Die wahre Geschichte eines russischen Waisenkindes
Wanja wächst in Russland in einem Waisenhaus auf. Es mangelt an allem. Doch Wanja kämpft mutig und schafft es, ausländische Aushilfskräfte um Hilfe zu bitten. Heute führt er ein völlig normales Leben.
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Produktinformationen zu „Die wahre Geschichte eines russischen Waisenkindes “
Wanja wächst in Russland in einem Waisenhaus auf. Es mangelt an allem. Doch Wanja kämpft mutig und schafft es, ausländische Aushilfskräfte um Hilfe zu bitten. Heute führt er ein völlig normales Leben.
Lese-Probe zu „Die wahre Geschichte eines russischen Waisenkindes “
Der Junge aus Babyhaus Nr. 10 von Alan Philps und John Lahutsky... mehr
PROLOG
Ich zwang mich, zu klettern. Ich mag schwache Beine haben,
aber meine Arme sind stark, vielleicht sogar genauso stark
wie die der anderen Jungs in meiner Pfadfindergruppe. Unter
mir schrien die anderen: »Vorwärts, John! Du schaffst es!« Ich
streckte meinen linken Arm aus, packte das Seil und zog mich
nach oben. Ja, sagte ich zu mir selbst, ich schaffe es.
Ich wusste, dass keiner in der Gruppe damit gerechnet
hatte, dass ich mich an dem Kletternetz versuchen würde.
Einem nach dem anderen hatte ich auf seinem Weg nach oben
hinterhergeschaut. Wie Matrosen am Mast eines Segelschiffs
im Wind waren sie vor und zurück geschwankt, und ich hatte
ihnen ansehen können, dass sie alle Mühe hatten, sich hinaufzuhangeln.
Ich hatte Angst, dass sich meine Beine in den Seilen
verheddern könnten und unser Gruppenführer mich daraus
würde befreien müssen. Oder dass ich abrutschen könnte
und dann wie ein Hampelmann in meiner Pfadfinderuniform
am Sicherungsseil baumeln würde. Nachdem alle Jungs an der
Reihe gewesen waren, sah mich der Gruppenführer an und
fragte: »Willst du es auch versuchen, John?« Ich wusste, es
wäre okay, wenn ich nein sagen würde.
Ich sah ihm in die Augen. »Ich mach's.«
Der Gruppenführer legte mir den Sicherheitsgurt an und zog
die Gurte um meine Taille und Schultern fest. Dann setzte er
mir einen Helm auf und schloss den Kinnriemen. Ich streckte
die Arme aus, umfasste das raue Kletternetz und zog mich nach
oben. Als meine Füße den Boden verließen, schwankte mein
gesamter Körper nach hinten, und ich klammerte mich mit
aller Kraft fest. Stück für Stück zog ich mich nach oben. Ich
begann zu schwitzen und zu schnaufen. Unter mir hörte ich
die anderen rufen: »Weiter, John, weiter!«
Ich streckte meine rechte Hand aus, um ein weiteres Stück
Seil zu packen, als ich plötzlich ein Bild vor mir sah: einen
kleinen Jungen, nackt, mit Medikamenten ruhiggestellt, hinter
eisernen Gitterstäben, eingeschlossen in einem Zimmer. Dieser
Junge versuchte auch zu klettern. Er versuchte über die
Gitterstäbe eines Kinderbetts zu klettern, doch sie waren
zu hoch. Er versuchte es, immer und immer wieder, bis er
schließlich völlig erschöpft auf einer blanken Plastikmatratze
zusammenbrach.
Ich machte eine kurze Verschnaufpause und hörte die Stimmen
von unten rufen: »Nicht aufhören, John! Du schaffst es!«
Es war, als würden sie den kleinen Jungen in meinem Kopf anfeuern.
Ja, ich schaffe es, dachte ich, griff nach dem Seil, biss
die Zähne zusammen und zog mich nach oben. Ich schaffe es
für diesen kleinen Jungen, der in diesem abgedunkelten Raum,
in seinem Gitterbett vollkommen allein gewesen war.
Der kleine Junge war ich. Als ich sechs Jahre alt war und in
einem anderen Land lebte, eine andere Sprache sprach und
Iwan oder kurz Wanja hieß.
Ich erreichte das obere Ende des Netzes und hörte meine
Kameraden klatschen und jubeln. Ich sah nach unten und
lächelte ihnen zu. Es war schwierig gewesen - aber nichts im
Vergleich zu dem, was der sechsjährige Junge in meiner Erinnerung
hinter sich gebracht hatte. Meine Pfadfinderkameraden
wissen nichts von meiner Vergangenheit. Was würden
sie sagen, wenn sie es wüssten?
Das hier ist meine Geschichte. Es heißt, ich sei vermutlich
das einzige Kind, das die schlimmste aller Einrichtungen im
russischen Kinder-Gulag überlebt und die Chance auf ein normales
Leben im Ausland bekommen hat. Bis heute verschwinden
Kinder in diesen einst von Stalin geschaffenen Einrichtungen.
Darum glaube ich, dass meine Geschichte erzählt
werden muss. Wenn es nur ein Kind vor der Hölle bewahrt,
durch die ich gegangen bin, ist es die Mühe wert, sagt meine
Mutter, und sie hat recht.
Im Alter von fünf Jahren wurde ich, genau wie Tausende
andere russische Kinder, für bildungsunfähig erklärt und zu
»permanenter Bettruhe« verurteilt - einem trostlosen Dasein
in Gitterbetten auf nackten Matratzen. Bis zu meinem zehnten
Lebensjahr erhielt ich keinerlei Bildung, und ich hoffe,
dass mein Abschluss an einer amerikanischen Highschool beweisen
wird, wie unrecht jene russischen Experten haben, die
Kinder als »Schwachsinnige« abschreiben.
Meine Freunde, die mich aus Russland kennen, fragen mich
oft, wie ich es geschafft habe, zu überleben, wo doch so viele
Kinder wie ich bereits vor ihrem siebten Lebensjahr sterben.
Ich habe keine Antwort auf diese Frage.
Jedes Buch hat seine Geschichte, so auch dieses. Nach meiner
Ankunft in Amerika hielt meine Mutter jahrelang ein Ehepaar
in Großbritannien, Sarah und Alan, über meine Fortschritte
auf dem Laufenden. Ich kannte die beiden aus meiner
Moskauer Zeit im Babyhaus 10.* Wir schickten ihnen Fotos:
ich neben Mickey Mouse bei meinem ersten Besuch in Disney
World; die Party, die wir feierten, nachdem ich die amerikanische
Staatsbürgerschaft erhalten hatte - ich trug einen Zylinder
mit dem Sternenbanner, auf dessen Rückseite Mom »All
American John« geschrieben hatte; ich im Smoking verkleidet
als James Bond, meinem Idol; und später ich in meiner Pfadfinderuniform.
2006 schickte Mom Sarah und Alan etwas anderes: einen
Artikel aus unserer Lokalzeitung. Ein Journalist hatte uns befragt,
wie wir uns gefunden hätten, wie unser heutiges Zusammenleben
aussehe und wie meine frühe Kindheit in Russland
gewesen sei. Alan schrieb uns daraufhin eine E-Mail, dass er
aus dem Artikel schließe, ich wüsste nur wenig über meine
außergewöhnliche Geschichte. Im darauffolgenden Jahr besuchten
uns Sarah und Alan, und wir tauschten Erinnerungen
über unsere gemeinsame Zeit in Moskau aus, als Alan, begleitet
von seiner Frau Sarah, dort als Zeitungskorrespondent
arbeitete, während ich mich noch in der Obhut des Staates befand.
Ich hatte so viele Fragen: Was war mit meinen leiblichen
Eltern geschehen? Wie war ich ins Babyhaus 10 gekommen,
und warum wurde ich mit sechs Jahren von dort in eine Irrenanstalt
für Erwachsene verlegt? Warum hat es so lange gedauert,
mich zu retten?
Je mehr ich hörte, desto mehr wollte ich erfahren. Ich
wollte wissen, warum russische Ärzte keinen Unterschied
zwischen körperlicher und geistiger Behinderung machten,
und wie sie Kinder mit leichter körperlicher Behinderung
dazu verurteilen konnten, die Hölle auf Erden zu erleiden. Irgendwann
im Laufe unserer Gespräche sagte Alan, dass man
aus meiner Geschichte ein Buch machen müsste. Ich war
Feuer und Flamme. Du musst es schreiben, sagte ich zu ihm.
Und auch Sarah, Wika und all die anderen sollten ihren Teil zu
meiner Geschichte beitragen. Die Welt sollte es erfahren.
Seit ich in Amerika lebe, habe ich viel über Russland gelernt.
Vor kurzem habe ich in Geschichte ein Referat gehalten
über den Sturz des Zaren und die kommunistische Machtübernahme
von Lenin und später Stalin. Dadurch habe ich
Einblicke in jenes System gewonnen, das versucht hat, mein
Leben zu zerstören.
Die Geschichte, die in diesem Buch erzählt wird, beginnt,
als ich vier Jahre alt war. Wie bei jedem Menschen sind auch
meine Erinnerungen an meine frühe Kindheit recht bruchstückhaft.
Ich war eingesperrt und wusste daher nicht, dass es
da draußen Menschen gab, die sich unermüdlich darum bemühten,
mich zu retten. Bis schließlich meine Mutter meinem
Hilferuf folgte.
Zur Recherche ist Alan zurück nach Moskau geflogen, um
den Großteil der Leute zu befragen, die damals mit mir in
Berührung gekommen waren, und um Material in Form von
Tagebüchern, Fotos, Videos und behördlichen Dokumenten
zu sammeln. Was meine eigenen Erinnerungen betrifft, nehmen
diese ab dem sechsten Lebensjahr zu, und ich erzählte
Alan alles, was ich wusste.
Der Blick auf meine Erlebnisse in jenen Räumen, in denen
ich eingesperrt war, erfolgt durch meine Augen. Die übrige
Geschichte wird von zwei Menschen erzählt, die mir sehr viel
bedeuten: Wika, eine junge Russin, die es sich über Monate
zur Aufgabe gemacht hatte, mich zu retten, und Sarah, der ich
keine Ruhe ließ, bis sie für mich ein Leben außerhalb dieses
mörderischen Systems gefunden hatte.
1.
DIE ANGELEHNTE TÜR
November/Dezember 1994
»Kann ich bitte ein Spielzeug haben?«
Unbeantwortet schwebte Wanjas Bitte im Raum. Das Zimmer
war voller Kinder, doch außer Nastja, der Betreuerin, die
mit einem feuchten Lappen fast geräuschlos saubermachte, bewegte
sich niemand. Sehnsüchtig auf eine Antwort wartend, beobachtete
Wanja jede ihrer Bewegungen. Doch sie hielt ihm
weiter den Rücken zugekehrt, während sie in Richtung der
Fensterbank schlurfte, wo die winzig kleine Waleria bewegungslos
in einer Babywippe lag. Waleria starrte mit großen
Augen ins Leere, und in der ganzen Zeit, die Nastja um das
Kind herumwischte, suchte sie keinerlei Kontakt zu ihm - keine
Berührung, kein Wort, kein Blick -, als handle es sich um eines
der Holzspielzeuge auf dem Regal. Als der Lappen kurz ihren
Fuß berührte, zuckte das kleine Mädchen zusammen, und in
ihrem Gesicht spiegelte sich Angst.
Wanja hoffte, dass Nastja sich umdrehen würde, sobald sie
die Fensterbank abgewischt hatte, und er ihren Blick auffangen
könnte. Aber nein, sie ging weiter zu dem Laufstall, in
dem der blinde Tolja nach Spielsachen tastete, die nicht da waren.
Sie stieß ein »dz-dz« aus, als sie sah, dass das Geländer des
Laufstalls von den Kindern angenagt worden war.
Nun beugte sie sich herab, um das Tablett des Lauflernstühlchens
abzuwischen, in dem Igor seine Tage zubrachte -
ein sogenanntes Gehfrei, das mit Rollen versehen war, mit dem
er aber nicht herumfahren konnte, da das Plastikgestell mit
einem Fetzen Stoff an den Laufstall gebunden war. Igor warf
sich in seinem Sitz zurück und begann, seinen Kopf gegen
die Gitterstäbe des Laufstalls hinter sich zu schlagen. Wanja
wusste, dass der Junge versuchte, Nastjas Aufmerksamkeit zu
erregen. Doch sie ignorierte ihn ebenso wie Wanja.
Wanja traute sich nicht, Nastja noch einmal nach einem
Spielzeug zu fragen. Am Anfang ihrer Schicht war sie immer
schweigsam und mürrisch, doch nach ihrer Pause schrie sie die
Kinder oft an oder tat Schlimmeres. Einmal hatte sie Igor von
der Wickelkommode in den Laufstall geworfen. Danach hatte
Wanja beobachten können, wie Igor eine große Beule auf der
Stirn gewachsen war.
Beunruhigt bemerkte Wanja den leeren Ausdruck im Gesicht
seines Freundes Andrej, der ihm an ihrem kleinen Tischchen
gegenübersaß. Noch beunruhigender war Andrejs Vorwärts-
und Rückwärtsschaukeln, ähnlich dem der Kinder, die
im Gehfrei saßen. Das konnte den ganzen Tag so weitergehen,
doch Wanja brauchte jemanden, mit dem er sich unterhalten
konnte. Er hatte seinem Freund zwar das Sprechen beigebracht,
doch Andrej blieb immer noch die meiste Zeit
stumm. Wanja sehnte sich nach Beschäftigung. Er konnte
nicht mehr so lange warten, bis sich Nastja, die in der anderen
Ecke des Zimmers Wäsche zusammenlegte, endlich umdrehen
würde. »Können wir bitte unser Spielzeug haben, Nastja?«,
bat er noch einmal in ihre Richtung.
Wieder nur Schweigen. Wanja machte sich auf einen ihrer
Ausbrüche gefasst. Mit angehaltenem Atem sah er zu, wie sie
sich langsam umdrehte. Sie schlurfte ein paar Schritte in Richtung
eines hohen Regals und holte eine ramponierte Matrjoschkapuppe
herunter. Wanja wusste gar nicht wohin vor
Aufregung, als sie mit der Figur auf ihn zukam.
»Nimm das. Teil's dir mit Andrej«, sagte sie und knallte das
Holzspielzeug zwischen die beiden Jungen auf den Tisch.
Andrej hörte auf zu schaukeln, sein Gesichtsausdruck blieb
jedoch leer.
Einige Teile der Puppe waren kaputt oder fehlten. Doch lieber
ein kaputtes Spielzeug als gar keins. In Ruhe stellte Wanja
sämtliche Puppen der Größe nach vor Andrej auf. Dann nahm
er sie auseinander und schachtelte sie wieder ineinander.
Schließlich fing er noch einmal von vorn an, doch Andrej
zeigte nach wie vor keine Reaktion.
»Los, Andrej. Jetzt bist du dran«, drängte er den Freund
flüsternd.
Andrej starrte weiter vor sich hin. Doch Wanja gab nicht auf.
»Ich rolle eine Puppe zu dir rüber, und du fängst sie auf.«
Die Puppe kullerte über den Tisch, plumpste in Andrejs
Schoß und fiel von dort auf den Linoleumboden. Andrej
machte keinerlei Anstalten, sie festzuhalten.
Ängstlich schaute Wanja zu Nastja hinüber, um zu sehen,
ob sie mitbekommen hatte, dass die Puppe heruntergefallen
war. Aber nein, sie war immer noch damit beschäftigt, Wäsche
zusammenzulegen.
»Du hast es noch nicht mal versucht, Andrej.«
Er hielt seinem Freund die Puppe direkt vors Gesicht. Andrej
drehte seinen Kopf ein klein wenig und starrte die Puppe
aus leeren Augen an. »Schon besser, Andrej. Jetzt roll ich sie
wieder zu dir rüber.«
Abermals verharrte Andrej vollkommen regungslos und ließ
die Puppe wieder vom Tisch fallen. Diesmal hörte es Nastja.
»Ihr schmeißt euer Spielzeug also runter? Ich hab ja gesagt,
dass ihr mit Spielsachen nichts anzufangen wisst.« Wütend
schnappte sie sich die restlichen Puppenteile, und Wanja
musste entsetzt mit ansehen, wie sie alles zurück auf das hohe
Regal legte. Dann setzte sie sich an ihren Schreibtisch und
begann, Formulare auszufüllen.
Wanja starrte die Tischplatte an, die nun wieder genauso
kahl war wie der übrige Raum. Er schaute auf und sah Andrej
an, der seinem Blick auswich und wieder angefangen hatte zu
schaukeln. Igor schlug seinen Kopf immer heftiger gegen die
Gitterstäbe des Laufstalls. Zwischen den Schlägen konnte
Wanja die kleine Waleria am Fenster wimmern hören.
Sein Blick fiel auf den Heizkörper unter dem Fenster. Er
musste lächeln bei dem Gedanken an die raue Oberfläche des
Metalls und die tröstliche Wärme, die er spendete. Er sehnte
sich danach, von seinem Stuhl zu rutschen, hinüberzukrabbeln
und den Heizkörper anzufassen, doch nur seine Lieblingsbetreuerin,
die, die er Tante Walentina nannte, erlaubte
ihm, sich frei im Raum zu bewegen. Nastja würde schimpfen
und zetern, wenn sie ihn auf dem Boden herumkrabbeln sähe.
Er dachte an jenen Morgen zurück, als die Tür aufgegangen
und ein Mann mit einem großen Kasten in der Hand hereingekommen
war. Er sagte, er sei hier, um den Heizkörper zu
reparieren, aus dem es tropfte. Wanja war es gelungen, den
Mann auf sich aufmerksam zu machen, indem er ihn gefragt
hatte, wer er sei, und dann hatte er sich neben ihn setzen und
ihm zusehen dürfen. Der Mann hatte ihm gesagt, er sei der
Klempner, und hatte seinen Kasten geöffnet, in dem Werkzeug
verschiedenster Größen und Formen zum Vorschein gekommen
war.
Noch nie zuvor hatte Wanja so viele faszinierende Gegenstände
gesehen. Der Klempner bemerkte sein Interesse und
reichte ihm einen Kreuzschlüssel. Er selbst nahm sich einen
Schraubenschlüssel und begann, den Heizkörper aufzuschrauben.
Wanja beobachtete jede seiner Bewegungen und
fragte nach dem Namen eines jeden einzelnen Werkzeugs, wobei
er die Wörter wiederholte, um sie sich besser merken zu
können. Der Klempner lächelte ihn an, und als er mit dem
Schraubenschlüssel fertig war, durfte Wanja ihn halten. Glücklicherweise
hatte Walentina an diesem Tag Dienst und erlaubte
Wanja, bei dem Mann sitzen zu bleiben.
Wanja schloss die Augen und ließ die gesamte Szene Revue
passieren. Jetzt war er der Klempner und Andrej sein Gehilfe,
der den Schraubenschlüssel für ihn hielt. »Schnell, Andrej«,
würde er sagen, »gib mir den Schraubenschlüssel. Wir haben
ein Leck!« Andrej würde ihm das Werkzeug reichen, und er
würde mit aller Kraft die Schraubenmutter anziehen. Das
Wasser würde aufhören zu tropfen, Walentina würde alles saubermachen,
und er würde sein Werkzeug in den glänzenden
Metallkasten packen und losziehen, um den nächsten undichten
Heizkörper zu reparieren. Wie herrlich wäre das!
In diesem Moment schob Nastja ihren Stuhl zurück und
sprang auf. Wanja hatte so viel Zeit damit verbracht, ihre Bewegungen
zu beobachten, dass er ganz genau wusste, was ihre
plötzliche Zielstrebigkeit zu bedeuten hatte: Sie war auf dem
Weg in die Pause. Sie ging zu ihrer Tasche, die an einem Haken
an der Wand hing, und nahm eine Schachtel Zigaretten heraus.
Dann suchte sie in ihrer Manteltasche nach einem Feuerzeug.
Sie schaute nicht in den Spiegel - anders als Tanja, die Lippenstift
auftrug, bevor sie den Raum verließ.
Während er Nastja beobachtete, schlug sein Herz wie wild.
Er hatte bemerkt, dass die Verbindungstür zum Nebenzimmer
nur angelehnt war. Normalerweise war sie immer geschlossen.
Was für ein Glücksfall - Nastja war soeben dabei,
hinauszugehen, und hatte es nicht bemerkt. Die Aussicht auf
ein bevorstehendes Abenteuer ließ Wanja schlagartig putzmunter
werden. Wenn Nastja erst einmal draußen war, könnte
er zu der Tür hinüberkrabbeln und einen Blick in den Nebenraum
werfen, der von den Betreuerinnen Gruppe 1 genannt
wurde. Er wusste, dass dort andere Kinder waren. Vielleicht
fand er dort ein Kind, mit dem er sich unterhalten konnte. Er
sah Andrej an, der wieder ins Leere starrte. Oder eine nette
Betreuerin, die er noch nicht kannte. Vielleicht würde sie etwas
Liebes zu ihm sagen, an das er dann während des langen
Mittagsschlafs denken konnte.
Mit der Zigarettenschachtel in der Hand blieb Nastja zögernd
stehen und sah sich prüfend im Raum um. Wanja senkte
den Blick. Vielleicht konnte sie Gedanken lesen und hatte seinen
Plan erraten. Was machte sie nur? Warum stand sie da
herum? Da lief sie auf die Tür zum Nebenzimmer zu. Wanja
schlug das Herz bis zum Hals. Sie würde bemerken, dass die
Tür nur angelehnt war, würde sie schließen, und sein Abenteuer
hätte sich erledigt. Zu seiner Erleichterung nahm Nastja
nur ihre Tasche vom Haken. Wie durch ein Wunder war ihr
die offene Tür entgangen. Wanja sah ihr nach, wie sie nach
draußen auf den Flur verschwand. Dann hörte er, wie der
Schlüssel im Schloss umgedreht wurde.
Nun waren die Kinder sich selbst überlassen - es galt also
keine Zeit zu verlieren. Wanja rutschte von seinem Stuhl und
landete mit einem dumpfen Geräusch auf dem Boden. Man
hatte ihm verboten zu krabbeln: Der Boden sei schmutzig,
hatten sie ihm gesagt, er könne krank davon werden. Er versuchte
nicht daran zu denken, dass Nastja ihn schlagen würde,
wenn sie ihn erwischte. Mit aller Kraft zog er sich mit den
Armen über den glänzenden Boden. Er hatte etwa die Hälfte
des Weges geschafft, als er aus Richtung der geöffneten Tür
hörte, dass jemand sang. Er krabbelte schneller.
Als er die Tür erreichte, öffnete er sie ein klein wenig
weiter, so dass er hineinsehen konnte. Geblendet von der
Mittagssonne, die durch die Gardine fiel, konnte er lediglich
eine große Silhouette, umrahmt von Licht, ausmachen. Er
kniff die Augen zusammen. Die Silhouette beugte sich nach
vorn und verwandelte sich in eine junge Frau, die behutsam
ein Baby zurück in ein Kinderbett legte. Wie sanft sie mit dem
Baby umging, welch grenzenlose Aufmerksamkeit sie ihm
schenkte, und dabei sang sie die ganze Zeit diese ergreifende
Melodie. Sie nahm ein anderes Kind auf den Arm, und Wanja
bemerkte, dass sie nicht so angezogen war wie die anderen
Frauen im Babyhaus. Sie trug keinen dieser weißen Kittel,
stattdessen steckten ihre langen Beine in Jeans, und ihre Haare
waren offen, nicht zurückgebunden.
Wanja war sprachlos. Mucksmäuschenstill beobachtete er
die Szene; auf keinen Fall wollte er den Zauber des Augenblicks
zerstören. Er wollte sich jedes noch so kleine Detail
einprägen, um es sich dann in Erinnerung zurückzurufen,
wenn er am Nachmittag in seinem Bett liegen würde und
nicht schlafen konnte.
Die junge Frau lief im Zimmer umher, wiegte das Baby in
ihren Armen, und plötzlich trafen sich ihre Blicke. Sie hörte
nicht auf zu singen, sondern lächelte ihm zu. Wanja hatte
damit gerechnet, angeschrien und in sein Zimmer zurückgescheucht
zu werden, doch die Frau sagte kein Wort. Mutig
krabbelte er ein Stück weiter in das Babyzimmer. Er wünschte,
er könnte hier leben. Alles war so anders: War es am Ende nur
ein Traum?, fragte er sich gerade, als er hinter sich eine
Stimme bellen hörte: »Komm hierher zurück, Wanja. Du hast
da drüben nichts zu suchen.« Wanja erkannte Nastjas typische
Nach-der-Pause-Stimme. Er krabbelte zurück in Gruppe 2.
Nastja schloss die Verbindungstür zum Nebenzimmer, packte
ihn unter den Achseln, schleifte ihn über den Boden und warf
ihn ärgerlich auf seinen Stuhl.
»Tu das nie wieder«, fauchte sie ihm direkt ins Gesicht, sodass
er gezwungen war, den ekligen Geruch aus ihrem Mund
einzuatmen.
Es war Zeit für die Mittagsfütterung. Küchenfrauen trugen
zwei große Aluminiumtöpfe herein sowie ein Tablett mit einem
hohen Stoß Schüsseln und Nuckelfläschchen, die mit
brauner Suppe gefüllt waren, und stellten alles auf einen Tisch
neben der Tür. Aus der Ferne suchte Wanja das Tablett ab.
Keines der anderen Kinder bekam je Brot, nur seine Lieblingsbetreuerin,
Tante Walentina, brachte Wanja immer ein großes
Stück Schwarzbrot mit, wenn sie Dienst hatte. Heute war
zwar Nastjas Tag, und sie hatte ihm noch nie Brot gegeben,
aber vielleicht hatte der Koch an ihn gedacht und eine Scheibe
zwischen die Fläschchen gesteckt.
Nastja schöpfte zehn Portionen dünne Gemüsesuppe und
Kartoffelpüree aus den Töpfen in die Schüsseln. Wanja und
Andrej bekamen immer als Erste ihr Essen, und sie rechneten
jeden Moment mit ihren Tellern. Andrej hatte sogar aufgehört
zu schaukeln. Doch Nastja wandte sich Wanja zu und zischte
ihn an: »So schlecht, wie du dich vorhin benommen hast, kriegst
du heute als Letzter. Und dein Freund kann auch warten.«
Niedergeschlagen musste Wanja mitansehen, wie Nastja
eine Schüssel nahm, neben Igors Gehfrei in die Hocke ging,
ihn zwang, seinen Kopf nach hinten zu kippen, indem sie die
Schüssel gegen sein Kinn presste, und mit einem großen Löffel
begann, das Essen in ihn hineinzuschaufeln. Igor schluckte
und stieß einen Schrei aus. Wanja wusste, dass ihm das heiße
Essen den Mund verbrannte. Doch Nastja machte weiter.
Ohne ein Wort zu sagen, stopfte sie ihm löffelweise Kartoffelpüree
in den Mund. Igor wand sich hin und her und versuchte,
seinen Kopf wegzudrehen. »Du hast also keinen Hunger«,
sagte Nastja daraufhin, stand auf und stellte die Schüssel
zurück auf den Tisch.
Dann nahm sie Tolja aus seinem Laufstall, ließ ihn auf einen
Stuhl fallen und holte eine andere Schüssel. Wanja sah dem
blinden Jungen zu, wie er seine neue Umgebung abtastete und
versuchte, sich zurechtzufinden. Während seine Finger den
Stuhl erkundeten, stieß Nastja seinen Kopf nach hinten und
begann, ihm das Gemisch aus Suppe und Püree in den Mund
zu schaufeln. Der Löffel wurde schneller und schneller, und
Tolja hatte große Mühe, das Essen hinunterzuschlucken. Jedes
Mal, wenn er seinen Kopf wegdrehte, um sich Zeit zum
Schlucken zu verschaffen, riss Nastja ihn zurück und schaufelte
weiter Essen in ihn hinein. Beinahe im gleichen Tempo,
wie sie es in ihn hineinpresste, floss es wieder aus seinem
Mund heraus, rann sein Kinn herab und tropfte auf einen Fetzen
Stoff. Im Nu war die Schüssel geleert, und Nastja ging
zum nächsten Kind über.
Sie nahm eines der Fläschchen mit der braunen Suppe und
schlurfte hinüber zur Fensterbank, auf der Waleria lag. Sie
steckte dem Mädchen den Sauger in den winzigen Mund und
hielt das Ende der Flasche schräg nach oben. Waleria war so
schwach, dass Wanja sie kaum schlucken hören konnte. »Mach
schon«, sagte Nastja ungeduldig, wandte sich von dem Mädchen
ab und sah sich prüfend im Zimmer um. Walerias
Schluckgeräusche wurden weniger und weniger und blieben
schließlich ganz aus. Obwohl ihre Flasche noch immer fast
voll war, riss Nastja sie ihr ungeduldig aus dem Mund und
ging zum nächsten Kind.
Während Wanja Nastja beim Füttern der anderen Kinder
beobachtete, wurde er immer hungriger. Er brauchte dringend
ein Stückchen Brot. Vielleicht wenn er sie ganz freundlich bitten
würde ... Doch als Nastja zwei Schüsseln und zwei große
Löffel vor die Jungs auf den Tisch knallte, wurde ihm klar,
dass es heute keine Leckerbissen geben würde. Da war kein
Brot. »Macht bloß keinen Dreck«, warnte sie die beiden.
Stumm löffelten Wanja und Andrej die kalte Suppe, in der rein
gar nichts zum Kauen war.
Während die Jungs aßen, trug Nastja ein Kind nach dem anderen
zur Wickelkommode und zog ihnen, ohne ein Wort
oder einen Blick, ihre nassen Strumpfhosen und schmutzigen
Stoffwindeln aus und trockene an. Anschließend verfrachtete
sie jedes Kind in eines der Gitterbetten, die im angrenzenden
Schlafraum standen. Der Mittagsschlaf stand an.
Wanja graute vor der Langeweile, vor den endlosen Stunden,
die er nun ans Bett gefesselt sein würde. Während er wartete,
dass die Reihe an ihn kam, überlegte er fieberhaft, wie er
das Unvermeidliche hinauszögern könnte. Wenn Tante Walentina
Dienst hatte, durfte er immer noch eine Weile bei ihr
sitzen, wenn sie die anderen ins Bett gebracht hatte. Dann
brachte sie ihm Lieder oder Gedichte bei. Nastja tat das nie.
Gerade hatte sie Andrej fortgetragen. Während er vorgab,
noch nicht mit dem Essen fertig zu sein und die allerletzten
Reste seines Pürees zusammenkratzte, suchte Wanja nach
einer Möglichkeit, sie in ein Gespräch zu verwickeln.
Als sie sich zu ihm hinunterbeugte, um ihn hochzunehmen,
fragte er: »Hast du dir deinen Teppich gekauft?«
Nastja sah ihn verblüfft an. »Woher weißt du von meinem
Teppich?«
»Ich habe gehört, wie du der Ärztin erzählt hast, dass du
einen Teppich im Geschäft gesehen hast und dass du ihn dir
nach Dienstschluss kaufen willst.«
»Ja, ich hab ihn mir gekauft.«
»Ist er schön?«
»Ja.« Es entstand eine Pause, als sie ihn auf den Arm nahm.
»Was ist ein Geschäft, Nastja?«
»Ein Ort, an dem man Sachen kaufen kann. Aber jetzt wird
geschlafen.«
»Aber ich bin gar nicht müde.« Nastja zeigte keine Reaktion.
Sie hatte es viel zu eilig, ihn in sein Bett zu bringen.
Als sie die Tür hinter sich schloss, blieb Wanja nichts zu tun,
als durch die Gitterstäbe seines Betts die Risse in der Wand
anzustarren. Mit einem Finger fuhr er die Linien entlang, ließ
ihn über die Gitterstäbe hüpfen und verfolgte die Risse bis ans
Ende des Betts. Der Gedanke an die vor ihm liegende endlose
Zeit war niederschmetternd. Er wusste, dass es bereits dunkel
sein würde, wenn man ihn wieder aus dem Bett holte. Die anderen
Kinder waren unruhig und lagen jammernd in ihren
Betten, die entlang der Wände aufgestellt waren.
Er versuchte, das Gejammer der anderen Kinder auszublenden,
und konzentrierte sich stattdessen auf den Gedanken an
das Abenteuer, das er am Vormittag erlebt hatte. Er beschwor
das Bild der jungen Frau mit den langen Haaren herauf, wie
sie sanft das Baby hielt und ihm vorsang. Er sah sie ihm
zulächeln und stellte sich vor, dass sie auch ihm vorsang. Erneut
fragte er sich, wer sie war. Warum war sie nicht gekleidet
wie die anderen Betreuerinnen? Warum hatte sie ihn nicht angeschrien
oder bestraft, weil er seine Gruppe verlassen hatte?
Er überlegte hin und her, doch er fand keine Antwort.
Nachdem er die Szene mehrfach hatte Revue passieren lassen,
suchte er nach etwas anderem, an das er denken konnte:
die Matrjoschkapuppen fielen ihm ein. In seiner Vorstellung
spielte er wieder mit ihnen, aber diesmal waren sie nicht kaputt
oder rissig, und es fehlten auch keine Teile. Er baute sie in
einer Reihe auf dem Tisch auf, von der kleinsten, die gerade
mal so groß war wie sein Daumen, bis zur größten, die so
groß war wie Waleria in ihrer Babywippe. Es waren so viele,
dass sie gerade noch auf den Tisch passten. Sie bildeten eine
Mauer auf seiner Seite des Tisches, hinter der er sich vor Andrej
verstecken und ihn so zum Lachen bringen konnte.
Dann begann er, die Puppen über den Tisch zu Andrej rollen
zu lassen. Aber diesmal hatte der Freund nicht diesen leeren
Ausdruck auf dem Gesicht, sondern warf sich nach rechts
und links, um die Puppen aufzufangen - und zwar alle: die
kleinen, die über die Tischplatte sausten, ebenso wie die großen,
die schwerfällig dahinkullerten. Andrej bekam jede ein-
zelne zu fassen und kugelte sie zurück zu Wanja, der sie wiederum
von der Tischkante fallen ließ, sie aber noch rechtzeitig
auffing, bevor sie auf dem Boden aufschlugen. Und Nastja
bekam von alldem nichts mit!
Für heute bestand keinerlei Hoffnung mehr, dass Nastja
ihm noch einmal die Matrjoschkapuppe geben würde. Aber
wie sah es morgen aus? Morgen war Tanjas Tag. Er war sich
nicht ganz sicher, was Tanja anbetraf, aber er könnte sie fragen.
Und übermorgen war endlich wieder Tante Walentinas
Tag. Sie würde ihn ganz sicher mit der Puppe spielen lassen.
Das war etwas, worauf man sich freuen konnte.
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Copyright der Originalausgabe
© 2009 by Alan Philps und John Lahutsky
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe
© 2010 by Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin
NOTA BENE: Die deutschsprachige Ausgabe erschien
unter dem Titel Wolkengänger bei Gustav Kiepenheuer;
Gustav Kiepenheuer ist eine Marke der Aufbau Verlag GmbH & Co. KG
Übersetzung: Carina Tessari
Umschlaggestaltung: Atelier Seidel - Verlagsgrafik, Teising
Umschlagmotiv: Corbis, Düsseldorf
Gesamtherstellung: GGP Media GmbH, Pößneck
Printed in the EU
ISBN 978-3-86800-486-1
2014 2013 2012 2011
Die letzte Jahreszahl gibt die aktuelle Lizenzausgabe an.
PROLOG
Ich zwang mich, zu klettern. Ich mag schwache Beine haben,
aber meine Arme sind stark, vielleicht sogar genauso stark
wie die der anderen Jungs in meiner Pfadfindergruppe. Unter
mir schrien die anderen: »Vorwärts, John! Du schaffst es!« Ich
streckte meinen linken Arm aus, packte das Seil und zog mich
nach oben. Ja, sagte ich zu mir selbst, ich schaffe es.
Ich wusste, dass keiner in der Gruppe damit gerechnet
hatte, dass ich mich an dem Kletternetz versuchen würde.
Einem nach dem anderen hatte ich auf seinem Weg nach oben
hinterhergeschaut. Wie Matrosen am Mast eines Segelschiffs
im Wind waren sie vor und zurück geschwankt, und ich hatte
ihnen ansehen können, dass sie alle Mühe hatten, sich hinaufzuhangeln.
Ich hatte Angst, dass sich meine Beine in den Seilen
verheddern könnten und unser Gruppenführer mich daraus
würde befreien müssen. Oder dass ich abrutschen könnte
und dann wie ein Hampelmann in meiner Pfadfinderuniform
am Sicherungsseil baumeln würde. Nachdem alle Jungs an der
Reihe gewesen waren, sah mich der Gruppenführer an und
fragte: »Willst du es auch versuchen, John?« Ich wusste, es
wäre okay, wenn ich nein sagen würde.
Ich sah ihm in die Augen. »Ich mach's.«
Der Gruppenführer legte mir den Sicherheitsgurt an und zog
die Gurte um meine Taille und Schultern fest. Dann setzte er
mir einen Helm auf und schloss den Kinnriemen. Ich streckte
die Arme aus, umfasste das raue Kletternetz und zog mich nach
oben. Als meine Füße den Boden verließen, schwankte mein
gesamter Körper nach hinten, und ich klammerte mich mit
aller Kraft fest. Stück für Stück zog ich mich nach oben. Ich
begann zu schwitzen und zu schnaufen. Unter mir hörte ich
die anderen rufen: »Weiter, John, weiter!«
Ich streckte meine rechte Hand aus, um ein weiteres Stück
Seil zu packen, als ich plötzlich ein Bild vor mir sah: einen
kleinen Jungen, nackt, mit Medikamenten ruhiggestellt, hinter
eisernen Gitterstäben, eingeschlossen in einem Zimmer. Dieser
Junge versuchte auch zu klettern. Er versuchte über die
Gitterstäbe eines Kinderbetts zu klettern, doch sie waren
zu hoch. Er versuchte es, immer und immer wieder, bis er
schließlich völlig erschöpft auf einer blanken Plastikmatratze
zusammenbrach.
Ich machte eine kurze Verschnaufpause und hörte die Stimmen
von unten rufen: »Nicht aufhören, John! Du schaffst es!«
Es war, als würden sie den kleinen Jungen in meinem Kopf anfeuern.
Ja, ich schaffe es, dachte ich, griff nach dem Seil, biss
die Zähne zusammen und zog mich nach oben. Ich schaffe es
für diesen kleinen Jungen, der in diesem abgedunkelten Raum,
in seinem Gitterbett vollkommen allein gewesen war.
Der kleine Junge war ich. Als ich sechs Jahre alt war und in
einem anderen Land lebte, eine andere Sprache sprach und
Iwan oder kurz Wanja hieß.
Ich erreichte das obere Ende des Netzes und hörte meine
Kameraden klatschen und jubeln. Ich sah nach unten und
lächelte ihnen zu. Es war schwierig gewesen - aber nichts im
Vergleich zu dem, was der sechsjährige Junge in meiner Erinnerung
hinter sich gebracht hatte. Meine Pfadfinderkameraden
wissen nichts von meiner Vergangenheit. Was würden
sie sagen, wenn sie es wüssten?
Das hier ist meine Geschichte. Es heißt, ich sei vermutlich
das einzige Kind, das die schlimmste aller Einrichtungen im
russischen Kinder-Gulag überlebt und die Chance auf ein normales
Leben im Ausland bekommen hat. Bis heute verschwinden
Kinder in diesen einst von Stalin geschaffenen Einrichtungen.
Darum glaube ich, dass meine Geschichte erzählt
werden muss. Wenn es nur ein Kind vor der Hölle bewahrt,
durch die ich gegangen bin, ist es die Mühe wert, sagt meine
Mutter, und sie hat recht.
Im Alter von fünf Jahren wurde ich, genau wie Tausende
andere russische Kinder, für bildungsunfähig erklärt und zu
»permanenter Bettruhe« verurteilt - einem trostlosen Dasein
in Gitterbetten auf nackten Matratzen. Bis zu meinem zehnten
Lebensjahr erhielt ich keinerlei Bildung, und ich hoffe,
dass mein Abschluss an einer amerikanischen Highschool beweisen
wird, wie unrecht jene russischen Experten haben, die
Kinder als »Schwachsinnige« abschreiben.
Meine Freunde, die mich aus Russland kennen, fragen mich
oft, wie ich es geschafft habe, zu überleben, wo doch so viele
Kinder wie ich bereits vor ihrem siebten Lebensjahr sterben.
Ich habe keine Antwort auf diese Frage.
Jedes Buch hat seine Geschichte, so auch dieses. Nach meiner
Ankunft in Amerika hielt meine Mutter jahrelang ein Ehepaar
in Großbritannien, Sarah und Alan, über meine Fortschritte
auf dem Laufenden. Ich kannte die beiden aus meiner
Moskauer Zeit im Babyhaus 10.* Wir schickten ihnen Fotos:
ich neben Mickey Mouse bei meinem ersten Besuch in Disney
World; die Party, die wir feierten, nachdem ich die amerikanische
Staatsbürgerschaft erhalten hatte - ich trug einen Zylinder
mit dem Sternenbanner, auf dessen Rückseite Mom »All
American John« geschrieben hatte; ich im Smoking verkleidet
als James Bond, meinem Idol; und später ich in meiner Pfadfinderuniform.
2006 schickte Mom Sarah und Alan etwas anderes: einen
Artikel aus unserer Lokalzeitung. Ein Journalist hatte uns befragt,
wie wir uns gefunden hätten, wie unser heutiges Zusammenleben
aussehe und wie meine frühe Kindheit in Russland
gewesen sei. Alan schrieb uns daraufhin eine E-Mail, dass er
aus dem Artikel schließe, ich wüsste nur wenig über meine
außergewöhnliche Geschichte. Im darauffolgenden Jahr besuchten
uns Sarah und Alan, und wir tauschten Erinnerungen
über unsere gemeinsame Zeit in Moskau aus, als Alan, begleitet
von seiner Frau Sarah, dort als Zeitungskorrespondent
arbeitete, während ich mich noch in der Obhut des Staates befand.
Ich hatte so viele Fragen: Was war mit meinen leiblichen
Eltern geschehen? Wie war ich ins Babyhaus 10 gekommen,
und warum wurde ich mit sechs Jahren von dort in eine Irrenanstalt
für Erwachsene verlegt? Warum hat es so lange gedauert,
mich zu retten?
Je mehr ich hörte, desto mehr wollte ich erfahren. Ich
wollte wissen, warum russische Ärzte keinen Unterschied
zwischen körperlicher und geistiger Behinderung machten,
und wie sie Kinder mit leichter körperlicher Behinderung
dazu verurteilen konnten, die Hölle auf Erden zu erleiden. Irgendwann
im Laufe unserer Gespräche sagte Alan, dass man
aus meiner Geschichte ein Buch machen müsste. Ich war
Feuer und Flamme. Du musst es schreiben, sagte ich zu ihm.
Und auch Sarah, Wika und all die anderen sollten ihren Teil zu
meiner Geschichte beitragen. Die Welt sollte es erfahren.
Seit ich in Amerika lebe, habe ich viel über Russland gelernt.
Vor kurzem habe ich in Geschichte ein Referat gehalten
über den Sturz des Zaren und die kommunistische Machtübernahme
von Lenin und später Stalin. Dadurch habe ich
Einblicke in jenes System gewonnen, das versucht hat, mein
Leben zu zerstören.
Die Geschichte, die in diesem Buch erzählt wird, beginnt,
als ich vier Jahre alt war. Wie bei jedem Menschen sind auch
meine Erinnerungen an meine frühe Kindheit recht bruchstückhaft.
Ich war eingesperrt und wusste daher nicht, dass es
da draußen Menschen gab, die sich unermüdlich darum bemühten,
mich zu retten. Bis schließlich meine Mutter meinem
Hilferuf folgte.
Zur Recherche ist Alan zurück nach Moskau geflogen, um
den Großteil der Leute zu befragen, die damals mit mir in
Berührung gekommen waren, und um Material in Form von
Tagebüchern, Fotos, Videos und behördlichen Dokumenten
zu sammeln. Was meine eigenen Erinnerungen betrifft, nehmen
diese ab dem sechsten Lebensjahr zu, und ich erzählte
Alan alles, was ich wusste.
Der Blick auf meine Erlebnisse in jenen Räumen, in denen
ich eingesperrt war, erfolgt durch meine Augen. Die übrige
Geschichte wird von zwei Menschen erzählt, die mir sehr viel
bedeuten: Wika, eine junge Russin, die es sich über Monate
zur Aufgabe gemacht hatte, mich zu retten, und Sarah, der ich
keine Ruhe ließ, bis sie für mich ein Leben außerhalb dieses
mörderischen Systems gefunden hatte.
1.
DIE ANGELEHNTE TÜR
November/Dezember 1994
»Kann ich bitte ein Spielzeug haben?«
Unbeantwortet schwebte Wanjas Bitte im Raum. Das Zimmer
war voller Kinder, doch außer Nastja, der Betreuerin, die
mit einem feuchten Lappen fast geräuschlos saubermachte, bewegte
sich niemand. Sehnsüchtig auf eine Antwort wartend, beobachtete
Wanja jede ihrer Bewegungen. Doch sie hielt ihm
weiter den Rücken zugekehrt, während sie in Richtung der
Fensterbank schlurfte, wo die winzig kleine Waleria bewegungslos
in einer Babywippe lag. Waleria starrte mit großen
Augen ins Leere, und in der ganzen Zeit, die Nastja um das
Kind herumwischte, suchte sie keinerlei Kontakt zu ihm - keine
Berührung, kein Wort, kein Blick -, als handle es sich um eines
der Holzspielzeuge auf dem Regal. Als der Lappen kurz ihren
Fuß berührte, zuckte das kleine Mädchen zusammen, und in
ihrem Gesicht spiegelte sich Angst.
Wanja hoffte, dass Nastja sich umdrehen würde, sobald sie
die Fensterbank abgewischt hatte, und er ihren Blick auffangen
könnte. Aber nein, sie ging weiter zu dem Laufstall, in
dem der blinde Tolja nach Spielsachen tastete, die nicht da waren.
Sie stieß ein »dz-dz« aus, als sie sah, dass das Geländer des
Laufstalls von den Kindern angenagt worden war.
Nun beugte sie sich herab, um das Tablett des Lauflernstühlchens
abzuwischen, in dem Igor seine Tage zubrachte -
ein sogenanntes Gehfrei, das mit Rollen versehen war, mit dem
er aber nicht herumfahren konnte, da das Plastikgestell mit
einem Fetzen Stoff an den Laufstall gebunden war. Igor warf
sich in seinem Sitz zurück und begann, seinen Kopf gegen
die Gitterstäbe des Laufstalls hinter sich zu schlagen. Wanja
wusste, dass der Junge versuchte, Nastjas Aufmerksamkeit zu
erregen. Doch sie ignorierte ihn ebenso wie Wanja.
Wanja traute sich nicht, Nastja noch einmal nach einem
Spielzeug zu fragen. Am Anfang ihrer Schicht war sie immer
schweigsam und mürrisch, doch nach ihrer Pause schrie sie die
Kinder oft an oder tat Schlimmeres. Einmal hatte sie Igor von
der Wickelkommode in den Laufstall geworfen. Danach hatte
Wanja beobachten können, wie Igor eine große Beule auf der
Stirn gewachsen war.
Beunruhigt bemerkte Wanja den leeren Ausdruck im Gesicht
seines Freundes Andrej, der ihm an ihrem kleinen Tischchen
gegenübersaß. Noch beunruhigender war Andrejs Vorwärts-
und Rückwärtsschaukeln, ähnlich dem der Kinder, die
im Gehfrei saßen. Das konnte den ganzen Tag so weitergehen,
doch Wanja brauchte jemanden, mit dem er sich unterhalten
konnte. Er hatte seinem Freund zwar das Sprechen beigebracht,
doch Andrej blieb immer noch die meiste Zeit
stumm. Wanja sehnte sich nach Beschäftigung. Er konnte
nicht mehr so lange warten, bis sich Nastja, die in der anderen
Ecke des Zimmers Wäsche zusammenlegte, endlich umdrehen
würde. »Können wir bitte unser Spielzeug haben, Nastja?«,
bat er noch einmal in ihre Richtung.
Wieder nur Schweigen. Wanja machte sich auf einen ihrer
Ausbrüche gefasst. Mit angehaltenem Atem sah er zu, wie sie
sich langsam umdrehte. Sie schlurfte ein paar Schritte in Richtung
eines hohen Regals und holte eine ramponierte Matrjoschkapuppe
herunter. Wanja wusste gar nicht wohin vor
Aufregung, als sie mit der Figur auf ihn zukam.
»Nimm das. Teil's dir mit Andrej«, sagte sie und knallte das
Holzspielzeug zwischen die beiden Jungen auf den Tisch.
Andrej hörte auf zu schaukeln, sein Gesichtsausdruck blieb
jedoch leer.
Einige Teile der Puppe waren kaputt oder fehlten. Doch lieber
ein kaputtes Spielzeug als gar keins. In Ruhe stellte Wanja
sämtliche Puppen der Größe nach vor Andrej auf. Dann nahm
er sie auseinander und schachtelte sie wieder ineinander.
Schließlich fing er noch einmal von vorn an, doch Andrej
zeigte nach wie vor keine Reaktion.
»Los, Andrej. Jetzt bist du dran«, drängte er den Freund
flüsternd.
Andrej starrte weiter vor sich hin. Doch Wanja gab nicht auf.
»Ich rolle eine Puppe zu dir rüber, und du fängst sie auf.«
Die Puppe kullerte über den Tisch, plumpste in Andrejs
Schoß und fiel von dort auf den Linoleumboden. Andrej
machte keinerlei Anstalten, sie festzuhalten.
Ängstlich schaute Wanja zu Nastja hinüber, um zu sehen,
ob sie mitbekommen hatte, dass die Puppe heruntergefallen
war. Aber nein, sie war immer noch damit beschäftigt, Wäsche
zusammenzulegen.
»Du hast es noch nicht mal versucht, Andrej.«
Er hielt seinem Freund die Puppe direkt vors Gesicht. Andrej
drehte seinen Kopf ein klein wenig und starrte die Puppe
aus leeren Augen an. »Schon besser, Andrej. Jetzt roll ich sie
wieder zu dir rüber.«
Abermals verharrte Andrej vollkommen regungslos und ließ
die Puppe wieder vom Tisch fallen. Diesmal hörte es Nastja.
»Ihr schmeißt euer Spielzeug also runter? Ich hab ja gesagt,
dass ihr mit Spielsachen nichts anzufangen wisst.« Wütend
schnappte sie sich die restlichen Puppenteile, und Wanja
musste entsetzt mit ansehen, wie sie alles zurück auf das hohe
Regal legte. Dann setzte sie sich an ihren Schreibtisch und
begann, Formulare auszufüllen.
Wanja starrte die Tischplatte an, die nun wieder genauso
kahl war wie der übrige Raum. Er schaute auf und sah Andrej
an, der seinem Blick auswich und wieder angefangen hatte zu
schaukeln. Igor schlug seinen Kopf immer heftiger gegen die
Gitterstäbe des Laufstalls. Zwischen den Schlägen konnte
Wanja die kleine Waleria am Fenster wimmern hören.
Sein Blick fiel auf den Heizkörper unter dem Fenster. Er
musste lächeln bei dem Gedanken an die raue Oberfläche des
Metalls und die tröstliche Wärme, die er spendete. Er sehnte
sich danach, von seinem Stuhl zu rutschen, hinüberzukrabbeln
und den Heizkörper anzufassen, doch nur seine Lieblingsbetreuerin,
die, die er Tante Walentina nannte, erlaubte
ihm, sich frei im Raum zu bewegen. Nastja würde schimpfen
und zetern, wenn sie ihn auf dem Boden herumkrabbeln sähe.
Er dachte an jenen Morgen zurück, als die Tür aufgegangen
und ein Mann mit einem großen Kasten in der Hand hereingekommen
war. Er sagte, er sei hier, um den Heizkörper zu
reparieren, aus dem es tropfte. Wanja war es gelungen, den
Mann auf sich aufmerksam zu machen, indem er ihn gefragt
hatte, wer er sei, und dann hatte er sich neben ihn setzen und
ihm zusehen dürfen. Der Mann hatte ihm gesagt, er sei der
Klempner, und hatte seinen Kasten geöffnet, in dem Werkzeug
verschiedenster Größen und Formen zum Vorschein gekommen
war.
Noch nie zuvor hatte Wanja so viele faszinierende Gegenstände
gesehen. Der Klempner bemerkte sein Interesse und
reichte ihm einen Kreuzschlüssel. Er selbst nahm sich einen
Schraubenschlüssel und begann, den Heizkörper aufzuschrauben.
Wanja beobachtete jede seiner Bewegungen und
fragte nach dem Namen eines jeden einzelnen Werkzeugs, wobei
er die Wörter wiederholte, um sie sich besser merken zu
können. Der Klempner lächelte ihn an, und als er mit dem
Schraubenschlüssel fertig war, durfte Wanja ihn halten. Glücklicherweise
hatte Walentina an diesem Tag Dienst und erlaubte
Wanja, bei dem Mann sitzen zu bleiben.
Wanja schloss die Augen und ließ die gesamte Szene Revue
passieren. Jetzt war er der Klempner und Andrej sein Gehilfe,
der den Schraubenschlüssel für ihn hielt. »Schnell, Andrej«,
würde er sagen, »gib mir den Schraubenschlüssel. Wir haben
ein Leck!« Andrej würde ihm das Werkzeug reichen, und er
würde mit aller Kraft die Schraubenmutter anziehen. Das
Wasser würde aufhören zu tropfen, Walentina würde alles saubermachen,
und er würde sein Werkzeug in den glänzenden
Metallkasten packen und losziehen, um den nächsten undichten
Heizkörper zu reparieren. Wie herrlich wäre das!
In diesem Moment schob Nastja ihren Stuhl zurück und
sprang auf. Wanja hatte so viel Zeit damit verbracht, ihre Bewegungen
zu beobachten, dass er ganz genau wusste, was ihre
plötzliche Zielstrebigkeit zu bedeuten hatte: Sie war auf dem
Weg in die Pause. Sie ging zu ihrer Tasche, die an einem Haken
an der Wand hing, und nahm eine Schachtel Zigaretten heraus.
Dann suchte sie in ihrer Manteltasche nach einem Feuerzeug.
Sie schaute nicht in den Spiegel - anders als Tanja, die Lippenstift
auftrug, bevor sie den Raum verließ.
Während er Nastja beobachtete, schlug sein Herz wie wild.
Er hatte bemerkt, dass die Verbindungstür zum Nebenzimmer
nur angelehnt war. Normalerweise war sie immer geschlossen.
Was für ein Glücksfall - Nastja war soeben dabei,
hinauszugehen, und hatte es nicht bemerkt. Die Aussicht auf
ein bevorstehendes Abenteuer ließ Wanja schlagartig putzmunter
werden. Wenn Nastja erst einmal draußen war, könnte
er zu der Tür hinüberkrabbeln und einen Blick in den Nebenraum
werfen, der von den Betreuerinnen Gruppe 1 genannt
wurde. Er wusste, dass dort andere Kinder waren. Vielleicht
fand er dort ein Kind, mit dem er sich unterhalten konnte. Er
sah Andrej an, der wieder ins Leere starrte. Oder eine nette
Betreuerin, die er noch nicht kannte. Vielleicht würde sie etwas
Liebes zu ihm sagen, an das er dann während des langen
Mittagsschlafs denken konnte.
Mit der Zigarettenschachtel in der Hand blieb Nastja zögernd
stehen und sah sich prüfend im Raum um. Wanja senkte
den Blick. Vielleicht konnte sie Gedanken lesen und hatte seinen
Plan erraten. Was machte sie nur? Warum stand sie da
herum? Da lief sie auf die Tür zum Nebenzimmer zu. Wanja
schlug das Herz bis zum Hals. Sie würde bemerken, dass die
Tür nur angelehnt war, würde sie schließen, und sein Abenteuer
hätte sich erledigt. Zu seiner Erleichterung nahm Nastja
nur ihre Tasche vom Haken. Wie durch ein Wunder war ihr
die offene Tür entgangen. Wanja sah ihr nach, wie sie nach
draußen auf den Flur verschwand. Dann hörte er, wie der
Schlüssel im Schloss umgedreht wurde.
Nun waren die Kinder sich selbst überlassen - es galt also
keine Zeit zu verlieren. Wanja rutschte von seinem Stuhl und
landete mit einem dumpfen Geräusch auf dem Boden. Man
hatte ihm verboten zu krabbeln: Der Boden sei schmutzig,
hatten sie ihm gesagt, er könne krank davon werden. Er versuchte
nicht daran zu denken, dass Nastja ihn schlagen würde,
wenn sie ihn erwischte. Mit aller Kraft zog er sich mit den
Armen über den glänzenden Boden. Er hatte etwa die Hälfte
des Weges geschafft, als er aus Richtung der geöffneten Tür
hörte, dass jemand sang. Er krabbelte schneller.
Als er die Tür erreichte, öffnete er sie ein klein wenig
weiter, so dass er hineinsehen konnte. Geblendet von der
Mittagssonne, die durch die Gardine fiel, konnte er lediglich
eine große Silhouette, umrahmt von Licht, ausmachen. Er
kniff die Augen zusammen. Die Silhouette beugte sich nach
vorn und verwandelte sich in eine junge Frau, die behutsam
ein Baby zurück in ein Kinderbett legte. Wie sanft sie mit dem
Baby umging, welch grenzenlose Aufmerksamkeit sie ihm
schenkte, und dabei sang sie die ganze Zeit diese ergreifende
Melodie. Sie nahm ein anderes Kind auf den Arm, und Wanja
bemerkte, dass sie nicht so angezogen war wie die anderen
Frauen im Babyhaus. Sie trug keinen dieser weißen Kittel,
stattdessen steckten ihre langen Beine in Jeans, und ihre Haare
waren offen, nicht zurückgebunden.
Wanja war sprachlos. Mucksmäuschenstill beobachtete er
die Szene; auf keinen Fall wollte er den Zauber des Augenblicks
zerstören. Er wollte sich jedes noch so kleine Detail
einprägen, um es sich dann in Erinnerung zurückzurufen,
wenn er am Nachmittag in seinem Bett liegen würde und
nicht schlafen konnte.
Die junge Frau lief im Zimmer umher, wiegte das Baby in
ihren Armen, und plötzlich trafen sich ihre Blicke. Sie hörte
nicht auf zu singen, sondern lächelte ihm zu. Wanja hatte
damit gerechnet, angeschrien und in sein Zimmer zurückgescheucht
zu werden, doch die Frau sagte kein Wort. Mutig
krabbelte er ein Stück weiter in das Babyzimmer. Er wünschte,
er könnte hier leben. Alles war so anders: War es am Ende nur
ein Traum?, fragte er sich gerade, als er hinter sich eine
Stimme bellen hörte: »Komm hierher zurück, Wanja. Du hast
da drüben nichts zu suchen.« Wanja erkannte Nastjas typische
Nach-der-Pause-Stimme. Er krabbelte zurück in Gruppe 2.
Nastja schloss die Verbindungstür zum Nebenzimmer, packte
ihn unter den Achseln, schleifte ihn über den Boden und warf
ihn ärgerlich auf seinen Stuhl.
»Tu das nie wieder«, fauchte sie ihm direkt ins Gesicht, sodass
er gezwungen war, den ekligen Geruch aus ihrem Mund
einzuatmen.
Es war Zeit für die Mittagsfütterung. Küchenfrauen trugen
zwei große Aluminiumtöpfe herein sowie ein Tablett mit einem
hohen Stoß Schüsseln und Nuckelfläschchen, die mit
brauner Suppe gefüllt waren, und stellten alles auf einen Tisch
neben der Tür. Aus der Ferne suchte Wanja das Tablett ab.
Keines der anderen Kinder bekam je Brot, nur seine Lieblingsbetreuerin,
Tante Walentina, brachte Wanja immer ein großes
Stück Schwarzbrot mit, wenn sie Dienst hatte. Heute war
zwar Nastjas Tag, und sie hatte ihm noch nie Brot gegeben,
aber vielleicht hatte der Koch an ihn gedacht und eine Scheibe
zwischen die Fläschchen gesteckt.
Nastja schöpfte zehn Portionen dünne Gemüsesuppe und
Kartoffelpüree aus den Töpfen in die Schüsseln. Wanja und
Andrej bekamen immer als Erste ihr Essen, und sie rechneten
jeden Moment mit ihren Tellern. Andrej hatte sogar aufgehört
zu schaukeln. Doch Nastja wandte sich Wanja zu und zischte
ihn an: »So schlecht, wie du dich vorhin benommen hast, kriegst
du heute als Letzter. Und dein Freund kann auch warten.«
Niedergeschlagen musste Wanja mitansehen, wie Nastja
eine Schüssel nahm, neben Igors Gehfrei in die Hocke ging,
ihn zwang, seinen Kopf nach hinten zu kippen, indem sie die
Schüssel gegen sein Kinn presste, und mit einem großen Löffel
begann, das Essen in ihn hineinzuschaufeln. Igor schluckte
und stieß einen Schrei aus. Wanja wusste, dass ihm das heiße
Essen den Mund verbrannte. Doch Nastja machte weiter.
Ohne ein Wort zu sagen, stopfte sie ihm löffelweise Kartoffelpüree
in den Mund. Igor wand sich hin und her und versuchte,
seinen Kopf wegzudrehen. »Du hast also keinen Hunger«,
sagte Nastja daraufhin, stand auf und stellte die Schüssel
zurück auf den Tisch.
Dann nahm sie Tolja aus seinem Laufstall, ließ ihn auf einen
Stuhl fallen und holte eine andere Schüssel. Wanja sah dem
blinden Jungen zu, wie er seine neue Umgebung abtastete und
versuchte, sich zurechtzufinden. Während seine Finger den
Stuhl erkundeten, stieß Nastja seinen Kopf nach hinten und
begann, ihm das Gemisch aus Suppe und Püree in den Mund
zu schaufeln. Der Löffel wurde schneller und schneller, und
Tolja hatte große Mühe, das Essen hinunterzuschlucken. Jedes
Mal, wenn er seinen Kopf wegdrehte, um sich Zeit zum
Schlucken zu verschaffen, riss Nastja ihn zurück und schaufelte
weiter Essen in ihn hinein. Beinahe im gleichen Tempo,
wie sie es in ihn hineinpresste, floss es wieder aus seinem
Mund heraus, rann sein Kinn herab und tropfte auf einen Fetzen
Stoff. Im Nu war die Schüssel geleert, und Nastja ging
zum nächsten Kind über.
Sie nahm eines der Fläschchen mit der braunen Suppe und
schlurfte hinüber zur Fensterbank, auf der Waleria lag. Sie
steckte dem Mädchen den Sauger in den winzigen Mund und
hielt das Ende der Flasche schräg nach oben. Waleria war so
schwach, dass Wanja sie kaum schlucken hören konnte. »Mach
schon«, sagte Nastja ungeduldig, wandte sich von dem Mädchen
ab und sah sich prüfend im Zimmer um. Walerias
Schluckgeräusche wurden weniger und weniger und blieben
schließlich ganz aus. Obwohl ihre Flasche noch immer fast
voll war, riss Nastja sie ihr ungeduldig aus dem Mund und
ging zum nächsten Kind.
Während Wanja Nastja beim Füttern der anderen Kinder
beobachtete, wurde er immer hungriger. Er brauchte dringend
ein Stückchen Brot. Vielleicht wenn er sie ganz freundlich bitten
würde ... Doch als Nastja zwei Schüsseln und zwei große
Löffel vor die Jungs auf den Tisch knallte, wurde ihm klar,
dass es heute keine Leckerbissen geben würde. Da war kein
Brot. »Macht bloß keinen Dreck«, warnte sie die beiden.
Stumm löffelten Wanja und Andrej die kalte Suppe, in der rein
gar nichts zum Kauen war.
Während die Jungs aßen, trug Nastja ein Kind nach dem anderen
zur Wickelkommode und zog ihnen, ohne ein Wort
oder einen Blick, ihre nassen Strumpfhosen und schmutzigen
Stoffwindeln aus und trockene an. Anschließend verfrachtete
sie jedes Kind in eines der Gitterbetten, die im angrenzenden
Schlafraum standen. Der Mittagsschlaf stand an.
Wanja graute vor der Langeweile, vor den endlosen Stunden,
die er nun ans Bett gefesselt sein würde. Während er wartete,
dass die Reihe an ihn kam, überlegte er fieberhaft, wie er
das Unvermeidliche hinauszögern könnte. Wenn Tante Walentina
Dienst hatte, durfte er immer noch eine Weile bei ihr
sitzen, wenn sie die anderen ins Bett gebracht hatte. Dann
brachte sie ihm Lieder oder Gedichte bei. Nastja tat das nie.
Gerade hatte sie Andrej fortgetragen. Während er vorgab,
noch nicht mit dem Essen fertig zu sein und die allerletzten
Reste seines Pürees zusammenkratzte, suchte Wanja nach
einer Möglichkeit, sie in ein Gespräch zu verwickeln.
Als sie sich zu ihm hinunterbeugte, um ihn hochzunehmen,
fragte er: »Hast du dir deinen Teppich gekauft?«
Nastja sah ihn verblüfft an. »Woher weißt du von meinem
Teppich?«
»Ich habe gehört, wie du der Ärztin erzählt hast, dass du
einen Teppich im Geschäft gesehen hast und dass du ihn dir
nach Dienstschluss kaufen willst.«
»Ja, ich hab ihn mir gekauft.«
»Ist er schön?«
»Ja.« Es entstand eine Pause, als sie ihn auf den Arm nahm.
»Was ist ein Geschäft, Nastja?«
»Ein Ort, an dem man Sachen kaufen kann. Aber jetzt wird
geschlafen.«
»Aber ich bin gar nicht müde.« Nastja zeigte keine Reaktion.
Sie hatte es viel zu eilig, ihn in sein Bett zu bringen.
Als sie die Tür hinter sich schloss, blieb Wanja nichts zu tun,
als durch die Gitterstäbe seines Betts die Risse in der Wand
anzustarren. Mit einem Finger fuhr er die Linien entlang, ließ
ihn über die Gitterstäbe hüpfen und verfolgte die Risse bis ans
Ende des Betts. Der Gedanke an die vor ihm liegende endlose
Zeit war niederschmetternd. Er wusste, dass es bereits dunkel
sein würde, wenn man ihn wieder aus dem Bett holte. Die anderen
Kinder waren unruhig und lagen jammernd in ihren
Betten, die entlang der Wände aufgestellt waren.
Er versuchte, das Gejammer der anderen Kinder auszublenden,
und konzentrierte sich stattdessen auf den Gedanken an
das Abenteuer, das er am Vormittag erlebt hatte. Er beschwor
das Bild der jungen Frau mit den langen Haaren herauf, wie
sie sanft das Baby hielt und ihm vorsang. Er sah sie ihm
zulächeln und stellte sich vor, dass sie auch ihm vorsang. Erneut
fragte er sich, wer sie war. Warum war sie nicht gekleidet
wie die anderen Betreuerinnen? Warum hatte sie ihn nicht angeschrien
oder bestraft, weil er seine Gruppe verlassen hatte?
Er überlegte hin und her, doch er fand keine Antwort.
Nachdem er die Szene mehrfach hatte Revue passieren lassen,
suchte er nach etwas anderem, an das er denken konnte:
die Matrjoschkapuppen fielen ihm ein. In seiner Vorstellung
spielte er wieder mit ihnen, aber diesmal waren sie nicht kaputt
oder rissig, und es fehlten auch keine Teile. Er baute sie in
einer Reihe auf dem Tisch auf, von der kleinsten, die gerade
mal so groß war wie sein Daumen, bis zur größten, die so
groß war wie Waleria in ihrer Babywippe. Es waren so viele,
dass sie gerade noch auf den Tisch passten. Sie bildeten eine
Mauer auf seiner Seite des Tisches, hinter der er sich vor Andrej
verstecken und ihn so zum Lachen bringen konnte.
Dann begann er, die Puppen über den Tisch zu Andrej rollen
zu lassen. Aber diesmal hatte der Freund nicht diesen leeren
Ausdruck auf dem Gesicht, sondern warf sich nach rechts
und links, um die Puppen aufzufangen - und zwar alle: die
kleinen, die über die Tischplatte sausten, ebenso wie die großen,
die schwerfällig dahinkullerten. Andrej bekam jede ein-
zelne zu fassen und kugelte sie zurück zu Wanja, der sie wiederum
von der Tischkante fallen ließ, sie aber noch rechtzeitig
auffing, bevor sie auf dem Boden aufschlugen. Und Nastja
bekam von alldem nichts mit!
Für heute bestand keinerlei Hoffnung mehr, dass Nastja
ihm noch einmal die Matrjoschkapuppe geben würde. Aber
wie sah es morgen aus? Morgen war Tanjas Tag. Er war sich
nicht ganz sicher, was Tanja anbetraf, aber er könnte sie fragen.
Und übermorgen war endlich wieder Tante Walentinas
Tag. Sie würde ihn ganz sicher mit der Puppe spielen lassen.
Das war etwas, worauf man sich freuen konnte.
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Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
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Copyright der Originalausgabe
© 2009 by Alan Philps und John Lahutsky
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe
© 2010 by Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin
NOTA BENE: Die deutschsprachige Ausgabe erschien
unter dem Titel Wolkengänger bei Gustav Kiepenheuer;
Gustav Kiepenheuer ist eine Marke der Aufbau Verlag GmbH & Co. KG
Übersetzung: Carina Tessari
Umschlaggestaltung: Atelier Seidel - Verlagsgrafik, Teising
Umschlagmotiv: Corbis, Düsseldorf
Gesamtherstellung: GGP Media GmbH, Pößneck
Printed in the EU
ISBN 978-3-86800-486-1
2014 2013 2012 2011
Die letzte Jahreszahl gibt die aktuelle Lizenzausgabe an.
... weniger
Bibliographische Angaben
- Autoren: Alan Philps , John Lahutsky
- 348 Seiten, Maße: 13,6 x 21,5 cm, Hochw. Broschur mit Klappeinb.
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3868004866
- ISBN-13: 9783868004861
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