Die spinnen, die Finnen
Mein Leben im hohen Norden. Originalausgabe
Wenn es eine rheinische Frohnatur nach Finnland verschlägt, sind Probleme vorprogrammiert. Auch nach Jahren ist Hermann im Land der Kälte, Dunkelheit und schrägen Metal-Bands immer noch nicht richtig angekommen, trotz finnischer Frau und Kindern. Ein köstlicher Bericht!
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Die spinnen, die Finnen “
Wenn es eine rheinische Frohnatur nach Finnland verschlägt, sind Probleme vorprogrammiert. Auch nach Jahren ist Hermann im Land der Kälte, Dunkelheit und schrägen Metal-Bands immer noch nicht richtig angekommen, trotz finnischer Frau und Kindern. Ein köstlicher Bericht!
Klappentext zu „Die spinnen, die Finnen “
Niemand kann so gut schweigen wie die Finnen. Niemand kann mehr trinken. Niemand hat schrägere Metal-Bands. Und niemand sonst erträgt so viel Kälte und Dunkelheit. Ausgerechnet nach Finnland hat es die rheinische Frohnatur Hermann verschlagen. Selbst nach vielen Jahren ist er dort noch immer nicht richtig angekommen, obwohl er inzwischen eine finnische Frau und zwei Kinder hat. Doch nun macht er Nägel mit Köpfen: In einem Sieben-Punkte-Programm will er endlich zum echten Finnen werden.
Lese-Probe zu „Die spinnen, die Finnen “
Feuerwasser von Dieter-Hermann SchmitzDa der Tanzkurs frühestens in einigen Wochen echte
Finnen-Früchte tragen wird, will ich einen Listenpunkt
in Angriff nehmen, der deutlich schnelleren Erfolg
verspricht. Da kommt mir das Wochenende gerade
recht. Es wird Zeit für die Freitagsflasche! Jetzt oder
nie, denn die Gelegenheit ist günstig: Ich bin allein zu
Haus. Die Sache hat nur einen Haken: Da Ronkoteus,
unser blauer Familien-Van mit dem steinzeitlichen Namen,
noch mit dem Rest der Familie durchs wilde Österbotten
kurvt, habe ich kein Auto, und der nächste
Alko-Laden ist etwa vier Kilometer entfernt.
»Alko« ist keine trendige Abkürzung wie »Alk«, sondern
der Name einer Aktiengesellschaft in staatlicher
Hand, gegründet 1932, um dem privaten Schnapsbrennen
den Garaus zu machen. Seither gibt es in Finnland
Hochprozentiges nur dort zu kaufen, wo ein Alko-Logo
an der Eingangstüre prangt.
Natürlich lasse ich mich von der Abwesenheit eines
motorisierten Fahrzeugs nicht von meinem Vorhaben
abbringen und beschließe, den weiten Weg per Tretschlitten
zurückzulegen. Auf die Weise treibe ich gleich
ein bisschen Sport, denn der Tretroller auf zwei Kufen
muss mit eigener Muskelkraft betrieben werden. Ich
schlüpfe in einen Overall und hülle mein Haupt in eine
Pelzmütze, dann verlasse ich stoßend und tretend unse-
ren Hof. Schade, dass ich Fiona nicht als Schlittenmieze
vorne vorspannen und mich ziehen lassen kann.
... mehr
Auf Straßen und Gehwegen liegt eine feste Schneedecke,
ideal fürs Tretschlittenfahren. Denn sowohl
hoher Schnee als auch gestreute Streckenabschnitte
würden eine solche Fahrt zur Tortur oder gar völlig unmöglich
machen. Voller Tatendrang gleite ich in flottem
Tempo durch die abendliche Winterwelt der Vorstadt.
Rauchende Schornsteine verraten, dass am Freitagabend
vielerorts die Kamine angezündet werden, und in
den allermeisten Haushalten ist sicher auch schon die
Sauna angeheizt. Wer weiß, wie viele gute finnische Familienväter
wie ich unterwegs sind, um sich ihre Freitagsflasche
zu holen. Ob das finnische Statistikamt
darüber Buch führt? Wie einfach wäre es, muss ich denken,
sich in Deutschland eine Flasche Korn oder Birnenbrand
zu besorgen. Jeder Lebensmittelmarkt an der
Ecke verkauft Fusel. In Finnland hingegen muss man
sich seinen Wodka redlich verdienen.
Mein anfänglicher Schwung schwindet, je anstrengender
die Fahrt wird. Vier Kilometer mit dem Tretschlitten
können sich ziehen. An den Rückweg will ich
noch gar nicht denken, da vertraue ich lieber auf die
Binsenweisheit, dass es zurück immer schneller geht.
Endlich schimmert mir das rote »Alko« entgegen. Das
Logo der finnischen Alkohol-Kette erstrahlt als jugendlich-
flotter Schriftzug in leichter Aufwärtsbewegung,
der wie handgeschrieben wirkt. Passender wären
eigentlich zittrige Lettern in unregelmäßig schwankender
Schieflage.
Ich stelle meinen Tretschlitten ab und bemerke abfällige
Blicke von zwei Kerlen, die mit ihrem offenen
Pritschenwagen angefahren kommen. Kein Wunder! Es
gibt zwar im hohen Norden einige wenige, die Tretschlit-
tenfahren als ernstzunehmende Sportart betreiben, aber
für gewöhnlich fahren mit einem Tretschlitten nur Kinder
zur Dorfschule oder Omis zum Einkaufen. Jedenfalls
keine Männer mit Pelzmütze am Freitagabend zum
Alko. Sama se!, denke ich: Egal jetzt! Ich betrete den
Laden und halte nach Wodka Ausschau. Vor mir tapst
ein Mann durch die Regale, der im früheren Leben ein
Braunbär gewesen sein muss. Er überragt mich um
mindestens dreißig Zentimeter, ist breit wie ein Eishockeytor
und sieht ansonsten aus wie der erste finnische
Mann, der eine Schwangerschaft austrägt. Er steuert
wie ich auf die Wodkaflaschen zu. Schräg neben
dem Bären sehe ich einen Typen mit zerknittertem Gesicht,
der dauernd die Nase hochzieht. Er hat eine ähnliche
Pelzmütze auf wie ich, jedoch mit dem Unterschied,
dass eine seiner Ohrenklappen entgegen den Gesetzen
der Schwerkraft waagerecht vom Kopf absteht und mich
an eine flügellahme Ente erinnert. Nach mir betreten
die beiden Männer den Laden, die mich auf dem Parkplatz
geringschätzig angesehen haben. Ich höre sie hinter
mir hereinpoltern, sie trampeln sich den Schnee von
den Schuhen. Dann kann ich sie auch riechen, sie stinken
nach kalter Zigarettenasche und miefigen Kleidern.
Gibt's hier eigentlich nur seltsame Gestalten?, frage
ich mich. Dabei fällt mein Blick in eine verspiegelte Regalwand
mit Schaumwein und Obstler. Das Spiegelbild
vor mir offenbart einen Mann mit Dreitagebart, dem
Eisklümpchen in den Stoppeln hängen. Er hat einen
hochroten Kopf, als wäre er wie ein pölkkypää (Klotzkopf)
Tretschlitten gefahren und hätte sich Frostbeulen
im Gesicht geholt. Er keucht und schwitzt, und das Fell
seiner Mütze klebt ihm an der Stirn. Ich muss konstatieren,
dass sich mein Konterfei im Spiegel nahtlos ins Bild
meiner Mitkonsumenten fügt. Na bestens!
Schließlich finde ich, wonach ich suche, und begutachte
das Wodka-Angebot. Links im Regal erkenne ich
das vertraute Etikett von Koskenkorva, der Hausmarke
meines Schwiegervaters. Daneben stehen, dekorativ in
Schachteln zur Pyramide aufgetürmt, Wodka-Orange
und ähnliche Mixgetränke, Longdrinks im handlichen
0,3-Liter-Fläschchen. Auch Absolut Vodka gehört zur
Warenpalette, in verschiedenen Geschmacksrichtungen,
die von Zitrone bis Schwarze Johannisbeere reichen.
Aber diese Marke wird aus Schweden eingeführt
und kommt deshalb nicht in Frage. Überdies sind derartige
Aromatisierungen etwas für weiche Schweden
und alte Damen. Absolute ist der Eierlikör unter den
Wodkas. Von wegen absolut! Koskenkorva dagegen ist
rechtschaffener Wodka vom finnischen Lande ohne Firlefanz.
Er schmeckt nach nichts und konzentriert sich
auf das Wesentliche, ohne zum Fruchtsaftgetränk degradiert
zu werden.
Rechts im Regal steht Finlandia-Wodka. Schon der
Name dieser Marke ist Programm und fesselt mich ab
dem ersten Schlag meiner vereisten Wimpern. Auf dem
Etikett sind Rentiere abgebildet, die über die Tundra
stieben, im Hintergrund eine blutrote Mitternachtssonne.
Das ist genau, was ich brauche! Restlos überzeugt
bin ich, als ich sehe, dass es eine Flasche Finlandia Classic
in dieser Woche in einer dekorativen Jubiläumsschachtel
gibt, auf der ein finnischer Wappenlöwe
machtvoll seine Pranken hebt. Entschlossen greife ich in
meine rechte Overalltasche - und zucke zusammen. »Oh
nein!«, sage ich leise. Ich fasse nach meiner linken Tasche
und erlebe einen mittelschweren Schock. Voi ei -
das darf nicht wahr sein! Ich habe mein Portemonnaie zu
Hause liegen lassen. Wie kann man nur so schusselig sein?
Neben mir hat das Knittergesicht mit der abstehen
den Ohrenklappe Position bezogen und hält abwägend
einen estnischen Billigwodka in der Hand. Meine Erschütterung
ist ihm nicht entgangen. »Ist dir das Herz
in die Hose gerutscht?«, fragt er mit verkniffenem Lachen
und entblößt seine Zahnlücken. Er spricht mich in
einem Ton und in einer Vertrautheit an, als wären wir
seit Jahren die besten Saufkumpane.
»Nein, ich habe mein Geld vergessen!«, offenbare ich
ihm und seufze schwer. Ich könnte mich ohrfeigen.
»Du kannst an der Kasse fragen, ob du auf Pump
kaufen kannst. Das mach ich auch immer, wenn ich kein
Geld dabeihab.« Es ist schön in Finnland, dass man sich
unvermittelt duzt, ohne vorher Bruderschaft getrunken
zu haben. Da fühlt man sich gleich brüderlich verstanden.
»Frag nur!«, sagt der Zerknautschte und schlägt
mir gönnerhaft auf die Schulter. »Das hab ich schon oft
gemacht, glaub's mir!« Er lacht, und seine abstehende
Ohrenklappe wippt auf und ab, als wollte die flügellahme
Ente wegflattern. Ich überlege kurz, dann fasse
ich mir ein Herz! Nichts soll mich heute Abend aufhalten
können. Mit einer Flasche Finlandia-Wodka Classic
gehe ich zur Kasse.
»Äh ... ich habe mein Geld vergessen. Könnte ich
diese Flasche anschreiben lassen und am nächsten
Montag bezahlen?«
Der Kassierer sieht mich an, als hätte ich mich soeben
als den echten Weihnachtsmann ausgegeben. Er
atmet tief durch und sagt dann betont sachlich: »Ich bedaure.
Das ist leider nicht möglich.«
Ob ich nicht vertrauenswürdig genug aussehe? Wahrscheinlich
erkennt das Ladenpersonal in mir keinen
Stammkunden. Aber noch will ich nicht aufgeben und
sage: »Ich könnte meinen Tretschlitten als Pfand hierlassen.«
Nun sieht mich der Kassierer an, als hätte ich soeben
seine Strandsauna abgefackelt. »Nein, keine Ausnahmen.«
»Siehst du!«, höre ich den Zerknitterten mit der abstehenden
Ohrenklappe hinter mir blöken. »Das sagen
die zu mir auch immer. Jedes Mal!« Er kichert heiser in
sich hinein, drängt sich vor und bezahlt eine Flasche
Koskenkorva.
Ich spüre, wie mir das Blut in den Kopf schießt. Ich
bin nicht nur vergesslich, sondern auch noch leichtgläubig
bis zur Trotteligkeit. In mir steigt der dringende
Wunsch auf, dem Knittergesicht die Pelzmütze auf links
zu drehen. Unter Aufbietung meiner ganzen Selbstbeherrschung
schlucke ich meine Wut herunter, lege ihm
den Arm auf die Schulter und nehme ihn beiseite.
»Könntest du mir etwas Geld leihen? Ich geb's dir bald
zurück.«
»Bald?«, ruft er durch den halben Laden. »Wer weiß,
wann bald ist? Vielleicht bin ich dann schon tot. Außerdem
hab ich eben fast mein ganzes letztes Geld ausgegeben.
« Und zur Bestätigung hält er mir die Hand hin, in
der sich sein Wechselgeld befindet: ein Euro und ein
paar Cent. »Davon muss ich mir noch eine Büchse Erbsensuppe
fürs Wochenende kaufen.« Er lacht quietschvergnügt,
löst sich von mir und verlässt den Alko. Seine
abstehende Ohrenklappe winkt mir höhnisch zum Abschied.
Zähneknirschend bringe ich den Finlandia-Wodka
zum Regal zurück. Sollte ich noch den Braunbären um
Hilfe fragen oder die zwei mit dem Pritschenwagen?
Nein, das wäre zwecklos, ich muss mir selbst zu helfen
wissen. Was im Klartext heißt: zu Hause mein Geld holen
und wieder herkommen. Was sind schon vier Kilometer
mit dem Tretschlitten? Mit konstanter Bosheit am
Kassierer vorbeistarrend, verlasse ich den Alko und
schwinge mich auf meinen Schlitten. Bei jedem Tritt
fluche ich leise vor mich hin: »Mist! Verdammt! Elendes
Pech!« Nach einer Weile gehen mir die Flüche aus, deshalb
wechsle ich die Sprache und fluche innerlich auf
Finnisch weiter: »Hitto! Perhana! Paskanmarjat!« Ob
ich diese Methode bei meinen Studenten im Fremdsprachenunterricht
anwenden könnte? Emotionale Involvierung
als Sprechmotivation und Lernanlass. Aber an die
Arbeit will ich jetzt keine unnötigen Gedanken verschwenden.
Völlig abgehetzt komme ich wieder zu Hause an,
reiße die Tür auf und stürme, ohne mir die Schuhe auszuziehen,
in den Flur. Unsere Katze schreckt bei meinem
Anblick zusammen und springt unters Sofa. »Sei
froh, dass du kein Husky bist!«, schimpfe ich Fiona hinterher.
Meine Geldbörse liegt auf einem Regal im Flur.
Ich reiße sie an mich und will gleich wieder aufbrechen,
als mir noch die Idee kommt, die Sauna anzustellen.
Wenn ich später mit erbeutetem Wodka zurückkehre,
wird sie auf Temperatur sein und mich für alle Strapazen
entschädigen. Also stolpere ich noch in unsere
Sauna und stelle den Ofen an, Sekunden später schlage
ich die Haustür hinter mir zu, springe wieder auf den
Tretschlitten und eile ein zweites Mal zum Alko. Irgendwann,
als ich nach grober Schätzung die 10-Kilo-
Meter-Marke durchbrochen habe, überlege ich, wie sich
der Standard-Finne eigentlich seine Freitagsflasche zu
Gemüte führt. Der Leerung einer perjantaipullo habe
ich in all den Jahren noch nie beigewohnt. Trinkt sie der
Finne im Kreise seiner Lieben, fröhlich ein Gläschen
nach dem anderen hebend? Oder in trauter Zweisamkeit
mit seinem angetrauten Weibe? Süffelt man seine Pulle
mit trinkfreudigen Kumpels? Oder kippt man sie ein-
sam und allein in sich hinein, in Zerknirschung und
Schwermut und ohne einen Tropfen mit irgendwem teilen
zu wollen? Wahrscheinlich gibt es in freier Wildbahn
die unterschiedlichsten Erscheinungsformen und
Kreuzungen.
Auf den letzten Metern muss ich noch einmal beim
Tempo zulegen, denn es geht bereits auf 20 Uhr und damit
auf die Schließungszeit von Alko zu. Ich strample
mir die Lungen aus dem Leib. Bei meiner Ankunft stehe
ich kurz vor dem Herzkasper. Ich werfe die Tür auf,
hetze hinein und schwöre mir, es heute noch allen zu
zeigen, vor allem dem Kassierer mit seinem ungläubigen
Blick. Wieder sehe ich unfreiwillig mein Spiegelbild
hinter dem Schaumwein-Regal. Mein Anblick erinnert
mittlerweile an einen Wikinger bei der Erstürmung eines
christlichen Klosters. Mir steht der Schaum vor dem
Maul, an meiner Nase hängt gefrorener Rotz, und meine
Augen sind blutunterlaufen. So muss jemand aussehen,
der Nonnen den Bauch aufschlitzt, um sie anschließend
zu schänden und die Altarschätze zu rauben.
Noch immer bevölkern zahlreiche Kunden das Ladenlokal.
Bei den Likören steht ein älteres Ehepaar. Ihrer
Garderobe nach werden sie heute Abend noch eine Festivität
besuchen. Wahrscheinlich suchen sie ein kleines
Mitbringsel für eine liebe Großtante. Bei den Weißweinen
steht ein Herr mit steifem Stehkragen und ernstem
Gesicht, der ein Pastor sein könnte. Ob er beim Kauf
seines Messweins ist, sozusagen bei der Beschaffung
geistlicher Getränke? Mir wird klar, dass ich mein Bild
von den Alko-Kunden revidieren muss: Es kommen
nicht nur heruntergekommene und verkrachte Existenzen
hierher, es gibt in Finnland auch den gepflegten Genießer.
Umso mehr falle ich diesmal in meinem Berserker-
Look auf.
Nur wenige Schritt entfernt von dem Pastor steht
eine Frau mit braunen Haaren, die Rosé kaufen möchte,
wahrscheinlich für ein Dinner mit Freunden. Das ist
Sanna aus dem Tangokurs, schrecke ich zusammen. In
einer Reflexbewegung sinke ich zu Boden und verstecke
mich hinter einem Regal mit Starkbier. In meiner jetzigen
Verfassung darf mich kein Bekannter zu Gesicht
bekommen. Kurzzeitig blitzt mir in meiner Panik die
Idee durch den Kopf, auf dem Boden nach draußen zu
robben und zu verschwinden, aber das würde nicht unbemerkt
bleiben und wäre peinlicher als alles andere.
Bereits mein eiliges Abtauchen hat bei Umstehenden
ein gewisses Aufsehen erregt. Ich streife daher hastig
meine Handschuhe ab und tu so, als müsste ich mir die
Schuhe binden. Auch der Kassierer mit dem kritischen
Blick äugt zu mir her. Er räuspert sich gut hörbar, wie
um mich zu verwarnen. Ich grinse ihm zu und fummle
mir umständlich Doppelknoten in die Schuhriemen.
Vorsichtig spähe ich am Doppelbock vorbei in Richtung
Sanna. Erleichtert atme ich auf: Falscher Alarm, das ist
sie nicht. Die Frau mit den braunen Haaren und der Flasche
Rosé in der Hand hat eine Adlernase und ist mindestens
ein Jahrzehnt älter als meine Tanzpartnerin.
Sie ist genauso wenig Sanna, wie der Mann mit dem
Stehkragen, der sich zwischenzeitlich für Gin entschieden
hat, ein Pastor ist. Ich hechte hoch und marschiere
auf den Wodka zu, packe mir eine Flasche Finlandia
Classic in der dekorativen Aktionswochenschachtel mit
dem finnischen Wappenlöwen und schreite im Triumph
zur Kasse. Mit lässiger Handbewegung hole ich einen
druckfrischen 100-Euro-Schein aus dem Portemonnaie.
Der Kassierer hält den Geldschein mit überheblicher
Miene unter ein Kontrolllichtgerät, aber mein Geld
besteht die Echtheitsprüfung. Nur mit Mühe verkneife
ich mir zu sagen: »Siinä sen näit! - Da siehst du's!« Mit
Genugtuung stecke ich die Flasche Finlandia in meinen
leeren Rucksack, den ich auf dem Rücken getragen
habe, und schließe den Reißverschluss mit einem energischen
Ruck. Dann mache ich mich ohne einen Abschiedsgruß
davon. Ich fühle mich als Eroberer!
Den Rückweg kann ich ruhiger angehen lassen, denn
nun besteht keine Eile mehr. Ganz in der Nähe des Alko
befindet sich eine Videothek. Spontan kommt mir die
Idee, mir einen Film zur Flasche auszuleihen. Am Freitagabend
laufen zwar Filme auch zuhauf im Fernsehprogramm
oder lassen sich aus dem Internet laden, aber
am liebsten ist mir immer noch eine Disk, die ich in den
Player schieben kann, wann's mir gefällt. Davon abgesehen
ist das Stöbern in einer Videothek der halbe Spaß
bei einem Filmabend. Nach einer Weile habe ich etwas
entdeckt, das den Ansprüchen der Freitagnacht genügt:
Der Film heißt Koirankynnenleikkaaja, grob übersetzt:
Der Hundeklauenschneider. Auf dem Titelbild der Film-
hülle prangt ein finnischer Spitz in fuchsrotem Fell,
daneben Winterlandschaften und Gesichter von Soldaten
in collageartiger Anordnung. Wie ich auf der Rückseite
lese, hat der Film viele Auszeichnungen bekommen
und ist ein moderner Klassiker des finnischen
Films. Da zudem der rothaarige Spitz farblich bestens
zu dem goldgelben finnischen Löwen auf der Wodkaschachtel
passt, stecke ich auch den »Hundeklauenschneider
« nach Entrichtung der Leihgebühr in meinen
Rucksack.
Nun beginnt meine letzte Etappe, nochmals vier Kilometer
auf dem Tretschlitten heim zur Hütte, hin zur
warmen Sauna. Den Alko, die Videothek sowie ein Lebensmittelgeschäft
und eine Imbissbude, die sich an einer
Straßenecke zusammengefunden haben, um eine
Art Vorstadtzentrum zu bilden, lasse ich hinter mir und
schlittere über einen verschneiten Fahrradweg dahin,
der neben einer Landstraße verläuft.
Durst quält mich. Mein hoher Flüssigkeitsverlust
nach mehr als einem Dutzend Kilometern Tretschlittenfahrt
äußert sich durch einen trockenen Mund und
dem Schmachten nach kühlem Nass. Sollte ich mir frischen
Schnee in den Mund stecken? Wäre ich ein Sport-
Ass, hätte ich jetzt eine Trinkflasche in einem Klettverschluss
am Gürtel hängen mit einem isotonischen
Sportgetränk. Doch trage ich nur eine Flasche Wodka
im Rucksack auf meinem Rücken. Also lege ich an einer
Stelle, an der ich mich unbeobachtet fühle, einen Halt
ein und setze mich auf den kleinen Sitz vorne auf dem
Tretschlitten. Finlandia-Wodka, erquicke mich! Benetze
meine Lippen! Umspiele meine Zunge! Durchriesle
meine Brust und brenne in meinem Inneren!
Kräftige mich auf meinem Wege! Ich schraube die Flasche
auf, und der Wodka gehorcht.
Am Sternenhimmel über mir erkenne ich das Bild
vom Großen Wagen. Die Amerikaner nennen ihn auch
den Big Dipper, den großen Schöpflöffel. Warum sind
die Finnen nie darauf gekommen, dieses Sternenbild
die große Saunakelle zu nennen?
Ich schraube die Wodkaflasche wieder zu und bringe
den Rest des Heimwegs hinter mich.
Auf Straßen und Gehwegen liegt eine feste Schneedecke,
ideal fürs Tretschlittenfahren. Denn sowohl
hoher Schnee als auch gestreute Streckenabschnitte
würden eine solche Fahrt zur Tortur oder gar völlig unmöglich
machen. Voller Tatendrang gleite ich in flottem
Tempo durch die abendliche Winterwelt der Vorstadt.
Rauchende Schornsteine verraten, dass am Freitagabend
vielerorts die Kamine angezündet werden, und in
den allermeisten Haushalten ist sicher auch schon die
Sauna angeheizt. Wer weiß, wie viele gute finnische Familienväter
wie ich unterwegs sind, um sich ihre Freitagsflasche
zu holen. Ob das finnische Statistikamt
darüber Buch führt? Wie einfach wäre es, muss ich denken,
sich in Deutschland eine Flasche Korn oder Birnenbrand
zu besorgen. Jeder Lebensmittelmarkt an der
Ecke verkauft Fusel. In Finnland hingegen muss man
sich seinen Wodka redlich verdienen.
Mein anfänglicher Schwung schwindet, je anstrengender
die Fahrt wird. Vier Kilometer mit dem Tretschlitten
können sich ziehen. An den Rückweg will ich
noch gar nicht denken, da vertraue ich lieber auf die
Binsenweisheit, dass es zurück immer schneller geht.
Endlich schimmert mir das rote »Alko« entgegen. Das
Logo der finnischen Alkohol-Kette erstrahlt als jugendlich-
flotter Schriftzug in leichter Aufwärtsbewegung,
der wie handgeschrieben wirkt. Passender wären
eigentlich zittrige Lettern in unregelmäßig schwankender
Schieflage.
Ich stelle meinen Tretschlitten ab und bemerke abfällige
Blicke von zwei Kerlen, die mit ihrem offenen
Pritschenwagen angefahren kommen. Kein Wunder! Es
gibt zwar im hohen Norden einige wenige, die Tretschlit-
tenfahren als ernstzunehmende Sportart betreiben, aber
für gewöhnlich fahren mit einem Tretschlitten nur Kinder
zur Dorfschule oder Omis zum Einkaufen. Jedenfalls
keine Männer mit Pelzmütze am Freitagabend zum
Alko. Sama se!, denke ich: Egal jetzt! Ich betrete den
Laden und halte nach Wodka Ausschau. Vor mir tapst
ein Mann durch die Regale, der im früheren Leben ein
Braunbär gewesen sein muss. Er überragt mich um
mindestens dreißig Zentimeter, ist breit wie ein Eishockeytor
und sieht ansonsten aus wie der erste finnische
Mann, der eine Schwangerschaft austrägt. Er steuert
wie ich auf die Wodkaflaschen zu. Schräg neben
dem Bären sehe ich einen Typen mit zerknittertem Gesicht,
der dauernd die Nase hochzieht. Er hat eine ähnliche
Pelzmütze auf wie ich, jedoch mit dem Unterschied,
dass eine seiner Ohrenklappen entgegen den Gesetzen
der Schwerkraft waagerecht vom Kopf absteht und mich
an eine flügellahme Ente erinnert. Nach mir betreten
die beiden Männer den Laden, die mich auf dem Parkplatz
geringschätzig angesehen haben. Ich höre sie hinter
mir hereinpoltern, sie trampeln sich den Schnee von
den Schuhen. Dann kann ich sie auch riechen, sie stinken
nach kalter Zigarettenasche und miefigen Kleidern.
Gibt's hier eigentlich nur seltsame Gestalten?, frage
ich mich. Dabei fällt mein Blick in eine verspiegelte Regalwand
mit Schaumwein und Obstler. Das Spiegelbild
vor mir offenbart einen Mann mit Dreitagebart, dem
Eisklümpchen in den Stoppeln hängen. Er hat einen
hochroten Kopf, als wäre er wie ein pölkkypää (Klotzkopf)
Tretschlitten gefahren und hätte sich Frostbeulen
im Gesicht geholt. Er keucht und schwitzt, und das Fell
seiner Mütze klebt ihm an der Stirn. Ich muss konstatieren,
dass sich mein Konterfei im Spiegel nahtlos ins Bild
meiner Mitkonsumenten fügt. Na bestens!
Schließlich finde ich, wonach ich suche, und begutachte
das Wodka-Angebot. Links im Regal erkenne ich
das vertraute Etikett von Koskenkorva, der Hausmarke
meines Schwiegervaters. Daneben stehen, dekorativ in
Schachteln zur Pyramide aufgetürmt, Wodka-Orange
und ähnliche Mixgetränke, Longdrinks im handlichen
0,3-Liter-Fläschchen. Auch Absolut Vodka gehört zur
Warenpalette, in verschiedenen Geschmacksrichtungen,
die von Zitrone bis Schwarze Johannisbeere reichen.
Aber diese Marke wird aus Schweden eingeführt
und kommt deshalb nicht in Frage. Überdies sind derartige
Aromatisierungen etwas für weiche Schweden
und alte Damen. Absolute ist der Eierlikör unter den
Wodkas. Von wegen absolut! Koskenkorva dagegen ist
rechtschaffener Wodka vom finnischen Lande ohne Firlefanz.
Er schmeckt nach nichts und konzentriert sich
auf das Wesentliche, ohne zum Fruchtsaftgetränk degradiert
zu werden.
Rechts im Regal steht Finlandia-Wodka. Schon der
Name dieser Marke ist Programm und fesselt mich ab
dem ersten Schlag meiner vereisten Wimpern. Auf dem
Etikett sind Rentiere abgebildet, die über die Tundra
stieben, im Hintergrund eine blutrote Mitternachtssonne.
Das ist genau, was ich brauche! Restlos überzeugt
bin ich, als ich sehe, dass es eine Flasche Finlandia Classic
in dieser Woche in einer dekorativen Jubiläumsschachtel
gibt, auf der ein finnischer Wappenlöwe
machtvoll seine Pranken hebt. Entschlossen greife ich in
meine rechte Overalltasche - und zucke zusammen. »Oh
nein!«, sage ich leise. Ich fasse nach meiner linken Tasche
und erlebe einen mittelschweren Schock. Voi ei -
das darf nicht wahr sein! Ich habe mein Portemonnaie zu
Hause liegen lassen. Wie kann man nur so schusselig sein?
Neben mir hat das Knittergesicht mit der abstehen
den Ohrenklappe Position bezogen und hält abwägend
einen estnischen Billigwodka in der Hand. Meine Erschütterung
ist ihm nicht entgangen. »Ist dir das Herz
in die Hose gerutscht?«, fragt er mit verkniffenem Lachen
und entblößt seine Zahnlücken. Er spricht mich in
einem Ton und in einer Vertrautheit an, als wären wir
seit Jahren die besten Saufkumpane.
»Nein, ich habe mein Geld vergessen!«, offenbare ich
ihm und seufze schwer. Ich könnte mich ohrfeigen.
»Du kannst an der Kasse fragen, ob du auf Pump
kaufen kannst. Das mach ich auch immer, wenn ich kein
Geld dabeihab.« Es ist schön in Finnland, dass man sich
unvermittelt duzt, ohne vorher Bruderschaft getrunken
zu haben. Da fühlt man sich gleich brüderlich verstanden.
»Frag nur!«, sagt der Zerknautschte und schlägt
mir gönnerhaft auf die Schulter. »Das hab ich schon oft
gemacht, glaub's mir!« Er lacht, und seine abstehende
Ohrenklappe wippt auf und ab, als wollte die flügellahme
Ente wegflattern. Ich überlege kurz, dann fasse
ich mir ein Herz! Nichts soll mich heute Abend aufhalten
können. Mit einer Flasche Finlandia-Wodka Classic
gehe ich zur Kasse.
»Äh ... ich habe mein Geld vergessen. Könnte ich
diese Flasche anschreiben lassen und am nächsten
Montag bezahlen?«
Der Kassierer sieht mich an, als hätte ich mich soeben
als den echten Weihnachtsmann ausgegeben. Er
atmet tief durch und sagt dann betont sachlich: »Ich bedaure.
Das ist leider nicht möglich.«
Ob ich nicht vertrauenswürdig genug aussehe? Wahrscheinlich
erkennt das Ladenpersonal in mir keinen
Stammkunden. Aber noch will ich nicht aufgeben und
sage: »Ich könnte meinen Tretschlitten als Pfand hierlassen.«
Nun sieht mich der Kassierer an, als hätte ich soeben
seine Strandsauna abgefackelt. »Nein, keine Ausnahmen.«
»Siehst du!«, höre ich den Zerknitterten mit der abstehenden
Ohrenklappe hinter mir blöken. »Das sagen
die zu mir auch immer. Jedes Mal!« Er kichert heiser in
sich hinein, drängt sich vor und bezahlt eine Flasche
Koskenkorva.
Ich spüre, wie mir das Blut in den Kopf schießt. Ich
bin nicht nur vergesslich, sondern auch noch leichtgläubig
bis zur Trotteligkeit. In mir steigt der dringende
Wunsch auf, dem Knittergesicht die Pelzmütze auf links
zu drehen. Unter Aufbietung meiner ganzen Selbstbeherrschung
schlucke ich meine Wut herunter, lege ihm
den Arm auf die Schulter und nehme ihn beiseite.
»Könntest du mir etwas Geld leihen? Ich geb's dir bald
zurück.«
»Bald?«, ruft er durch den halben Laden. »Wer weiß,
wann bald ist? Vielleicht bin ich dann schon tot. Außerdem
hab ich eben fast mein ganzes letztes Geld ausgegeben.
« Und zur Bestätigung hält er mir die Hand hin, in
der sich sein Wechselgeld befindet: ein Euro und ein
paar Cent. »Davon muss ich mir noch eine Büchse Erbsensuppe
fürs Wochenende kaufen.« Er lacht quietschvergnügt,
löst sich von mir und verlässt den Alko. Seine
abstehende Ohrenklappe winkt mir höhnisch zum Abschied.
Zähneknirschend bringe ich den Finlandia-Wodka
zum Regal zurück. Sollte ich noch den Braunbären um
Hilfe fragen oder die zwei mit dem Pritschenwagen?
Nein, das wäre zwecklos, ich muss mir selbst zu helfen
wissen. Was im Klartext heißt: zu Hause mein Geld holen
und wieder herkommen. Was sind schon vier Kilometer
mit dem Tretschlitten? Mit konstanter Bosheit am
Kassierer vorbeistarrend, verlasse ich den Alko und
schwinge mich auf meinen Schlitten. Bei jedem Tritt
fluche ich leise vor mich hin: »Mist! Verdammt! Elendes
Pech!« Nach einer Weile gehen mir die Flüche aus, deshalb
wechsle ich die Sprache und fluche innerlich auf
Finnisch weiter: »Hitto! Perhana! Paskanmarjat!« Ob
ich diese Methode bei meinen Studenten im Fremdsprachenunterricht
anwenden könnte? Emotionale Involvierung
als Sprechmotivation und Lernanlass. Aber an die
Arbeit will ich jetzt keine unnötigen Gedanken verschwenden.
Völlig abgehetzt komme ich wieder zu Hause an,
reiße die Tür auf und stürme, ohne mir die Schuhe auszuziehen,
in den Flur. Unsere Katze schreckt bei meinem
Anblick zusammen und springt unters Sofa. »Sei
froh, dass du kein Husky bist!«, schimpfe ich Fiona hinterher.
Meine Geldbörse liegt auf einem Regal im Flur.
Ich reiße sie an mich und will gleich wieder aufbrechen,
als mir noch die Idee kommt, die Sauna anzustellen.
Wenn ich später mit erbeutetem Wodka zurückkehre,
wird sie auf Temperatur sein und mich für alle Strapazen
entschädigen. Also stolpere ich noch in unsere
Sauna und stelle den Ofen an, Sekunden später schlage
ich die Haustür hinter mir zu, springe wieder auf den
Tretschlitten und eile ein zweites Mal zum Alko. Irgendwann,
als ich nach grober Schätzung die 10-Kilo-
Meter-Marke durchbrochen habe, überlege ich, wie sich
der Standard-Finne eigentlich seine Freitagsflasche zu
Gemüte führt. Der Leerung einer perjantaipullo habe
ich in all den Jahren noch nie beigewohnt. Trinkt sie der
Finne im Kreise seiner Lieben, fröhlich ein Gläschen
nach dem anderen hebend? Oder in trauter Zweisamkeit
mit seinem angetrauten Weibe? Süffelt man seine Pulle
mit trinkfreudigen Kumpels? Oder kippt man sie ein-
sam und allein in sich hinein, in Zerknirschung und
Schwermut und ohne einen Tropfen mit irgendwem teilen
zu wollen? Wahrscheinlich gibt es in freier Wildbahn
die unterschiedlichsten Erscheinungsformen und
Kreuzungen.
Auf den letzten Metern muss ich noch einmal beim
Tempo zulegen, denn es geht bereits auf 20 Uhr und damit
auf die Schließungszeit von Alko zu. Ich strample
mir die Lungen aus dem Leib. Bei meiner Ankunft stehe
ich kurz vor dem Herzkasper. Ich werfe die Tür auf,
hetze hinein und schwöre mir, es heute noch allen zu
zeigen, vor allem dem Kassierer mit seinem ungläubigen
Blick. Wieder sehe ich unfreiwillig mein Spiegelbild
hinter dem Schaumwein-Regal. Mein Anblick erinnert
mittlerweile an einen Wikinger bei der Erstürmung eines
christlichen Klosters. Mir steht der Schaum vor dem
Maul, an meiner Nase hängt gefrorener Rotz, und meine
Augen sind blutunterlaufen. So muss jemand aussehen,
der Nonnen den Bauch aufschlitzt, um sie anschließend
zu schänden und die Altarschätze zu rauben.
Noch immer bevölkern zahlreiche Kunden das Ladenlokal.
Bei den Likören steht ein älteres Ehepaar. Ihrer
Garderobe nach werden sie heute Abend noch eine Festivität
besuchen. Wahrscheinlich suchen sie ein kleines
Mitbringsel für eine liebe Großtante. Bei den Weißweinen
steht ein Herr mit steifem Stehkragen und ernstem
Gesicht, der ein Pastor sein könnte. Ob er beim Kauf
seines Messweins ist, sozusagen bei der Beschaffung
geistlicher Getränke? Mir wird klar, dass ich mein Bild
von den Alko-Kunden revidieren muss: Es kommen
nicht nur heruntergekommene und verkrachte Existenzen
hierher, es gibt in Finnland auch den gepflegten Genießer.
Umso mehr falle ich diesmal in meinem Berserker-
Look auf.
Nur wenige Schritt entfernt von dem Pastor steht
eine Frau mit braunen Haaren, die Rosé kaufen möchte,
wahrscheinlich für ein Dinner mit Freunden. Das ist
Sanna aus dem Tangokurs, schrecke ich zusammen. In
einer Reflexbewegung sinke ich zu Boden und verstecke
mich hinter einem Regal mit Starkbier. In meiner jetzigen
Verfassung darf mich kein Bekannter zu Gesicht
bekommen. Kurzzeitig blitzt mir in meiner Panik die
Idee durch den Kopf, auf dem Boden nach draußen zu
robben und zu verschwinden, aber das würde nicht unbemerkt
bleiben und wäre peinlicher als alles andere.
Bereits mein eiliges Abtauchen hat bei Umstehenden
ein gewisses Aufsehen erregt. Ich streife daher hastig
meine Handschuhe ab und tu so, als müsste ich mir die
Schuhe binden. Auch der Kassierer mit dem kritischen
Blick äugt zu mir her. Er räuspert sich gut hörbar, wie
um mich zu verwarnen. Ich grinse ihm zu und fummle
mir umständlich Doppelknoten in die Schuhriemen.
Vorsichtig spähe ich am Doppelbock vorbei in Richtung
Sanna. Erleichtert atme ich auf: Falscher Alarm, das ist
sie nicht. Die Frau mit den braunen Haaren und der Flasche
Rosé in der Hand hat eine Adlernase und ist mindestens
ein Jahrzehnt älter als meine Tanzpartnerin.
Sie ist genauso wenig Sanna, wie der Mann mit dem
Stehkragen, der sich zwischenzeitlich für Gin entschieden
hat, ein Pastor ist. Ich hechte hoch und marschiere
auf den Wodka zu, packe mir eine Flasche Finlandia
Classic in der dekorativen Aktionswochenschachtel mit
dem finnischen Wappenlöwen und schreite im Triumph
zur Kasse. Mit lässiger Handbewegung hole ich einen
druckfrischen 100-Euro-Schein aus dem Portemonnaie.
Der Kassierer hält den Geldschein mit überheblicher
Miene unter ein Kontrolllichtgerät, aber mein Geld
besteht die Echtheitsprüfung. Nur mit Mühe verkneife
ich mir zu sagen: »Siinä sen näit! - Da siehst du's!« Mit
Genugtuung stecke ich die Flasche Finlandia in meinen
leeren Rucksack, den ich auf dem Rücken getragen
habe, und schließe den Reißverschluss mit einem energischen
Ruck. Dann mache ich mich ohne einen Abschiedsgruß
davon. Ich fühle mich als Eroberer!
Den Rückweg kann ich ruhiger angehen lassen, denn
nun besteht keine Eile mehr. Ganz in der Nähe des Alko
befindet sich eine Videothek. Spontan kommt mir die
Idee, mir einen Film zur Flasche auszuleihen. Am Freitagabend
laufen zwar Filme auch zuhauf im Fernsehprogramm
oder lassen sich aus dem Internet laden, aber
am liebsten ist mir immer noch eine Disk, die ich in den
Player schieben kann, wann's mir gefällt. Davon abgesehen
ist das Stöbern in einer Videothek der halbe Spaß
bei einem Filmabend. Nach einer Weile habe ich etwas
entdeckt, das den Ansprüchen der Freitagnacht genügt:
Der Film heißt Koirankynnenleikkaaja, grob übersetzt:
Der Hundeklauenschneider. Auf dem Titelbild der Film-
hülle prangt ein finnischer Spitz in fuchsrotem Fell,
daneben Winterlandschaften und Gesichter von Soldaten
in collageartiger Anordnung. Wie ich auf der Rückseite
lese, hat der Film viele Auszeichnungen bekommen
und ist ein moderner Klassiker des finnischen
Films. Da zudem der rothaarige Spitz farblich bestens
zu dem goldgelben finnischen Löwen auf der Wodkaschachtel
passt, stecke ich auch den »Hundeklauenschneider
« nach Entrichtung der Leihgebühr in meinen
Rucksack.
Nun beginnt meine letzte Etappe, nochmals vier Kilometer
auf dem Tretschlitten heim zur Hütte, hin zur
warmen Sauna. Den Alko, die Videothek sowie ein Lebensmittelgeschäft
und eine Imbissbude, die sich an einer
Straßenecke zusammengefunden haben, um eine
Art Vorstadtzentrum zu bilden, lasse ich hinter mir und
schlittere über einen verschneiten Fahrradweg dahin,
der neben einer Landstraße verläuft.
Durst quält mich. Mein hoher Flüssigkeitsverlust
nach mehr als einem Dutzend Kilometern Tretschlittenfahrt
äußert sich durch einen trockenen Mund und
dem Schmachten nach kühlem Nass. Sollte ich mir frischen
Schnee in den Mund stecken? Wäre ich ein Sport-
Ass, hätte ich jetzt eine Trinkflasche in einem Klettverschluss
am Gürtel hängen mit einem isotonischen
Sportgetränk. Doch trage ich nur eine Flasche Wodka
im Rucksack auf meinem Rücken. Also lege ich an einer
Stelle, an der ich mich unbeobachtet fühle, einen Halt
ein und setze mich auf den kleinen Sitz vorne auf dem
Tretschlitten. Finlandia-Wodka, erquicke mich! Benetze
meine Lippen! Umspiele meine Zunge! Durchriesle
meine Brust und brenne in meinem Inneren!
Kräftige mich auf meinem Wege! Ich schraube die Flasche
auf, und der Wodka gehorcht.
Am Sternenhimmel über mir erkenne ich das Bild
vom Großen Wagen. Die Amerikaner nennen ihn auch
den Big Dipper, den großen Schöpflöffel. Warum sind
die Finnen nie darauf gekommen, dieses Sternenbild
die große Saunakelle zu nennen?
Ich schraube die Wodkaflasche wieder zu und bringe
den Rest des Heimwegs hinter mich.
... weniger
Autoren-Porträt von Dieter-Hermann Schmitz
Schmitz, Dieter HermannDieter Hermann Schmitz, Jahrgang 1963, ist verheiratet und zweifacher Vater. Seit vielen Jahren lebt er mit seiner finnischen Frau und den Kindern bei Tampere in Südfinnland. Dort unterrichtet er Übersetzungswissenschaft an der Universität.
Bibliographische Angaben
- Autor: Dieter-Hermann Schmitz
- 2011, 368 Seiten, Maße: 12 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Ullstein TB
- ISBN-10: 3548282199
- ISBN-13: 9783548282190
Rezension zu „Die spinnen, die Finnen “
»Unterhaltsamer Familienroman« Aachener Zeitung, 21.05.11
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