Die Wächter / Camel-Club Bd.1
Sie sind zu viert. Sie nennen sich der "Camel Club". Sie sind der exklusivste Club der Welt.
Vier vergessene Helden bilden den Camel Club, einen der exklusivsten Clubs der Welt. Tag und Nacht beobachten sie das Weiße Haus und...
Sie sind zu viert. Sie nennen sich der "Camel Club". Sie sind der exklusivste Club der Welt.
Vier vergessene Helden bilden den Camel Club, einen der exklusivsten Clubs der Welt. Tag und Nacht beobachten sie das Weiße Haus und Washington. Doch dann werden sie Zeugen eines Mordes, der die Sicherheit der ganzen Nation bedroht. Und sie sind eine der wenigen, die das Ausmaß des Verbrechens erahnen.
Die Wächter von David Baldacci
LESEPROBE
PROLOG
Umhüllt vom sanften Dunkel, das über dem ländlichen Virginialag, glitt der Chevy Suburban über die Straße. Der einundvierzigjährige Adnan al-Rimi saß am Steuer und konzentrierte sich auf diekurvenreiche Strecke. Hier gab es viel Wild, und Adnan hatte keine Lust,plötzlich das blutige Geweih eines Hirschs durch die Windschutzscheibe krachenzu sehen. Adnan hatte es überhaupt satt, ständig attackiert zu werden. Er nahmseine behandschuhte Faust vom Lenkrad und tastete nach der Pistole, die unterseinem Jackett im Halfter steckte. Für ihn war die Waffe nicht bloß eineBeruhigung, sie war eine Notwendigkeit.
Auf der Rückbank saßen zwei seiner Begleiter. Der eine, dergerade munter in ein Handy plapperte, war Mohammed al-Zawahiri,ein Iraner, der kurz vor den Terroranschlägen des 11. September 2001 indie USA eingereist war. Neben ihm saß ein Afghane namens Gul Khan, der sich erst seit wenigen Monaten in denVereinigten Staaten aufhielt. Khan war ein muskulöser Hüne mit kahlrasiertem Schädel. Er trug eine Tarnjacke undüberprüfte soeben mit geschickten Fingern seine Maschinenpistole, schob dasMagazin in den Ladeschacht und stellte die Waffe auf Zwei-Schuss-Feuerstößeein. Regentropfen prasselten gegen die Scheiben. Khan beobachtete müßig, wiesie am Seitenfenster hinunterrannen.
»Nette Gegend«, sagte er auf Paschto,ein Dialekt, den Adnan nur mit Mühe verstand. »In meiner Heimat verrotten dieKadaver russischer Panzer auf den Äckern.« Mit tieferBefriedigung fügte er hinzu: »Und massenhaft amerikanische Kadaver. Die Bauernpflügen einfach um sie herum.«
Adnan blickte in den Innenspiegel. Er fühlte sich nichtwohl bei dem Gedanken, dass hinter ihm ein Mann mit Maschinenpistole saß,mochte er auch islamischer Glaubensbruder sein. Ebenso wenig traute er Mohammed,dem Iraner, über den Weg. Adnan-al Rimi war in Saudi-Arabien geboren, aber schon als Junge inden Irak ausgewandert. Er hatte in dem grauenvollen Krieg zwischen dem Irak unddem Iran gekämpft und hegte noch heute eine heftige Abneigung gegen den Iran.Und Mohammed al-Zawahiri war Perser, kein Araber, was Adnans Misstrauen nochtiefer machte.
Mohammed beendete das Telefongespräch, wischte einen Dreckspritzervon seinen original amerikanischen Cowboystiefeln, warf einen Blick auf seineteure Armbanduhr, lehnte sich zurück und zündete sich eine Zigarette an. Ersagte etwas auf Farsi, und Khan lachte. Der Atem des Afghanen roch intensivnach Zwiebeln.
Adnan packte das Lenkrad fester. Es behagte ihm nicht, dassder Iraner mit ernsten Angelegenheiten so schnoddrig umging.
Sekunden später hörte Adnan ein Geräusch und blickte zumSeitenfenster hinaus. Auch Mohammed hatte das Geräusch gehört. Er ließ dieScheibe herunter, steckte den Kopf ins Freie und blickte zum bewölkten Himmelhinauf. Als er rote Lichter blinken sah, rief er Adnan eine Anweisung zu. Adnangab Gas. Die beiden Männer auf der Rückbank schnallten sich an. Der Chevy jagteüber die gewundene Landstraße, wobei Adnan einige Kurven so eng nahm, dass dieMänner auf der Rückbank sich krampfhaft an den Haltegriffen festhalten mussten.
Doch kein Auto der Welt konnte auf einer solch kurvigenStrecke einem Hubschrauber entkommen.
Mohammed erteilte Adnan auf Farsi den Befehl, den Wagenunter eine Baumgruppe zu lenken, um dort abzuwarten, ob der Helikopterweiterflog. »Vielleicht hat es einen Unfall gegeben«, sagte er und blieb beimFarsi. »Könnte es ein Rettungshubschrauber sein?«
Adnan zuckte die Achseln. Er beherrschte Farsi nicht allzugut, sodass er die Nuancen dieser Sprache nicht immer erfasste. Doch man musstekein Linguist sein, um die Furcht in Mohammeds Stimme zu bemerken. Adnan lenkteden Wagen unter eine Baumgruppe und hielt. Die Männer stiegen aus und ducktensich neben das Fahrzeug. Khan richtete die Maschinenpistole gen Himmel. Adnanzückte ebenfalls die Waffe. Mohammed behielt lediglich das Handy in der Faust undblickte unruhig nach oben. Einen Augenblick hatte es den Anschein, als wäre derHubschrauber verschwunden; dann aber fiel direkt über den Männern derLichtstrahl eines Suchscheinwerfers durch das Blätterdach.
»Scheiße!«, stieß Mohammed aufEnglisch hervor. Er nickte Adnan zu und gab ihm damit zu verstehen, er solledie Lage genauer prüfen.
Geduckt lief der Iraker zum Rand der Baumgruppe und spähtezum Himmel. Der Hubschrauber schwebte zwanzig Meter über den Wipfeln. Adnankehrte zu seinen Gefährten zurück und meldete seine Beobachtung.»Möglicherweise suchen sie einen Landeplatz«, endete er.
»Haben wir ein Raketenabschussgerät im Wagen?«, fragte Mohammed nervös. Er war es gewöhnt, bei solchenEinsätzen der Lenker und Denker zu sein, nicht aber, den Frontsoldatenabzugeben, der das Töten erledigte und dabei oft selbst ums Leben kam.
Adnan schüttelte den Kopf. »Wir haben nicht damitgerechnet, dass wir heute Nacht eins brauchen könnten.«
»Scheiße«, wiederholte Mohammed und lauschte angestrengt.»Hört ihr das auch? Ich glaube, sie landen.« DerAbwind der Rotoren ließ die Baumwipfel schwanken.
Adnan nickte seinen Begleitern zu. »Das ist einHubschrauber mit nur zwei Mann Besatzung. Wir sind zu dritt.«Er richtete den Blick auf den Anführer. »Nimm deine Waffe, Mohammed«, sagte ermit fester Stimme. »Wir gehen nicht kampflos in den Tod, sondern nehmen dieAmerikaner mit.«
»Dummkopf«, sagte Mohammed schroff. »Die haben längstandere verständigt. Die nageln uns hier fest, bis Unterstützung kommt.«
»Unsere Ausweise sind erstklassig«, entgegnete Adnan. »Diebesten Fälschungen, die man für Geld kaufen kann.«
Der Iraner sah ihn an, als hätte Adnan den Verstandverloren. »Wir sind bewaffnete Ausländer mitten zwischen den SchweinezüchternVirginias. Wenn die meine Fingerabdrücke nehmen, wissen sie binnen Sekunden,wer ich bin. Wir stecken in der Falle.« Er verzog dasGesicht. »Wie konnte es so weit kommen?«
Adnan zeigte auf die Hand des Iraners. »Vielleicht, weil duandauernd mit dem Handy telefonierst. Du weißt doch, dass man die Dingeranpeilen kann. Ich hatte dich gewarnt.«
»Allahs Wille wird geschehen«, sagte GulKhan und stellte die Maschinenpistole auf Dauerfeuer.
Ungläubig starrte Mohammed ihn an. »Wenn wir abgefangenwerden, können wir unsere Pläne vergessen. Glaubst du, das ist Gottes Wille?« Er wies mit bebendem Finger in die rauschendenBaumwipfel. »Ich will«, sagte er energisch, »dass ihr mir die Amerikaner vomLeib haltet, wenn ich mich absetze. Knapp einen Kilometer westlich von hier isteine Landstraße. Ich kann Marwan anrufen, dass ermich dort mit dem anderen Wagen abholt. Aber ihr müsst mir den Rückenfreihalten.«
Mürrisch musterte Adnan den Anführer. An seiner Miene ließsich ablesen, dass er jetzt ein Äquivalent für den Ausdruck »gequirlte Scheiße«benutzt hätte, gäbe es ihn in seiner Muttersprache.
»Also lenkt sie von mir ab. Unsere Sache verlangt diesesOpfer von euch!«, rief Mohammed und machte Anstalten,sich zu entfernen.
»Wenn wir sterben müssen, während du entkommst, gib mir wenigstensdeine Waffe«, sagte Adnan. »Du wirst sie ja nicht brauchen.«
Der Iraner zog die Pistole und warf sie Adnan zu.
Khan, der bullige Afghane, wandte sich derweil in Richtungdes Hubschraubers und lächelte. »Ich habe eine Idee, Adnan«, rief er über dieSchulter. »Wir schießen in die Heckrotoren, bevor sie landen. Das hat sich inmeiner Heimat gut bewährt. Sobald die Hubschrauber aufschlagen, bricht es ihnendas Genick.«
Die Kugel, die Khan traf, brach ironischerweise ihm das Genick. Der hoch gewachsene Afghane schlug zuBoden, als hätte jemand ihm die Beine weggetreten.
Adnan schwenkte die Pistole von seinem ersten Opfer fortund zielte auf Mohammed, den dieser offensichtliche Verrat zur panischen Fluchttrieb. Doch er war kein Sprinter, und die Cowboystiefel, denen seine Vorliebegehörte, behinderten ihn zusätzlich. Als er über einen morschen Baumstumpfstolperte, holte Adnan ihn ein.
Mohammed starrte seinen Gefährten an, der nun die Pistoleauf ihn richtete. Einem Schwall von Beleidigungen auf Farsi folgtenflehentliche Bitten in abgehacktem Arabisch; dann verlegte Mohammed sich aufsEnglische. »Adnan, bitte warum? Warum?«
»Du handelst mit Drogen, um mit dem Geld unsere Sache zufördern, behauptest du«, sagte Adnan auf Arabisch. »Aber du verbringst mehrZeit damit, dir affige Cowboystiefel und teure Juwelen zu kaufen, als du fürdie Sache des Islam aufwendest. Du bist vom rechten Weg abgekommen. Du bistfast schon Amerikaner geworden. Aber das ist nicht der Grund, weshalb du jetztsterben musst.«
»Dann sag mir den Grund!«, schrieder Iraner.
»Dein Tod ist dein Opfer für unsere Sache.«Adnan lächelte nicht, doch in seinen Augen spiegelte sich Triumph. Er töteteMohammed mit einem aufgesetzten Schuss in die linke Schläfe. Dann eilte er zuder Lichtung, auf der inzwischen der Hubschrauber gelandet war, dessen Lukesich in diesem Augenblick öffnete.
Adnan hatte gelogen. In Wirklichkeit bot der HelikopterPlatz für vier Personen. Zwei düster blickende Männer stiegen aus und kamen zuAdnan. Sie trugen einen großen Gegenstand zwischen sich. Nachdem Adnan sicheine Flinte aus dem Chevy Suburban geholt hatte, führte er die Ankömmlinge zuMohammeds Leichnam.
Der Gegenstand, den die Männer mit sich trugen, war einLeichensack. Sie zogen den Reißverschluss auf. In dem Sack befand sich ein Mann,der bemerkenswerte Ähnlichkeit mit Adnan besaß und gleichartige Kleidung trug.Der Mann atmete, war nur bewusstlos. In der Nähe des toten Iraners lehnten dieMänner ihn in Sitzhaltung an einen Baumstamm. Adnan reichte einem der Fremdenseine Brieftasche, der sie dem Bewusstlosen in die Innentasche des Jackettsschob. Der andere Mann nahm von Adnan die Flinte entgegen, drückte sie Mohammedin die leblosen Hände, richtete den Lauf auf den Bewusstlosen und jagte ihmeine Kugel in den Kopf, wobei dem Mann ein Teil des Gesichts weggerissen wurde.Binnen eines Lidschlags wurde er vom Lebenden zur Leiche. In solchen Dingen warAdnan Experte, wenn auch nicht aus freien Stücken. Wer außer einem Irren könntesich für eine solche Berufung entscheiden?
Einen Moment später eilten Adnan und die beiden Männer zumHubschrauber und stiegen ein. Sofort hob der Pilot ab. Weder die Rumpfseitennoch das Heck des Helikopters wiesen eine Kennzeichnung auf, und die beidenMänner auf den vorderen Sitzen trugen keine Uniform. Sie streiften Adnan miteinem knappen Blick, als er sich nun auf einem der hinteren Sitze angurtete.Man hätte meinen können, die Männer versuchten seine Anwesenheit zu ignorieren.
Adnan verschwendete keinen Gedanken mehr an seine toten Kameraden.Längst gingen seine Überlegungen weiter, beschäftigten sich mit dem Ruhm, derihm bald zuteil werden würde. Falls sie Erfolg hatten, würde die Menschheitvoller Ehrfurcht und Achtung von ihm sprechen.
Offiziell war Adnan al-Rimi tot,aber nie würde sein Leben wertvoller sein als jetzt.
Der Hubschrauber flog auf Nordkurs, nach West-Pennsylvania,zu einer Ortschaft namens Brennan. Schon eine Minute später war es still amHimmel des ländlichen Virginia. Nur das Rauschen des Regens, der langsam dieStröme Blut fortspülte, war zu vernehmen.
KAPITEL 1
Er rannte und rannte, währendrings um ihn her Kugeln einschlugen. Er konnte nicht erkennen, wer schoss, under hatte keine Waffe, um das Feuer zu erwidern. Die Frau neben ihm war seineEhefrau, und das Mädchen an ihrer Seite war ihre gemeinsame Tochter. EinGeschoss durchschlug die Hand der Frau, und er hörte sie aufschreien. Dann fandeine zweite Kugel ihr Ziel, und mit einem Ausdruck ungläubigen Staunens rissseine Frau die Augen auf: Es war jener Sekundenbruchteil, da die Pupillen sichweiten und den Augenblick des Todes anzeigen, noch ehe das Gehirn ihnregistriert. Als die Frau zusammenbrach, sprang der Mann zu dem kleinenMädchen, um es mit dem Körper zu schützen. Seine Hände griffen nach ihr,verfehlten sie jedoch wie jedes Mal.
Er erwachte und setzte sich kerzengerade auf. Schweiß rannihm über die Wangen und sickerte in seinen langen, struppigen Bart. Aus einerFlasche schüttete er sich Wasser ins Gesicht. Die kühlen Tropfen linderten denbrennenden Schmerz, den sein immer wiederkehrender Albtraum jedes Malhinterließ.
Als er sich vom Bett schwang, stießen seine Knie gegen diealte Kiste, die daneben stand. Der Mann zögerte, klappte dann den Deckel hoch.In der Kiste lag ein zerfleddertes Fotoalbum. Der Reihe nach sah er sich diewenigen Fotos der Frau an, die seine Gattin gewesen war; dann betrachtete erdie Aufnahmen seiner Tochter, die sie als Säugling und als Kleinkind zeigten.Bilder aus späterer Zeit gab es nicht. Er hätte sein Leben dafür geopfert,seine Tochter nur für einen flüchtigen Augenblick als junge Frau sehen zudürfen. Kein Tag verstrich, ohne dass er darüber nachgrübelte, was aus ihrhätte werden können.
Er ließ den Blick durch das spärlich eingerichtete Inneredes Häuschens schweifen, betrachtete die staubigen Regale, die mit Büchern zuden verschiedensten Sachgebieten gefüllt waren. Beim großen Fenster, das denBlick auf das bereits im Dunkeln liegende Gelände bot, stand ein alterSchreibtisch mit Kladden, deren Seiten in seiner akkuraten Handschrift vollgeschrieben waren. Ein vom Ruß geschwärzter Steinkamindiente der Beheizung, und es gab eine Kochnische, in der er seine kärglichenMahlzeiten zubereitete. Ein winziges Bad komplettierte das bescheideneInterieur.
Der Mann schaute auf die Uhr, nahm ein Fernglas von demwackligen Holztisch, der am Bett stand, holte einen zerfransten Leinenrucksackvom Schreibtisch, packte das Fernglas sowie mehrere Kladden hinein und verließdas Häuschen.
Alte Grabsteine ragten vor ihm empor. Das Mondlichtschimmerte auf dem verwitterten, bemoosten Stein. Als er von der Veranda aufden Rasen stieg, vertrieb die kühle frische Luft vollends den brennendenSchmerz, den der Albtraum in seinem Kopf hinterlassen hatte, nicht aber denSchmerz seines Herzens. Er hatte an diesem Abend viel zu erledigen, doch ihmblieb noch ein wenig Zeit. Und wie immer, wenn dies der Fall war, trieb esStone an einen bestimmten Ort.
Er ging durch das breite Tor aus Gusseisen, dessenverschnörkelte Beschriftung kundtat, dass sich hier, im Nordwesten Washingtons,der Friedhof Mount Zion erstreckte, der zur Methodistengemeinde gleichen Namens gehörte, deren Sitz sich ganz in der Nähebefand. Sie war die älteste Schwarzengemeinde derStadt, gegründet im Jahre 1816 von Gläubigen, die es leid gewesen waren, ihreReligion in nach Rassen getrennten Gotteshäusern auszuüben, deren Vorsteher inder Heiligen Schrift den Grundsatz der Gleichheit aller Menschen vor Gottoffenbar überlesen hatten. Zudem war das drei Morgen große Grundstück einewichtige Zwischenetappe der Geheimorganisation TheUnderground Railroad gewesen, die während desAmerikanischen Bürgerkriegs Sklaven aus dem Süden in die Freiheit des Nordensgeschmuggelt hatte.
Jahrzehntelang war derhistorische Friedhof vernachlässigt worden. Grabdenkmäler waren umgekipptworden, und hüfthoch hatte das Unkraut gewuchert, bis die Gemeinde den MountZion endlich mit einem Gitterzaun umschließen und ein Friedhofswärter-Häuschenerrichten ließ.
In der Nähe befand sich der größere, bekanntere Friedhof Oak Hill, letzte Ruhestätte zahlreicher Berühmtheiten. DochStone war der Mount Zion mitsamt seinem Platz in der Geschichte - als Tor zurFreiheit - viel lieber.
Vor ein paar Jahren war Stone als Friedhofswärtereingestellt worden, versah seine Arbeit gewissenhaft und sorgte dafür, dass dieRasenflächen und Grabstätten sich stets in gutem Zustand befanden. DasHäuschen, das Stone als Friedhofswärter bewohnen durfte, war für ihn das ersterichtige Heim seit langer Zeit. Die Gemeinde bezahlte ihn bar, ohne dasslästiger Papierkram anfiel; allerdings verdiente er ohnehin zu wenig, als dasser Lohnsteuer hätte zahlen müssen. Es reichte kaum zum Leben, und doch war esdie beste Anstellung, die Stone je gehabt hatte.
Er spazierte zur 27th Street, erwischte eineninnerstädtischen Bus und stieg einen Häuserblock weiter aus - dort, wo ergewissermaßen seinen »Zweitwohnsitz« hatte. Als Stone das kleine Zelterreichte, kramte er das Militärfernglas aus dem Rucksack und beobachtete dasGebäude auf der anderen Straßenseite. Stone hatte den Feldstecher behalten,nachdem er seinem Vaterland stolz gedient, letzten Endes aber gänzlich dasVertrauen zur politischen Führung verloren hatte. Seinen wahren Namen nannte erseit Jahrzehnten nicht mehr. Mittlerweile kannte man ihn nur noch als Oliver Stone;dass er diesen Namen angenommen hatte, ließ sich nur verstehen, wenn man es alsGeste verschmitzten Trotzes deutete.
Er fühlte sich dem schon legendären Wirken des aufmüpfigenFilmregisseurs verbunden, der die offiziöse Geschichtsschreibung hinterfragte -eine Darstellung der Geschichte, die häufig mehr mit Dichtung als mit Wahrheitzu tun hatte. Sich Oliver Stones Namen zuzulegen, hatte er als durchaus passendempfunden, denn auch er hegte großes Interesse an der »wahren Wahrheit«.
Unbeirrt beobachtete Stone durchs Fernglas das Kommen undGehen drüben am Gebäude. Schließlich verschwand er in seinem kleinen Zelt undschrieb im Licht einer betagten Taschenlampe seine neuesten Beobachtungen ineine der Kladden, die er in den Rucksack gepackt hatte. Einige davon verwahrteer im Friedhofswärterhäuschen, den Großteil jedoch in Verstecken an anderenOrten. Im Zelt ließ Stone nie Schriftliches zurück; er wusste, dass man dasZelt regelmäßig durchsuchte. In seiner Brieftasche führte er stets die amtlicheGenehmigung bei sich, hier ein Zelt aufschlagen und sein Recht wahrnehmen zudürfen, an dieser Stätte seinem Protest Ausdruck zu verleihen. Und er pochteauf sein Recht.
Stone kehrte ins Freie zurück und blickte hinüber zu denSicherheitsleuten, die mit halbautomatischen Pistolen und Maschinenwaffenausgestattet waren und hin und wieder in Funkgeräte sprachen. Sie alle kanntenStone und verhielten sich ihm gegenüber auf wachsame Weise höflich, so wieLeute jemandem begegnen, von dem sie befürchten, er könnte jeden Moment auf sielosgehen. Stone seinerseits achtete darauf, den Sicherheitsleuten Respekt zuzeigen. Personen gegenüber, die Maschinenwaffen trugen, verhielt man sichallemal respektvoll. Oliver Stone war zwar alles andere als einDurchschnittsbürger, aber verrückt war er deshalb noch lange nicht.
Er bekam Blickkontakt mit einem der Sicherheitsleute, derihm daraufhin zurief: »He, Stone, ich hab gehört, Zappelphilipp ist mit demStuhl umgekippt! Gib die Meldung weiter!«
Einige andere Sicherheitsbeamte lachten über die Bemerkung,und selbst auf Stones Lippen legte sich ein Lächeln. »Wird gemacht«, rief erzurück. Er hatte gesehen, wie der Spaßvogel nur wenige Schritte von der Stelleentfernt, an der Stone nun stand, einen Mann niedergeschossen hatte. Der Gerechtigkeithalber muss allerdings erwähnt werden, dass der Mann vorher auf denSicherheitsbeamten gefeuert hatte.
Stone zog die abgewetzte Hose höher um die schlanke Taille,strich die langen angegrauten Haare nach hinten undblieb einen Moment lang stehen, um den Schnürsenkel des rechten Schuhs neu zubinden. Stone war ein großer, hagerer Mann; das Hemd war ihm zu weit, die Hosezu kurz. Und mit den Schuhen hatte er andauernd Probleme.
»Du brauchst Klamotten neue, Oliver«, sagte in derDunkelheit eine Frauenstimme. Stone hob den Blick und sah sie an der Statue desGeneralmajors Comte de Rochambeau lehnen, einesHelden der Amerikanischen Revolution. Rochambeausausgestreckter Finger deutete auf irgendetwas - auf was, hatte Stone nieherausgefunden. Das Denkmal des preußischen Barons Steubenstand an der Nordwestseite, die Statue des polnischen Generals Kosciuszko an der Nordostseite des sieben Morgen großenParks, an dessen Rand sich Stone nun aufhielt. Die Denkmäler zauberten jedesMal ein Lächeln auf sein Gesicht. Inmitten von Revolutionären fühlte OliverStone sich wohl. »Du musst wirklich haben mal neue Klamotten, Oliver«, meintedie Frau, wobei sie sich im tiefbraunen Gesicht kratzte. »Und Haarschnitt, ja.Eigentlich du brauchst Rundumerneuerung, Oliver.«
»Na klar«, antwortete Stone. »Aber es ist alles eine Frageder Prioritäten, und zum Glück ist Eitelkeit nie eine meiner Schwächen gewesen.«
Die Frau nannte sich Adelphia.Sie besaß einen Akzent, den Stone nicht einordnen konnte. Slawisch,wahrscheinlich. Besondere Schwierigkeiten hatte Adelphiamit den Verben, die sie an reichlich unpassenden Stellen einflocht. Sie wareine große Frau mit langem schwarzem Haar, in dem sich die ersten grauenSträhnen zeigten, und tief sitzenden, düsteren Augen. IhrMiene war meist finster, doch bisweilen hatte Stone eine Art bärbeißigeGutmütigkeit bei ihr erlebt. Ihr Alter ließ sich nur schwer schätzen, aberjünger als er war sie auf jeden Fall.
Das fast zwei Meter hohe, frei stehende Spruchband vorihrem Zelt drohte:
EIN FÖTUS IST LEBEN
WER GLAUBT ES NICHT, MUSS IN HÖLLE
Feingeistigkeit konnte man Adelphianicht gerade nachsagen. Für sie existierte nur die Trennlinie zwischen Schwarzund Weiß. Grautöne gab es für sie nicht, obwohl sie in einer Stadt lebte, diediese Farbe erfunden haben könnte.
Auf dem kleinen Schild vor Stones Zelt stand schlicht undeinfach:
ICH WILL DIE WAHRHEIT WISSEN
Selbst nach all den Jahren hatte er die Wahrheit noch nichtaufgedeckt. Aber war jemals eine Stadt erbaut worden, in der es schwieriger war,die Wahrheit aufzuspüren?
»Ich geh holen Kaffee, Oliver. Du möchtest auch? Ich Geld.«
»Nein, danke, Adelphia. Ich mussnoch weg.«
Sie furchte die Stirn. »Wieder so ein Sitzung, wo du willsthin? Was du hast davon? Du kein junger Spund nicht mehr, und sollst nichtlaufen in Dunkel herum. Hier gefährliche Gegend.«
Stone sah hinüber zu den Bewaffneten. »Mir kommt es eher sovor, als wäre es hier besonders sicher.«
»Ein Haufen Kerle mit Knarren für dich Sicherheit?«, erwiderte Adelphia patzig.»Von Sinnen bissa wohl, sag mal.«
»Vielleicht hast du recht«, sagte Stone. »Vielen Dankjedenfalls für deine Anteilnahme.«
Adelphia hätte sich jetzt gern mit ihmgezankt, und so lauerte sie auf eine Chance, die sie zu diesem Zweck nutzenkönnte. Doch Stone hatte sich längst angewöhnt, Adelphiakeine solche Gelegenheit zu geben. Verdrossen starrte sie ihn noch einen Momentan; dann schlurfte sie davon. Unterdessen heftete Stone den Blick auf einSchild, das neben dem seinen stand:
ICH WÜNSCHE EINEN ANGENEHMEN
WELTUNTERGANG
.Aus dem Amerikanischen von Uwe Anton
© Verlagsgruppe LübbeGmbH
- Autor: David Baldacci
- 2007, 588 Seiten, Maße: 13,5 x 21,5 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzer: Uwe Anton
- Verlag: Bastei Lübbe
- ISBN-10: 3785722737
- ISBN-13: 9783785722732
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