Die Tochter der Himmelsscheibe
Der Meister der deutschen Fantasy-Literatur hat sich von einem der spektakulärsten Funde unserer Zeit inspirieren lassen: von der Sternenscheibe von Nebra. Er entführt die Leser in die Bronzezeit und erzählt die Geschichte von Lea, einer heilkundigen...
Der Meister der deutschen Fantasy-Literatur hat sich von einem der spektakulärsten Funde unserer Zeit inspirieren lassen: von der Sternenscheibe von Nebra. Er entführt die Leser in die Bronzezeit und erzählt die Geschichte von Lea, einer heilkundigen Frau. In einer Welt, in der sich alles im Umbruch befindet, ist ihr ein geheimnisvolles Schwert gleichzeitig Fluch und Schutz.
Die Tochter derHimmelsscheibe von Wolfgang Hohlbein
LESEPROBE
"Es wird nichts mehr so sein, wie es einmal war." DieWorte ihrer Mutter hallten in Arris Kopf wider, während sie aus der alten, halbzerfallenen Schmiedehütte trat und zu der rotgolden glitzernden Zellazurückblickte, in deren ruhig dahingleitenden Fluten sich die Abendsonnespiegelte. Sie wusste nicht, was plötzlich in ihre Mutter gefahren war. Sieohne ein weiteres Wort zum Fluss zu schicken, um dem eigensinnigen Rahn einenfangfrischen Fisch abzuschwatzen, obwohl sie noch genug zu essen im Haushatten, war schon ungewöhnlich genug. Doch die Hast, in der es geschehen war,und das ungeduldige Stirnrunzeln, mit dem sie beobachtet hatte, wie ihreTochter mit den schnell zusammengeklaubten Essensresten die schmale Holzstiegehinabgeeilt war, hatten Arris Verwunderung in ein banges Vorgefühl umschlagenlassen.
"Sag deiner Mutter, sie soll mir demnächst etwas Anständigeszu essen schicken", keifte der blinde Schmied hinter ihr her. "DasFladenbrot ist steinalt, und die Pilze schmecken, als hätte eine Wildschweinfamilieihre Notdurft darüber verrichtet."
Arri stieß einen leisen Seufzer aus und umklammerte die fangnasseÄsche so fest, als könne sie ihr aus der Hand flutschen wie in dem Moment, indem sie den zappelnden Fisch in Empfang genommen hatte. Sie hätte dem Schmiederklären können, dass ihre Mutter es zwar duldete, wenn sie ein wenig Essen fürihn abzweigte, ihm aber niemals von sich aus regelmäßig mehr als die kargeRation hätte zukommen lassen, welche die Dorfgemeinschaft ihm zugestandenhatte. Ein blinder Schmied war ein nutzloser Schmied, und wenn Achk nicht vordem ersten Schnee irgendeine Tätigkeit fand, drohte ihm, dass ihn Sarn mitSchimpf und Schande aus dem Dorf vertreiben ließ. Dabei machte es keinenUnterschied, dass Achk sein Augenlicht verloren hatte, während er damitbeschäftigt gewesen war, nach den Anweisungen von Arris Mutter für dieGemeinschaft eine ganz neue Art von Metall zu schmelzen, das angeblich vielhärter und widerstandsfähiger war als Kupfer oder Bronze. Das Dorf konnte keinenutzlosen Esser brauchen, selbst jetzt nicht, wo die Ernte eingefahren wurdeund die Jäger so reiche Jagdbeute wie schon lange nicht mehr mit nach Hausebrachten. Arri konnte das zwar verstehen, aber sie fand es ungerecht;vielleicht umso mehr, weil sie wusste, dass ihre Mutter nicht ganz unschuldigan dem Unglück war, das Achks Gesicht verheert und ihn fast getötet hatte.
Das Schimpfen des undankbaren Alten ging in ein unverständlichesBrabbeln über. In letzter Zeit geschah das immer öfter. Im gleichen Maße, in demder blinde Schmied sonderbarer und streitlustiger wurde, schien nicht nur seineHütte zu verfallen, die er ohne Augenlicht nicht mehr instand halten konnte,sondern auch sein Geist. Gewiss würde ihm jetzt kein einziges vernünftiges Wortmehr zu entlocken sein, und so machte Arri, dass sie von hier wegkam. Sie hattesich den Umweg über die Schmiede für den Rückweg aufgespart, um von hier ausden schmalen, nach Süden führenden Pfad zu wählen, vorbei an wucherndenBärentrauben, Haselnuss- und Gagelsträuchern, die von den Feuchtwiesen her demWald entgegenwuchsen und die wenigen Felder einrahmten, die die Sippe aufdieser Dorfseite dem Boden abgetrotzt hatte. Es war der alte, abseits gelegeneSteinkreis, der Arri geradezu unwiderstehlich anzog, vielleicht, weil etwasDüsteres, Geheimnisvolles von ihm ausging. Nur ganz flüchtig blitzte in ihr derGedanke auf, dass ihre Mutter ihr streng verboten hatte, je allein und ohneihre ausdrückliche Aufforderung diesen geheimnisumwitterten Ort aufzusuchen.
Arri sah nicht die geringste Veranlassung, dieses Verbot ernst zunehmen. Schließlich hatte ihre Mutter sie ja sogar selbst letzten Vollmond mithierher genommen. Nachdem sie ganz in der Nähe, am Saum der Sumpfwiesen,Kräuter gesammelt hatten, hatten sie sich gemeinsam an den Rand des Kreisesgesetzt, und ihre Mutter hatte zu erzählen begonnen, von den alten und neuenZeiten im Dorf und was das alles mit ihr zu tun hätte. Arri hatte kaum mehr alsdie Hälfte davon verstanden, aber es war ein Gefühl vager Beunruhigung in ihrverblieben, das sich jetzt beinahe zu etwas wie Furcht steigerte. Trotzdem gingsie weiter, getrieben von einer Neugier, die stärker war als ihre Vernunft.
Es dauerte nicht lange, bis Arri den Steinkreis erreicht hatte,der wie verzaubert in dem von den Wiesen aufsteigenden Dunst lag. Wie immer,wenn sie hierher kam, überlief sie ein kalter, fast ehrfürchtiger Schauder beimAnblick der mannshohen behauenen Steine, die aussahen, als hätte sie ein Rieseim Vorbeigehen achtlos niederfallen lassen. Es war kein regelrechter Kreis, aufdessen Eingang sie jetzt mit langsamer gewordenen, fast verhaltenen Schrittenzuging; die massigen, blaugrauen Ungetüme waren eher wie die Krallen eineroffen daliegenden Bärentatze angeordnet, welche Arri zu umschließen schien,kaum dass sie ihren Fuß über die Brandspur der letzten Zeremonie gesetzt hatte.Ihr Herz begann heftig zu klopfen, ein Geräusch, das ihr lauter vorkam als dasferne Blöken der Schafe und das Rauschen des Windes, der in die wenigen dürrenBäume fuhr, die den Kreis umstanden.
Das hier war der Ort, an dem Sarn und seine Sippe den altenGöttern huldigten, ein Platz voller Erinnerungen an alte Riten und Zeremonien,dessen beeindruckender Ausstrahlung sich Arri noch nie hatte entziehen können,fest umfasst von den stummen Steinriesen, die nur im Norden, Südwesten undSüdosten einen Spalt ließen, welcher groß genug war, um dort hindurchzugehen.Schon sehr bald würde sich das ganze Dorf hier auf Geheiß des Schamanenversammeln, um das Jagd-Ernte-Fest zu feiern und den Göttern den ihnenzustehenden Anteil der Ernte zu opfern. Arri dachte voller Unbehagen an denletzten Herbst und das zwei Tage dauernde Fest zurück, an die mit frischemOchsenblut bemalten Gesichter der Männer und Frauen, die im Rhythmus derTrommeln mit nackten Oberkörpern das Feuer umtanzt hatten, an den dumpfenSingsang der vom Pilzgenuss Berauschten, an die Selbstvergessenheit, mit dersich die Menschen ihren Göttern hingegeben hatten. Gleichgültig, wie alt siewaren und ob sie zuvor auf den Feldern gearbeitet, Rinder oder Schafe gehütet,Braunbären, Elche, Auerochsen, Hasen und Wildgeflügel gejagt, Äschen, Rotaugenund Forellen gefischt hatten; in diesen zwei Tagen waren sie alle eineverschworene Gemeinschaft gewesen, in der es keine Unterschiede gegeben hatte.Vielleicht war es ihr damals zum ersten Mal aufgefallen, wie anders sie undihre Mutter waren, wie wenig sie im Grunde mit den Menschen gemein hatten, diesie in ihren Kreis aufgenommen hatten, ohne sie je wirklich willkommen zuheißen.
Mit langsamen, fast zögerlichen Schritten ging sie nun zu derStelle hinüber, an der sie erst vor kurzem mit ihrer Mutter gesessen hatte. DerBoden unter ihren nackten Füßen war feucht und kalt, aber sie merkte es kaum.Inmitten des aufkommenden Abendnebels war da etwas, das ihre Aufmerksamkeit aufsich zog und ihren Herzschlag abermals beschleunigte. Ein einzelnerSonnenstrahl brach zwischen zwei wie drohend aufgerichteten Steinen hervor undbrachte den Dunst, durch den er flirrte, scheinbar zum Kochen. Arri hatte davongehört, dass die Sonne an ganz bestimmten Tagen ein verwirrendes Spiel in demSteinkreis spielte, einen strahlenden Finger zu dem Heiligtum ausstreckte undihn durch einen Spalt wandern ließ, bis er über ein eigens dafür hergerichtetesBlutopfer strich. Aber sie war noch nie Zeuge eines solchen Schauspielsgeworden. Es stand allein dem Schamanen und seinen Helfern zu, die Zeremonieeinzuleiten, die dann nötig war, um böse Geister zu beschwichtigen und denblutrünstigen Göttern zu huldigen, die Arri mit all ihren harten Gesetzen fremdblieben, obwohl sie fast ihr ganzes Leben in ihrer Obhut zugebracht hatte.
Der Sonnenstrahl war kaum breiter als ihr Arm, aber er glitzerteund leuchtete so stark, dass es Arri fast in den Augen wehtat. Sie blieb stehenund folgte dem Lichtfinger, der wie von dem zornigen Nachtgott Mardanherabgeschickt auf den Boden fiel, fast genau auf die Stelle, wo sie vor einerknappen Mondwende gesessen hatte. Ihr Atem stockte, als sie begriff, was sie daaußerdem noch vor sich sah. Wie gebannt hing ihr Blick an dem kleinenStofffetzen, der in einer Steinspalte eingeklemmt war, von dem einzelnen Strahlauf geradezu unnatürliche Weise beleuchtet. Im ersten Augenblick konnte sie dieFarbe und Beschaffenheit des Fetzens kaum erkennen, doch als sie sich ihmnäherte, wurde ihr mit jähem Schrecken klar, dass er dem Stoff verdächtigähnlich sah, aus dem ihr eigener Wickelrock gefertigt war. Sie legte den Fischbeiseite, ging in die Hocke und zog den Fetzen hervor. Er fühlte sich ganz feinund trotzdem fest zwischen ihren Fingern an, genau so, wie es von den Fasern zuerwarten war, die ihre Mutter aus Brennesseln gesponnen hatte.
Noch immer in der Hocke und mit zitternden Fingern zog sie denSaum ihres Rockes hoch und begutachtete ihn, bis sie fand, wonach sie Ausschaugehalten hatte: die zerrissene Stelle, aus der der Fetzen zweifellos stammte.Ihre Mutter würde mit ihr schimpfen, dass sie so unaufmerksam gewesen war. Aberviel schlimmer als die Tatsache, dass sie sich den kostbaren Rock eingerissenhatte, war, dass es hier im Steinkreis geschehen war und dass der Fetzen - einTeil von ihr - fast für die Dauer eines Mondwechsels hier verblieben war ...auf diesem den alten Göttern geweihten und mit dem Blut unzähliger Opfertieregetränkten Grund, von dem es hieß, dass er in den alten Zeiten auch das Blutmenschlicher Götteropfer zu trinken bekommen hatte.
Ein Geräusch schreckte sie aus ihren düsteren Gedanken auf, undsie wollte hochfahren, aber es war zu spät. Eine knorrige Hand griff nach ihr,packte ihr Handgelenk und hielt es fest umklammert. Arri stieß gegen ihrenWillen einen spitzen Schrei aus und wollte sich unwillkürlich aus dem Grifflösen, bis sie begriff, mit wem sie es zu tun hatte: mit Sarn, dem Schamanendes Dorfes und Oberhaupt der Gemeinschaft, die er selbst seine Sippe nannte -und der ihre Mutter im gleichen Maße hasste, wie sein Einfluss seit ihremAuftauchen im Dorf geschrumpft war. Der Alte stand schräg hinter ihr, sodasssie nicht mehr als den Schatten seiner dürren, altersgebeugten Gestalt sehenkonnte, aber sie fragte sich verzweifelt, wie es ihm überhaupt gelungen war,sich ihr unbemerkt zu nähern. Sie musste stärker in Gedanken versunken gewesensein, als ihr lieb sein konnte.
© Piper Verlag
- Autor: Wolfgang Hohlbein
- 2006, 940 Seiten, mit Schwarz-Weiß-Abbildungen, Maße: 12 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Piper Taschenbuch
- ISBN-10: 3492266258
- ISBN-13: 9783492266253
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