingtoner Museum attackiert ein Künstler ein Gemälde mit einem Messer. Welches Geheimnis verbirgt sich hinter der Tat? Eine packende Geschichte über Kunst, Wahn und eine große Liebe. Spannend und psychologisch vielschichtig.
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Produktinformationen zu „Die Schwanendiebe “
Von der Autorin des Bestsellers »Der Historiker«: In einem Washingtoner Museum attackiert ein Künstler ein Gemälde mit einem Messer. Welches Geheimnis verbirgt sich hinter der Tat? Eine packende Geschichte über Kunst, Wahn und eine große Liebe. Spannend und psychologisch vielschichtig.
Klappentext zu „Die Schwanendiebe “
Der Psychiater Andrew Marlow liebt seinen Beruf, seine gelegentliche Malerei und sein unabhängiges Leben. Als der berühmte Maler Robert Oliver sein Patient wird, ist es damit vorläufig vorbei. Der Künstler hatte versucht, ein Gemälde in der National Gallery of Art in Washington mit einem Messer zu attackieren. Béatrice de Clerval ist eine begabte junge Malerin in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts in Paris. Ihr Mentor Olivier Vignot veranlasst, dass eines ihrer Gemälde unter Pseudonym in einer Salon-Ausstellung der Impressionisten gezeigt wird. Was hat das Schicksal dieser Künstlerin, deren Briefe an ihren Malerfreund sich im Besitz des genialen Künstlers Robert Oliver befinden, mit dessen zerstörerischem Wahn zu tun? Mit großer psychologischer Einfühlung beschreibt Elizabeth Kostova in ihrem spannenden neuen Roman die Geschichte einer Obsession, einer großen Liebe - und wie die Liebe zur Kunst die Seelen der Menschen bewegt.
Der Psychiater Andrew Marlow liebt seinen Beruf, seine gelegentliche Malerei und sein unabhängiges Leben. Als der berühmte Maler Robert Oliver sein Patient wird, ist es damit vorläufig vorbei. Der Künstler hatte versucht, ein Gemälde in der National Gallery of Art in Washington mit einem Messer zu attackieren. Béatrice de Clerval ist eine begabte junge Malerin in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts in Paris. Ihr Mentor Olivier Vignot veranlasst, dass eines ihrer Gemälde unter Pseudonym in einer Salon-Ausstellung der Impressionisten gezeigt wird. Was hat das Schicksal dieser Künstlerin, deren Briefe an ihren Malerfreund sich im Besitz des genialen Künstlers Robert Oliver befinden, mit dessen zerstörerischem Wahn zu tun? Mit großer psychologischer Einfühlung beschreibt Elizabeth Kostova in ihrem spannenden neuen Roman die Geschichte einer Obsession, einer großen Liebe - und wie die Liebe zur Kunst die Seelen der Menschen bewegt.
Lese-Probe zu „Die Schwanendiebe “
Schwanendiebe von Elizabeth Kostova Kapitel 1 Marlow ... mehr
Der Anruf wegen Robert Oliver kam im April 1999, knapp eine Woche nachdem er in der National Gallery, in einem Saal mit Gemälden aus dem neunzehnten Jahrhundert, sein Messer gezogen hatte. Es war ein Dienstag, einer dieser schrecklichen Vormittage, die Washington manchmal heimsuchen, wenn bereits alles blüht, die Luft warm, ja fast heiß ist, und plötzlich schlägt das Wetter um, mit zerstörerischem Hagel, drückenden Wolken und Donnergrollen in der minutenschnell erkalteten Luft. Seit dem Massaker an der Columbine Highschool in Littleton, Colorado, war genau eine Woche vergangen, und ich konnte meine Gedanken immer noch nicht von dem Vorfall lösen, wobei es mir wohl nicht anders gegangen sein wird als allen anderen Psychiatern im Land. Meine Praxis schien voll von diesen jungen Leuten mit ihren abgesägten Schrotflinten und ihrer dämonischen Feindseligkeit. Wie hatten wir diesen jungen Menschen, vor allem aber ihren unschuldigen Opfern gegenüber nur so versagen können? Das fürchterliche Wetter und die düstere Stimmung, die auf dem Land lastete, schienen ineinanderzufließen. Ich nahm den Hörer ab, und die Stimme am anderen Ende war die eines Freundes und Kollegen. Dr. John Garcia ist ein feiner Kerl und ein ebensolcher Psychiater. Vor langen Jahren sind wir gemeinsam aufs College gegangen, und hin und wieder lädt er mich in ein Restaurant seiner Wahl ein, wobei er mich in den seltensten Fällen zahlen lässt. Er leitet die Notaufnahme in einem der größten Krankenhäuser Washingtons, wo er auch stationäre Fälle betreut, und hat, genau wie ich, nebenher noch Privatpatienten. John sagte, er wolle jemanden zu uns überweisen, damit ich mich um ihn kümmerte. Ich konnte hören, wie sehr ihm an der Sache lag. »Der Bursche könnte ein schwieriger Fall sein. Ich weiß nicht, was du von ihm halten wirst, aber ich hätte ihn lieber bei dir in Goldengrove. Offenbar ist er Künstler, und zwar ein erfolgreicher. Vor einer Woche haben sie ihn festgenommen und schließlich zu uns gebracht. Er redet nicht viel und mag uns hier nicht sonderlich. Sein Name ist Robert Oliver.« »Den Namen kenne ich, viel mehr aber nicht«, gab ich zu. »Ich glaube, er malt vor allem Landschaften und Porträts. Wenn ich mich nicht irre, war eines seiner Bilder vor Jahren auf dem Titel von ARTnews. Warum haben sie ihn festgenommen?« Ich trat ans Fenster und sah zu, wie der Hagel wie teure weiße Kieselsteine auf dem ummauerten Rasen und den längst ramponierten Magnolien niederging. »Er wollte in der National Gallery mit einem Messer auf ein Gemälde losgehen.« »Auf ein Gemälde? Nicht auf einen Menschen?« »Offenbar war niemand sonst im Saal. Zufällig kam ein Wachmann herein und sah, wie er sich auf das Bild stürzte.« »Kam es zu einem Kampf?« Der Hagel draußen säte sich ins helle Gras ein. »Ja. Er hat zwar das Messer fallen lassen, den Wachmann aber gepackt und böse durchgeschüttelt. Er ist ein kräftiger Kerl. Dann hat er einfach aufgehört und sich bereitwillig abführen lassen. Das Museum hat sich noch nicht entschieden, ob sie ihn anzeigen wollen. Ich denke, sie werden ihn in Ruhe lassen, aber die Sache hätte auch übel ausgehen können.« Ich sah immer noch in den Garten hinaus. »Die Bilder in der National Gallery, die sind Bundesbesitz, richtig?« »Richtig.«
»Was für ein Messer war es?« »Ein einfaches Taschenmesser. Nichts Dramatisches, trotzdem hätte er schlimmen Schaden damit anrichten können. Er war fürchterlich aufgeregt und fühlte sich auf so etwas wie einer heldenhaften Mission, brach auf dem Revier dann aber zusammen. Offenbar hatte er seit Tagen nicht geschlafen und weinte sogar. Am Ende brachten sie ihn in die psychiatrische Notaufnahme, und so kam er zu mir.« Ich konnte hören, wie John auf meine Antwort wartete. »Wie alt ist er?« »Er ist jung ... nun, dreiundvierzig, aber das hört sich für mich heutzutage jung an.« Ich lachte. Den Schock, fünfzig zu werden, hatten wir vor zwei Jahren mit einer gemeinsamen heftigen Feier mit ein paar Leidensgefährten zu verwinden versucht. »Er hatte ein paar Sachen bei sich. Ein Skizzenbuch und ein Bündel alter Briefe, an die er niemanden heranlässt.« »Und was soll ich für ihn tun?« Ich setzte mich halb auf meinen Schreibtisch. Es war ein anstrengender Morgen gewesen, und ich hatte Hunger. »Nimm ihn auf«, sagte John. »Ich möchte ihn in deiner Obhut wissen.« Aber in unserer Profession gründen die Wurzeln der Vorsicht tief. »Warum? Willst du mir zusätzliche Kopfschmerzen bereiten?« »Ach, komm schon.« Ich konnte förmlich hören, wie John lächelte. »Ich habe noch nie erlebt, dass du einen Patienten abgewiesen hättest, Dr. Überzeugungstäter, und der hier sollte die Mühe lohnen.« »Warum? Weil ich Maler bin?« Er zögerte nur ganz kurz. »Offen gesagt, ja. Ich behaupte nicht, ich verstünde Künstler, aber du, du wirst diesen Mann verstehen. Ich habe dir gesagt, dass er nicht viel redet, und wenn ich das sage, meine ich, dass ich insgesamt vielleicht drei Sätze aus ihm herausbekommen habe. Ich glaube, er rutscht in eine Depression, trotz der Medikamente, die wir ihm geben. Dazu kommen Wut- und Unruhezustände. Ich mache mir Sorgen um ihn.« Ich betrachtete den Baum, den smaragdgrünen Rasen, die schmelzenden Hagelkörner und wieder den Baum. Er stand ein wenig links im Fenster, und die Düsternis des Tages gab dem, was von seinen malvenfarbenen und weißen Blüten übrig geblieben war, einen Glanz, den sie in der Sonne nicht hatten. »Was gibst du ihm?« John ging die Liste durch: einen Stimmungsstabilisierer, ein Antidepressivum und etwas gegen seine Ängste, alles in guten Dosen. Ich nahm Stift und Block von meinem Schreibtisch. »Und deine Diagnose?« »Als er noch mit uns redete, hat er glücklicherweise in der Notaufnahme eine Informationsfreigabe unterschrieben. Damit haben wir seine Akte von einem Psychiater in North Carolina bekommen, etwa zwei Jahre alt. Da war er offenbar zuletzt in Behandlung.« »Leidet er unter schlimmen Angstzuständen?« »Nun, er will nicht darüber reden, aber die Anzeichen weisen darauf hin. Und gemäß seinen Unterlagen ist das nicht seine erste Medikation. Als er eingeliefert wurde, hatte er ein zwei Jahre altes Fläschchen Klonopin in der Tasche. Wahrscheinlich haben sie nicht viel geholfen, ohne einen zusätzlichen Stimmungsstabilisierer. Wir haben mittlerweile auch Kontakt zu seiner Frau, seiner Exfrau, in North Carolina, die uns von seinen früheren Behandlungen berichtet hat.« »Ist er selbstmordgefährdet?« »Möglicherweise, aber er ist schwer einzuschätzen, da er nicht reden will. Versucht hat er noch nichts, er scheint eher wütend. Es ist, als hätten wir einen Bären in einen Käfig gesperrt einen stummen Bären. Dennoch, so wie er jetzt auf mich wirkt, möchte ich ihn nicht einfach so entlassen. Er sollte eine Weile irgendwo bleiben, wo jemand ernsthaft der Frage auf den Grund geht, was tatsächlich mit ihm los ist, und seine Medikamente genau einstellt. Er ist nun ja freiwillig hier, und ich glaube, dass er im Moment nichts dagegen hätte. Bei uns gefällt es ihm sowieso nicht.« »Und du glaubst, ich kann ihn zum Reden bringen?« Das war unser Standardwitz, und John ging bereitwillig darauf ein. »Marlow, du könntest sogar einen Stein zum Reden bringen.« »Danke für das Kompliment. Und ganz besonders danke dafür, dass du mir meine Mittagspause vermasselt hast. Ist er versichert?« »Ja, da ist was. Der Sozialarbeiter hat sich dahintergeklemmt.« »Also gut, bring ihn nach Goldengrove. Morgen um zwei, mit allen Unterlagen. Ich nehme ihn auf.« Wir beendeten das Gespräch, und ich stand da und überlegte, ob ich nach dem Essen fünf Minuten Zeichnen unterbringen konnte. Ich zeichne gern, wenn mein Terminplan übervoll ist. Ich hatte noch einen Halb-zwei-, einen Zwei-Uhr-, einen Dreiund einen Vier-Uhr-Termin, danach um fünf eine Sitzung, und tags darauf erwartete mich ein Zehn-Stunden-Tag in Goldengrove, dem privaten Zentrum, in dem ich seit zwölf Jahren arbeitete. Was ich jetzt brauchte, waren meine Suppe, mein Salat und ein paar Minuten mit dem Bleistift in der Hand. Zudem kam mir etwas in den Sinn, woran ich ewig nicht mehr gedacht hatte, obwohl es mir doch lange eine so liebe Erinnerung gewesen war. Mit einundzwanzig, nach meinem ersten Abschluss an der Columbia University (in Geschichte, Englisch und Naturwissenschaften), das Medizinstudium an der University of Virginia direkt vor mir, hatten mir meine Eltern genug Geld gegeben, dass ich mit meinem Zimmergenossen einen Monat lang durch Italien und Griechenland reisen konnte. Ich war damals das erste Mal aus den Vereinigten Staaten hinausgekommen, und ich war fasziniert von den Gemälden in den italienischen Kirchen und Klöstern, von Florenz und Siena. Auf der griechischen Insel Paros, wo der perfekte, durchscheinendste Marmor überhaupt gewonnen wird, fand ich mich irgendwann allein im örtlichen archäologischen Museum wieder. Das Museum besaß nur eine wertvolle Statue, die in einem eigenen Raum stand. Es war eine Sie, Nike, etwa einen Meter fünfzig groß und übel mitgenommen, ohne Kopf und Arme und voller Narben auf dem Rücken, wo sie einst Flügel besessen hatte. Der Marmor war rot gefleckt, nachdem er so lange in der Erde der Insel begraben gelegen hatte. Trotz allem konnte man immer noch die meisterliche Bildhauerarbeit erkennen, die Tücher, die sich wie Wasserwirbel um ihren Körper legten. Einen ihrer kleinen Füße hatten sie ihr wieder angesetzt. Ich war allein mit ihr und zeichnete sie, als der Wachmann hereinkam und verkündete: »Wir schließen!« Ich packte meine Zeichensachen zusammen, und als er weitergegangen war, ging ich ein letztes Mal zu ihr hin und küsste ihr, ohne darüber nachzudenken, den Fuß. Sofort war der Wachmann wieder zur Stelle, brüllte und packte mich am Kragen. Ich bin nie aus einer Kneipe geflogen, aber an dem Tag flog ich aus einem Museum. Ich nahm den Hörer ab und rief John zurück. Er war noch im Büro. »Das Bild, was war es?« »Was?« »Das Gemälde, auf das dein Patient, Mr Oliver, losgehen wollte?« John lachte. »Ich wäre selbst sicher nicht auf den Gedanken gekommen, danach zu fragen, aber es stand im Polizeibericht. Es heißt Leda. Eine Gestalt aus der griechischen Mythologie, glaube ich. Wenigstens fällt mir die dabei ein. Im Bericht steht, es ist das Bild einer nackten Frau.« »Eine von Zeus' Eroberungen«, sagte ich. »Er näherte sich ihr in Gestalt eines Schwans. Wer hat es gemalt?« »Ach, komm schon ... Da fühl ich mich ja gleich wieder wie im Grundkurs Kunstgeschichte, durch den ich fast durch gefallen wäre. Ich weiß nicht, von wem das Gemälde ist, und ich bezweifle auch, dass es der Polizist weiß, der Oliver festgenommen hat.« »Danke. Ich will dich nicht länger stören. Einen guten Tag noch, John«, sagte ich und versuchte meinen Nacken zu lockern und gleichzeitig den Hörer zwischen Schulter und Ohr eingeklemmt zu halten. »Dir auch, mein Freund.«
Die Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel The Swan Thieves bei Little, Brown and Company (Inc.), New York © 2010 Elizabeth Kostova
Für die deutsche Ausgabe © 2010 Berlin Verlag GmbH, Berlin
Übersetzung:»Werner Löcher-Lawrence«
»Was für ein Messer war es?« »Ein einfaches Taschenmesser. Nichts Dramatisches, trotzdem hätte er schlimmen Schaden damit anrichten können. Er war fürchterlich aufgeregt und fühlte sich auf so etwas wie einer heldenhaften Mission, brach auf dem Revier dann aber zusammen. Offenbar hatte er seit Tagen nicht geschlafen und weinte sogar. Am Ende brachten sie ihn in die psychiatrische Notaufnahme, und so kam er zu mir.« Ich konnte hören, wie John auf meine Antwort wartete. »Wie alt ist er?« »Er ist jung ... nun, dreiundvierzig, aber das hört sich für mich heutzutage jung an.« Ich lachte. Den Schock, fünfzig zu werden, hatten wir vor zwei Jahren mit einer gemeinsamen heftigen Feier mit ein paar Leidensgefährten zu verwinden versucht. »Er hatte ein paar Sachen bei sich. Ein Skizzenbuch und ein Bündel alter Briefe, an die er niemanden heranlässt.« »Und was soll ich für ihn tun?« Ich setzte mich halb auf meinen Schreibtisch. Es war ein anstrengender Morgen gewesen, und ich hatte Hunger. »Nimm ihn auf«, sagte John. »Ich möchte ihn in deiner Obhut wissen.« Aber in unserer Profession gründen die Wurzeln der Vorsicht tief. »Warum? Willst du mir zusätzliche Kopfschmerzen bereiten?« »Ach, komm schon.« Ich konnte förmlich hören, wie John lächelte. »Ich habe noch nie erlebt, dass du einen Patienten abgewiesen hättest, Dr. Überzeugungstäter, und der hier sollte die Mühe lohnen.« »Warum? Weil ich Maler bin?« Er zögerte nur ganz kurz. »Offen gesagt, ja. Ich behaupte nicht, ich verstünde Künstler, aber du, du wirst diesen Mann verstehen. Ich habe dir gesagt, dass er nicht viel redet, und wenn ich das sage, meine ich, dass ich insgesamt vielleicht drei Sätze aus ihm herausbekommen habe. Ich glaube, er rutscht in eine Depression, trotz der Medikamente, die wir ihm geben. Dazu kommen Wut- und Unruhezustände. Ich mache mir Sorgen um ihn.« Ich betrachtete den Baum, den smaragdgrünen Rasen, die schmelzenden Hagelkörner und wieder den Baum. Er stand ein wenig links im Fenster, und die Düsternis des Tages gab dem, was von seinen malvenfarbenen und weißen Blüten übrig geblieben war, einen Glanz, den sie in der Sonne nicht hatten. »Was gibst du ihm?« John ging die Liste durch: einen Stimmungsstabilisierer, ein Antidepressivum und etwas gegen seine Ängste, alles in guten Dosen. Ich nahm Stift und Block von meinem Schreibtisch. »Und deine Diagnose?« »Als er noch mit uns redete, hat er glücklicherweise in der Notaufnahme eine Informationsfreigabe unterschrieben. Damit haben wir seine Akte von einem Psychiater in North Carolina bekommen, etwa zwei Jahre alt. Da war er offenbar zuletzt in Behandlung.« »Leidet er unter schlimmen Angstzuständen?« »Nun, er will nicht darüber reden, aber die Anzeichen weisen darauf hin. Und gemäß seinen Unterlagen ist das nicht seine erste Medikation. Als er eingeliefert wurde, hatte er ein zwei Jahre altes Fläschchen Klonopin in der Tasche. Wahrscheinlich haben sie nicht viel geholfen, ohne einen zusätzlichen Stimmungsstabilisierer. Wir haben mittlerweile auch Kontakt zu seiner Frau, seiner Exfrau, in North Carolina, die uns von seinen früheren Behandlungen berichtet hat.« »Ist er selbstmordgefährdet?« »Möglicherweise, aber er ist schwer einzuschätzen, da er nicht reden will. Versucht hat er noch nichts, er scheint eher wütend. Es ist, als hätten wir einen Bären in einen Käfig gesperrt einen stummen Bären. Dennoch, so wie er jetzt auf mich wirkt, möchte ich ihn nicht einfach so entlassen. Er sollte eine Weile irgendwo bleiben, wo jemand ernsthaft der Frage auf den Grund geht, was tatsächlich mit ihm los ist, und seine Medikamente genau einstellt. Er ist nun ja freiwillig hier, und ich glaube, dass er im Moment nichts dagegen hätte. Bei uns gefällt es ihm sowieso nicht.« »Und du glaubst, ich kann ihn zum Reden bringen?« Das war unser Standardwitz, und John ging bereitwillig darauf ein. »Marlow, du könntest sogar einen Stein zum Reden bringen.« »Danke für das Kompliment. Und ganz besonders danke dafür, dass du mir meine Mittagspause vermasselt hast. Ist er versichert?« »Ja, da ist was. Der Sozialarbeiter hat sich dahintergeklemmt.« »Also gut, bring ihn nach Goldengrove. Morgen um zwei, mit allen Unterlagen. Ich nehme ihn auf.« Wir beendeten das Gespräch, und ich stand da und überlegte, ob ich nach dem Essen fünf Minuten Zeichnen unterbringen konnte. Ich zeichne gern, wenn mein Terminplan übervoll ist. Ich hatte noch einen Halb-zwei-, einen Zwei-Uhr-, einen Dreiund einen Vier-Uhr-Termin, danach um fünf eine Sitzung, und tags darauf erwartete mich ein Zehn-Stunden-Tag in Goldengrove, dem privaten Zentrum, in dem ich seit zwölf Jahren arbeitete. Was ich jetzt brauchte, waren meine Suppe, mein Salat und ein paar Minuten mit dem Bleistift in der Hand. Zudem kam mir etwas in den Sinn, woran ich ewig nicht mehr gedacht hatte, obwohl es mir doch lange eine so liebe Erinnerung gewesen war. Mit einundzwanzig, nach meinem ersten Abschluss an der Columbia University (in Geschichte, Englisch und Naturwissenschaften), das Medizinstudium an der University of Virginia direkt vor mir, hatten mir meine Eltern genug Geld gegeben, dass ich mit meinem Zimmergenossen einen Monat lang durch Italien und Griechenland reisen konnte. Ich war damals das erste Mal aus den Vereinigten Staaten hinausgekommen, und ich war fasziniert von den Gemälden in den italienischen Kirchen und Klöstern, von Florenz und Siena. Auf der griechischen Insel Paros, wo der perfekte, durchscheinendste Marmor überhaupt gewonnen wird, fand ich mich irgendwann allein im örtlichen archäologischen Museum wieder. Das Museum besaß nur eine wertvolle Statue, die in einem eigenen Raum stand. Es war eine Sie, Nike, etwa einen Meter fünfzig groß und übel mitgenommen, ohne Kopf und Arme und voller Narben auf dem Rücken, wo sie einst Flügel besessen hatte. Der Marmor war rot gefleckt, nachdem er so lange in der Erde der Insel begraben gelegen hatte. Trotz allem konnte man immer noch die meisterliche Bildhauerarbeit erkennen, die Tücher, die sich wie Wasserwirbel um ihren Körper legten. Einen ihrer kleinen Füße hatten sie ihr wieder angesetzt. Ich war allein mit ihr und zeichnete sie, als der Wachmann hereinkam und verkündete: »Wir schließen!« Ich packte meine Zeichensachen zusammen, und als er weitergegangen war, ging ich ein letztes Mal zu ihr hin und küsste ihr, ohne darüber nachzudenken, den Fuß. Sofort war der Wachmann wieder zur Stelle, brüllte und packte mich am Kragen. Ich bin nie aus einer Kneipe geflogen, aber an dem Tag flog ich aus einem Museum. Ich nahm den Hörer ab und rief John zurück. Er war noch im Büro. »Das Bild, was war es?« »Was?« »Das Gemälde, auf das dein Patient, Mr Oliver, losgehen wollte?« John lachte. »Ich wäre selbst sicher nicht auf den Gedanken gekommen, danach zu fragen, aber es stand im Polizeibericht. Es heißt Leda. Eine Gestalt aus der griechischen Mythologie, glaube ich. Wenigstens fällt mir die dabei ein. Im Bericht steht, es ist das Bild einer nackten Frau.« »Eine von Zeus' Eroberungen«, sagte ich. »Er näherte sich ihr in Gestalt eines Schwans. Wer hat es gemalt?« »Ach, komm schon ... Da fühl ich mich ja gleich wieder wie im Grundkurs Kunstgeschichte, durch den ich fast durch gefallen wäre. Ich weiß nicht, von wem das Gemälde ist, und ich bezweifle auch, dass es der Polizist weiß, der Oliver festgenommen hat.« »Danke. Ich will dich nicht länger stören. Einen guten Tag noch, John«, sagte ich und versuchte meinen Nacken zu lockern und gleichzeitig den Hörer zwischen Schulter und Ohr eingeklemmt zu halten. »Dir auch, mein Freund.«
Die Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel The Swan Thieves bei Little, Brown and Company (Inc.), New York © 2010 Elizabeth Kostova
Für die deutsche Ausgabe © 2010 Berlin Verlag GmbH, Berlin
Übersetzung:»Werner Löcher-Lawrence«
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Autoren-Porträt von Elizabeth Kostova
Elizabeth Kostova hat in Yale und in Michigan studiert.Werner Löcher-Lawrence, geb. 1956, studierte Journalismus, Literatur und Philosophie, arbeitete als wissenschaftlicher Assistent an der Universität München und als Lektor in verschiedenen Verlagen. Er ist Übersetzer.
Bibliographische Angaben
- Autor: Elizabeth Kostova
- 2010, 669 Seiten, Maße: 13,8 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Löcher-Lawrence, Werner
- Übersetzer: Werner Löcher-Lawrence
- Verlag: Bloomsbury
- ISBN-10: 3827009030
- ISBN-13: 9783827009036
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