Die Töchter der Nibelungen, 3 Bände
"Brunhilds Lied", "Sigfrids Tod" und "Gudruns Rache"
"Sie macht die Gestalten der Sage zu wirklichen Menschen." Das schrieb Marion Zimmer Bradley über die meisterhafte Neuerzählung der Nibelungensaga von Diana L. Paxon.
Sie lässt den dunklen, alten Mythos aus Sicht der Frauen in...
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Produktinformationen zu „Die Töchter der Nibelungen, 3 Bände “
"Sie macht die Gestalten der Sage zu wirklichen Menschen." Das schrieb Marion Zimmer Bradley über die meisterhafte Neuerzählung der Nibelungensaga von Diana L. Paxon.
Sie lässt den dunklen, alten Mythos aus Sicht der Frauen in einem neuen Licht erstrahlen:
- Brunhilds Lied
- Sigfrids Tod
- Gudruns Rache
Lese-Probe zu „Die Töchter der Nibelungen, 3 Bände “
Brunhilds Lied – Die Töchter der Nibelungen von Diana L. Paxson
Erstes Buch
DER BRUNNEN DES SCHICKSALS
Die Salzquellen von Halle
an der Grenze des Burgundenreiches
Glanzmond, A. D. 410
Über den Menschen, die zum Feste hier zusammenkamen, lag ein Tosen wie das Rauschen eines breiten Stromes, doch es kam nicht vom Fluß, der drunten im Tal plätschernd zwischen schilfbewachsenen Inseln entlangrann. Das Gemurmel, das aus dem Lager auf der breiten Terrasse oberhalb des engen Tales hinunterdrang, kam von der menschlichen Flut, die immer weiter anschwoll, als immer mehr von den Burgundensippen herbeiströmten.
Ihre Verbündeten, die Markomannen, hatten bereits oberhalb des Dorfes auf der anderen Seite ihr Lager aufgeschlagen. Wenn der Wind sich drehte, fügte ihr Lärm dem Geräusch eine tiefere Note hinzu. Das blonde Mädchen, das sich seinen Weg am Ufer entlang suchte, hielt inne, lauschte - und schauderte. Es waren nur die Stimmen von Menschen, doch von hier aus war das anschwellende Rauschen wie das Wachsen eines Stromes, dessen Flut ganze Völkerscharen hinwegtragen konnte.
Bald würde die Sonne hinter den Wolken versinken, doch hoch droben war der Himmel noch klar. Führte der Fluß, der so verlockend vor ihr glitzerte, Salz mit sich, oder war es die Magie der Dorfbewohner, welche die kostbare Lake aus dem Boden emporsteigen ließ?
... mehr
Langsam, weil ihre Mutter ihr eingeschärft hatte, vorsichtig mit dem neuen blauen Kleid zu sein, tastete sich Gudrun hinab zum Uferrand. Hier verbreiterte sich das Flußbett, so daß das Wasser sich seinen Weg zwischen sumpfigen Inseln hindurchbahnte, die mit Brücken aus Baumstämmen und durch Trittsteine verbunden waren. Die riedgedeckten Hütten des Dorfes Halle duckten sich unter den steilen Hang der anderen Talseite. Eine der Inseln war mit einer Palisade eingezäunt. Dort mußte der Brunnen sein, wo die Leute vom Alten Volk ihre Magie wirkten, um das Salz aus der Tiefe hervorzubringen.
Als Gudrun auf einen Stein trat, der in das Wasser hineinragte, kippelte dieser, und sie griff haltsuchend um sich. Etwas Nasses und Lebendiges landete in ihrer Hand; sie schrie auf und platschte hart in das kalte Wasser. Als sie die Augen wieder freigewischt hatte, sah sie über sich ein spitzes, sonnengebräuntes Mädchengesicht, umgeben von straff geflochtenen Zöpfen mit dem Glanz einer Rabenschwinge.
»Trampel! Troll!« Den Worten folgte ein Schwall von Flüchen in einer fremden, kehligen Sprache. »Jetzt ist er mir entwischt!«
»Wer?« Gudrun richtete sich auf und versuchte, jenem verächtlichen Blick zu begegnen.
»Mein Frosch. Du hattest ihn in der Hand!« Die harten Hände ließen sie los, und das andere Mädchen wich zurück und schüttelte den Kopf. Die Augen der Fremden waren so grün wie der Fluß. »Selbst eine Blindschleiche hätte sehen können, daß der Stein wackelig war.«
»Aber nicht Gudrun ... «, schloß sich eine tiefere Stimme an. »Sie ist tolpatschig wie eine Kuh. Du hast Glück gehabt, daß sie nicht auf dir gelandet ist! Soll ich sie für dich verhauen, zur Vergeltung?«
Gudrun fühlte ein vertrautes Ziehen in der Magengrube und wandte sich um. Ein breitschultriger junger Mann, dessen dunkelbraunes, dicht gelocktes Haar ihm tief in die Stirn hing, sah von der anderen Flußseite zu ihnen herüber. Es war Hagano, bereits für das Fest gekleidet, in einer neuen bestickten Tunika aus safrangelbem Stoff.
Einen zeitlosen Augenblick standen sie so, wie sich drei Stämme an einer Wegscheide der Geschichte begegnen: braun wie das Volk der Erde, schwarz wie die Reiter der Steppe, leuchtend golden wie die Kinder des nebligen Nordens.
Das andere Mädchen stand mit einer einzigen fließenden Bewegung auf, um die Gudrun sie um so mehr beneidete, als ihre eigenen Prellungen sich nun bemerkbar zu machen begannen.
»Und du bist ein Ochse, wenn du glaubst, daß ich von dir Hilfe brauche!« spuckte sie. »Hau ab!«
Hagano hörte auf zu lachen, als sie eine Handvoll Schlamm nach ihm warf. Er spritzte vor seinen Füßen auseinander, und der junge trat zurück, als sie nach mehr grapschte.
»Geh!« rief sie. »Das war nur eine Warnung. Der nächste Treffer wird auf deinem feinen Kittel landen!«
Gudrun sah die Zornesröte unter seiner hellen Haut aufsteigen, aber Hagano hatte bereits begriffen, daß es für ihn hier nichts zu gewinnen gab.
»Ich danke dir«, sagte sie, als er zwischen den Weiden verschwunden war, die das Ufer säumten.
»Ha!« Das andere Mädchen grinste. »Du heißt also Gudrun. Mein Name ist Brunhild, und vielleicht werd' ich dich selber verhauen. Hast du keine Angst?«
»Du hättest das Recht dazu. Durch mich hast du etwas verloren, auch wenn's nicht meine Absicht war. Aber Hagano davonlaufen zu sehen, das war die Sache wert!« Gudrun legte den Kopf auf ihre gebeugten Knie.
»Na, du hast Glück, denn ich bleib' nicht lange wütend. Es war lustig zu sehen, wie er wegläuft. Aber warum wollte er dich schlagen?«
»Er ist mein Bruder, und er haßt mich.«
»Hmm - er sieht dir überhaupt nicht ähnlich ... «
Gudrun blickte prüfend auf, aber da war nur Interesse in Brunhilds hellen Augen. Sie waren etwa gleich groß, denn Gudrun war kräftig und hochgewachsen wie alle von ihrer Sippe, aber es schien ihr, daß Brunhild vermutlich um ein oder zwei Jahreszeiten älter war als sie mit ihren acht Wintern. Plötzlich hatte sie den Wunsch, dem anderen Mädchen trauen zu dürfen.
»Hagano ist der Sohn meiner Mutter, aber manche glauben, sein Vater sei ein Mann des Erdvolkes. Niemand sagt es laut; denn Mutter hat mächtige Verbündete, und sie ist zauberkundig. Aber die Leute flüstern, weißt du, und er spürt es. Ich bin die jüngste, aber jeder weiß, daß König Gibicho mein Vater ist, und darum haßt Hagano mich.«
»Und bist du immer so unbeholfen?«
»Wenn Hagano in der Nähe ist.« Gudrun wurde wieder rot. »Aber er ist schlau und tut mir nie weh, wenn jemand dabei ist.«
»Dann bin ich froh, daß ich ihn verscheucht habe. Das hat dir wenigstens Ärger erspart.«
Gudrun zuckte die Schultern. »Meine Mutter wird mich sowieso verhauen, weil ich das Kleid schmutzig gemacht habe.«
Brunhild gab ihr einen abschätzenden Blick. »Es ist nicht so schlimm. Es ist nur der Rücken. Wenn wir dein Haar auskämmen, dann sieht man nichts. Ich weiß, wie man das macht. Ich hab' einen Kamm, einen schönen!«
Gudrun wurde klar, daß ihr erster Eindruck von Brunhild falsch gewesen war. Wenn auch das Kleid des Mädchens bis zu den Knien durchnäßt war, so war es doch von gutem roten Tuch, und der Gürtel, der es unter ihrem schlammbespritzten Umhang zusammenhielt, war mit Metall beschlagen und goldverziert. Die Fibel, die den Mantel an der Schulter raffte, war ebenfalls vergoldet, und ein Paar roter Bundschuhe lag zusammengebunden am Flußufer.
»Bist du eine Markomannin?« fragte Gudrun. Der fremde Akzent in Brunhilds Worten ließ sich schwer einschätzen.
»Der Mann meiner Schwester, Heimar, ist ein Fürst der Markomannen -« Brunhild zuckte die Schultern. »Sie sind meine Pflegeeltern. Aber mein Vater ist Bladarda, Mundschuks Sohn, von der Königssippe der Hunnen.«
Gudrun blinzelte. Sie hatte von den Hunnen gehört, die mit ihrem Zug aus dem Osten begonnen hatten, nachdem die Burgunden von den Gestaden des Nordmeeres nach Süden gewandert waren. Nun lagen die Gebiete von der Donau bis zu den östlichen Ebenen unter hunnischer Herrschaft. Kein Wunder, daß die Markomannen, ihre nächsten westlichen Nachbarn, allzu gern bereit gewesen waren, einen ihrer größten Fürsten mit einer Großnichte des Königs zu vermählen. Gudrun hatte ihre Krieger gesehen, krummbeinige Männer, die ritten, als wären sie und ihre Pferde ein einziges Wesen. Es war klar, daß dieses Mädchen als Kriegerin geboren war.
»Die Tochter Gibichos, des hendinos der Burgunder und Stammeshaupts der Niflunge, dankt der Tochter von Bladarda, Khan der Hunnen.« Sie nestelte den Beutel auf, der an ihrem Gürtel hing, um ihren eigenen Kamm zu suchen, aus Hirschhorn geschnitzt und entlang des Rückens mit einer Folge von konzentrischen Kreisen verziert, und hielt ihn dem Mädchen hin.
Brunhild grinste. »Ist das die Art, wie Töchter von Fürsten Bündnisse besiegeln?« Sie öffnete ihren eigenen Beutel und begann seinen Inhalt auszuleeren: eine Knochenpfeife, eine zerzauste Eulenfeder, einen glatten weißen Stein und schließlich den Kamm, von dem sie gesprochen hatte und zwischen dessen Zinken noch ein paar Strähnen schwarzen Haares hingen.
»Mein Onkel, Attila, hat mir den geschenkt. Er ist aus dem Zahn eines großen grauen Ungeheuers gemacht, das fern im Süden lebt.«
»Elfenbein ...« Gudrun strich über die glatten Zähne und das geschnitzte Muster von Blättern und Blumen und fand sich damit ab, daß ihr eigenes Geschenk übertroffen worden war. »Er ist sehr schön.«
»Er erfüllt seinen Zweck«, sagte Brunhild, steckte den Hornkamm in ihren eigenen Beutel und schnürte ihn wieder zu. Gudrun nickte. Als sie aufstehen wollte, fing das Glitzern des Wassers erneut ihren Blick ein. Sie schöpfte es mit der hohlen Hand.
»Es ist Süßwasser«, sagte Brunhild. »Ich hab' es bereits gekostet. Nur am heiligen Brunnen kommt es salzig aus der Erde.«
Gudrun öffnete die Finger und ließ die Flüssigkeit ablaufen. Dann, mit einem Gefühl als sei ihr Pferdchen mit ihr durchgebrannt, erhob sie sich, damit Brunhild ihr das Haar kämmen konnte.
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Copyright der Originalausgabe © 1993 by Diana L. Paxson
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 1997 by
Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, Bergisch Gladbach
Übersetzung: Helmut W. Pesch
Zweites Buch
GEZEITEN DES FRÜHLINGS Rheintal
Glanzmond, A.D. 420
Still lag der Fluß im Licht des Mondes, sein Glanz nur gedämpft vom Schimmer silberner Schlangenschuppen, die sich um das Kliff wanden und zwischen baumbestandenen Ufern streckten. Aus der Ferne gesehen, schien die Schlange regungslos, doch in ihrer Nähe bebte die Luft von ihrem beständigen Wogen.
Das Geschöpf, das sich tief hinabbeugte, um aus dem Fluß zu trinken, zuckte zusammen, als es jene kaum gezügelte Kraft verspürte. Erinnerungen an seinen Kampf mit einer anderen Schlange wurden wach und stritten mit den neuen Eindrücken, die seine geschärften Sinne ihm vermittelten.
Auf der anderen Seite des Flusses türmten sich steile Klippen über dem schmalen Gestade. Bäume standen dicht auf ihren lichten Höhen. Der Taunus ... Eine Welle der Sehnsucht erfaßte den Wolf beim Klang dieses Namens und ließ ihn rückwärts taumeln. Er schloß die Augen, doch die Bilder wurden nur noch schärfer - der Körper eines Mädchens, der fahl im Feuerschein glühte, kreisende Raben, Blut auf weißem Schnee.
Die Kreatur winselte, wandte sich um und atmete tief die kühle Luft ein, witterte den Duft von Apfelblüten in einem fernen Obstgarten, den Geruch nach feuchter Erde und –
ein Stück höher den Fluß hinauf - nach Fisch. Langsam verblaßten die Eindrücke, und der Wolf beruhigte sich wieder. Er lauschte auf das sanfte Plätschern des Wassers. Doch dann ertönte ein anderer Laut von den Klippen her, der ihn mit gesträubtem Fell hochfahren ließ. So verharrte er kurz, bevor er sich auf seine Hinterläufe niederließ, und die goldenen Augen blitzten auf, als sie das Licht des Mondes widerspiegelten. Dann hob er den Kopf und erwiderte das Heulen.
Einen kurzen Augenblick schien es, als verharrte der Fluß in seinem unermüdlichen Lauf und wartete auf eine Antwort. Solange wie eine Eule gebraucht hätte, um von Ufer zu Ufer zu fliegen, lauschte der Wolf, dann heulte er ein zweites Mal. Der Ruf erhob sich und verebbte in der Stille. Alle anderen Geräusche wurden zu seinem Echo, zur Essenz einer Sehnsucht, die in der lauen Frühlingsluft hing, bis die Brise vom Fluß kam und sie mit sich fortriß.
Der Wolf ließ sich wieder auf den Boden sinken und seufzte. Falls tatsächlich Artgenossen in der Nähe des Gewässers umherstreiften, so antworteten sie ihm nicht. Er war noch immer allein. Doch zumindest gab es frisches Wasser, und weiter den Fluß hinauf hatte er die Witterung von Wild aufgenommen. Der Schmerz in seiner Brust ließ nach. Mit etwas Glück würde er noch vor dem Abend seine Fänge in eine Beute schlagen. Er stand auf, schüttelte sich und trottete über das steinige Ufer zurück zu den Bäumen.
Das erste Licht schickte sich eben an, die Farben in die Welt zurückzubringen, als Sigfrid die Lichtung betrat, auf der er vergangene Nacht gelagert hatte. Trotz des Nebels, der den Wald zum Labyrinth werden ließ, hatte er den Weg zurück gefunden. Das graue Pferd stampfte kurz auf, als es den
Wolfsgeruch wahrnahm, doch in den vergangenen Monaten hatte es sich an die Witterung des gestreiften Pelzes gewöhnt, den Sigfrid sich um die Schulter geschlungen hatte. Das Tier wußte, daß es nichts zu befürchten hatte, solange sein Herr auf zwei Beinen ging.
Sigfrid seufzte und rieb sich die Augen. Wahrscheinlich wäre es besser gewesen, er hätte die Nacht schlafend verbracht, aber bald schon würde er besiedeltes Land erreichen. Nach einem Winter, den er zusammen mit den Kriegern in der Burg seines Stiefvaters verbracht hatte, war seine Seele wie in Ketten gelegt, waren seine Sinne abgestumpft, und so hatte er dem Ruf der Nacht nicht widerstehen können. Kein Schlaf zwischen Mauern, die Menschenhand geschaffen hatte, konnte ihn jemals so erfrischen wie die Jagd unter dem Licht des Mondes. Das Wild, das er erlegt hatte, hatte nicht nur seinen Körper, sondern auch seine Seele genährt.
Kein menschliches Wesen hatte ihn beobachtet, und so hatte er nicht gegen jenes strenge Gesetz verstoßen, das er sich selbst auferlegt hatte. Die Welt kannte ihn als Sigfrid, Sigmunds Sohn, und in diesen Tagen vielleicht auch als Sigfrid Fafnarstöter. Das war schon übel genug. Doch noch schlimmer wäre es, Sigfrid der Gestaltwandler genannt zu werden.
Für ein paar Stunden war er frei gewesen, und nichts hatte ihm gefehlt außer einem Gefährten, mit dem er seine Freude hätte teilen können. Doch es war ein Fehler gewesen, das in der Nähe streifende Wolfsrudel anzurufen. Er war kein Wolf, und er war auch kein Mensch. Das einzige Wesen, das ihn wirklich verstand, war das schlanke, dunkelhaarige Mädchen, das als Gleiche unter Gleichen mit den Raben sprach. Seine Lenden bebten, als er sich an sie erinnerte. Bald würden er und Sigdrifa wieder vereint sein. Er zog sich den Wolfspelz von der Schulter, der einst seinem Vater gehört hatte, und begann ihn aufzurollen. Die kühle Luft jagte ihm eine Gänsehaut über den Körper, doch trotz der Kälte musterte er den Stapel seines Rüstzeugs ohne große Begeisterung. Die losen weizenfarbenen Hosen und das vorn gefältete Wams in der Farbe gallischen Weins lagen sorgfältig auf einem rechteckigen Mantel aus dicht gewebter grauer Wolle; daneben die Brünne aus genietetem Leder mit Einsätzen von Kettenpanzer sowie der Spangenhelm mit der wolfsförmigen Helmzier und den goldverzierten Panzerplatten. Auch Sigfrids Schildnabe war mit Gold geschmückt; die Lötösen und Riemen, die seine Hosen zusammenhielten, waren golden; Gold auf seinem Gürtel und seiner Brosche, Gold auf dem Zaumzeug seines Pferdes.
König Alb hatte seinen Stiefsohn mit allem ausgestattet, was eines Prinzen der Franken würdig war. Dazu kamen Sigfrids eigener Reichtum, den er sich während der Feldzüge des letzten Sommers erworben hatte, und einige ausgewählte Stücke aus Sigmunds Schatz. In diesem Augenblick, da die Erinnerung an eine Nacht der Freiheit noch in seinen Adern sang, spürte Sigfrid das starke Verlangen, den ganzen Tand in den Fluß zu werfen und den Weg nach Süden nur mit seinem Wolfspelz und seinem Schwert fortzusetzen. Doch er hatte Sigdrifa versprochen, gewappnet wie ein Held zu ihr zurückzukehren, und wenn die Männer ihn als solchen anerkennen sollten, mußte er die Schmuckstücke, die er erbeutet hatte, auch zur Schau tragen.
Sein Mund verzog sich unter dem weichen, fränkischen Schnurrbart, den er sich hatte wachsen lassen, zu einem Lächeln. Für Sigdrifa würde er gewiß noch härtere Prüfungen erdulden, als seinen Körper in diese wertvollen Gewänder zu hüllen. Der Vorposten Bonna lag schon weit hinter
ihm. Der Fluß zwängte sich an den Klippen vorbei nach Osten durch offenes Gelände. Wenn er quer durch das Land ritt, würde er irgendwann am morgigen Tage Borbetomagus erreichen, wo die Niflunge herrschten. Es war wichtig, daß er dort einen guten Eindruck machte.
Dennoch konnte er das Ankleiden wenigstens so lange hinausschieben, bis er Grani, seinen grauen Hengst, zum Wasser hinuntergeführt hatte. Sigfrid löste den Strick, mit dem das Pferd angebunden war, und mit der natürlichen Anmut des geborenen Jägers führte er es hinunter zum Ufer.
Gudrun warf sich auf ihrem schmalen Bett hin und her und kämpfte sich mühsam aus ihrem unruhigen Schlaf. In der Kammer herrschte tiefe Dunkelheit, und die dicken Wände des alten römischen Gebäudes verschluckten jeden Laut. Gudrun seufzte und versuchte, wieder einzuschlafen. Erholsame Ruhe hatte sie in diesem Steinpalast, dem einstigen Domizil eines Befehlshabers der römischen Legion, nie gefunden. Manchmal half es, wenn sie sich vorstellte, an einem ganz anderen Ort zu sein. Sie lag still, lauschte auf ihren Atem und spürte, wie sie in einen Zustand zwischen Wachen und Schlafen hinüberglitt.
In ihrer Erinnerung tauchte ein Bild von Bäumen und Gras auf; sie ließ das Traumbild deutlicher werden, bis sie das Flüstern des Windes in den Blättern hören und das Spiel des Mondlichts auf dem Waldboden sehen konnte. Eine Zeitlang genügte es ihr, einfach nur umherzuwandern, bis ihr langsam bewußt wurde, daß sie einsam war. Natürlich war das nichts Neues für sie. Warum sollte es auf einmal von Bedeutung sein? War es vielleicht die Schönheit des Ortes, die danach verlangte, mit jemandem geteilt zu werden? Jedes Blatt schien mit Silber gesäumt, und die weißen Glocken des Rittersporns leuchteten.
Gudrun sah sich mit starrem Blick um, als wolle sie einen Gefährten herbeizwingen. Der Wind wurde stärker; eine Bewegung im Unterholz - und plötzlich verwandelte sich etwas, das sie bisher für einen Schatten gehalten hatte, in eine dunkle Gestalt: Ein grauer Wolf sah sie aus bernsteinfarbenen Augen an. Für einen kurzen Augenblick flackerte Furcht in ihr auf. Aber der Wolf stand mit einer erhobenen Pfote da, bereit zur Flucht, und sie begriff, daß er - trotz all seiner Stärke - Angst vor ihr hatte.
»Komm«, flüsterte sie. »Auch ich bin allein. Begleite mich.«
Der Atem stockte ihr, als das Tier sich bewegte und sie seine Größe erkannte. Es reichte ihr fast bis zur Hüfte, und der dichte Pelz ließ seinen Körper noch massiger erscheinen. Gudrun tastete sich mit den Fingerspitzen durch das gescheckte Fell und fühlte, wie die Muskeln darunter sich entspannten. Kraft lag in dieser gewaltigen Gestalt, aber Gudrun spürte keine Feindseligkeit. In der Tat schien das Tier ebenso froh über Gesellschaft zu sein wie sie selbst. Und plötzlich war der Wald kein Ort mehr, an dem man sich fürchten mußte. Sie atmete tief ein, und der süße, erregende Duft von zerriebenem Thymian stieg ihr in die Nase. Es war, als hätte die Nähe des Tieres ihre Sinne geschärft. Dann setzte der Wolf sich in Bewegung, und Gudrun, die mit ihm ging, spürte, daß auch ihre Anspannung nachließ.
Als ihre Zofe wenig später kam, um sie zu wecken, lag Gudrun wie ein kleines Kind in ihren Decken zusammengerollt und lächelte.
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Copyright der Originalausgabe © 1995 by Diana L. Paxson
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 1997 und 2000 by
Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, Bergisch Gladbach
Übersetzung: Stefan Bauer
Drittes Buch
DIE ERNTEKÖNIGIN Köhlerwald
Erntemond, A.D. 429
Tiefe Dunkelheit - und in der Luft lag ein durchdringender Wolfsgeruch: Sigfrids Geruch ... Gudrun seufzte zufrieden, grub die Finger in das weiche Fell und glitt tiefer in den Schlaf hinein.
Eine unbestimmte Zeit verstrich, in der Gudrun zusammengerollt unter den Leintüchern lag, Sigfrid neben sich, ihr Bett eine Festung, welche die Welt ausschloß. Dann rief draußen eine Eule. Gudrun regte sich, denn es war ungewöhnlich, jenen Ruf inmitten einer Römerstadt zu hören. Und da war noch etwas anderes: ein Hauch kalter Luft, der durch eine geöffnete Tür drang, das Rascheln verstohlener Schritte ... Gudrun spannte sich an, doch Sigfrid besaß die scharfen Sinne eines Wolfes. Und wäre nicht auch er erwacht, bestünde tatsächlich Anlaß zu Besorgnis?
»Einige angelten Fische in den Wäldern ... andere schnitten tief ins Fleisch des Wolfes ...« Halb gesungene leise Worte lagen in der Luft. Ein trunkenes Kichern folgte. »Den Trank zu brauen, des Gundwurms Zauber!«
Stahl fuhr durch die Luft, und der Aufprall des Schwertes ließ das große Bett erzittern. Sigfrid zuckte zusammen. Gudrun rollte sich zur Seite, als er sich mit einem lauten Schrei aufsetzte, der durch alle Welten hallte. Sigfrid griff nach seinem Schwert an der Wand und schleuderte es in Richtung
Tür. Ein weiterer Schrei ertönte. Sigfrid sank zurück, und Gudrun erschauerte, als heißes Blut sich über sie ergoß.
Fackeln flammten in der Tür auf. Gudrun erkannte ihre Brüder Hagano und Gundohar, den König. Gislahar lag ausgestreckt auf dem Boden. Sigfrids Schwert steckte in seinem Rücken. Sein eigenes Schwert ragte noch immer aus Sigfrids Brust. Gudrun schrie auf, versuchte den Fluß des Blutes mit den Händen einzudämmen. Alles war rot.
»Es hat keinen Zweck«, flüsterte Sigfrid. Seine Haut wurde wächsern. »Niemand kann seinem Schicksal entrinnen. Weine nicht - du hast noch deine Brüder. Doch der Tag wird kommen, da sie sich wünschen, ich stünde an ihrer Seite, um ihnen den Rücken zu decken ... Ich wäre schwerer zu töten gewesen als jedes Tier des Waldes ... wenn ich mich ihnen mit einer ... Waffe in der Hand hätte ... stellen können!« Er versuchte, Atem zu schöpfen, und hustete. Helles Blut befleckte seine Lippen. Er zuckte noch einmal und sank erneut zurück.
»Sigfrid!« Gudrun schrie seinen Namen, schmeckte das Blut, als sie ihn küßte. Doch die einzige Antwort, die sie erhielt, war Brunhilds Lachen ...
Gudrun befreite sich aus den Leintüchern. Tränen rannen ihr die Wangen hinab, und das schreckliche Lachen hallte noch immer in ihren Ohren. Wo waren die Fackeln? Sie blinzelte und richtete den Blick auf das rote Kohlenstück, das wie ein einzelnes Auge in der Asche des Kaminfeuers glühte. In der Dunkelheit regte sich nichts außer ihr. Kein Blut ... keiner ihrer Brüder ... kein Sigfrid ...
Der alte Schmerz schnürte ihr die Kehle zu. Es war wieder einer der unzähligen Alpträume gewesen. Ein Dutzend unterschiedlicher Visionen von Sigfrids Tod hatte sie in den letzten anderthalb Jahren seit seiner Ermordung nachts heimgesucht. Wenn sie wach war, versuchte sie sich einzureden, daß sie Sigfrid hätte warnen können, wenn sie zur Stelle gewesen wäre. Doch wenn sie ihn selbst in ihren Träumen nicht retten konnte ... Auch diesmal war es ihr nicht gelungen, obwohl sie die Mörder hatte hereinkommen hören.
Gudrun rieb sich die brennenden Augen und setzte sich auf. In der Luft lag die kühle Stille jener Stunde vor dem Morgengrauen. Vorsichtig wand sie sich aus den Bettüchern, sorgsam darauf bedacht, Sunnilda nicht zu wecken, die mit der vertrauensseligen Unbekümmertheit kleiner Kinder neben ihr lag. Gudrun wickelte ihr Umhängetuch vom Bettpfosten und schlich über den festgetretenen Lehmboden. Aufgehäufte Kohlen glühten schwach in der Feuerstelle, und ein schmaler Lichtstreifen schälte den Umriß der Eingangstür aus der Dunkelheit heraus.
Gudrun schlug das Umhängetuch fester um sich und trat nach draußen. Hinter den Buchen wurde der Himmel bereits hell, ein früh erwachter Vogel stimmte sein Morgenlied an. Die Luft war kühl. Zitternd ergriff Gudrun den Eimer und folgte dem Pfad zur Quelle. Dort benetzte sie ihr Gesicht mit dem frischen Wasser und trank einen belebenden Schluck, bevor sie den Eimer füllte und sich auf den Rückweg machte.
Aus solch alltäglichen Aufgaben hatte sie ein Bollwerk gegen ihre Trauer errichtet: Jeder Schritt, jede Handlung knüpfte ein neues Band zu einer Welt, in der es Sigfrid nicht mehr gab - auch wenn es keinen Trost brachte. Einen Sommer, einen Winter und dann wieder einen Sommer lang lebte sie nun schon in der Waldhütte ihrer Mutter, begleitet nur von dem alten Diener Udo und von Sunnilda, ihrer kleinen Tochter. Die Anforderungen, die das tägliche Leben hier an sie stellte, schienen endlos.
Gudrun stand mit der Sonne auf und fand erst bei Sonnenuntergang in ihr Bett; zu erschöpft, um Trauer zu empfinden - außer in ihren Träumen.
Doch der heutige Tag würde sich von den anderen unterscheiden. Obwohl Gudrun und ihr kleiner Haushalt sich weitgehend selbst versorgten, gab es einiges, worin sie von ihren Nachbarn abhängig waren. Der alte Ostbert und seine Frau Melewida wußten, wer Gudrun war, doch sie respektierten ihren Wunsch nach Abgeschiedenheit. Sie war so vorsichtig gewesen, sich den Namen Grimhild zuzulegen, als wäre sie nach der alten Königin benannt worden. Keiner der anderen Bauern schien zu ahnen, daß die schweigsame junge Frau im Wald einst die strahlende Prinzessin der Niflunge gewesen war. Ihre Milchziege stammte von Ostberts Gehöft; und dorthin verkaufte sie im Austausch gegen Butter, Käse und Fleisch die feine Wolle, die zu spinnen sie im königlichen Palast gelernt hatte. Und als gute Nachbarin hatte sie Ostbert versprochen, bei der Ernte zur Hand zu gehen.
Als Gudrun auf den Hof zurückkam, war Udos Schnarchen in jenes rheumatische Husten übergegangen, mit dem der alte Diener jeden neuen Morgen zu begrüßen pflegte. Gudrun öffnete die Tür und ließ das Licht ins Langhaus fallen. Es war im alten Stil errichtet worden, mit der Feuerstelle und dem Kastenbett in der einen Hälfte und Raum für Wintervorräte und Ställe in der anderen. Ein stark geneigtes Strohdach reichte bis wenige Fuß über den Boden, so daß sich unter dem Überhang nahe der weiß getünchten Fachwerkmauer Feuerholz stapeln ließ. Es war ein gemütliches Heim, solange man es instand hielt. Wanderer verirrten sich selten hierher, und was die wilden Tiere anging - nun, Gudrun fürchtete sich weit mehr vor den Menschen.
Sigfrid war ein Geschöpf des Waldes gewesen; manchmal bildete Gudrun sich ein, seinen umherstreifenden Geist zu spüren. Gab es einen besseren Platz, um sein Kind großzuziehen?
»Mama, müssen wir jetzt gehen? Ich bin schon fertig, Mama - guck!«
Sunnilda tänzelte über die Türschwelle. Sie hatte ihre Tunika verkehrtherum angezogen und Knoten in ihr Haar geflochten. Gudrun unterdrückte ein Lächeln.
»Solltest du dir nicht vielleicht zuerst das Gesicht waschen, mein kleines Ferkelchen?« Sie stellte den Eimer ab und griff nach dem festen kleinen Körper ihrer Tochter. Wie immer verspürte sie bei der Berührung eine Freude, die fast an Schmerz grenzte. »Und vielleicht« - sie drückte Sunnilda fest an sich und stellte sie wieder auf den Boden -, »vielleicht drehen wir deine Tunika um und kämmen dein Haar ein wenig?«
Sunnilda verzog das Gesicht, ließ ihre Mutter aber gewähren, während Udo, ernst und schweigsam wie an jedem Morgen, den Eimer ergriff und ihn zur Kochstelle brachte. Mit Lagerschuppen, Webhaus, einer Koppel für die Milchziege und einem umzäunten Garten bildete die Lichtung eine Insel der Ordnung in einem grünen Meer aus Blättern.
Als Gudrun das Haar des kleinen Mädchens schließlich zu ihrer Zufriedenheit geflochten hatte, brannte das Kochfeuer bereits, und das Wasser hatte zu brodeln begonnen. Udo machte sich auf, die Ziege zu melken, während Gudrun Hafer für den Brei abmaß. Sie rührte im Topf und sah Sunnilda zu, die ihr Steckenpferd bestieg und über den Hof galoppierte. Vielleicht sollte sie die wild umherfliegenden Zöpfe des Kindes mit Schleifen hochbinden, überlegte Gudrun. Sunnildas selbstgesponnenes Kleid war einfach, an Kragen und Saum jedoch mit schönen Stickereien versehen. Gudrun verwandte auf das Aussehen ihrer Tochter noch immer eine Aufmerksamkeit, die sie der eigenen Erscheinung schon lange nicht mehr widmete. Es genügte, wenn sie ihr strohblondes Haar geflochten zusammensteckte und unter einem Kopftuch verbarg. Zur Ernte würde sie ihre älteste, ärmellose Tunika tragen, deren ursprünglich blaues Leinen ausgebleicht und nun hell wie ein Dunstschleier in der Hitze eines Sommertages war.
Der Brei kochte. Gudrun schöpfte einzelne Portionen in hölzerne Schalen und rief nach Sunnilda. Sie goß warme Ziegenmilch in einen Krug und stellte einen Korb voll Beeren bereit. Essen ... Arbeit ... die Liebe ihres Kindes ... vergessen waren die Schrecken der Nacht; alles, was sie brauchte, war hier.
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Copyright der Originalausgabe © 1996 by Diana L. Paxson
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 1997 by
Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, Bergisch Gladbach
Übersetzung: Stefan Bauer und Helmut W. Pesch
Als Gudrun auf einen Stein trat, der in das Wasser hineinragte, kippelte dieser, und sie griff haltsuchend um sich. Etwas Nasses und Lebendiges landete in ihrer Hand; sie schrie auf und platschte hart in das kalte Wasser. Als sie die Augen wieder freigewischt hatte, sah sie über sich ein spitzes, sonnengebräuntes Mädchengesicht, umgeben von straff geflochtenen Zöpfen mit dem Glanz einer Rabenschwinge.
»Trampel! Troll!« Den Worten folgte ein Schwall von Flüchen in einer fremden, kehligen Sprache. »Jetzt ist er mir entwischt!«
»Wer?« Gudrun richtete sich auf und versuchte, jenem verächtlichen Blick zu begegnen.
»Mein Frosch. Du hattest ihn in der Hand!« Die harten Hände ließen sie los, und das andere Mädchen wich zurück und schüttelte den Kopf. Die Augen der Fremden waren so grün wie der Fluß. »Selbst eine Blindschleiche hätte sehen können, daß der Stein wackelig war.«
»Aber nicht Gudrun ... «, schloß sich eine tiefere Stimme an. »Sie ist tolpatschig wie eine Kuh. Du hast Glück gehabt, daß sie nicht auf dir gelandet ist! Soll ich sie für dich verhauen, zur Vergeltung?«
Gudrun fühlte ein vertrautes Ziehen in der Magengrube und wandte sich um. Ein breitschultriger junger Mann, dessen dunkelbraunes, dicht gelocktes Haar ihm tief in die Stirn hing, sah von der anderen Flußseite zu ihnen herüber. Es war Hagano, bereits für das Fest gekleidet, in einer neuen bestickten Tunika aus safrangelbem Stoff.
Einen zeitlosen Augenblick standen sie so, wie sich drei Stämme an einer Wegscheide der Geschichte begegnen: braun wie das Volk der Erde, schwarz wie die Reiter der Steppe, leuchtend golden wie die Kinder des nebligen Nordens.
Das andere Mädchen stand mit einer einzigen fließenden Bewegung auf, um die Gudrun sie um so mehr beneidete, als ihre eigenen Prellungen sich nun bemerkbar zu machen begannen.
»Und du bist ein Ochse, wenn du glaubst, daß ich von dir Hilfe brauche!« spuckte sie. »Hau ab!«
Hagano hörte auf zu lachen, als sie eine Handvoll Schlamm nach ihm warf. Er spritzte vor seinen Füßen auseinander, und der junge trat zurück, als sie nach mehr grapschte.
»Geh!« rief sie. »Das war nur eine Warnung. Der nächste Treffer wird auf deinem feinen Kittel landen!«
Gudrun sah die Zornesröte unter seiner hellen Haut aufsteigen, aber Hagano hatte bereits begriffen, daß es für ihn hier nichts zu gewinnen gab.
»Ich danke dir«, sagte sie, als er zwischen den Weiden verschwunden war, die das Ufer säumten.
»Ha!« Das andere Mädchen grinste. »Du heißt also Gudrun. Mein Name ist Brunhild, und vielleicht werd' ich dich selber verhauen. Hast du keine Angst?«
»Du hättest das Recht dazu. Durch mich hast du etwas verloren, auch wenn's nicht meine Absicht war. Aber Hagano davonlaufen zu sehen, das war die Sache wert!« Gudrun legte den Kopf auf ihre gebeugten Knie.
»Na, du hast Glück, denn ich bleib' nicht lange wütend. Es war lustig zu sehen, wie er wegläuft. Aber warum wollte er dich schlagen?«
»Er ist mein Bruder, und er haßt mich.«
»Hmm - er sieht dir überhaupt nicht ähnlich ... «
Gudrun blickte prüfend auf, aber da war nur Interesse in Brunhilds hellen Augen. Sie waren etwa gleich groß, denn Gudrun war kräftig und hochgewachsen wie alle von ihrer Sippe, aber es schien ihr, daß Brunhild vermutlich um ein oder zwei Jahreszeiten älter war als sie mit ihren acht Wintern. Plötzlich hatte sie den Wunsch, dem anderen Mädchen trauen zu dürfen.
»Hagano ist der Sohn meiner Mutter, aber manche glauben, sein Vater sei ein Mann des Erdvolkes. Niemand sagt es laut; denn Mutter hat mächtige Verbündete, und sie ist zauberkundig. Aber die Leute flüstern, weißt du, und er spürt es. Ich bin die jüngste, aber jeder weiß, daß König Gibicho mein Vater ist, und darum haßt Hagano mich.«
»Und bist du immer so unbeholfen?«
»Wenn Hagano in der Nähe ist.« Gudrun wurde wieder rot. »Aber er ist schlau und tut mir nie weh, wenn jemand dabei ist.«
»Dann bin ich froh, daß ich ihn verscheucht habe. Das hat dir wenigstens Ärger erspart.«
Gudrun zuckte die Schultern. »Meine Mutter wird mich sowieso verhauen, weil ich das Kleid schmutzig gemacht habe.«
Brunhild gab ihr einen abschätzenden Blick. »Es ist nicht so schlimm. Es ist nur der Rücken. Wenn wir dein Haar auskämmen, dann sieht man nichts. Ich weiß, wie man das macht. Ich hab' einen Kamm, einen schönen!«
Gudrun wurde klar, daß ihr erster Eindruck von Brunhild falsch gewesen war. Wenn auch das Kleid des Mädchens bis zu den Knien durchnäßt war, so war es doch von gutem roten Tuch, und der Gürtel, der es unter ihrem schlammbespritzten Umhang zusammenhielt, war mit Metall beschlagen und goldverziert. Die Fibel, die den Mantel an der Schulter raffte, war ebenfalls vergoldet, und ein Paar roter Bundschuhe lag zusammengebunden am Flußufer.
»Bist du eine Markomannin?« fragte Gudrun. Der fremde Akzent in Brunhilds Worten ließ sich schwer einschätzen.
»Der Mann meiner Schwester, Heimar, ist ein Fürst der Markomannen -« Brunhild zuckte die Schultern. »Sie sind meine Pflegeeltern. Aber mein Vater ist Bladarda, Mundschuks Sohn, von der Königssippe der Hunnen.«
Gudrun blinzelte. Sie hatte von den Hunnen gehört, die mit ihrem Zug aus dem Osten begonnen hatten, nachdem die Burgunden von den Gestaden des Nordmeeres nach Süden gewandert waren. Nun lagen die Gebiete von der Donau bis zu den östlichen Ebenen unter hunnischer Herrschaft. Kein Wunder, daß die Markomannen, ihre nächsten westlichen Nachbarn, allzu gern bereit gewesen waren, einen ihrer größten Fürsten mit einer Großnichte des Königs zu vermählen. Gudrun hatte ihre Krieger gesehen, krummbeinige Männer, die ritten, als wären sie und ihre Pferde ein einziges Wesen. Es war klar, daß dieses Mädchen als Kriegerin geboren war.
»Die Tochter Gibichos, des hendinos der Burgunder und Stammeshaupts der Niflunge, dankt der Tochter von Bladarda, Khan der Hunnen.« Sie nestelte den Beutel auf, der an ihrem Gürtel hing, um ihren eigenen Kamm zu suchen, aus Hirschhorn geschnitzt und entlang des Rückens mit einer Folge von konzentrischen Kreisen verziert, und hielt ihn dem Mädchen hin.
Brunhild grinste. »Ist das die Art, wie Töchter von Fürsten Bündnisse besiegeln?« Sie öffnete ihren eigenen Beutel und begann seinen Inhalt auszuleeren: eine Knochenpfeife, eine zerzauste Eulenfeder, einen glatten weißen Stein und schließlich den Kamm, von dem sie gesprochen hatte und zwischen dessen Zinken noch ein paar Strähnen schwarzen Haares hingen.
»Mein Onkel, Attila, hat mir den geschenkt. Er ist aus dem Zahn eines großen grauen Ungeheuers gemacht, das fern im Süden lebt.«
»Elfenbein ...« Gudrun strich über die glatten Zähne und das geschnitzte Muster von Blättern und Blumen und fand sich damit ab, daß ihr eigenes Geschenk übertroffen worden war. »Er ist sehr schön.«
»Er erfüllt seinen Zweck«, sagte Brunhild, steckte den Hornkamm in ihren eigenen Beutel und schnürte ihn wieder zu. Gudrun nickte. Als sie aufstehen wollte, fing das Glitzern des Wassers erneut ihren Blick ein. Sie schöpfte es mit der hohlen Hand.
»Es ist Süßwasser«, sagte Brunhild. »Ich hab' es bereits gekostet. Nur am heiligen Brunnen kommt es salzig aus der Erde.«
Gudrun öffnete die Finger und ließ die Flüssigkeit ablaufen. Dann, mit einem Gefühl als sei ihr Pferdchen mit ihr durchgebrannt, erhob sie sich, damit Brunhild ihr das Haar kämmen konnte.
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Copyright der Originalausgabe © 1993 by Diana L. Paxson
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 1997 by
Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, Bergisch Gladbach
Übersetzung: Helmut W. Pesch
Zweites Buch
GEZEITEN DES FRÜHLINGS Rheintal
Glanzmond, A.D. 420
Still lag der Fluß im Licht des Mondes, sein Glanz nur gedämpft vom Schimmer silberner Schlangenschuppen, die sich um das Kliff wanden und zwischen baumbestandenen Ufern streckten. Aus der Ferne gesehen, schien die Schlange regungslos, doch in ihrer Nähe bebte die Luft von ihrem beständigen Wogen.
Das Geschöpf, das sich tief hinabbeugte, um aus dem Fluß zu trinken, zuckte zusammen, als es jene kaum gezügelte Kraft verspürte. Erinnerungen an seinen Kampf mit einer anderen Schlange wurden wach und stritten mit den neuen Eindrücken, die seine geschärften Sinne ihm vermittelten.
Auf der anderen Seite des Flusses türmten sich steile Klippen über dem schmalen Gestade. Bäume standen dicht auf ihren lichten Höhen. Der Taunus ... Eine Welle der Sehnsucht erfaßte den Wolf beim Klang dieses Namens und ließ ihn rückwärts taumeln. Er schloß die Augen, doch die Bilder wurden nur noch schärfer - der Körper eines Mädchens, der fahl im Feuerschein glühte, kreisende Raben, Blut auf weißem Schnee.
Die Kreatur winselte, wandte sich um und atmete tief die kühle Luft ein, witterte den Duft von Apfelblüten in einem fernen Obstgarten, den Geruch nach feuchter Erde und –
ein Stück höher den Fluß hinauf - nach Fisch. Langsam verblaßten die Eindrücke, und der Wolf beruhigte sich wieder. Er lauschte auf das sanfte Plätschern des Wassers. Doch dann ertönte ein anderer Laut von den Klippen her, der ihn mit gesträubtem Fell hochfahren ließ. So verharrte er kurz, bevor er sich auf seine Hinterläufe niederließ, und die goldenen Augen blitzten auf, als sie das Licht des Mondes widerspiegelten. Dann hob er den Kopf und erwiderte das Heulen.
Einen kurzen Augenblick schien es, als verharrte der Fluß in seinem unermüdlichen Lauf und wartete auf eine Antwort. Solange wie eine Eule gebraucht hätte, um von Ufer zu Ufer zu fliegen, lauschte der Wolf, dann heulte er ein zweites Mal. Der Ruf erhob sich und verebbte in der Stille. Alle anderen Geräusche wurden zu seinem Echo, zur Essenz einer Sehnsucht, die in der lauen Frühlingsluft hing, bis die Brise vom Fluß kam und sie mit sich fortriß.
Der Wolf ließ sich wieder auf den Boden sinken und seufzte. Falls tatsächlich Artgenossen in der Nähe des Gewässers umherstreiften, so antworteten sie ihm nicht. Er war noch immer allein. Doch zumindest gab es frisches Wasser, und weiter den Fluß hinauf hatte er die Witterung von Wild aufgenommen. Der Schmerz in seiner Brust ließ nach. Mit etwas Glück würde er noch vor dem Abend seine Fänge in eine Beute schlagen. Er stand auf, schüttelte sich und trottete über das steinige Ufer zurück zu den Bäumen.
Das erste Licht schickte sich eben an, die Farben in die Welt zurückzubringen, als Sigfrid die Lichtung betrat, auf der er vergangene Nacht gelagert hatte. Trotz des Nebels, der den Wald zum Labyrinth werden ließ, hatte er den Weg zurück gefunden. Das graue Pferd stampfte kurz auf, als es den
Wolfsgeruch wahrnahm, doch in den vergangenen Monaten hatte es sich an die Witterung des gestreiften Pelzes gewöhnt, den Sigfrid sich um die Schulter geschlungen hatte. Das Tier wußte, daß es nichts zu befürchten hatte, solange sein Herr auf zwei Beinen ging.
Sigfrid seufzte und rieb sich die Augen. Wahrscheinlich wäre es besser gewesen, er hätte die Nacht schlafend verbracht, aber bald schon würde er besiedeltes Land erreichen. Nach einem Winter, den er zusammen mit den Kriegern in der Burg seines Stiefvaters verbracht hatte, war seine Seele wie in Ketten gelegt, waren seine Sinne abgestumpft, und so hatte er dem Ruf der Nacht nicht widerstehen können. Kein Schlaf zwischen Mauern, die Menschenhand geschaffen hatte, konnte ihn jemals so erfrischen wie die Jagd unter dem Licht des Mondes. Das Wild, das er erlegt hatte, hatte nicht nur seinen Körper, sondern auch seine Seele genährt.
Kein menschliches Wesen hatte ihn beobachtet, und so hatte er nicht gegen jenes strenge Gesetz verstoßen, das er sich selbst auferlegt hatte. Die Welt kannte ihn als Sigfrid, Sigmunds Sohn, und in diesen Tagen vielleicht auch als Sigfrid Fafnarstöter. Das war schon übel genug. Doch noch schlimmer wäre es, Sigfrid der Gestaltwandler genannt zu werden.
Für ein paar Stunden war er frei gewesen, und nichts hatte ihm gefehlt außer einem Gefährten, mit dem er seine Freude hätte teilen können. Doch es war ein Fehler gewesen, das in der Nähe streifende Wolfsrudel anzurufen. Er war kein Wolf, und er war auch kein Mensch. Das einzige Wesen, das ihn wirklich verstand, war das schlanke, dunkelhaarige Mädchen, das als Gleiche unter Gleichen mit den Raben sprach. Seine Lenden bebten, als er sich an sie erinnerte. Bald würden er und Sigdrifa wieder vereint sein. Er zog sich den Wolfspelz von der Schulter, der einst seinem Vater gehört hatte, und begann ihn aufzurollen. Die kühle Luft jagte ihm eine Gänsehaut über den Körper, doch trotz der Kälte musterte er den Stapel seines Rüstzeugs ohne große Begeisterung. Die losen weizenfarbenen Hosen und das vorn gefältete Wams in der Farbe gallischen Weins lagen sorgfältig auf einem rechteckigen Mantel aus dicht gewebter grauer Wolle; daneben die Brünne aus genietetem Leder mit Einsätzen von Kettenpanzer sowie der Spangenhelm mit der wolfsförmigen Helmzier und den goldverzierten Panzerplatten. Auch Sigfrids Schildnabe war mit Gold geschmückt; die Lötösen und Riemen, die seine Hosen zusammenhielten, waren golden; Gold auf seinem Gürtel und seiner Brosche, Gold auf dem Zaumzeug seines Pferdes.
König Alb hatte seinen Stiefsohn mit allem ausgestattet, was eines Prinzen der Franken würdig war. Dazu kamen Sigfrids eigener Reichtum, den er sich während der Feldzüge des letzten Sommers erworben hatte, und einige ausgewählte Stücke aus Sigmunds Schatz. In diesem Augenblick, da die Erinnerung an eine Nacht der Freiheit noch in seinen Adern sang, spürte Sigfrid das starke Verlangen, den ganzen Tand in den Fluß zu werfen und den Weg nach Süden nur mit seinem Wolfspelz und seinem Schwert fortzusetzen. Doch er hatte Sigdrifa versprochen, gewappnet wie ein Held zu ihr zurückzukehren, und wenn die Männer ihn als solchen anerkennen sollten, mußte er die Schmuckstücke, die er erbeutet hatte, auch zur Schau tragen.
Sein Mund verzog sich unter dem weichen, fränkischen Schnurrbart, den er sich hatte wachsen lassen, zu einem Lächeln. Für Sigdrifa würde er gewiß noch härtere Prüfungen erdulden, als seinen Körper in diese wertvollen Gewänder zu hüllen. Der Vorposten Bonna lag schon weit hinter
ihm. Der Fluß zwängte sich an den Klippen vorbei nach Osten durch offenes Gelände. Wenn er quer durch das Land ritt, würde er irgendwann am morgigen Tage Borbetomagus erreichen, wo die Niflunge herrschten. Es war wichtig, daß er dort einen guten Eindruck machte.
Dennoch konnte er das Ankleiden wenigstens so lange hinausschieben, bis er Grani, seinen grauen Hengst, zum Wasser hinuntergeführt hatte. Sigfrid löste den Strick, mit dem das Pferd angebunden war, und mit der natürlichen Anmut des geborenen Jägers führte er es hinunter zum Ufer.
Gudrun warf sich auf ihrem schmalen Bett hin und her und kämpfte sich mühsam aus ihrem unruhigen Schlaf. In der Kammer herrschte tiefe Dunkelheit, und die dicken Wände des alten römischen Gebäudes verschluckten jeden Laut. Gudrun seufzte und versuchte, wieder einzuschlafen. Erholsame Ruhe hatte sie in diesem Steinpalast, dem einstigen Domizil eines Befehlshabers der römischen Legion, nie gefunden. Manchmal half es, wenn sie sich vorstellte, an einem ganz anderen Ort zu sein. Sie lag still, lauschte auf ihren Atem und spürte, wie sie in einen Zustand zwischen Wachen und Schlafen hinüberglitt.
In ihrer Erinnerung tauchte ein Bild von Bäumen und Gras auf; sie ließ das Traumbild deutlicher werden, bis sie das Flüstern des Windes in den Blättern hören und das Spiel des Mondlichts auf dem Waldboden sehen konnte. Eine Zeitlang genügte es ihr, einfach nur umherzuwandern, bis ihr langsam bewußt wurde, daß sie einsam war. Natürlich war das nichts Neues für sie. Warum sollte es auf einmal von Bedeutung sein? War es vielleicht die Schönheit des Ortes, die danach verlangte, mit jemandem geteilt zu werden? Jedes Blatt schien mit Silber gesäumt, und die weißen Glocken des Rittersporns leuchteten.
Gudrun sah sich mit starrem Blick um, als wolle sie einen Gefährten herbeizwingen. Der Wind wurde stärker; eine Bewegung im Unterholz - und plötzlich verwandelte sich etwas, das sie bisher für einen Schatten gehalten hatte, in eine dunkle Gestalt: Ein grauer Wolf sah sie aus bernsteinfarbenen Augen an. Für einen kurzen Augenblick flackerte Furcht in ihr auf. Aber der Wolf stand mit einer erhobenen Pfote da, bereit zur Flucht, und sie begriff, daß er - trotz all seiner Stärke - Angst vor ihr hatte.
»Komm«, flüsterte sie. »Auch ich bin allein. Begleite mich.«
Der Atem stockte ihr, als das Tier sich bewegte und sie seine Größe erkannte. Es reichte ihr fast bis zur Hüfte, und der dichte Pelz ließ seinen Körper noch massiger erscheinen. Gudrun tastete sich mit den Fingerspitzen durch das gescheckte Fell und fühlte, wie die Muskeln darunter sich entspannten. Kraft lag in dieser gewaltigen Gestalt, aber Gudrun spürte keine Feindseligkeit. In der Tat schien das Tier ebenso froh über Gesellschaft zu sein wie sie selbst. Und plötzlich war der Wald kein Ort mehr, an dem man sich fürchten mußte. Sie atmete tief ein, und der süße, erregende Duft von zerriebenem Thymian stieg ihr in die Nase. Es war, als hätte die Nähe des Tieres ihre Sinne geschärft. Dann setzte der Wolf sich in Bewegung, und Gudrun, die mit ihm ging, spürte, daß auch ihre Anspannung nachließ.
Als ihre Zofe wenig später kam, um sie zu wecken, lag Gudrun wie ein kleines Kind in ihren Decken zusammengerollt und lächelte.
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Copyright der Originalausgabe © 1995 by Diana L. Paxson
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 1997 und 2000 by
Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, Bergisch Gladbach
Übersetzung: Stefan Bauer
Drittes Buch
DIE ERNTEKÖNIGIN Köhlerwald
Erntemond, A.D. 429
Tiefe Dunkelheit - und in der Luft lag ein durchdringender Wolfsgeruch: Sigfrids Geruch ... Gudrun seufzte zufrieden, grub die Finger in das weiche Fell und glitt tiefer in den Schlaf hinein.
Eine unbestimmte Zeit verstrich, in der Gudrun zusammengerollt unter den Leintüchern lag, Sigfrid neben sich, ihr Bett eine Festung, welche die Welt ausschloß. Dann rief draußen eine Eule. Gudrun regte sich, denn es war ungewöhnlich, jenen Ruf inmitten einer Römerstadt zu hören. Und da war noch etwas anderes: ein Hauch kalter Luft, der durch eine geöffnete Tür drang, das Rascheln verstohlener Schritte ... Gudrun spannte sich an, doch Sigfrid besaß die scharfen Sinne eines Wolfes. Und wäre nicht auch er erwacht, bestünde tatsächlich Anlaß zu Besorgnis?
»Einige angelten Fische in den Wäldern ... andere schnitten tief ins Fleisch des Wolfes ...« Halb gesungene leise Worte lagen in der Luft. Ein trunkenes Kichern folgte. »Den Trank zu brauen, des Gundwurms Zauber!«
Stahl fuhr durch die Luft, und der Aufprall des Schwertes ließ das große Bett erzittern. Sigfrid zuckte zusammen. Gudrun rollte sich zur Seite, als er sich mit einem lauten Schrei aufsetzte, der durch alle Welten hallte. Sigfrid griff nach seinem Schwert an der Wand und schleuderte es in Richtung
Tür. Ein weiterer Schrei ertönte. Sigfrid sank zurück, und Gudrun erschauerte, als heißes Blut sich über sie ergoß.
Fackeln flammten in der Tür auf. Gudrun erkannte ihre Brüder Hagano und Gundohar, den König. Gislahar lag ausgestreckt auf dem Boden. Sigfrids Schwert steckte in seinem Rücken. Sein eigenes Schwert ragte noch immer aus Sigfrids Brust. Gudrun schrie auf, versuchte den Fluß des Blutes mit den Händen einzudämmen. Alles war rot.
»Es hat keinen Zweck«, flüsterte Sigfrid. Seine Haut wurde wächsern. »Niemand kann seinem Schicksal entrinnen. Weine nicht - du hast noch deine Brüder. Doch der Tag wird kommen, da sie sich wünschen, ich stünde an ihrer Seite, um ihnen den Rücken zu decken ... Ich wäre schwerer zu töten gewesen als jedes Tier des Waldes ... wenn ich mich ihnen mit einer ... Waffe in der Hand hätte ... stellen können!« Er versuchte, Atem zu schöpfen, und hustete. Helles Blut befleckte seine Lippen. Er zuckte noch einmal und sank erneut zurück.
»Sigfrid!« Gudrun schrie seinen Namen, schmeckte das Blut, als sie ihn küßte. Doch die einzige Antwort, die sie erhielt, war Brunhilds Lachen ...
Gudrun befreite sich aus den Leintüchern. Tränen rannen ihr die Wangen hinab, und das schreckliche Lachen hallte noch immer in ihren Ohren. Wo waren die Fackeln? Sie blinzelte und richtete den Blick auf das rote Kohlenstück, das wie ein einzelnes Auge in der Asche des Kaminfeuers glühte. In der Dunkelheit regte sich nichts außer ihr. Kein Blut ... keiner ihrer Brüder ... kein Sigfrid ...
Der alte Schmerz schnürte ihr die Kehle zu. Es war wieder einer der unzähligen Alpträume gewesen. Ein Dutzend unterschiedlicher Visionen von Sigfrids Tod hatte sie in den letzten anderthalb Jahren seit seiner Ermordung nachts heimgesucht. Wenn sie wach war, versuchte sie sich einzureden, daß sie Sigfrid hätte warnen können, wenn sie zur Stelle gewesen wäre. Doch wenn sie ihn selbst in ihren Träumen nicht retten konnte ... Auch diesmal war es ihr nicht gelungen, obwohl sie die Mörder hatte hereinkommen hören.
Gudrun rieb sich die brennenden Augen und setzte sich auf. In der Luft lag die kühle Stille jener Stunde vor dem Morgengrauen. Vorsichtig wand sie sich aus den Bettüchern, sorgsam darauf bedacht, Sunnilda nicht zu wecken, die mit der vertrauensseligen Unbekümmertheit kleiner Kinder neben ihr lag. Gudrun wickelte ihr Umhängetuch vom Bettpfosten und schlich über den festgetretenen Lehmboden. Aufgehäufte Kohlen glühten schwach in der Feuerstelle, und ein schmaler Lichtstreifen schälte den Umriß der Eingangstür aus der Dunkelheit heraus.
Gudrun schlug das Umhängetuch fester um sich und trat nach draußen. Hinter den Buchen wurde der Himmel bereits hell, ein früh erwachter Vogel stimmte sein Morgenlied an. Die Luft war kühl. Zitternd ergriff Gudrun den Eimer und folgte dem Pfad zur Quelle. Dort benetzte sie ihr Gesicht mit dem frischen Wasser und trank einen belebenden Schluck, bevor sie den Eimer füllte und sich auf den Rückweg machte.
Aus solch alltäglichen Aufgaben hatte sie ein Bollwerk gegen ihre Trauer errichtet: Jeder Schritt, jede Handlung knüpfte ein neues Band zu einer Welt, in der es Sigfrid nicht mehr gab - auch wenn es keinen Trost brachte. Einen Sommer, einen Winter und dann wieder einen Sommer lang lebte sie nun schon in der Waldhütte ihrer Mutter, begleitet nur von dem alten Diener Udo und von Sunnilda, ihrer kleinen Tochter. Die Anforderungen, die das tägliche Leben hier an sie stellte, schienen endlos.
Gudrun stand mit der Sonne auf und fand erst bei Sonnenuntergang in ihr Bett; zu erschöpft, um Trauer zu empfinden - außer in ihren Träumen.
Doch der heutige Tag würde sich von den anderen unterscheiden. Obwohl Gudrun und ihr kleiner Haushalt sich weitgehend selbst versorgten, gab es einiges, worin sie von ihren Nachbarn abhängig waren. Der alte Ostbert und seine Frau Melewida wußten, wer Gudrun war, doch sie respektierten ihren Wunsch nach Abgeschiedenheit. Sie war so vorsichtig gewesen, sich den Namen Grimhild zuzulegen, als wäre sie nach der alten Königin benannt worden. Keiner der anderen Bauern schien zu ahnen, daß die schweigsame junge Frau im Wald einst die strahlende Prinzessin der Niflunge gewesen war. Ihre Milchziege stammte von Ostberts Gehöft; und dorthin verkaufte sie im Austausch gegen Butter, Käse und Fleisch die feine Wolle, die zu spinnen sie im königlichen Palast gelernt hatte. Und als gute Nachbarin hatte sie Ostbert versprochen, bei der Ernte zur Hand zu gehen.
Als Gudrun auf den Hof zurückkam, war Udos Schnarchen in jenes rheumatische Husten übergegangen, mit dem der alte Diener jeden neuen Morgen zu begrüßen pflegte. Gudrun öffnete die Tür und ließ das Licht ins Langhaus fallen. Es war im alten Stil errichtet worden, mit der Feuerstelle und dem Kastenbett in der einen Hälfte und Raum für Wintervorräte und Ställe in der anderen. Ein stark geneigtes Strohdach reichte bis wenige Fuß über den Boden, so daß sich unter dem Überhang nahe der weiß getünchten Fachwerkmauer Feuerholz stapeln ließ. Es war ein gemütliches Heim, solange man es instand hielt. Wanderer verirrten sich selten hierher, und was die wilden Tiere anging - nun, Gudrun fürchtete sich weit mehr vor den Menschen.
Sigfrid war ein Geschöpf des Waldes gewesen; manchmal bildete Gudrun sich ein, seinen umherstreifenden Geist zu spüren. Gab es einen besseren Platz, um sein Kind großzuziehen?
»Mama, müssen wir jetzt gehen? Ich bin schon fertig, Mama - guck!«
Sunnilda tänzelte über die Türschwelle. Sie hatte ihre Tunika verkehrtherum angezogen und Knoten in ihr Haar geflochten. Gudrun unterdrückte ein Lächeln.
»Solltest du dir nicht vielleicht zuerst das Gesicht waschen, mein kleines Ferkelchen?« Sie stellte den Eimer ab und griff nach dem festen kleinen Körper ihrer Tochter. Wie immer verspürte sie bei der Berührung eine Freude, die fast an Schmerz grenzte. »Und vielleicht« - sie drückte Sunnilda fest an sich und stellte sie wieder auf den Boden -, »vielleicht drehen wir deine Tunika um und kämmen dein Haar ein wenig?«
Sunnilda verzog das Gesicht, ließ ihre Mutter aber gewähren, während Udo, ernst und schweigsam wie an jedem Morgen, den Eimer ergriff und ihn zur Kochstelle brachte. Mit Lagerschuppen, Webhaus, einer Koppel für die Milchziege und einem umzäunten Garten bildete die Lichtung eine Insel der Ordnung in einem grünen Meer aus Blättern.
Als Gudrun das Haar des kleinen Mädchens schließlich zu ihrer Zufriedenheit geflochten hatte, brannte das Kochfeuer bereits, und das Wasser hatte zu brodeln begonnen. Udo machte sich auf, die Ziege zu melken, während Gudrun Hafer für den Brei abmaß. Sie rührte im Topf und sah Sunnilda zu, die ihr Steckenpferd bestieg und über den Hof galoppierte. Vielleicht sollte sie die wild umherfliegenden Zöpfe des Kindes mit Schleifen hochbinden, überlegte Gudrun. Sunnildas selbstgesponnenes Kleid war einfach, an Kragen und Saum jedoch mit schönen Stickereien versehen. Gudrun verwandte auf das Aussehen ihrer Tochter noch immer eine Aufmerksamkeit, die sie der eigenen Erscheinung schon lange nicht mehr widmete. Es genügte, wenn sie ihr strohblondes Haar geflochten zusammensteckte und unter einem Kopftuch verbarg. Zur Ernte würde sie ihre älteste, ärmellose Tunika tragen, deren ursprünglich blaues Leinen ausgebleicht und nun hell wie ein Dunstschleier in der Hitze eines Sommertages war.
Der Brei kochte. Gudrun schöpfte einzelne Portionen in hölzerne Schalen und rief nach Sunnilda. Sie goß warme Ziegenmilch in einen Krug und stellte einen Korb voll Beeren bereit. Essen ... Arbeit ... die Liebe ihres Kindes ... vergessen waren die Schrecken der Nacht; alles, was sie brauchte, war hier.
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Copyright der Originalausgabe © 1996 by Diana L. Paxson
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 1997 by
Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, Bergisch Gladbach
Übersetzung: Stefan Bauer und Helmut W. Pesch
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Bibliographische Angaben
- Autor: Diana L. Paxson
- 2009, 1, 1632 Seiten, Maße: 12,5 x 18,7 cm, Kartoniert (TB)
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3828994008
- ISBN-13: 9783828994003
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