Die Teehändlerin
Eine Familiensaga, so berauschend und betörend wie der Duft von Tee!
Lüneburg im 19. Jahrhundert: Als ihr Mann John plötzlich spurlos verschwindet, steht Eliana alleine da. Seine Familie gibt ihr die Schuld und will...
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Produktinformationen zu „Die Teehändlerin “
Eine Familiensaga, so berauschend und betörend wie der Duft von Tee!
Lüneburg im 19. Jahrhundert: Als ihr Mann John plötzlich spurlos verschwindet, steht Eliana alleine da. Seine Familie gibt ihr die Schuld und will nichts mehr mit ihr zu tun haben. Dann lädt ihre Cousine Josephine sie ein auf eine Reise nach China, in das Land des Tees. Eliana genießt die Zeit in dem fernen Land und beginnt den Geschichten ihres Lebens auf den Grund zu gehen.
Lese-Probe zu „Die Teehändlerin “
Die Teehändlerin von Karin Engel1
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Behutsam, fast zärtlich zupfte Tallulah in dem Moment, da Luise, das neue Mädchen, hochrot im Gesicht die Frage herauspresste, ob die gnädige Frau grünen oder chinesischen Tee serviert wissen wollte, und daher aller Aufmerksamkeit auf sie gerichtet war, eins der Gurken-Sandwichs von den auf der Kredenz angerichteten Porzellanplatten. Die Platten waren mit einem blaugrundigen, einen Bären und ein Pferd zeigenden Phantasie-Wappen verziert und goldgerandet, die Sandwichs oblatendünn und die weiche Hundeschnauze mit der violetten Zunge und den kräftigen Zähnen geübt, Diebstähle dieser Art manierlich, schnell und unbemerkt auszuführen. Doch dieser misslang. Mit einem leisen Klatsch landete ein Teil des ersten Gangs des Nachmittagstees auf den gewachsten Eichenholzdielen. Sechs Augenpaare richteten sich auf das Tier, das die grünliche Bescherung seelenruhig vom Boden zu lecken begann.
»Augusta von der Hohenweide! Nein!« Adeline Kaysers rauher Sopran zerschnitt die Luft. An das Mädchen gerichtet und im selben Ton stieß Adeline die Worte »Grün ist chinesisch!« hervor, und fügte mit einem Blick in die Runde freundlich erklärend hinzu, man dürfe »niemals!« den Rufnamen eines Tieres wie eine Rüge aussprechen, »weil es auf diese Weise lernt, dem Klang zu misstrauen, was in der Folge dazu führt, dass es das Zutrauen zu seinen Menschen verliert«; besser sei es, in solchen Fällen den Zuchtnamen zu verwenden. Der Besuch aus Lüneburg, dankbar für ein Gesprächsthema, verfolgte den Weg der Gescholtenen vom nunmehr blankgeputzten Tatort in den rückwärtigen Teil des Salons und merkte an, dass Tallulah besser zu dem aufgeweckten Tier passe als das sperrige Von-und-Zu, unterstelle die Vokalmelodie doch eine gewisse Eigensinnigkeit. In der Tat ignorierte Tallulah Befehle konsequent, legte eine divaeske Launenhaftigkeit an den Tag - gestern wurden Post, Zeitung, Hauspantoffeln brav apportiert, heute unauffindbar versteckt und morgen vollständig zerstört - und hätte daher eigentlich eine Quelle beständigen Ärgers für Adeline Kayser sein müssen. Aber die Herrin des Hauses, von den Dienstboten wegen ihrer humorlosen Strenge gefürchtet, liebte sie zärtlich. Ein sanfter Schimmer trat in ihre blassblauen Augen, sobald sie auf der dreijährigen goldfarbenen Hovawart-Hündin ruhten, die den nachfolgenden Ereignissen zu guter Letzt und ums Haar eine ganz andere Wendung gegeben hätte. Doch davon ahnte Adeline Kayser natürlich nichts, andernfalls hätte sie das Tier bei aller Liebe vermutlich zum Teufel geschickt und den Besuch aus Lüneburg, Ursel und Walter Jürgensen und ihre Tochter Eliana, gleich hinterher.
Die drei saßen auf dem blaugestreiften Kanapee der Kaysers in Bremen, ihren angeblich sehr weit entfernten Verwandten, so weit entfernt, dass die Bande genealogisch nahezu bedeutungslos waren, aber Adeline, eine stolze hanseatische Dame, war der Meinung, Blut sei dicker als Wasser, ganz gleich, in welcher Verdünnung, und so packten die Jürgensens zweimal im Jahr, in der Adventszeit und im Sommer, die wenige gute Kleidung, die sie besaßen, in einen Pappkoffer und reisten von der Ilmenau an die Weser, um sich zwei Tage lang in Atmosphäre und Ambiente des gehobenen Bürgertums minderbemittelt, unzulänglich und deplaziert zu fühlen.
Wie immer war auch dieses Treffen eine steife Angelegenheit, doch dieses war überstürzt zustande gekommen, ganz und gar außerplanmäßig, und zudem lag die Ahnung von etwas Feierlichem, Besonderem in der Luft.
Elianas Blick aus taubenblausanften Augen mit schweren, langbewimperten Lidern flog von ihrer Tante, wie Adeline sich trotz des undefinierbaren Verwandtschaftsgrades »der Einfachheit halber« nennen ließ, zu ihrer »Cousine« Josephine - kräftige, flachbrüstige Jugend von zwanzig Jahren, krauses schwarzes Haar um ebenmäßige ovale Züge, ein spöttischer Ausdruck in den Augen, eine frische Ausgabe ihrer Mutter, die in den letzten Jahren etwas molliger um die Taille geworden war. Die Kayserinnen, wie Ursel die beiden mitunter nannte, wenn sie glaubte, Eliana bekäme es nicht mit, hatten sich seit ihrem letzten Besuch nicht verändert. Dennoch, die Locken der Tante schienen noch akkurater gedreht und gesteckt, der Geruch der Brennschere und des Haaröls durchdringender als sonst, und überdies wurde ein veritabler »AfternoonTea« mit drei Gängen serviert.
Irgendetwas geht hier vor, dachte Eliana. Dann fiel ihr ein, dass ihre Mutter sie ermahnt hatte, nicht ständig die Flöhe husten zu hören, und so richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf das Mädchen, das die entweihte Platte inzwischen abgeräumt hatte und nun damit beschäftigt war, Kuchenteller, Teetassen und Silberzeug für Kandiszucker, braunen Zucker, Sahne und Milch auf den Tischchen vor und neben dem Kanapee zu arrangieren.
Josephine zog die Nase kraus; sie hatte für das prätentiöse
Getue nur Spott übrig. »Liebste Duchess«, flötete sie, wenn sie und Eliana nach dem offiziellen Teil der Zusammenkünfte hinausgeschickt wurden, und ließ der Mutter Lieblingsgeschichte folgen, nach der die Erfindung des englischen Teerituals allen Historikern zum Trotz niemals! auf die Portugiesin Katharina von Braganza zurückzuführen sein könne, ganz gleich, ob mit dem englischen König Charles II. verheiratet oder nicht und ob das Teetrinken in Portugal im 17. Jahrhundert bereits sehr verbreitet gewesen sei oder nicht (während auf der Insel vornehmlich Bier getrunken wurde, was so manche blutrünstige Fehde erklärte). Nein, nein, diese Ehre gebühre einzig und allein der Duchess von Bedford, Hofdame Königin Victorias, die eines Tages damit begann, die hohen Damen täglich nach der Mittagsruhe zum Tee zu laden. Das war zwar hundert Jahre nach der Portugiesin, aber Josephines Mutter fand diese Version aus unerfindlichen Gründen ungleich nobler. Dass diese akademische Frage überhaupt Gegenstand tiefschürfender Überlegungen war, amüsierte Josephine; sie wurde nicht müde, über ihrer Mutter Neigung zum Royalen zu lästern - obwohl eben diese aus der Familiengeschichte gespeist wurde. Hätte das Schicksal die Schritte von Adelines Vater Gunter einst anders gelenkt, hätte Adeline einer Kaiserin huldigen dürfen, die diamantene Sterne im Haar trug und ihrem Land jenen Glanz schenkte, den das deutsche Kaiserpaar so schmerzlich vermissen ließ. Josephine war überzeugt, dass ihre Mutter viel, wenn nicht alles darum gegeben hätte, wenn das Y in ihrem Namen ein I gewesen wäre.
Die komische Vehemenz, mit der sie aus ihrer Mutter eine Witzfigur machte, war ziemlich übertrieben und vor allem nicht recht für eine Tochter, fand Eliana. Andererseits setzte die Vorstellung, dass diese Frau, der sie eine gewisse Beklommenheit entgegenbrachte, romantische Sehnsüchte hegte, sie in ein milderes Licht.
Jetzt suchte Josephine Elianas Blick, spreizte geziert den kleinen Finger ab und zuckte mit den Mundwinkeln. Eliana verbiss sich das Lachen und sah schnell weg Richtung Kredenz, wo die Köstlichkeiten britischer Manier versammelt waren - Sandwichs, angerichtet mit zu Röschen gedrehten Salatblättern, weiche Teebrötchen, ungesüßte Schlagsahne, Orangenmarmelade mit kleinen Stücken Orangenschale darin, Malzbrot mit Rosinen, warme, mit weicher Butter bestrichene Gewürzkuchen, kandierte Früchte und mit Marzipan ummantelte Schokoladenpralinen.
Das Essen (bis auf die etwas bittere Marmelade, die Eliana nicht mochte) würde ein Genuss sein, der Tee hingegen nicht. Adeline konnte keinen anständigen Tee kochen. Sie tat den getrockneten Blättern, die nichts anderes wollten, als ihr Aroma bestens zu entfalten, Gewalt an. Eliana versuchte unbeteiligt dreinzublicken, während ihre Tante feierlich drei gehäufte Teelöffel Oolong in die Kanne schaufelte und mit kochendem Wasser überbrühte. Sofort roch es nach gegerbter Schafshaut, nach fünf Minuten würde es gallig schmecken und einen ledernen Nachgeschmack auf der Zunge hinterlassen.
Ursel schoss Eliana einen warnenden Blick zu und setzte sogleich wieder die freundlich-ausdruckslose Miene auf, die, wie sie fand, famos in das Haus eines angesehenen Kaufmanns und seiner Familie passte. Walter hatte mit der Assimilation sichtlich mehr Probleme; er knetete seine Hände, stellte die Hacke des rechten Fußes auf den Spann des linken und wippte mit den Ballen auf und ab, bereit, sich abzustoßen. Das Signal ließ an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Alle Anwesenden meinten zu wissen, warum Walter zum Davonlaufen zumute war, tatsächlich kannten aber nur drei von ihnen die richtige Antwort.
»Ist das eine Neuerwerbung?«, fragte Ursel und deutete auf ein mäßig appetitanregendes Stillleben mit ausblutendem Wildbret und Weintrauben kurz vor Einsetzen des Gärungsprozesses, das linker Hand des lauschigen familiären Beisammenseins über dem Kamin hing.
»Gefällt es euch?«, erwiderte Adeline freudig überrascht. »Ein Werk dieses begabten Menschen, dem wir die Nachtwache im Flur verdanken. Ich musste es einfach haben.« Ursel lächelte gequält.
Die Reproduktion des Rembrandt-Gemäldes dominierte den Eingangsbereich des Kayser'schen Heims und machte jeden Besucher blind für den Rest. Adeline, die die Dinge mit preußischer Gründlichkeit anging, hatte in Erfahrung gebracht, dass das Original, nachdem es 1715 ins Amsterdamer Rathaus geschafft, um die Hälfte des rechtsseitigen Trommlers beraubt und zudem zwei Jahrhunderte vom Kaminfeuer bis zur Unkenntlichkeit zugerußt worden war. Adeline wünschte den Trommler und die Farben zurück, damit man erkennen konnte, wo das legendäre Ganze überhaupt stattfand, aber weil sich das beim Original des Meisters auch bestenfalls erahnen ließ, hatte der wackere Bremer Kopist kurzerhand einen Dom, eine Flussmündung und einige Tiere, Esel, Hund, Katze und Hahn, im Hintergrund angedeutet. Hendrik Kayser fand es ulkig, Adeline war wütend und die Mehrheit ihrer Besucher überrascht von der Nonchalance, mit der die Kaysers eine noble Geste an die niederländische Konkurrenz, deren Urururahnen einst den Tee von China nach Europa geholt hatten, mit dem Hinweis konterkarierten, wo jetzt, 1895, die Musik gespielt wurde - in Bremen, bei Kaysers. Niemand fand es geschmacklos. Es war durchaus üblich, sich Originärem zu bedienen und nach eigenem Gutdünken zu ergänzen, zu korrigieren und zu funktionalisieren. Was scherte einen die Intention eines längst zu Grabe getragenen Künstlers?
So fett die Jahre seit der Gründung des Deutschen Reichs auch sein mochten, so ängstlich hielt die Oberschicht am Althergebrachten fest. Während Gauguin, Klimt, Kraus um Farben, Formen und Worte rangen, um dem ausgehenden 19. Jahrhundert ein eigenes kulturelles Gesicht zu verleihen, schleppten Kaufleute wie Bildungsbürger fleißig Requisiten aus vergangener Zeit in ihren Bau. Rokoko-Sesselchen im Salon, minoische Säulen an der Haustür aus Eichenholz - die Kaysers wie ihresgleichen lebten in einer historisierenden Inszenierung und merkten es nicht, weil der Plüsch klare Gedanken erstickte. Aber es sah halt nach was aus. »Fehlt nur noch, dass wir gepuderte Perücken tragen«, hatte Josephine einmal zu Eliana gesagt, die pflichtschuldig gelächelt hatte über das Bemühen ihrer Cousine, ihr wieder einmal das Gefühl vermitteln zu wollen, Reichtum sei eigentlich etwas Blödes. Das war nett gemeint und typisch Josephine, aber es war reiner Unfug. Nur ein Bruchteil dessen, was die Bremer besaßen, würde Eliana und ihre Eltern zufriedener schlafen lassen.
Sie zuckte zusammen, als Adeline ihr eine Tasse Tee und einen mit Köstlichkeiten angehäuften Teller hinhielt. »Meine Lieben, wie schön, euch wohlbehalten anzutreffen!« Mit einem leutseligen Lächeln segelte Hendrik Kayser in den Salon, am Arm seine Schwiegermutter Victoria Franzini-Magyary, einer bleichen, ätherischen Erscheinung in schwarzer Seide, die er fürsorglich zu einem Sessel führte. Sofort sprang Walter auf, stand stramm und wartete. Victoria nahm auf eine Weise Platz, als würde es sich bei dem Möbel um ein gefährliches Ding aus einer anderen Welt handeln. Auf die Begrüßungen reagierte sie mit einem irritierten Blick.
Hendrik klopfte Walter jovial auf die Schulter. »Walter, altes Haus, setz dich.« Er selbst ließ sich lässig in einen Sessel fallen. »Verzeiht meine Verspätung, aber ich musste mich noch rasch mit Kapitän Pommorenke unterhalten. Er ist gerade aus Shanghai zurückgekehrt und hat neben allerbester erster Ernte ein paar Gewächse dabei.« Er zwinkerte Walter zu. »Magere Dinger, diese Orchideen, wenn du mich fragst, aber wenn du später einen Blick darauf werfen möchtest, Walter ...«
Walters Miene hellte sich auf. »Danke, das ist sehr nett von dir, Hendrik.«
»Keine Ursache«, wehrte Hendrik ab und wandte sich Ursel und Eliana zu. »Prächtig sehen die Damen aus.« Während Ursel ihm verhalten zulächelte, etwas überfordert von seiner raumgreifenden Präsenz, strahlte Eliana ihren Onkel unverhohlen an. Er zeigte sich stets zugänglich, gab sich jovial und fröhlich und konnte wunderbare Geschichten erzählen, wenn seine Frau ihn ließ. Oft genügte jedoch ein mattblauer Blick, und manches, was poetisch begonnen hatte, fand ein prosaisch schnelles Ende. Wie es ihrer Tante gelungen war, diesen Mann, hochgewachsen, mit breitem Mund, flacher Nase, leicht hervorspringenden Augen und grauen, nach hinten gekämmten Wellen, einem alten Löwen nicht ganz unähnlich, zu zähmen, war Eliana ein Rätsel. Aber um die seltsame Dynamik in mancher Ehe, die die Verheirateten ihrer persönlichen Wahrhaftigkeit verlustig gehen lässt, wusste Eliana zu diesem Zeitpunkt noch nicht.
»Möchten Sie Orangen?« Die Worte schwebten durch den Raum wie zarteste Seifenblasen, und den Moment, den es brauchte, da sie niedersanken und vergingen, hielten alle die Luft an.
»Nein, danke, Mutter, nachher vielleicht«, sagte Adeline, die sich als Erste gefasst hatte und ihrer Mutter nun resolut eine Teetasse in die Hand drückte.
Folgsam nahm Victoria einen Schluck Oolong. Ihre Augen weiteten sich. Sie murmelte etwas und drückte ein Spitzentaschentuch an ihren Mund. Überzeugt, dass Victoria den Tee mindestens so scheußlich fand wie sie, Eliana, und nur zu höflich war, ihre Tochter zu blamieren, lächelte Eliana ihre (nun ja, was? Niemand wusste es schließlich so genau, und man hatte sich geeinigt auf:) Großtante an.
Zwei senkrechte Falten auf der Stirn, starrte Victoria zurück. »Denk ja nicht, ich hätte sie nicht alle beisammen, mein Kind. Die Orangen hat Gunter mitgebracht. Oder Hendrik. Einer von beiden. Sie sind in meinem Zimmer. Ich werde sie holen.« Scheppernd wurde die Teetasse auf den Tisch gestellt. Victoria erhob sich und verließ den Salon.
Adeline seufzte schwer und eilte hinterher. Der strenge Ton, mit dem sie das Mädchen anwies, ihrer Mutter nachzugehen und sich um sie zu kümmern, hallte durchs Treppenhaus. Eine trotzige Erwiderung folgte. Dann ein zischendes »Luise!«, ein Klatschen und eilige Schritte die Stufen hinauf. Walter und Ursel taten, als hätten sie nichts gehört. Eliana senkte den Blick, und Josephine atmete vernehmlich.
»Luise ist aus einer Besserungsanstalt in der Vorstadt«, erklärte Hendrik ohne Umschweife und mit einem Kopfnicken in östlicher Richtung. »Wir können froh sein, dass wir sie haben.«
Zum ehrlichen Bedauern wohlhabender Bremer hatte es sich auf dem Land herumgesprochen, dass die Flucht von der Scholle in die Stadt nicht unbedingt das erhoffte bessere Leben brachte. Im Gegenteil, so manche Bauersmaid war unter die Räder gekommen, hauste hungrig, schwanger und grottenelend in irgendeinem Loch in Hafennähe. Da blieb man doch lieber daheim, in Syke, Bassum oder Scheeßel. Die Töchter der Kleinbürger dienten eine Weile als Ersatz, bis deren Eltern begriffen, dass es sinnvoller war, sie einen Beruf erlernen zu lassen, statt unausgebildet zu Herrschaften in den Dienst zu schicken. So war man von der Parkallee bis zur Bismarckstraße gezwungen, sich anderer Quellen zu bedienen. Die Besserungsanstalt war eine davon. Wer seine weiblichen Angestellten hier rekrutierte, galt überdies als sozial erleuchtet. Leider verlief das Verhältnis zwischen Wohltäter und den erwählten jungen Frauen selten ungetrübt. Weil manche mit Trotz auf die Selbstverständlichkeit reagierten, mit der das Großbürgertum sich das Recht herausnahm, sie zu erwählen, ohne zu fragen, ob sie erwählt werden wollten; weil die meisten von der Pike auf angelernt werden mussten, was Hygiene und Dienstleistung zu bedeuten hatten, andere wiederum sich übelster Gossensprache bedienten, keine Manieren besaßen und gleichermaßen große Scheu und Aufsässigkeit an den Tag legten. Ob etwas davon auf Luise zutraf, ließ Hendrik taktvollerweise offen. »Sie muss sich auch um Victoria kümmern, bis wir eine geeignete Pflegerin gefunden haben, und ich schätze, das ist ein wenig zu viel für das arme Ding.« Als niemand etwas erwiderte, fügte er mit einem schiefen Lächeln hinzu: »Ihre Vorgängerin hat nach einem Monat gekündigt. Sie hat, so erklärte sie es uns, einen Ruf aus Afrika erhört. Gottes Ruf natürlich. Dagegen konnten wir schlecht etwas einwenden, obwohl es offensichtlich war, dass sie flunkerte. Ehrlich gesagt fanden wir es wenig ermutigend, dass sie glaubte, mit wilden Tieren sei besser umzugehen als mit Victoria ... « Sogleich ging ihm auf, dass seine Bemerkung als Zynismus aufgefasst werden könnte, und genervt verdrehte Hendrik die Augen. »Malfalda will uns demnächst besuchen«, sagte er mit Hoffnung in der Stimme, ob nicht, wenn schon die Quacksalber von Ärzten mit ihrem Latein am Ende waren, vielleicht die resolute Schwester seiner Schwiegermutter ein Licht entzünden könnte im zunehmenden Dunkel des Vergessens, unter dem Victoria litt.
»Das ist ja wunderbar«, rief Josephine und suchte Elianas Blick. Beide mochten die Großtante aus Wien von Herzen gut leiden. Niemand war wie Malfalda, eine Galionsfigur des unbedingten Willens zur Individualität.
Energische Schritte kündigten Adelines Rückkehr an. Mit großer Geste öffnete sie die zur Hälfte verglasten Flügeltüren. Es war so weit. »Ihr Mädchen solltet nun ein wenig spazieren gehen. Die Luft wird euch guttun.«
Vom Fenster des Salons aus beobachtete Adeline, wie die beiden schmalen Gestalten in den pastellfarbenen, von einem leichten Wind gebauschten Sommerkleidern die Emmastraße entlangschlenderten, während ihr Mann seinerseits seine Frau betrachtete.
»Kann mir mal jemand erklären, was hier los ist?«, fragte er
belustigt. »Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass eine gewisse konspirative Stimmung in der Luft liegt.«
Adeline drehte sich um. Den Einwurf ihres Mannes ignorierend, sagte sie gedehnt: »Wenn ich deine Zeilen richtig verstanden habe, Ursel, ist John van Steen nunmehr vorstellig geworden.«
»Wer ist das?«
»Aber geh, Hendrik, ich habe dir doch von ihm erzählt!«, versetzte sie mit tadelndem Unterton. »Erfreulicherweise hat sich in Lüneburg eine entfernte Verbindung zu Torge offenbart, die die Frage nach einer angemessenen Versorgung unserer lieben Eliana aufs eleganteste löst. John ist nicht mehr ganz jung, aber strebsam, und seine Mittel sind ausreichend. Er ist im Begriff, einen kleinen Kurbetrieb aufzubauen.«
»Ja, richtig, jetzt entsinne ich mich ... « Hendrik warf Ursel und Walter einen entschuldigenden Blick zu. »Der Handel nimmt mich zurzeit über Gebühr in Anspruch. Die Amerikaner drängen äußerst aggressiv auf die Märkte, und alle Kaufleute im alten, behäbigen Europa, nicht nur ich, haben Mühe, sie in Schach zu halten.« Er machte eine kurze Pause. »Seid ihr sicher, dass er die richtige Wahl ist?«
Walter nickte. »Nun, er wird gut zu Eliana sein, ganz bestimmt. Er versteht nichts von Pflanzen, aber er achtet sie.«
Hendrik unterdrückte ein Grinsen.
»Er ist höflich«, ergänzte Ursel schnell. »So einer wie er findet sich in der Heide kein zweites Mal. Es ist ein großes Glück für Eliana, dass er sich für sie interessiert.«
»Auch scheint er mir zwar freundlich, jedoch nicht zu gutmütig zu sein«, meinte Adeline, »und damit erfüllt er eine wesentliche Voraussetzung zum Gelingen dieser Ehe. Denn, wie wir uns alle gewiss einig sind, gilt es, Eliana gegenüber die goldene Mitte zwischen Nachsicht und Strenge zu bewahren.«
»Ach, ich glaube nicht, dass die Dinge noch einmal aus dem Ruder laufen«, warf Hendrik ein.
»Mein Lieber, dein Optimismus in allen Ehren, sollten wir doch wachsam bleiben. Dazu gehört auch, dass wir uns nicht aus dem Rahmen bewegen, den wir uns nun einmal gesteckt haben.«
Ursel begriff. »Du meinst, ihr werdet an der Hochzeit nicht teilnehmen.« Als Adeline nickte, erhob sie zum ersten Mal die Stimme. »Eliana ist munter und schlägt weder zur einen noch zur anderen Seite aus, über ihre kleinen Kümmernisse kommt sie schnell hinweg, sie ist tapfer und verständig. Ich kann mir nicht denken, dass ein Risiko darin liegt, dass ihr an der Hochzeit teilnehmt. Eher liegt ein Risiko in der Heirat an sich ... «
»Das müssen wir eingehen«, unterbrach Adeline sie barsch. »Eliana muss ein normales Leben führen. Alles andere wäre dazu angetan, sie in Grübeleien zu versenken. Aber wir können das Risiko mindern, indem wir unsererseits kein großes Aufhebens von der Sache machen.« Ursel zuckte mit den Schultern und schaute bekümmert zu Boden. Walter zupfte einen nicht vorhandenen Krümel von seiner dunkelgrauen Tuchhose. Hendrik betrachtete seine Frau. Seine Miene verriet nicht, was er dachte. Als Adeline begriff, dass ihr niemand widersprach, entspannten sich zum ersten Mal an diesem Nachmittag ihre Züge, und ein kleines Lächeln umspielte ihre Mundwinkel. »Es ist also beschlossene Sache.«
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Behutsam, fast zärtlich zupfte Tallulah in dem Moment, da Luise, das neue Mädchen, hochrot im Gesicht die Frage herauspresste, ob die gnädige Frau grünen oder chinesischen Tee serviert wissen wollte, und daher aller Aufmerksamkeit auf sie gerichtet war, eins der Gurken-Sandwichs von den auf der Kredenz angerichteten Porzellanplatten. Die Platten waren mit einem blaugrundigen, einen Bären und ein Pferd zeigenden Phantasie-Wappen verziert und goldgerandet, die Sandwichs oblatendünn und die weiche Hundeschnauze mit der violetten Zunge und den kräftigen Zähnen geübt, Diebstähle dieser Art manierlich, schnell und unbemerkt auszuführen. Doch dieser misslang. Mit einem leisen Klatsch landete ein Teil des ersten Gangs des Nachmittagstees auf den gewachsten Eichenholzdielen. Sechs Augenpaare richteten sich auf das Tier, das die grünliche Bescherung seelenruhig vom Boden zu lecken begann.
»Augusta von der Hohenweide! Nein!« Adeline Kaysers rauher Sopran zerschnitt die Luft. An das Mädchen gerichtet und im selben Ton stieß Adeline die Worte »Grün ist chinesisch!« hervor, und fügte mit einem Blick in die Runde freundlich erklärend hinzu, man dürfe »niemals!« den Rufnamen eines Tieres wie eine Rüge aussprechen, »weil es auf diese Weise lernt, dem Klang zu misstrauen, was in der Folge dazu führt, dass es das Zutrauen zu seinen Menschen verliert«; besser sei es, in solchen Fällen den Zuchtnamen zu verwenden. Der Besuch aus Lüneburg, dankbar für ein Gesprächsthema, verfolgte den Weg der Gescholtenen vom nunmehr blankgeputzten Tatort in den rückwärtigen Teil des Salons und merkte an, dass Tallulah besser zu dem aufgeweckten Tier passe als das sperrige Von-und-Zu, unterstelle die Vokalmelodie doch eine gewisse Eigensinnigkeit. In der Tat ignorierte Tallulah Befehle konsequent, legte eine divaeske Launenhaftigkeit an den Tag - gestern wurden Post, Zeitung, Hauspantoffeln brav apportiert, heute unauffindbar versteckt und morgen vollständig zerstört - und hätte daher eigentlich eine Quelle beständigen Ärgers für Adeline Kayser sein müssen. Aber die Herrin des Hauses, von den Dienstboten wegen ihrer humorlosen Strenge gefürchtet, liebte sie zärtlich. Ein sanfter Schimmer trat in ihre blassblauen Augen, sobald sie auf der dreijährigen goldfarbenen Hovawart-Hündin ruhten, die den nachfolgenden Ereignissen zu guter Letzt und ums Haar eine ganz andere Wendung gegeben hätte. Doch davon ahnte Adeline Kayser natürlich nichts, andernfalls hätte sie das Tier bei aller Liebe vermutlich zum Teufel geschickt und den Besuch aus Lüneburg, Ursel und Walter Jürgensen und ihre Tochter Eliana, gleich hinterher.
Die drei saßen auf dem blaugestreiften Kanapee der Kaysers in Bremen, ihren angeblich sehr weit entfernten Verwandten, so weit entfernt, dass die Bande genealogisch nahezu bedeutungslos waren, aber Adeline, eine stolze hanseatische Dame, war der Meinung, Blut sei dicker als Wasser, ganz gleich, in welcher Verdünnung, und so packten die Jürgensens zweimal im Jahr, in der Adventszeit und im Sommer, die wenige gute Kleidung, die sie besaßen, in einen Pappkoffer und reisten von der Ilmenau an die Weser, um sich zwei Tage lang in Atmosphäre und Ambiente des gehobenen Bürgertums minderbemittelt, unzulänglich und deplaziert zu fühlen.
Wie immer war auch dieses Treffen eine steife Angelegenheit, doch dieses war überstürzt zustande gekommen, ganz und gar außerplanmäßig, und zudem lag die Ahnung von etwas Feierlichem, Besonderem in der Luft.
Elianas Blick aus taubenblausanften Augen mit schweren, langbewimperten Lidern flog von ihrer Tante, wie Adeline sich trotz des undefinierbaren Verwandtschaftsgrades »der Einfachheit halber« nennen ließ, zu ihrer »Cousine« Josephine - kräftige, flachbrüstige Jugend von zwanzig Jahren, krauses schwarzes Haar um ebenmäßige ovale Züge, ein spöttischer Ausdruck in den Augen, eine frische Ausgabe ihrer Mutter, die in den letzten Jahren etwas molliger um die Taille geworden war. Die Kayserinnen, wie Ursel die beiden mitunter nannte, wenn sie glaubte, Eliana bekäme es nicht mit, hatten sich seit ihrem letzten Besuch nicht verändert. Dennoch, die Locken der Tante schienen noch akkurater gedreht und gesteckt, der Geruch der Brennschere und des Haaröls durchdringender als sonst, und überdies wurde ein veritabler »AfternoonTea« mit drei Gängen serviert.
Irgendetwas geht hier vor, dachte Eliana. Dann fiel ihr ein, dass ihre Mutter sie ermahnt hatte, nicht ständig die Flöhe husten zu hören, und so richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf das Mädchen, das die entweihte Platte inzwischen abgeräumt hatte und nun damit beschäftigt war, Kuchenteller, Teetassen und Silberzeug für Kandiszucker, braunen Zucker, Sahne und Milch auf den Tischchen vor und neben dem Kanapee zu arrangieren.
Josephine zog die Nase kraus; sie hatte für das prätentiöse
Getue nur Spott übrig. »Liebste Duchess«, flötete sie, wenn sie und Eliana nach dem offiziellen Teil der Zusammenkünfte hinausgeschickt wurden, und ließ der Mutter Lieblingsgeschichte folgen, nach der die Erfindung des englischen Teerituals allen Historikern zum Trotz niemals! auf die Portugiesin Katharina von Braganza zurückzuführen sein könne, ganz gleich, ob mit dem englischen König Charles II. verheiratet oder nicht und ob das Teetrinken in Portugal im 17. Jahrhundert bereits sehr verbreitet gewesen sei oder nicht (während auf der Insel vornehmlich Bier getrunken wurde, was so manche blutrünstige Fehde erklärte). Nein, nein, diese Ehre gebühre einzig und allein der Duchess von Bedford, Hofdame Königin Victorias, die eines Tages damit begann, die hohen Damen täglich nach der Mittagsruhe zum Tee zu laden. Das war zwar hundert Jahre nach der Portugiesin, aber Josephines Mutter fand diese Version aus unerfindlichen Gründen ungleich nobler. Dass diese akademische Frage überhaupt Gegenstand tiefschürfender Überlegungen war, amüsierte Josephine; sie wurde nicht müde, über ihrer Mutter Neigung zum Royalen zu lästern - obwohl eben diese aus der Familiengeschichte gespeist wurde. Hätte das Schicksal die Schritte von Adelines Vater Gunter einst anders gelenkt, hätte Adeline einer Kaiserin huldigen dürfen, die diamantene Sterne im Haar trug und ihrem Land jenen Glanz schenkte, den das deutsche Kaiserpaar so schmerzlich vermissen ließ. Josephine war überzeugt, dass ihre Mutter viel, wenn nicht alles darum gegeben hätte, wenn das Y in ihrem Namen ein I gewesen wäre.
Die komische Vehemenz, mit der sie aus ihrer Mutter eine Witzfigur machte, war ziemlich übertrieben und vor allem nicht recht für eine Tochter, fand Eliana. Andererseits setzte die Vorstellung, dass diese Frau, der sie eine gewisse Beklommenheit entgegenbrachte, romantische Sehnsüchte hegte, sie in ein milderes Licht.
Jetzt suchte Josephine Elianas Blick, spreizte geziert den kleinen Finger ab und zuckte mit den Mundwinkeln. Eliana verbiss sich das Lachen und sah schnell weg Richtung Kredenz, wo die Köstlichkeiten britischer Manier versammelt waren - Sandwichs, angerichtet mit zu Röschen gedrehten Salatblättern, weiche Teebrötchen, ungesüßte Schlagsahne, Orangenmarmelade mit kleinen Stücken Orangenschale darin, Malzbrot mit Rosinen, warme, mit weicher Butter bestrichene Gewürzkuchen, kandierte Früchte und mit Marzipan ummantelte Schokoladenpralinen.
Das Essen (bis auf die etwas bittere Marmelade, die Eliana nicht mochte) würde ein Genuss sein, der Tee hingegen nicht. Adeline konnte keinen anständigen Tee kochen. Sie tat den getrockneten Blättern, die nichts anderes wollten, als ihr Aroma bestens zu entfalten, Gewalt an. Eliana versuchte unbeteiligt dreinzublicken, während ihre Tante feierlich drei gehäufte Teelöffel Oolong in die Kanne schaufelte und mit kochendem Wasser überbrühte. Sofort roch es nach gegerbter Schafshaut, nach fünf Minuten würde es gallig schmecken und einen ledernen Nachgeschmack auf der Zunge hinterlassen.
Ursel schoss Eliana einen warnenden Blick zu und setzte sogleich wieder die freundlich-ausdruckslose Miene auf, die, wie sie fand, famos in das Haus eines angesehenen Kaufmanns und seiner Familie passte. Walter hatte mit der Assimilation sichtlich mehr Probleme; er knetete seine Hände, stellte die Hacke des rechten Fußes auf den Spann des linken und wippte mit den Ballen auf und ab, bereit, sich abzustoßen. Das Signal ließ an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Alle Anwesenden meinten zu wissen, warum Walter zum Davonlaufen zumute war, tatsächlich kannten aber nur drei von ihnen die richtige Antwort.
»Ist das eine Neuerwerbung?«, fragte Ursel und deutete auf ein mäßig appetitanregendes Stillleben mit ausblutendem Wildbret und Weintrauben kurz vor Einsetzen des Gärungsprozesses, das linker Hand des lauschigen familiären Beisammenseins über dem Kamin hing.
»Gefällt es euch?«, erwiderte Adeline freudig überrascht. »Ein Werk dieses begabten Menschen, dem wir die Nachtwache im Flur verdanken. Ich musste es einfach haben.« Ursel lächelte gequält.
Die Reproduktion des Rembrandt-Gemäldes dominierte den Eingangsbereich des Kayser'schen Heims und machte jeden Besucher blind für den Rest. Adeline, die die Dinge mit preußischer Gründlichkeit anging, hatte in Erfahrung gebracht, dass das Original, nachdem es 1715 ins Amsterdamer Rathaus geschafft, um die Hälfte des rechtsseitigen Trommlers beraubt und zudem zwei Jahrhunderte vom Kaminfeuer bis zur Unkenntlichkeit zugerußt worden war. Adeline wünschte den Trommler und die Farben zurück, damit man erkennen konnte, wo das legendäre Ganze überhaupt stattfand, aber weil sich das beim Original des Meisters auch bestenfalls erahnen ließ, hatte der wackere Bremer Kopist kurzerhand einen Dom, eine Flussmündung und einige Tiere, Esel, Hund, Katze und Hahn, im Hintergrund angedeutet. Hendrik Kayser fand es ulkig, Adeline war wütend und die Mehrheit ihrer Besucher überrascht von der Nonchalance, mit der die Kaysers eine noble Geste an die niederländische Konkurrenz, deren Urururahnen einst den Tee von China nach Europa geholt hatten, mit dem Hinweis konterkarierten, wo jetzt, 1895, die Musik gespielt wurde - in Bremen, bei Kaysers. Niemand fand es geschmacklos. Es war durchaus üblich, sich Originärem zu bedienen und nach eigenem Gutdünken zu ergänzen, zu korrigieren und zu funktionalisieren. Was scherte einen die Intention eines längst zu Grabe getragenen Künstlers?
So fett die Jahre seit der Gründung des Deutschen Reichs auch sein mochten, so ängstlich hielt die Oberschicht am Althergebrachten fest. Während Gauguin, Klimt, Kraus um Farben, Formen und Worte rangen, um dem ausgehenden 19. Jahrhundert ein eigenes kulturelles Gesicht zu verleihen, schleppten Kaufleute wie Bildungsbürger fleißig Requisiten aus vergangener Zeit in ihren Bau. Rokoko-Sesselchen im Salon, minoische Säulen an der Haustür aus Eichenholz - die Kaysers wie ihresgleichen lebten in einer historisierenden Inszenierung und merkten es nicht, weil der Plüsch klare Gedanken erstickte. Aber es sah halt nach was aus. »Fehlt nur noch, dass wir gepuderte Perücken tragen«, hatte Josephine einmal zu Eliana gesagt, die pflichtschuldig gelächelt hatte über das Bemühen ihrer Cousine, ihr wieder einmal das Gefühl vermitteln zu wollen, Reichtum sei eigentlich etwas Blödes. Das war nett gemeint und typisch Josephine, aber es war reiner Unfug. Nur ein Bruchteil dessen, was die Bremer besaßen, würde Eliana und ihre Eltern zufriedener schlafen lassen.
Sie zuckte zusammen, als Adeline ihr eine Tasse Tee und einen mit Köstlichkeiten angehäuften Teller hinhielt. »Meine Lieben, wie schön, euch wohlbehalten anzutreffen!« Mit einem leutseligen Lächeln segelte Hendrik Kayser in den Salon, am Arm seine Schwiegermutter Victoria Franzini-Magyary, einer bleichen, ätherischen Erscheinung in schwarzer Seide, die er fürsorglich zu einem Sessel führte. Sofort sprang Walter auf, stand stramm und wartete. Victoria nahm auf eine Weise Platz, als würde es sich bei dem Möbel um ein gefährliches Ding aus einer anderen Welt handeln. Auf die Begrüßungen reagierte sie mit einem irritierten Blick.
Hendrik klopfte Walter jovial auf die Schulter. »Walter, altes Haus, setz dich.« Er selbst ließ sich lässig in einen Sessel fallen. »Verzeiht meine Verspätung, aber ich musste mich noch rasch mit Kapitän Pommorenke unterhalten. Er ist gerade aus Shanghai zurückgekehrt und hat neben allerbester erster Ernte ein paar Gewächse dabei.« Er zwinkerte Walter zu. »Magere Dinger, diese Orchideen, wenn du mich fragst, aber wenn du später einen Blick darauf werfen möchtest, Walter ...«
Walters Miene hellte sich auf. »Danke, das ist sehr nett von dir, Hendrik.«
»Keine Ursache«, wehrte Hendrik ab und wandte sich Ursel und Eliana zu. »Prächtig sehen die Damen aus.« Während Ursel ihm verhalten zulächelte, etwas überfordert von seiner raumgreifenden Präsenz, strahlte Eliana ihren Onkel unverhohlen an. Er zeigte sich stets zugänglich, gab sich jovial und fröhlich und konnte wunderbare Geschichten erzählen, wenn seine Frau ihn ließ. Oft genügte jedoch ein mattblauer Blick, und manches, was poetisch begonnen hatte, fand ein prosaisch schnelles Ende. Wie es ihrer Tante gelungen war, diesen Mann, hochgewachsen, mit breitem Mund, flacher Nase, leicht hervorspringenden Augen und grauen, nach hinten gekämmten Wellen, einem alten Löwen nicht ganz unähnlich, zu zähmen, war Eliana ein Rätsel. Aber um die seltsame Dynamik in mancher Ehe, die die Verheirateten ihrer persönlichen Wahrhaftigkeit verlustig gehen lässt, wusste Eliana zu diesem Zeitpunkt noch nicht.
»Möchten Sie Orangen?« Die Worte schwebten durch den Raum wie zarteste Seifenblasen, und den Moment, den es brauchte, da sie niedersanken und vergingen, hielten alle die Luft an.
»Nein, danke, Mutter, nachher vielleicht«, sagte Adeline, die sich als Erste gefasst hatte und ihrer Mutter nun resolut eine Teetasse in die Hand drückte.
Folgsam nahm Victoria einen Schluck Oolong. Ihre Augen weiteten sich. Sie murmelte etwas und drückte ein Spitzentaschentuch an ihren Mund. Überzeugt, dass Victoria den Tee mindestens so scheußlich fand wie sie, Eliana, und nur zu höflich war, ihre Tochter zu blamieren, lächelte Eliana ihre (nun ja, was? Niemand wusste es schließlich so genau, und man hatte sich geeinigt auf:) Großtante an.
Zwei senkrechte Falten auf der Stirn, starrte Victoria zurück. »Denk ja nicht, ich hätte sie nicht alle beisammen, mein Kind. Die Orangen hat Gunter mitgebracht. Oder Hendrik. Einer von beiden. Sie sind in meinem Zimmer. Ich werde sie holen.« Scheppernd wurde die Teetasse auf den Tisch gestellt. Victoria erhob sich und verließ den Salon.
Adeline seufzte schwer und eilte hinterher. Der strenge Ton, mit dem sie das Mädchen anwies, ihrer Mutter nachzugehen und sich um sie zu kümmern, hallte durchs Treppenhaus. Eine trotzige Erwiderung folgte. Dann ein zischendes »Luise!«, ein Klatschen und eilige Schritte die Stufen hinauf. Walter und Ursel taten, als hätten sie nichts gehört. Eliana senkte den Blick, und Josephine atmete vernehmlich.
»Luise ist aus einer Besserungsanstalt in der Vorstadt«, erklärte Hendrik ohne Umschweife und mit einem Kopfnicken in östlicher Richtung. »Wir können froh sein, dass wir sie haben.«
Zum ehrlichen Bedauern wohlhabender Bremer hatte es sich auf dem Land herumgesprochen, dass die Flucht von der Scholle in die Stadt nicht unbedingt das erhoffte bessere Leben brachte. Im Gegenteil, so manche Bauersmaid war unter die Räder gekommen, hauste hungrig, schwanger und grottenelend in irgendeinem Loch in Hafennähe. Da blieb man doch lieber daheim, in Syke, Bassum oder Scheeßel. Die Töchter der Kleinbürger dienten eine Weile als Ersatz, bis deren Eltern begriffen, dass es sinnvoller war, sie einen Beruf erlernen zu lassen, statt unausgebildet zu Herrschaften in den Dienst zu schicken. So war man von der Parkallee bis zur Bismarckstraße gezwungen, sich anderer Quellen zu bedienen. Die Besserungsanstalt war eine davon. Wer seine weiblichen Angestellten hier rekrutierte, galt überdies als sozial erleuchtet. Leider verlief das Verhältnis zwischen Wohltäter und den erwählten jungen Frauen selten ungetrübt. Weil manche mit Trotz auf die Selbstverständlichkeit reagierten, mit der das Großbürgertum sich das Recht herausnahm, sie zu erwählen, ohne zu fragen, ob sie erwählt werden wollten; weil die meisten von der Pike auf angelernt werden mussten, was Hygiene und Dienstleistung zu bedeuten hatten, andere wiederum sich übelster Gossensprache bedienten, keine Manieren besaßen und gleichermaßen große Scheu und Aufsässigkeit an den Tag legten. Ob etwas davon auf Luise zutraf, ließ Hendrik taktvollerweise offen. »Sie muss sich auch um Victoria kümmern, bis wir eine geeignete Pflegerin gefunden haben, und ich schätze, das ist ein wenig zu viel für das arme Ding.« Als niemand etwas erwiderte, fügte er mit einem schiefen Lächeln hinzu: »Ihre Vorgängerin hat nach einem Monat gekündigt. Sie hat, so erklärte sie es uns, einen Ruf aus Afrika erhört. Gottes Ruf natürlich. Dagegen konnten wir schlecht etwas einwenden, obwohl es offensichtlich war, dass sie flunkerte. Ehrlich gesagt fanden wir es wenig ermutigend, dass sie glaubte, mit wilden Tieren sei besser umzugehen als mit Victoria ... « Sogleich ging ihm auf, dass seine Bemerkung als Zynismus aufgefasst werden könnte, und genervt verdrehte Hendrik die Augen. »Malfalda will uns demnächst besuchen«, sagte er mit Hoffnung in der Stimme, ob nicht, wenn schon die Quacksalber von Ärzten mit ihrem Latein am Ende waren, vielleicht die resolute Schwester seiner Schwiegermutter ein Licht entzünden könnte im zunehmenden Dunkel des Vergessens, unter dem Victoria litt.
»Das ist ja wunderbar«, rief Josephine und suchte Elianas Blick. Beide mochten die Großtante aus Wien von Herzen gut leiden. Niemand war wie Malfalda, eine Galionsfigur des unbedingten Willens zur Individualität.
Energische Schritte kündigten Adelines Rückkehr an. Mit großer Geste öffnete sie die zur Hälfte verglasten Flügeltüren. Es war so weit. »Ihr Mädchen solltet nun ein wenig spazieren gehen. Die Luft wird euch guttun.«
Vom Fenster des Salons aus beobachtete Adeline, wie die beiden schmalen Gestalten in den pastellfarbenen, von einem leichten Wind gebauschten Sommerkleidern die Emmastraße entlangschlenderten, während ihr Mann seinerseits seine Frau betrachtete.
»Kann mir mal jemand erklären, was hier los ist?«, fragte er
belustigt. »Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass eine gewisse konspirative Stimmung in der Luft liegt.«
Adeline drehte sich um. Den Einwurf ihres Mannes ignorierend, sagte sie gedehnt: »Wenn ich deine Zeilen richtig verstanden habe, Ursel, ist John van Steen nunmehr vorstellig geworden.«
»Wer ist das?«
»Aber geh, Hendrik, ich habe dir doch von ihm erzählt!«, versetzte sie mit tadelndem Unterton. »Erfreulicherweise hat sich in Lüneburg eine entfernte Verbindung zu Torge offenbart, die die Frage nach einer angemessenen Versorgung unserer lieben Eliana aufs eleganteste löst. John ist nicht mehr ganz jung, aber strebsam, und seine Mittel sind ausreichend. Er ist im Begriff, einen kleinen Kurbetrieb aufzubauen.«
»Ja, richtig, jetzt entsinne ich mich ... « Hendrik warf Ursel und Walter einen entschuldigenden Blick zu. »Der Handel nimmt mich zurzeit über Gebühr in Anspruch. Die Amerikaner drängen äußerst aggressiv auf die Märkte, und alle Kaufleute im alten, behäbigen Europa, nicht nur ich, haben Mühe, sie in Schach zu halten.« Er machte eine kurze Pause. »Seid ihr sicher, dass er die richtige Wahl ist?«
Walter nickte. »Nun, er wird gut zu Eliana sein, ganz bestimmt. Er versteht nichts von Pflanzen, aber er achtet sie.«
Hendrik unterdrückte ein Grinsen.
»Er ist höflich«, ergänzte Ursel schnell. »So einer wie er findet sich in der Heide kein zweites Mal. Es ist ein großes Glück für Eliana, dass er sich für sie interessiert.«
»Auch scheint er mir zwar freundlich, jedoch nicht zu gutmütig zu sein«, meinte Adeline, »und damit erfüllt er eine wesentliche Voraussetzung zum Gelingen dieser Ehe. Denn, wie wir uns alle gewiss einig sind, gilt es, Eliana gegenüber die goldene Mitte zwischen Nachsicht und Strenge zu bewahren.«
»Ach, ich glaube nicht, dass die Dinge noch einmal aus dem Ruder laufen«, warf Hendrik ein.
»Mein Lieber, dein Optimismus in allen Ehren, sollten wir doch wachsam bleiben. Dazu gehört auch, dass wir uns nicht aus dem Rahmen bewegen, den wir uns nun einmal gesteckt haben.«
Ursel begriff. »Du meinst, ihr werdet an der Hochzeit nicht teilnehmen.« Als Adeline nickte, erhob sie zum ersten Mal die Stimme. »Eliana ist munter und schlägt weder zur einen noch zur anderen Seite aus, über ihre kleinen Kümmernisse kommt sie schnell hinweg, sie ist tapfer und verständig. Ich kann mir nicht denken, dass ein Risiko darin liegt, dass ihr an der Hochzeit teilnehmt. Eher liegt ein Risiko in der Heirat an sich ... «
»Das müssen wir eingehen«, unterbrach Adeline sie barsch. »Eliana muss ein normales Leben führen. Alles andere wäre dazu angetan, sie in Grübeleien zu versenken. Aber wir können das Risiko mindern, indem wir unsererseits kein großes Aufhebens von der Sache machen.« Ursel zuckte mit den Schultern und schaute bekümmert zu Boden. Walter zupfte einen nicht vorhandenen Krümel von seiner dunkelgrauen Tuchhose. Hendrik betrachtete seine Frau. Seine Miene verriet nicht, was er dachte. Als Adeline begriff, dass ihr niemand widersprach, entspannten sich zum ersten Mal an diesem Nachmittag ihre Züge, und ein kleines Lächeln umspielte ihre Mundwinkel. »Es ist also beschlossene Sache.«
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Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Copyright der Originalausgabe © 2010 by Knaur Taschenbuch.
Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt Th. Knaur
Nachf. GmbH & Co. KG, München
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Bibliographische Angaben
- Autor: Karin Engel
- 505 Seiten, Maße: 14,5 x 22 cm, Geb. mit Su.
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3828996566
- ISBN-13: 9783828996564
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