Die Seele der Wüste
Roman
London: Die erfolgreiche Steuerberaterin Isabelle Fawcett macht auf dem Dachboden ihres Elternhauses eine Entdeckung: Ein silbernes Tuareg-Amulett mit einer geheimen Inschrift. Um das Geheimnis des Amuletts zu lösen, reist Isabelle in die Sahara, wo...
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Produktinformationen zu „Die Seele der Wüste “
London: Die erfolgreiche Steuerberaterin Isabelle Fawcett macht auf dem Dachboden ihres Elternhauses eine Entdeckung: Ein silbernes Tuareg-Amulett mit einer geheimen Inschrift. Um das Geheimnis des Amuletts zu lösen, reist Isabelle in die Sahara, wo sie immer wieder auf den Namen Mariata stößt.
Klappentext zu „Die Seele der Wüste “
Liebe, Mut und Schicksal in Marokkos WüsteLondon: Die erfolgreiche Steuerberaterin Isabelle Fawcett führt ein zufriedenes, aber wenig aufregendes Leben. Doch eines Tages macht Isabelle auf dem Dachboden ihres Elternhauses eine Entdeckung: In einer alten Schachtel findet sie ein silbernes Tuareg-Amulett mit einer geheimen Inschrift. Das Geheimnis des Amuletts lässt Isabelle nicht mehr los. Und so reist sie in die Sahara, um dem Rätsel auf den Grund zu gehen. Bei ihren Nachforschungen stößt sie immer wieder auf den Namen Mariata.
Marokko, etwa fünfzig Jahre früher: Die junge Tuareg Mariata verliebt sich in den Krieger Amastan. Doch ihr Vater zwingt sie, mit ihm und seiner neuen Frau in ein Haus im Süden von Marokko zu ziehen. Als er sie auch noch gegen ihren Willen verheiraten will, flieht Mariata in die Wüste. Voller Sehnsucht begibt sie sich auf eine lange, beschwerliche Reise quer durch die Sahara immer auf der Suche nach Amastan.
Je mehr Isabelle über die Geschichte von Mariata erfährt umso deutlicher wird, dass ihr Leben und das der Tuareg untrennbar miteinander verbunden sind.
Liebe, Mut und Schicksal in Marokkos Wüste.
London: Die erfolgreiche Steuerberaterin Isabelle Fawcett führt ein zufriedenes, aber wenig aufregendes Leben. Doch eines Tages macht Isabelle auf dem Dachboden ihres Elternhauses eine Entdeckung: In einer alten Schachtel findet sie ein silbernes Tuareg-Amulett mit einer geheimen Inschrift. Das Geheimnis des Amuletts lässt Isabelle nicht mehr los. Und so reist sie in die Sahara, um dem Rätsel auf den Grund zu gehen. Bei ihren Nachforschungen stößt sie immer wieder auf den Namen Mariata.
Marokko, etwa fünfzig Jahre früher: Die junge Tuareg Mariata verliebt sich in den Krieger Amastan. Doch ihr Vater zwingt sie, mit ihm und seiner neuen Frau in ein Haus im Süden von Marokko zu ziehen. Als er sie auch noch gegen ihren Willen verheiraten will, flieht Mariata in die Wüste. Voller Sehnsucht begibt sie sich auf eine lange, beschwerliche Reise quer durch die Sahara - immer auf der Suche nach Amastan.Je mehr Isabelle über die Geschichte von Mariata erfährt, umso deutlicher wird, dass ihr Leben und das der Tuareg untrennbar miteinander verbunden sind.
London: Die erfolgreiche Steuerberaterin Isabelle Fawcett führt ein zufriedenes, aber wenig aufregendes Leben. Doch eines Tages macht Isabelle auf dem Dachboden ihres Elternhauses eine Entdeckung: In einer alten Schachtel findet sie ein silbernes Tuareg-Amulett mit einer geheimen Inschrift. Das Geheimnis des Amuletts lässt Isabelle nicht mehr los. Und so reist sie in die Sahara, um dem Rätsel auf den Grund zu gehen. Bei ihren Nachforschungen stößt sie immer wieder auf den Namen Mariata.
Marokko, etwa fünfzig Jahre früher: Die junge Tuareg Mariata verliebt sich in den Krieger Amastan. Doch ihr Vater zwingt sie, mit ihm und seiner neuen Frau in ein Haus im Süden von Marokko zu ziehen. Als er sie auch noch gegen ihren Willen verheiraten will, flieht Mariata in die Wüste. Voller Sehnsucht begibt sie sich auf eine lange, beschwerliche Reise quer durch die Sahara - immer auf der Suche nach Amastan.Je mehr Isabelle über die Geschichte von Mariata erfährt, umso deutlicher wird, dass ihr Leben und das der Tuareg untrennbar miteinander verbunden sind.
Lese-Probe zu „Die Seele der Wüste “
Die Seele der Wüste von Jane JohnsonEINS
Als Kind hatte ich einen Wigwam im Garten: eine Höhle aus dünner gelber Baumwolle über ein Bambusgestell gespannt und mit Pflöcken im Rasen verankert. Jedes Mal, wenn meine Eltern sich stritten, flüchtete ich mich dorthin. Ich lag auf dem Bauch, steckte mir die Finger in die Ohren und starrte so angestrengt auf die roten Tiere, mit denen die Borte bedruckt war, dass sie nach einer Weile anfingen zu tanzen oder zu laufen, bis ich nicht mehr in meinem Garten war, sondern weit draußen in der Prärie. Dort trug ich ein mit Fransen besetztes Gewand aus Hirschleder und Federn im Haar, wie die tapferen Krieger in den Filmen, die ich jeden Samstagvormittag im Kino an der Ecke sah.
Schon früh saß ich lieber draußen in meinem kleinen Zelt als im Haus. Das Zelt war meine Welt. Es war so groß wie meine Phantasie, und die war grenzenlos. Das Haus dagegen fühlte sich trotz seiner Pracht und georgianischen Weitläufigkeit eng und erdrückend an. Es war mit allem möglichen Kram vollgestellt, und dazu kam die Verbitterung meiner Eltern. Beide waren Archäologen, Liebhaber der Vergangenheit, und hatten sich mit Schachteln voller vergilbter Papiere, uralten Artefakten und verstaubten Objekten umgeben, fragilen, halb zerbröselten Hülsen verlorener Zivilisationen. Ich habe nie verstanden, warum sie beschlossen hatten, mich zu bekommen. Selbst das ruhigste Baby, das wohl erzogenste Kleinkind und die fleißigste Schülerin hätte die künstliche, museumsähnliche Stille gestört, in die sie sich gehüllt hatten. In diesem Haus lebten sie abgeschieden vom Rest der Welt, in einer Seifenbla se, in der die Staubkörnchen so lautlos in der Luft schwebten wie der künstliche Schnee in einer Schneekugel. Ich war kein Kind, das in ein solches Leben passte, sondern ein wildes Ding,
... mehr
laut, unordentlich und aufmüpfig. Ich beteiligte mich lieber an den rauen Spielen der Jungs als den öden, verschlüsselten Unterhaltungen der anderen Mädchen. Ich hatte Puppen, doch meistens fiel mir nichts Besseres ein, als ihnen den Kopf abzuschlagen oder sie zu skalpieren. Manchmal vergrub ich sie im Garten und vergaß, wo. Ich machte mir nichts daraus, modische Outfits für die grotesk dünnen rosa Plastikpuppen mit ihren insektenhaften Figuren und messingblondem Haar zu entwerfen, für die die anderen Mädchen so schwärmten. Nicht mal um meine eigenen Klamotten machte ich mir große Gedanken. Lieber beschäftigte ich mich mit Wurfgeschossen oder Katapulten aus Lehm und jagte meinen Spielkameraden hinterher, bis ich vor lauter Lachen Seitenstechen bekam, baute mir Verstecke und lief halb nackt herum, sogar im Winter.
»Du kleiner Wildfang!«, schimpfte meine Mutter und versetzte mir einen Klaps aufs Hinterteil. »Zieh dir um Himmels willen etwas an, Isabelle«, fuhr sie mit der ganzen Strenge fort, die ihr scharfer französischer Akzent zuließ, als glaubte sie, dass sie mich zwingen könnte, mich zivilisiert zu benehmen, indem sie mich mit der Uraltversion meines altmodischen Vornamens ansprach. Doch das funktionierte so gut wie nie.
Meine Freunde nannten mich Izzy: Es entsprach meinem chaotischen Temperament, immer in Bewegung, immer laut, was für eine Strafe!
Im Garten hinter dem Haus spielten meine Freunde und ich Cowboy und Indianer, Zulus, König Arthur und Robin Hood, bewaffnet mit Bambusstöcken, die wir aus dem Gemüsebeet klauten und zu Schwertern, Spießen und phantasievollen Pfeilen und Bogen umfunktionierten. Bei Robin Hood bestand ich darauf, einer von seinen Gesetzlosen zu sein oder sogar der Sheriff von Nottingham: alles, bloß nicht Maid Marian. In sämtlichen Versionen der Legende, die ich kannte, tat Maid Marian nicht viel mehr, als sich gefangen nehmen und/oder retten zu lassen, und damit hatte ich nichts am Hut. Mir lag nichts daran, die Gefangene zu spielen, die in Ohnmacht fiel; ich war ein Rabauke und wollte lieber kämpfen und mit Stöcken auf andere losgehen. Das war Ende der Sechziger- und An fang der Siebzigerjahre: Girlpower hatte Maid Marian, Guinevere, Arwen oder die anderen angepassten Heldinnen aus den Legenden noch nicht zu resoluten, tatkräftigen Draufgängerinnen verwandelt. Außerdem war ich im Vergleich mit meinen attraktiven blassen Freundinnen viel zu hässlich, um die Heldin zu spielen. Es machte mir nichts aus: Ich war gern hässlich. Ich hatte dichtes schwarzes Haar, Dreck unter den Fingernägeln und Hornhaut an den Füßen, und genauso wollte ich es. Ich heulte, wenn meine Mutter mich zwang, ein Bad zu nehmen, wenn sie mich mit Wright’s Coal Tar Soap bearbeitete oder versuchte, mein verfilztes Haar zu kämmen. Wenn wir Gäste hatten, was gelegentlich vorkam, musste sie sie warnen: »Achtet nicht auf das Geschrei. Das ist nur Isabelle; sie kann es nicht ausstehen, wenn man ihr das Haar wäscht.«
Dreißig Jahre später hätte kein Mensch mich wiedererkannt.
An dem Tag, als ich zum Notar ging, um den Brief in Empfang zu nehmen, den mein Vater mir hinterlassen hatte, trug ich ein klassisches Armani-Kostüm und hochhackige Schuhe von Prada. Mein widerspenstiges Haar war zu einem schulterlangen Bob geschnitten, mein Make-up diskret und fachmännisch aufgetragen. Der Dreck unter den Nägeln war unter einer praktischen, gerade geschnittenen French Manicure verschwunden. Das Komische war, dass ich mich jetzt auf eine Art präsentierte, die meine Mutter rückhaltlos gebilligt hätte, wäre sie noch am Leben gewesen. Es war schwer, die beiden miteinander zu verbinden, selbst für mich, die jeden Schritt des langen Weges zwischen dem schmuddligen Wildfang von einst und der sorgfältig aufgemachten Geschäftsfrau von heute zurückgelegt hatte.
Der Brief, den mein Vater für mich hinterlegt hatte, war kurz und kryptisch; kein Wunder, er war immer kurz angebunden und kryptisch gewesen.
Meine liebe Isabelle,
ich weiß, dass ich eine große Enttäuschung für dich war, nicht nur als Vater, sondern auch als Mann. Ich bitte dich nicht um Vergebung, nicht einmal um Verständnis. Was ich getan habe, war falsch: Ich wusste es schon damals, so wie ich es heute weiß. Eine falsche Entscheidung führt zur nächsten und übernächsten; eine Kette von Ereignissen schließlich zur Katastrophe. Hinter dieser Katastrophe verbirgt sich eine Geschichte, aber ich werde nicht derjenige sein, der sie erzählt. Sie ist ein Geheimnis, dem du selbst auf die Spur kommen musst, denn es gehört dir, und ich will es nicht für dich interpretieren oder es dir verderben, wie ich alles andere verdorben habe. So hinterlasse ich dir das Haus und noch etwas anderes. Auf dem Dachboden wirst du eine Kiste mit deinem Namen finden. Darin befindet sich etwas, das du als »Wegmarke« für dein Leben bezeichnen könntest. Ich weiß, dass du dich immer unwohl in der Welt gefühlt hast, in der du aufgewachsen bist, und muss zumindest die Hälfte der Schuld daran auf mich nehmen, aber vielleicht hast du dich unterdessen damit abgefunden. Falls es so ist, vergiss diesen Brief. Lass die Kiste verschlossen. Verkauf das Haus und alles, was sich darin befindet. Weck keine schlafenden Hunde.
Gehe in Frieden, Isabelle, und mit meiner Liebe. So wenig sie auch taugen mag.
Anthony Treslove-Fawcett
Das alles las ich in einer Kanzlei in Holborn, in Anwesenheit des Notars und seines Kollegen, die mich neugierig beobachteten, knapp zehn Minuten zu Fuß entfernt von dem Büro, in dem ich als gut bezahlte Steuerberaterin angestellt war. Außerdem enthielt der Umschlag einen Satz sämtlicher Hausschlüssel an einem abgegriffenen ledernen Schlüsselanhänger.
»Alles in Ordnung?«, fragte der Notar munter. Komische Frage an jemanden, dessen Vater gestorben war, aber vielleicht hatte er keine Ahnung davon, dass ich meinen Vater dreißig Jahre lang so gut wie gar nicht gesehen hatte, nicht persönlich jedenfalls.
Ich zitterte dermaßen, dass ich kaum ein Wort herausbrachte. »Ja, vielen Dank«, antwortete ich nur und stopfte unbeholfen Brief und Schlüssel in meine Handtasche. Dann riss ich mich zusammen und schenkte ihm ein so strahlendes Lächeln, dass selbst die blinde Justitia geblendet gewesen wäre.
Der ältere Kollege versuchte, sich die Enttäuschung darüber, dass ich den Inhalt für mich behielt, nicht anmerken zu lassen. Er reichte mir eine Mappe mit Unterlagen und begann, sehr schnell zu reden.
Mittlerweile wollte ich nur noch raus. Ich brauchte die Sonne, ich brauchte frische Luft. Ich spürte, wie mich die Wände des Büros mit ihren überquellenden Regalen und massiven Aktenschränken erdrückten. Worte wie »Erbschein«, »gesperrte Konten« und »Rechtsweg« hallten durch meinen Hinterkopf wie das nervtötende Summen von Fliegen. Noch während er sprach, riss ich die Tür auf, trat in den Gang hinaus und floh die Treppe hinunter.
Als mein Vater uns verließ, war ich vierzehn. Ich hatte keine einzige Träne vergossen. Ich betrachtete sein Verschwinden mit gemischten Gefühlen: Einerseits hasste ich ihn, weil er sich aus dem Staub gemacht hatte und uns im Stich gelassen hatte, andererseits packte mich von Zeit zu Zeit auch Trauer um den Vater, der er mir gelegentlich gewesen war. Zugleich war ich unendlich erleichtert, dass er nicht mehr da war. Es machte das Leben einfacher, allerdings auch kälter und ärmer. Meine Mutter ließ sich den Kummer, den sein Verschwinden ausgelöst haben muss, nicht anmerken. Sie war keine besonders gefühlsbetonte Frau, und ich verstand sie nicht: Sie blieb mein ganzes Leben lang ein Rätsel. Mein Vater schien aufgrund seines explosiven Temperaments und seiner cholerischen Gemütsart mehr Ähnlichkeit mit mir gehabt zu haben, doch meine Mutter war kalt wie Eis, frostig, höflich und nur an der Fassade interessiert, die man der Welt zeigte. In puncto Kindererziehung machte sie es sich zur Aufgabe, meine Fortschritte in der Schule, mein Äußeres und meine Manieren zu überwachen. Sie fand offen zur Schau getragene Gefühle vulgär; wahrscheinlich war ich mit meiner Unbändigkeit und meinen Wutanfällen eine schreckliche Enttäuschung für sie. Sie behandelte mich mit einer Art kühler Ungeduld, einer unterdrückten Verzweiflung, und wiederholte ihre Ermahnungen und Tadel ein ums andere Mal, als wäre ich ein Birnbaum am Spalier, der unablässig gestutzt werden muss, damit er den korrekten Vorgaben entsprechend wachsen kann. Einen Großteil meines Lebens hatte ich geglaubt, dass alle Mütter so sind.
Doch eines Tages, als ich aus der Schule kam, war die Atmosphäre im Haus verändert, irgendetwas Bedrohliches lag in der Luft, als braute sich im Innern ein Gewitter zusammen. Meine Mutter saß im halbdunklen Salon; die Vorhänge waren zugezogen. »Alles in Ordnung mit dir?«, fragte ich plötzlich zu Tode erschrocken bei der Vorstellung, ich könnte noch ein Elternteil verlieren.
Ich zog die Vorhänge auf. Das Licht des späten Nachmittags raubte ihrem Gesicht die harten Konturen und verwandelte es in eine weiße Kabuki-Maske, die fremd und verstörend auf mich wirkte. Einen Moment lang saß diese gesichtslose Frau da und starrte mich an, als wäre ich eine Fremde. Dann sagte sie: »Alles war wunderbar zwischen uns, bis du gekommen bist. Als ich dich zum ersten Mal auf den Arm nahm, war mir klar, dass du alles zerstören würdest.« Sie hielt inne. »Manchmal weiß man so etwas einfach. Ich hatte ihm gesagt, dass ich keine Kinder haben wollte, aber er war wild entschlossen.« Sie fixierte mich mit ihren dunklen Augen, und ich war entsetzt über die stille Bosheit, die ich darin erkannte.
Lange Augenblicke verstrichen; mein Herz schlug wild. Dann lächelte sie und fing an, sich über den Rhododendron im Garten auszulassen.
Am nächsten Tag war sie so wie immer und schnalzte missbilligend mit der Zunge, als sie mich begutachtete: Ich war am Abend zuvor in der Schuluniform eingeschlafen. Sie wollte, dass ich sie auszog, damit sie schnell noch mit dem Bügeleisen drübergehen konnte, doch ich war schon zur Tür hinaus. Seit diesem Tag lebte ich mit dem bangen Gefühl, über einen gefrorenen See zu gehen, mit der Panik, ich könnte durch das dünne Eis brechen und in der trüben Dunkelheit versinken, die ich darunter erspäht hatte. Selbstverständlich wusste niemand von unserer seltsamen, gespannten Beziehung: Wem konnte man davon erzählen, und was gab es zu sagen? Nachdem sich ein Elternteil verabschiedet hatte und ich in steter Angst vor der erschreckenden Kälte des anderen lebte, begriff ich, dass ich auf mich allein gestellt war. Während die Jahre vergingen, konzentrierte ich mich darauf, selbstständig zu werden, nicht nur in finanzieller Hinsicht, sondern auch in allen anderen entscheidenden Bereichen. Um mich vor den Bedürfnissen, Wünschen und Schmerzen zu schützen, existierte ich in einer Blase, in die niemand eindringen konnte.
Doch als ich an diesem Abend am Küchentisch saß und den Brief meines Vaters noch einmal las, wusste ich, dass diese Blase jetzt zerplatzen würde.
Vergiss diesen Brief. Lass die Kiste verschlossen. Verkauf das Haus und alles, was sich darin befindet. Weck keine schlafenden Hunde ...
Hat es je einen Abschiedsbrief gegeben, der so eindeutig darauf abzielte, den Empfänger zu quälen? Was meinte er bloß mit »schlafenden Hunden«? Der Satz ging mir nicht aus dem Kopf. Aber er erfüllte mich auch mit einer mysteriösen, tiefen Aufregung. Mein Leben war so geregelt und langweilig – und plötzlich hatte ich das Gefühl, dass sich etwas ändern würde.
Am nächsten Morgen im Fitnessstudio rannte ich entschlossen eine Stunde lang, machte Kniebeugen und stemmte Gewichte. Dann duschte ich, schlüpfte in ein Chanelkostüm und war genau zehn Minuten vor neun in meinem Büro, so wie an jedem Arbeitstag. Ich schaltete den Computer ein, studierte meinen Terminkalender und machte mir eine Liste mit Aufgaben für den Tag.
Ich hatte in allen Bereichen meines Lebens nach Sicherheit getrachtet, getreu dem alten Motto von Benjamin Franklin, dass nichts im Leben sicher ist, abgesehen von Tod und Steuern. Da ich mich mit dem Beruf eines Bestattungsunternehmers nicht anfreunden konnte, hatte ich mich für das andere entschieden. Als Steuerberaterin eines Großkonzerns folgte mein Arbeitstag einer klaren Routine. An den meisten Abenden verließ ich das Büro um halb sieben, nahm die U-Bahn und den Zug nach Hause, machte mir etwas Einfaches zu essen, las ein Buch, sah mir die Nachrichten im Fernsehen an und ging allein ins Bett, vor elf. Hin und wieder traf ich mich in der Stadt mit einer Freundin. Manchmal fuhr ich zu einer der Kletterwände von Westway oder Castle und kletterte wie ein Teufel: die einzige Konzession an die verlorene Izzy in mir. Und das war mein Leben.
Ich hatte alle Verbindungen zu dem Mädchen gekappt, das ich einmal gewesen war. Außer zu Eve.
Eve kannte ich, seit ich dreizehn war und sie mit ihrem Vater in die Umgebung gezogen war. Eve war all das, was ich nicht war: hübsch, lustig und kultivierter als wir Übrigen, die damit beschäftigt waren, sich Sicherheitsnadeln durch die Ohren zu stecken und – reichlich spät – bei der Revolution der Punks mitzumischen. Eve trug authentische Bondagehosen von Westwood und zerrissene T-Shirts dazu, die an der Taille kunstvoll verschnürt waren. Dazu das löwenzahnblonde Haar – sie sah aus wie Debbie Harry. Alle liebten Eve, sie aber hatte aus irgendeinem Grund mich als Freundin auserkoren, und jetzt war sie die Erste, die an diesem ersten Samstagmorgen vom Brief meines Vaters erfuhr, der in meinem Leben eingeschlagen war wie eine Bombe.
»Kannst du rüberkommen? Ich brauche moralische Unterstützung.«
Sie lachte am anderen Ende der Leitung. »Dafür brauchst du mich bestimmt nicht! Gib mir eine halbe Stunde Zeit, und ich komme mit unmoralischer Unterstützung. Macht viel mehr Spaß!«
Sie hatte mich auf die Beerdigung begleitet und sich die Augen ausgeweint, während ich die ganze Zeit mit versteinertem Gesicht danebengestanden hatte. Jeder, der mich nicht kannte, hatte sie für Anthonys Tochter gehalten. »Er war so nett, dein Dad«, sagte sie jetzt und drehte die Kaffeetasse in der Hand. »Weißt du noch, wie Tim Fleming mir das Herz gebrochen hat?«
Tim Fleming war siebzehn gewesen, wir dreizehn, er war verrufen, langhaarig und trug eine Lederjacke. Wer sich mit ihm einließ, musste mit allem rechnen, und genau das hatte Eve gewollt und auch bekommen. Ich grinste. »Wer könnte das vergessen?«
»Dein Vater hat mir seinen Blick zugeworfen – du weißt schon ...«, sie neigte den Kopf zur Seite und musterte mich mit einem glänzenden Auge. Es war die groteske Übertreibung seines spöttischen Ausdrucks, aber merkwürdig treffend – »... und gesagt: ›Ein hübsches Ding wie du ist viel zu gut für einen solchen Deppen.‹ Es war so lustig, ein solcher Ausdruck und dazu dieser unglaublich vornehme Akzent, den er draufhatte. Ich fing an zu lachen. Und genau das sagte ich Tim, als ich ihn das nächste Mal sah, weißt du noch? ›Ich bin viel zu gut für einen Depp wie dich!‹«
Ich erinnerte mich, wie Eve an diesem Samstagmittag zu dem Kebab-Imbiss marschiert war, wo Tim Fleming mit seinen Freunden herumlungerte, und ihm diese Worte entgegengeschleudert hatte. Ihr blondes Haar flatterte wie eine Fahne im Wind. Sie war mir so klug und trotzig erschienen, und ich war stolz auf sie gewesen. Doch das Bild, das ich von meinem Vater hatte, wenn ich mich an ihn erinnerte, war ein ganz anderes.
Sie las den Brief, runzelte konzentriert die Stirn und las ihn dann noch einmal. »Irre«, sagte sie schließlich und gab ihn mir zurück. »Eine Kiste auf dem Dachboden, Junge, Junge. Glaubst du, dass die halb verschimmelte Leiche deiner Mutter drinliegen könnte? Vielleicht ist sie ja gar nicht in Frankreich gestorben.« Sie zog eine grässliche Grimasse und sah mich an. Der Eyeliner unter ihrem linken Auge war verschmiert. Am liebsten hätte ich die Hand ausgestreckt und es weggewischt, nicht aus einem unterdrückten erotischen Verlangen heraus, nur wegen meines Sauberkeitsfimmels.
»O doch, sie ist nach Frankreich zurückgegangen.«
Sobald ich auszog, um zur Uni zu gehen, hatte meine Mutter ihren Anteil an dem Haus für eine astronomische Summe an meinen Vater verkauft und war nach Frankreich zurückgekehrt, als wäre sie jetzt aller Verantwortung für mich entbunden. Ich hatte nicht einmal mitbekommen, dass sie noch Kontakt hatten. Ein oder zwei Mal hatte ich sie besucht, bevor sie starb, und jedes Mal war sie so distanziert und höflich ge wesen wie eine flüchtige Bekannte. Doch jedes Mal hatte ich auch un ruhige dunkle Schatten gespürt, die unter dem gefassten Äußeren lauerten, und gewusst, dass sie mit Zähnen und einer gewaltigen zerstörerischen Kraft ausgestattet wären, falls sie je an die Oberfläche kämen. Vermutlich war es eine Erleich terung für uns beide, als ich beschloss, meine Besuche einzustellen.
Eve legte mir tröstend die Hand auf den Arm. »Wie geht es dir mit alledem?«
»Keine Ahnung.«
Das stimmte.
»Ach komm, Iz. Ich bin es, das emotionale Wrack Eve. Bei mir brauchst du dich nicht so zugeknöpft zu geben.«
»Ehrlich gesagt, war es ein ziemlicher Schock, als er starb. Als ich ihn das letzte Mal im Fernsehen sah, wirkte er ganz okay. Aber das Geld aus dem Verkauf des Hauses kann ich gut gebrauchen.«
Einen Augenblick lang sah sie entsetzt aus. Dann schenkte sie mir das strahlende, gezwungene Lächeln, mit dem man einen Dreijährigen belohnt, der gerade versehentlich – oder auch nicht – auf einen Frosch getreten ist. »Wahrscheinlich stehst du noch unter Schock. Manche Leute begreifen sofort, was für ungeheure Folgen der Tod haben kann, bei anderen dauert es einfach länger. Die Trauer setzt erst später ein.«
»Ganz ehrlich, Eve: Das glaube ich nicht. Er ist aus meinem Leben verschwunden, als ich vierzehn war. Dieser verdammte Brief ist sein erster Versuch, Kontakt zu mir aufzunehmen. Was für Gefühle soll man denn für einen Vater haben, der einem so etwas angetan hat? Ganz egal, wie reich er ist.«
Mein Vater war möglicherweise als reicher Mann gestorben, war es aber keineswegs von Haus aus gewesen. Mit Archäologie lässt sich kein Vermögen verdienen. Er hatte eine echte Leidenschaft für längst vergangene Zeiten, nachdem er die moderne Welt als durch und durch verdorben abgeschrieben hatte – nicht verwunderlich für einen jungen Mann, der unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg erwachsen geworden war, mit allen Schrecken und Grausamkeiten, die die Befreiung offenbarte. Als er meine Mutter in den Fünfzigerjahren bei einer Grabung in Ägypten kennen lernte, hatte er keinen Cent in der Tasche gehabt. Sie hingegen stammte aus einer aris tokratischen französischen Familie mit einem eleganten Haus im ersten Pariser Arrondissement und einem kleinen Schloss in Lot. Zusammen reisten sie durch die ganze Welt, von einer antiken Anlage zur anderen. Sie besuchten die frei gelegte Ziggurat in Dur-Untash und schlossen sich für eine Weile Kelsos Grabung in Bethel an. Sie besichtigten die mit Gipsmasse überzogenen Schädel, die man bei Jericho gefunden hatte, und staunten über die rosenrote Stadt Petra. Sie sahen Imhoteps Stufenpyramide und die Totenstadt Saqqara, schlenderten durch die römischen Ruinen von Volubilis und besuchten die antike Hauptstadt Abalessa des Hoggar-Gebietes. Sie waren, wie sie mir immer wieder erzählten, akademische Nomaden, ständig auf den Spuren der Erkenntnis. Und dann kam ich und machte ihrer lustvollen Suche ein Ende.
Übersetzung: Pociao
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2010
by Page &Turner/Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
»Du kleiner Wildfang!«, schimpfte meine Mutter und versetzte mir einen Klaps aufs Hinterteil. »Zieh dir um Himmels willen etwas an, Isabelle«, fuhr sie mit der ganzen Strenge fort, die ihr scharfer französischer Akzent zuließ, als glaubte sie, dass sie mich zwingen könnte, mich zivilisiert zu benehmen, indem sie mich mit der Uraltversion meines altmodischen Vornamens ansprach. Doch das funktionierte so gut wie nie.
Meine Freunde nannten mich Izzy: Es entsprach meinem chaotischen Temperament, immer in Bewegung, immer laut, was für eine Strafe!
Im Garten hinter dem Haus spielten meine Freunde und ich Cowboy und Indianer, Zulus, König Arthur und Robin Hood, bewaffnet mit Bambusstöcken, die wir aus dem Gemüsebeet klauten und zu Schwertern, Spießen und phantasievollen Pfeilen und Bogen umfunktionierten. Bei Robin Hood bestand ich darauf, einer von seinen Gesetzlosen zu sein oder sogar der Sheriff von Nottingham: alles, bloß nicht Maid Marian. In sämtlichen Versionen der Legende, die ich kannte, tat Maid Marian nicht viel mehr, als sich gefangen nehmen und/oder retten zu lassen, und damit hatte ich nichts am Hut. Mir lag nichts daran, die Gefangene zu spielen, die in Ohnmacht fiel; ich war ein Rabauke und wollte lieber kämpfen und mit Stöcken auf andere losgehen. Das war Ende der Sechziger- und An fang der Siebzigerjahre: Girlpower hatte Maid Marian, Guinevere, Arwen oder die anderen angepassten Heldinnen aus den Legenden noch nicht zu resoluten, tatkräftigen Draufgängerinnen verwandelt. Außerdem war ich im Vergleich mit meinen attraktiven blassen Freundinnen viel zu hässlich, um die Heldin zu spielen. Es machte mir nichts aus: Ich war gern hässlich. Ich hatte dichtes schwarzes Haar, Dreck unter den Fingernägeln und Hornhaut an den Füßen, und genauso wollte ich es. Ich heulte, wenn meine Mutter mich zwang, ein Bad zu nehmen, wenn sie mich mit Wright’s Coal Tar Soap bearbeitete oder versuchte, mein verfilztes Haar zu kämmen. Wenn wir Gäste hatten, was gelegentlich vorkam, musste sie sie warnen: »Achtet nicht auf das Geschrei. Das ist nur Isabelle; sie kann es nicht ausstehen, wenn man ihr das Haar wäscht.«
Dreißig Jahre später hätte kein Mensch mich wiedererkannt.
An dem Tag, als ich zum Notar ging, um den Brief in Empfang zu nehmen, den mein Vater mir hinterlassen hatte, trug ich ein klassisches Armani-Kostüm und hochhackige Schuhe von Prada. Mein widerspenstiges Haar war zu einem schulterlangen Bob geschnitten, mein Make-up diskret und fachmännisch aufgetragen. Der Dreck unter den Nägeln war unter einer praktischen, gerade geschnittenen French Manicure verschwunden. Das Komische war, dass ich mich jetzt auf eine Art präsentierte, die meine Mutter rückhaltlos gebilligt hätte, wäre sie noch am Leben gewesen. Es war schwer, die beiden miteinander zu verbinden, selbst für mich, die jeden Schritt des langen Weges zwischen dem schmuddligen Wildfang von einst und der sorgfältig aufgemachten Geschäftsfrau von heute zurückgelegt hatte.
Der Brief, den mein Vater für mich hinterlegt hatte, war kurz und kryptisch; kein Wunder, er war immer kurz angebunden und kryptisch gewesen.
Meine liebe Isabelle,
ich weiß, dass ich eine große Enttäuschung für dich war, nicht nur als Vater, sondern auch als Mann. Ich bitte dich nicht um Vergebung, nicht einmal um Verständnis. Was ich getan habe, war falsch: Ich wusste es schon damals, so wie ich es heute weiß. Eine falsche Entscheidung führt zur nächsten und übernächsten; eine Kette von Ereignissen schließlich zur Katastrophe. Hinter dieser Katastrophe verbirgt sich eine Geschichte, aber ich werde nicht derjenige sein, der sie erzählt. Sie ist ein Geheimnis, dem du selbst auf die Spur kommen musst, denn es gehört dir, und ich will es nicht für dich interpretieren oder es dir verderben, wie ich alles andere verdorben habe. So hinterlasse ich dir das Haus und noch etwas anderes. Auf dem Dachboden wirst du eine Kiste mit deinem Namen finden. Darin befindet sich etwas, das du als »Wegmarke« für dein Leben bezeichnen könntest. Ich weiß, dass du dich immer unwohl in der Welt gefühlt hast, in der du aufgewachsen bist, und muss zumindest die Hälfte der Schuld daran auf mich nehmen, aber vielleicht hast du dich unterdessen damit abgefunden. Falls es so ist, vergiss diesen Brief. Lass die Kiste verschlossen. Verkauf das Haus und alles, was sich darin befindet. Weck keine schlafenden Hunde.
Gehe in Frieden, Isabelle, und mit meiner Liebe. So wenig sie auch taugen mag.
Anthony Treslove-Fawcett
Das alles las ich in einer Kanzlei in Holborn, in Anwesenheit des Notars und seines Kollegen, die mich neugierig beobachteten, knapp zehn Minuten zu Fuß entfernt von dem Büro, in dem ich als gut bezahlte Steuerberaterin angestellt war. Außerdem enthielt der Umschlag einen Satz sämtlicher Hausschlüssel an einem abgegriffenen ledernen Schlüsselanhänger.
»Alles in Ordnung?«, fragte der Notar munter. Komische Frage an jemanden, dessen Vater gestorben war, aber vielleicht hatte er keine Ahnung davon, dass ich meinen Vater dreißig Jahre lang so gut wie gar nicht gesehen hatte, nicht persönlich jedenfalls.
Ich zitterte dermaßen, dass ich kaum ein Wort herausbrachte. »Ja, vielen Dank«, antwortete ich nur und stopfte unbeholfen Brief und Schlüssel in meine Handtasche. Dann riss ich mich zusammen und schenkte ihm ein so strahlendes Lächeln, dass selbst die blinde Justitia geblendet gewesen wäre.
Der ältere Kollege versuchte, sich die Enttäuschung darüber, dass ich den Inhalt für mich behielt, nicht anmerken zu lassen. Er reichte mir eine Mappe mit Unterlagen und begann, sehr schnell zu reden.
Mittlerweile wollte ich nur noch raus. Ich brauchte die Sonne, ich brauchte frische Luft. Ich spürte, wie mich die Wände des Büros mit ihren überquellenden Regalen und massiven Aktenschränken erdrückten. Worte wie »Erbschein«, »gesperrte Konten« und »Rechtsweg« hallten durch meinen Hinterkopf wie das nervtötende Summen von Fliegen. Noch während er sprach, riss ich die Tür auf, trat in den Gang hinaus und floh die Treppe hinunter.
Als mein Vater uns verließ, war ich vierzehn. Ich hatte keine einzige Träne vergossen. Ich betrachtete sein Verschwinden mit gemischten Gefühlen: Einerseits hasste ich ihn, weil er sich aus dem Staub gemacht hatte und uns im Stich gelassen hatte, andererseits packte mich von Zeit zu Zeit auch Trauer um den Vater, der er mir gelegentlich gewesen war. Zugleich war ich unendlich erleichtert, dass er nicht mehr da war. Es machte das Leben einfacher, allerdings auch kälter und ärmer. Meine Mutter ließ sich den Kummer, den sein Verschwinden ausgelöst haben muss, nicht anmerken. Sie war keine besonders gefühlsbetonte Frau, und ich verstand sie nicht: Sie blieb mein ganzes Leben lang ein Rätsel. Mein Vater schien aufgrund seines explosiven Temperaments und seiner cholerischen Gemütsart mehr Ähnlichkeit mit mir gehabt zu haben, doch meine Mutter war kalt wie Eis, frostig, höflich und nur an der Fassade interessiert, die man der Welt zeigte. In puncto Kindererziehung machte sie es sich zur Aufgabe, meine Fortschritte in der Schule, mein Äußeres und meine Manieren zu überwachen. Sie fand offen zur Schau getragene Gefühle vulgär; wahrscheinlich war ich mit meiner Unbändigkeit und meinen Wutanfällen eine schreckliche Enttäuschung für sie. Sie behandelte mich mit einer Art kühler Ungeduld, einer unterdrückten Verzweiflung, und wiederholte ihre Ermahnungen und Tadel ein ums andere Mal, als wäre ich ein Birnbaum am Spalier, der unablässig gestutzt werden muss, damit er den korrekten Vorgaben entsprechend wachsen kann. Einen Großteil meines Lebens hatte ich geglaubt, dass alle Mütter so sind.
Doch eines Tages, als ich aus der Schule kam, war die Atmosphäre im Haus verändert, irgendetwas Bedrohliches lag in der Luft, als braute sich im Innern ein Gewitter zusammen. Meine Mutter saß im halbdunklen Salon; die Vorhänge waren zugezogen. »Alles in Ordnung mit dir?«, fragte ich plötzlich zu Tode erschrocken bei der Vorstellung, ich könnte noch ein Elternteil verlieren.
Ich zog die Vorhänge auf. Das Licht des späten Nachmittags raubte ihrem Gesicht die harten Konturen und verwandelte es in eine weiße Kabuki-Maske, die fremd und verstörend auf mich wirkte. Einen Moment lang saß diese gesichtslose Frau da und starrte mich an, als wäre ich eine Fremde. Dann sagte sie: »Alles war wunderbar zwischen uns, bis du gekommen bist. Als ich dich zum ersten Mal auf den Arm nahm, war mir klar, dass du alles zerstören würdest.« Sie hielt inne. »Manchmal weiß man so etwas einfach. Ich hatte ihm gesagt, dass ich keine Kinder haben wollte, aber er war wild entschlossen.« Sie fixierte mich mit ihren dunklen Augen, und ich war entsetzt über die stille Bosheit, die ich darin erkannte.
Lange Augenblicke verstrichen; mein Herz schlug wild. Dann lächelte sie und fing an, sich über den Rhododendron im Garten auszulassen.
Am nächsten Tag war sie so wie immer und schnalzte missbilligend mit der Zunge, als sie mich begutachtete: Ich war am Abend zuvor in der Schuluniform eingeschlafen. Sie wollte, dass ich sie auszog, damit sie schnell noch mit dem Bügeleisen drübergehen konnte, doch ich war schon zur Tür hinaus. Seit diesem Tag lebte ich mit dem bangen Gefühl, über einen gefrorenen See zu gehen, mit der Panik, ich könnte durch das dünne Eis brechen und in der trüben Dunkelheit versinken, die ich darunter erspäht hatte. Selbstverständlich wusste niemand von unserer seltsamen, gespannten Beziehung: Wem konnte man davon erzählen, und was gab es zu sagen? Nachdem sich ein Elternteil verabschiedet hatte und ich in steter Angst vor der erschreckenden Kälte des anderen lebte, begriff ich, dass ich auf mich allein gestellt war. Während die Jahre vergingen, konzentrierte ich mich darauf, selbstständig zu werden, nicht nur in finanzieller Hinsicht, sondern auch in allen anderen entscheidenden Bereichen. Um mich vor den Bedürfnissen, Wünschen und Schmerzen zu schützen, existierte ich in einer Blase, in die niemand eindringen konnte.
Doch als ich an diesem Abend am Küchentisch saß und den Brief meines Vaters noch einmal las, wusste ich, dass diese Blase jetzt zerplatzen würde.
Vergiss diesen Brief. Lass die Kiste verschlossen. Verkauf das Haus und alles, was sich darin befindet. Weck keine schlafenden Hunde ...
Hat es je einen Abschiedsbrief gegeben, der so eindeutig darauf abzielte, den Empfänger zu quälen? Was meinte er bloß mit »schlafenden Hunden«? Der Satz ging mir nicht aus dem Kopf. Aber er erfüllte mich auch mit einer mysteriösen, tiefen Aufregung. Mein Leben war so geregelt und langweilig – und plötzlich hatte ich das Gefühl, dass sich etwas ändern würde.
Am nächsten Morgen im Fitnessstudio rannte ich entschlossen eine Stunde lang, machte Kniebeugen und stemmte Gewichte. Dann duschte ich, schlüpfte in ein Chanelkostüm und war genau zehn Minuten vor neun in meinem Büro, so wie an jedem Arbeitstag. Ich schaltete den Computer ein, studierte meinen Terminkalender und machte mir eine Liste mit Aufgaben für den Tag.
Ich hatte in allen Bereichen meines Lebens nach Sicherheit getrachtet, getreu dem alten Motto von Benjamin Franklin, dass nichts im Leben sicher ist, abgesehen von Tod und Steuern. Da ich mich mit dem Beruf eines Bestattungsunternehmers nicht anfreunden konnte, hatte ich mich für das andere entschieden. Als Steuerberaterin eines Großkonzerns folgte mein Arbeitstag einer klaren Routine. An den meisten Abenden verließ ich das Büro um halb sieben, nahm die U-Bahn und den Zug nach Hause, machte mir etwas Einfaches zu essen, las ein Buch, sah mir die Nachrichten im Fernsehen an und ging allein ins Bett, vor elf. Hin und wieder traf ich mich in der Stadt mit einer Freundin. Manchmal fuhr ich zu einer der Kletterwände von Westway oder Castle und kletterte wie ein Teufel: die einzige Konzession an die verlorene Izzy in mir. Und das war mein Leben.
Ich hatte alle Verbindungen zu dem Mädchen gekappt, das ich einmal gewesen war. Außer zu Eve.
Eve kannte ich, seit ich dreizehn war und sie mit ihrem Vater in die Umgebung gezogen war. Eve war all das, was ich nicht war: hübsch, lustig und kultivierter als wir Übrigen, die damit beschäftigt waren, sich Sicherheitsnadeln durch die Ohren zu stecken und – reichlich spät – bei der Revolution der Punks mitzumischen. Eve trug authentische Bondagehosen von Westwood und zerrissene T-Shirts dazu, die an der Taille kunstvoll verschnürt waren. Dazu das löwenzahnblonde Haar – sie sah aus wie Debbie Harry. Alle liebten Eve, sie aber hatte aus irgendeinem Grund mich als Freundin auserkoren, und jetzt war sie die Erste, die an diesem ersten Samstagmorgen vom Brief meines Vaters erfuhr, der in meinem Leben eingeschlagen war wie eine Bombe.
»Kannst du rüberkommen? Ich brauche moralische Unterstützung.«
Sie lachte am anderen Ende der Leitung. »Dafür brauchst du mich bestimmt nicht! Gib mir eine halbe Stunde Zeit, und ich komme mit unmoralischer Unterstützung. Macht viel mehr Spaß!«
Sie hatte mich auf die Beerdigung begleitet und sich die Augen ausgeweint, während ich die ganze Zeit mit versteinertem Gesicht danebengestanden hatte. Jeder, der mich nicht kannte, hatte sie für Anthonys Tochter gehalten. »Er war so nett, dein Dad«, sagte sie jetzt und drehte die Kaffeetasse in der Hand. »Weißt du noch, wie Tim Fleming mir das Herz gebrochen hat?«
Tim Fleming war siebzehn gewesen, wir dreizehn, er war verrufen, langhaarig und trug eine Lederjacke. Wer sich mit ihm einließ, musste mit allem rechnen, und genau das hatte Eve gewollt und auch bekommen. Ich grinste. »Wer könnte das vergessen?«
»Dein Vater hat mir seinen Blick zugeworfen – du weißt schon ...«, sie neigte den Kopf zur Seite und musterte mich mit einem glänzenden Auge. Es war die groteske Übertreibung seines spöttischen Ausdrucks, aber merkwürdig treffend – »... und gesagt: ›Ein hübsches Ding wie du ist viel zu gut für einen solchen Deppen.‹ Es war so lustig, ein solcher Ausdruck und dazu dieser unglaublich vornehme Akzent, den er draufhatte. Ich fing an zu lachen. Und genau das sagte ich Tim, als ich ihn das nächste Mal sah, weißt du noch? ›Ich bin viel zu gut für einen Depp wie dich!‹«
Ich erinnerte mich, wie Eve an diesem Samstagmittag zu dem Kebab-Imbiss marschiert war, wo Tim Fleming mit seinen Freunden herumlungerte, und ihm diese Worte entgegengeschleudert hatte. Ihr blondes Haar flatterte wie eine Fahne im Wind. Sie war mir so klug und trotzig erschienen, und ich war stolz auf sie gewesen. Doch das Bild, das ich von meinem Vater hatte, wenn ich mich an ihn erinnerte, war ein ganz anderes.
Sie las den Brief, runzelte konzentriert die Stirn und las ihn dann noch einmal. »Irre«, sagte sie schließlich und gab ihn mir zurück. »Eine Kiste auf dem Dachboden, Junge, Junge. Glaubst du, dass die halb verschimmelte Leiche deiner Mutter drinliegen könnte? Vielleicht ist sie ja gar nicht in Frankreich gestorben.« Sie zog eine grässliche Grimasse und sah mich an. Der Eyeliner unter ihrem linken Auge war verschmiert. Am liebsten hätte ich die Hand ausgestreckt und es weggewischt, nicht aus einem unterdrückten erotischen Verlangen heraus, nur wegen meines Sauberkeitsfimmels.
»O doch, sie ist nach Frankreich zurückgegangen.«
Sobald ich auszog, um zur Uni zu gehen, hatte meine Mutter ihren Anteil an dem Haus für eine astronomische Summe an meinen Vater verkauft und war nach Frankreich zurückgekehrt, als wäre sie jetzt aller Verantwortung für mich entbunden. Ich hatte nicht einmal mitbekommen, dass sie noch Kontakt hatten. Ein oder zwei Mal hatte ich sie besucht, bevor sie starb, und jedes Mal war sie so distanziert und höflich ge wesen wie eine flüchtige Bekannte. Doch jedes Mal hatte ich auch un ruhige dunkle Schatten gespürt, die unter dem gefassten Äußeren lauerten, und gewusst, dass sie mit Zähnen und einer gewaltigen zerstörerischen Kraft ausgestattet wären, falls sie je an die Oberfläche kämen. Vermutlich war es eine Erleich terung für uns beide, als ich beschloss, meine Besuche einzustellen.
Eve legte mir tröstend die Hand auf den Arm. »Wie geht es dir mit alledem?«
»Keine Ahnung.«
Das stimmte.
»Ach komm, Iz. Ich bin es, das emotionale Wrack Eve. Bei mir brauchst du dich nicht so zugeknöpft zu geben.«
»Ehrlich gesagt, war es ein ziemlicher Schock, als er starb. Als ich ihn das letzte Mal im Fernsehen sah, wirkte er ganz okay. Aber das Geld aus dem Verkauf des Hauses kann ich gut gebrauchen.«
Einen Augenblick lang sah sie entsetzt aus. Dann schenkte sie mir das strahlende, gezwungene Lächeln, mit dem man einen Dreijährigen belohnt, der gerade versehentlich – oder auch nicht – auf einen Frosch getreten ist. »Wahrscheinlich stehst du noch unter Schock. Manche Leute begreifen sofort, was für ungeheure Folgen der Tod haben kann, bei anderen dauert es einfach länger. Die Trauer setzt erst später ein.«
»Ganz ehrlich, Eve: Das glaube ich nicht. Er ist aus meinem Leben verschwunden, als ich vierzehn war. Dieser verdammte Brief ist sein erster Versuch, Kontakt zu mir aufzunehmen. Was für Gefühle soll man denn für einen Vater haben, der einem so etwas angetan hat? Ganz egal, wie reich er ist.«
Mein Vater war möglicherweise als reicher Mann gestorben, war es aber keineswegs von Haus aus gewesen. Mit Archäologie lässt sich kein Vermögen verdienen. Er hatte eine echte Leidenschaft für längst vergangene Zeiten, nachdem er die moderne Welt als durch und durch verdorben abgeschrieben hatte – nicht verwunderlich für einen jungen Mann, der unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg erwachsen geworden war, mit allen Schrecken und Grausamkeiten, die die Befreiung offenbarte. Als er meine Mutter in den Fünfzigerjahren bei einer Grabung in Ägypten kennen lernte, hatte er keinen Cent in der Tasche gehabt. Sie hingegen stammte aus einer aris tokratischen französischen Familie mit einem eleganten Haus im ersten Pariser Arrondissement und einem kleinen Schloss in Lot. Zusammen reisten sie durch die ganze Welt, von einer antiken Anlage zur anderen. Sie besuchten die frei gelegte Ziggurat in Dur-Untash und schlossen sich für eine Weile Kelsos Grabung in Bethel an. Sie besichtigten die mit Gipsmasse überzogenen Schädel, die man bei Jericho gefunden hatte, und staunten über die rosenrote Stadt Petra. Sie sahen Imhoteps Stufenpyramide und die Totenstadt Saqqara, schlenderten durch die römischen Ruinen von Volubilis und besuchten die antike Hauptstadt Abalessa des Hoggar-Gebietes. Sie waren, wie sie mir immer wieder erzählten, akademische Nomaden, ständig auf den Spuren der Erkenntnis. Und dann kam ich und machte ihrer lustvollen Suche ein Ende.
Übersetzung: Pociao
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2010
by Page &Turner/Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
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Autoren-Porträt von Jane Johnson
Jane Johnson, MSc, ist Co-Direktorin der London Massage Company. Als Physiotherapeutin und Sportmasseurin führt sie seit vielen Jahren Haltungsanalysen durch. Jane Johnson unterrichtet Haltungsanalyse im Rahmen berufsbegleitender Fortbildungsmaßnahmen für die Federation of Holistic Therapists (FHT). Dadurch bekam sie Kontakt zu Tausenden von Therapeuten der verschiedensten Therapierichtungen, die ihre eigene Arbeit beeinflussten. Sie moderiert zudem regelmäßig die jährlich stattfindende Complementary and Massage Expo (CAM) in Großbritannien. Jane Johnson ist Vollmitglied der Chartered Society of Physiotherapists und registriert beim Health Professions Council. Als Mitglied des Institute of Anatomical Sciences ist sie sehr an der Anatomie des Bewegungsapparates und einer verbesserten Ausbildung auf diesem Gebiet interessiert. Auch beschäftigt sie sich intensiv mit dem Zusammenhang von Haltung und Emotionen.
Bibliographische Angaben
- Autor: Jane Johnson
- 2010, 509 Seiten, Maße: 14 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Pociao
- Übersetzer: pociao
- Verlag: Page & Turner
- ISBN-10: 3442203449
- ISBN-13: 9783442203444
Rezension zu „Die Seele der Wüste “
»Eine romantische Geschichte voller Exotik und wunderbarer Charaktere, die einen ganz in ihren Bann zieht.«
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