Die Wohlgesinnten
Eine fiktive Lebenserinnerung des SS-Obersturmführers Maximilian Aue, Jahrgang 1913, Sohn eines deutschen Vaters und einer französischen Mutter, promovierter Jurist, frühes NSDAP-Mitglied, in die SS eingetreten, um sich der Strafverfolgung...
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Eine fiktive Lebenserinnerung des SS-Obersturmführers Maximilian Aue, Jahrgang 1913, Sohn eines deutschen Vaters und einer französischen Mutter, promovierter Jurist, frühes NSDAP-Mitglied, in die SS eingetreten, um sich der Strafverfolgung nach Paragraf 175 zu entziehen, aber lebenslang seiner Zwillingsschwester inzestuös verbunden. Es sind die verstörenden Erinnerungen an die Schauplätze des Zweiten Weltkriegs und an das Grauen der Verfolgung und Vernichtung der Juden von Juni 1941 bis April 1945, an die Einsatzkommandos und Massenhinrichtungen in der Ukraine und im Kaukasus, an Babi Jar, den Kessel von Stalingrad, Auschwitz und Krakau, an Mittelbau Dora, das besetzte Paris oder das kriegszerstörte Berlin.
Es sind die beklemmenden Erinnerungen an all die Begegnungen mit den Nazigrößen, an Himmler, in dessen persönlichen Stab Aue 1943 aufgenommen wird, an Abendessen mit Eichmann, an Heydrich, Höß oder Speer. Es ist ein erschreckend detailgenauer Roman über die nazistischen Verbrechen, konsequent erzählt aus der Perspektive eines Täters, der sich nach dem Zweiten Weltkrieg in die sichere Existenz eines Fabrikdirektors in Frankreich gerettet hat.
175 zu entziehen, aber lebenslang seiner Zwillingsschwester inzestuös verbunden. Es sind die verstörenden Erinnerungen an die Schauplätze des Zweiten Weltkriegs und an das Grauen der Verfolgung und Vernichtung der Juden von Juni 1941 bis April 1945, an die Einsatzkommandos und Massenhinrichtungen in der Ukraine und im Kaukasus, an Babi Jar, den Kessel von Stalingrad, Auschwitz und Krakau, an Mittelbau Dora, das besetzte Paris oder das kriegszerstörte Berlin. Es sind die beklemmenden Erinnerungen an all die Begegnungen mit den Nazigrößen, an Himmler, in dessen persönlichen Stab Aue 1943 aufgenommen wird, an Abendessen mit Eichmann, an Heydrich, Höß oder Speer. Es ist ein erschreckend detailgenauer Roman über die nazistischen Verbrechen, konsequent erzählt aus der Perspektive eines Täters, der sich nach dem Zweiten Weltkrieg in die sichere Existenz eines Fabrikdirektors in Frankreich gerettet hat. Es ist eines der eindrucksvollsten Bücher, die je über den Nazismus geschrieben wurden."
Das AOK hatte uns in einer Schule untergebracht. »Tut mir leid«, entschuldigte sich ein kleiner Wehrmachtsbeamter in zerknittertem Feldgrau. »Wir sind noch dabei, uns hier einzurichten. Aber wir schicken Ihnen die Rationen hinüber.« Unser stellvertretender Kommandeur von Radetzky, ein eleganter Balte, wedelte lässig mit einer behandschuhten Hand und lächelte: »Macht nichts. Wir bleiben nicht lange.« Es gab keine Betten, aber wir hatten Decken mitgebracht; die Männer setzten sich auf die kleinen Stühle der Schüler. Wir waren wohl an die siebzig. Am Abend bekamen wir tatsächlich eine fast kalte Kohlsuppe mit Kartoffeleinlage, rohe Zwiebeln und ein paar Klumpen dunkles, klebriges Brot, das schon beim Schneiden trocken wurde. Ich hatte Hunger, tunkte das Brot in die Suppe, bevor ich es aß, und biss in die Zwiebeln. Radetzky organisierte eine Wache. Die Nacht verlief friedlich.
Am nächsten Morgen sammelte unser Kommandeur, Standartenführer Blobel, seine Leiter um sich und begab sich mit ihnen zum Hauptquartier. Leiter III, mein unmittelbarer Vorgesetzter, hatte einen Bericht zu tippen und schickte mich als Stellvertreter. Der Stab der 6. Armee, das AOK 6, dem wir unterstellt waren, hatte sich in einem weitläufigen österreichisch-ungarischen Gebäude einquartiert, mit einer in heiterem Orange gehaltenen, mit Säulen und Stuck verzierten und von kleinen Splittern durchlöcherten Fassade. Ein Oberst, anscheinend ein Vertrauter Blobels, empfing uns: »Der Generalfeldmarschall arbeitet draußen. Folgen Sie mir.« Er führte uns in einen ausgedehnten Park, der sich von dem Gebäude bis zu einer Schleife des Bugs weit unten erstreckte. In der Nähe eines einzeln stehenden Baumes ging ein Mann in Badehose mit ausgreifenden Schritten hin und her, umgeben von einem summenden Schwarm Offiziere in durchschwitzter Uniform. Mit einem »Oh, Blobel! Guten Tag, meine Herren« wandte er sich uns zu. Wir salutierten. Es war Generalfeldmarschall von Reichenau, Oberbefehlshaber der 6. Armee. Seine gewölbte und stark behaarte Brust strotzte vor Kraft. In Fettpolstern steckend, in denen sich - trotz seiner athletischen Schultern - die preußische Feinheit seiner Züge verlor, glänzte sein berühmtes Monokel in der Sonne, unpassend, fast lächerlich. Ohne seine peinlich genauen Anweisungen zu unterbrechen, marschierte er stechschrittartig auf und ab. Wohl oder übel mussten wir ihm folgen, was nicht ohne Durcheinander abging; ich stieß mit einem Major zusammen und begriff nicht viel. Endlich blieb Reichenau stehen und entließ uns. »Ach ja! Noch etwas. Für einen Juden sind fünf Gewehre zu viel, die Zahl der Männer reicht nicht aus. Zwei Gewehre pro Verurteilten genügen. Wie viele für die Bolschewisten - das werden wir noch sehen. Bei Frauen können Sie ein vollständiges Erschießungskommando nehmen.« Blobel salutierte: »Zu Befehl, Herr Generalfeldmarschall.« Von Reichenau schlug seine nackten Hacken zusammen und hob den Arm: »Heil Hitler!« - »Heil Hitler!«, antworteten wir im Chor, bevor wir den Rückzug antraten.
Der Sturmbannführer Dr. Kehrig, mein Vorgesetzter, nahm meinen Bericht ziemlich mürrisch auf. »Ist das alles?« - »Ich habe nicht alles mitbekommen, Sturmbannführer.« Er verzog das Gesicht und spielte dabei zerstreut mit seinen Papieren herum. »Ich verstehe nicht. Von wem bekommen wir eigentlich unsere Befehle? Von Reichenau oder von Jeckeln? Und wo steckt Brigadeführer Rasch?« - »Ich weiß nicht, Sturmbannführer.« - »Sie wissen nicht gerade viel, Obersturmführer. Wegtreten.«
Am nächsten Tag rief Blobel alle seine Offiziere zusammen. Etwa zwanzig Mann waren am frühen Morgen mit Callsen aufgebrochen. »Ich habe ihn mit einem Vorkommando nach Luzk geschickt. Das gesamte Kommando wird in ein, zwei Tagen folgen. Dort wird unser Stab vorerst Quartier beziehen. Das AOK wird ebenfalls nach Luzk verlegt. Unsere Divisionen kommen schnell voran. Wir müssen uns an die Arbeit machen. Ich erwarte Obergruppenführer Jeckeln mit den nötigen Befehlen.« Jeckeln, ein sechsundvierzigjähriger Parteigenosse und »Alter Kämpfer«, war höherer SS- und Polizeiführer für Südrussland; alle SS-Verbände des Gebiets, auch der unsere, waren ihm auf die eine oder andere Weise unterstellt. Doch die Frage des Befehlsstrangs ließ Kehrig keine Ruhe: »Also stehen wir unter dem Befehl des Obergruppenführers? « - »Organisatorisch sind wir der 6. Armee unterstellt. Taktische Befehle erhalten wir vom RSHA, über den Gruppenstab, und vom HSSPF. Ist das klar?« Kehrig wiegte den Kopf hin und her und seufzte: »Nicht ganz, aber ich könnte mir vorstellen, dass die Einzelheiten nach und nach klar werden.« Blobel wurde krebsrot: »Aber in Pretzsch wurde Ihnen doch alles erklärt, verflucht noch mal!« Kehrig bewahrte die Ruhe. »In Pretzsch, Standartenführer, hat man uns absolut gar nichts erklärt. Man hat uns mit Reden traktiert und Sport treiben lassen. Sonst nichts. Ich erinnere Sie daran, dass die Vertreter des SD letzte Woche nicht zur Besprechung mit Gruppenführer Heydrich eingeladen waren. Ich bin sicher, dass es dafür gute Gründe gibt, aber ich habe keine Ahnung, was ich zu tun habe, außer Berichte über die Moral und das Verhalten der Wehrmacht zu schreiben.« Er wandte sich an Vogt, den Leiter IV: »Sie waren doch bei dieser Besprechung zugegen. Im Grunde ist es ganz einfach: Wenn man uns erklärt, was wir zu tun haben, tun wir es auch.« Vogt schaute verlegen vor sich hin und klopfte mit seinem Füller auf den Tisch. Blobel kaute an den Innenseiten seiner Backen herum und fixierte mit finsterem Blick einen Punkt an der Wand. »Gut«, bellte er schließlich, »heute Abend kommt jedenfalls der Obergruppenführer. Morgen sehen wir weiter.«
Diese ziemlich ergebnislose Besprechung muss am 27. Juni stattgefunden haben, denn tags darauf wurden wir zu einer Rede von Obergruppenführer Jeckeln zusammengerufen, und nach meinen Aufzeichnungen wurde diese Rede am 28. gehalten. Jeckeln und Blobel hatten sich wahrscheinlich gesagt, dass die Männer vom Sonderkommando etwas Führung und Motivation brauchten; gegen Ende des Vormittags stellte sich das ganze Kommando im Schulhof auf, um die Rede des HSSPF zu hören. Jeckeln nahm kein Blatt vor den Mund. Unsere Aufgabe, so erklärte er uns, sei es, hinter unseren Linien jedes Element zu identifizieren und zu beseitigen, das die Sicherheit der Truppe bedrohen könne. Jeder Bolschewist, jeder Volkskommissar, jeder Jude und jeder Zigeuner könne jederzeit unsere Quartiere sprengen, unsere Männer ermorden, unsere Züge zum Entgleisen bringen oder dem Feind lebenswichtige Nachrichten übermitteln. Unsere Aufgabe sei es nicht, abzuwarten, bis er gehandelt habe, und ihn dann zu bestrafen, unsere Aufgabe sei es, ihn an der Tat zu hindern. Aufgrund unseres schnellen Vormarsches sei auch nicht daran zu denken, Lager einzurichten und sie mit Verdächtigen vollzustopfen: Jeder Verdächtige sei sofort zu erschießen. Den Juristen unter uns rief er ins Gedächtnis, dass die UdSSR es abgelehnt hatte, die Haager Konventionen anzuerkennen, sodass das Völkerrecht, das unsere Vorgehensweisen im Westen regele, hier im Osten keine Anwendung finde. Es würden Fehler vorkommen, sicher, es würde auch unschuldige Opfer geben, das sei der Krieg. Wenn man eine Stadt bombardiere, stürben auch Zivilisten. Er wisse wohl, dass uns das manchmal gegen den Strich gehe, dass das unserer Empfindsamkeit manchmal zu schaffen mache, dass wir als Menschen und als Deutsche darunter litten. Wir müssten uns folglich selbst besiegen. Er könne nur wiederholen, was er aus des Führers eigenem Mund vernommen habe: Die Verantwortlichen schulden Deutschland das Opfer ihrer Zweifel. Danke und Heil Hitler. Das hatte zumindest den Vorzug der Offenheit. Die Reden von Müller oder Streckenbach in Pretzsch strotzten vor schönen Phrasen über die Notwendigkeit von Mitleidlosigkeit und Unerbittlichkeit; doch abgesehen von der Bestätigung, dass wir tatsächlich nach Russland zogen, beschränkten sie sich auf Allgemeinheiten. Heydrich wäre in Düben bei der Abschiedsparade vielleicht deutlicher geworden; doch kaum hatte er das Wort ergriffen, ging ein heftiger Regen nieder: Er brach seine Rede ab und verschwand in Richtung Berlin. Kein Wunder, dass wir verwirrt waren, zumal kaum einer von uns Praxis-Erfahrung besaß. Ich selbst hatte, seit meinen Anfängen beim SD, praktisch nichts anderes gemacht, als juristische Akten zu ordnen, und ich war beileibe keine Ausnahme. (…) © Berlin Verlag Übersetzung: Hainer Kober
Jonathan Littell
Die WohlgesinntenBERLIN VERLAG
28/11 2007
Gespräch über dieGeschichte und den Roman
Jonathan Littell undPierre Nora
Pierre Nora - Ich gehöre zu denen,die von Ihrem Buch verblüfft waren. Für mich stellt
es einaußerordentliches literarisches und historisches Ereignis dar, das zugleicheine
Reihe von Fragenaufwirft, die ich Ihnen gern unterbreiten würde.
Die erste betrifft dasUnternehmen selbst. Wieso und warum stürzt sich ein so junger
Mann siebzig Jahrenach den Ereignissen in ein so ehrgeiziges Abenteuer? Das ist
ungewöhnlich,zumindest in Frankreich. Man muss sich schon in der russischen oder
amerikanischenLiteratur umsehen, um Vergleichbares zu finden. Die Wohlgesinnten
könnte man übrigensals ein russisches Buch ansehen, das von einem Amerikaner auf
Französischgeschrieben wurde. Schon das ist merkwürdig.
Dann könnten wir überdie Natur des Buches selbst sprechen: Es ist aufgrund seines
Gegenstandes undseines Umfangs monströs und durch seinen Status und seinen Bezug
zur Geschichte, zurFiktion und zur Mythologie seltsam und doppeldeutig. Ganz zu
schweigen von demStoff des Buches, der sehr vielschichtig ist. All diese Themen, die die
Kritik bestimmt überJahre behandeln wird, können wir selbstverständlich nur streifen.
Ein letzter Punktunseres Gesprächs könnte die Rezep- ion Ihres Buches betreffen: den
Grund für seinenunglaublichen Erfolg, über den Sie sicher als Erster erstaunt waren.
Ich möchte gernzusammen mit Ihnen die Frage stellen, wie dieser Erfolg zu deuten ist,
wobei wir übrigensnoch nicht wissen, wie das Buch in den Vereinigten Staaten, in
Deutschland, inRussland oder in Israel aufgenommen werden wird.
Zum Unternehmen also.Wenn ich mich nicht irre, habe ich irgendwo gelesen, dass Sie
dieses Buch, dessenersten Entwurf Sie in etwa vier Monaten niedergeschrieben haben,
im Kopf hatten, seitSie zwanzig sind. Wie hat dieses Projekt in Ihrem Leben allmählich
Gestalt angenommen?War der Krieg für Sie von Anfang an eine Obsession?
Jonathan Littell - In der Tat ist alldies in einer Art Sedimentationsprozess entstanden, in
aufeinanderfolgendenSchichten.
Zu einem bestimmtenZeitpunkt - ich war damals etwa fünfundzwanzig Jahre alt - wurde mir
klar, dass ich nichtin der Lage war, etwas Ernstes zu schreiben, dass ich mich also etwas
Anderem zuwendenmusste. Später, wenn ein bisschen mehr Substanz vorhanden sein würde,
könnte ich ja wiederdarauf zurückkommen.
Als ich jünger war,war ich viel weniger vernünftig. Mit ungefähr zwanzig bin ich einmal
William Burroughsbegegnet. Ich fing an, ihn zu lesen, sozusagen erschüttert durch seine
Präsenz. Kurz daraufhabe ich dann Genet, Céline, Sade, Bataille - Letzteren vor allem - und
wenig später Blanchotund danach Beckett gelesen.
P.N. - Auch Nabokov, Musil?
obwohl ich viel vonihm gelesen habe. Musil habe ich erst später entdeckt. Irgendwann fing
ich an, von einemwahnwitzigen Projekt zu träumen, das zehn Bände umfassen sollte. Das
jetzt vor- liegendeBuch geht gewissermaßen auf den geplanten vierten Band zurück. Ich hatte
die ersten dreigeschrieben, und dies war ursprünglich der vierte Band - in einer ganz anderen
Form natürlich.Mandelbrod und Leland, Max selbst und sein Vater sind Überbleibsel,
Fossilien, früheSchichten dieses Projekts. Ich war damals wohl zwischen zwanzig und
fünfundzwanzig. Daswar alles äußerst schlecht und landete in der Schublade; dabei folgte das
Projekt einer gewissenLogik. Jede Episode ergab sich aus der vorhergehenden, mit Vater-
Sohn- undBruder-Bruder-Geschichten, paarweise, nach einem einerseits vertikalen,
andererseitshorizontalen Schema.
P.N. - Lebten Sie damals inFrankreich oder in den Vereinigten Staaten? Was haben Sie
studiert?
J.L. - Das war alles in denVereinigten Staaten, bevor ich dann endgültig nach Europa
zurückkam. Ich habemein Abitur in Paris gemacht und dann in den Vereinigten Staaten
studiert, inConnecticut. Ich habe mit dem Studium auf der Stufe aufgehört, die inFrankreich
der Licence2entspricht; mein Interesse am akademischen Studium war damit erschöpft.
P.N. - Und haben Sie sichvon der griechischen Tragödie von Anfang an packen lassen?
J.L. - Ja und nein. Auchvon der Bibel, vor allem von den ersten Büchern. Von Anfang an
war eine Sache klar -auch in diesem Buch wird man darauf stoßen: Ich habe immer in
ganzheitlichenStrukturen gedacht. Und da ich das Rad nicht neu erfinde, greife ich auf
vorhandene Strukturenzurück. Ich habe zum Beispiel ein Buch geschrieben, das vor allem
eine neue Lektüre derGeschichte von Kain und Abel war. Ich fühlte sozusagen das Bedürfnis
nach einer soliden undvor allem überlieferten Struktur und spielte ein wenig auf beiden
Ebenen, dergriechischen und der hebräischen, den beiden wichtigsten Polen unserer Kultur.
Doch wie ich schonsagte, das war alles zum Scheitern verurteilt. Ich kannte nichts, war viel
zu unreif. Also habeich damit aufgehört. Ich bin aufgebrochen, um in der Welt zu arbeiten,
die Welt ein wenig sokennen zu lernen, wie sie ist.
P.N. - Das heißt konkret?Sie meinen die humanitäre Arbeit?
J.L. - Es ging vor allemdarum, nicht im literarischen oder akademischen Milieu gefangen zu
bleiben. Aber dann binich tatsächlich ziemlich schnell im humanitären Bereich gelandet, im
Krieg. Einerseits einwenig durch Zufall, und dann auch nicht ganz durch Zufall. Die Welt hat
sich mir schließlichdurch den Krieg gezeigt, und das ist eine ganz spezifische Erfahrung der
Welt. Jedenfalls führtdas im Hinblick auf die übrige Welt zu einem besonderen
Deutungsmuster.
P.N. - Waren Sie in derhumanitären Arbeit sofort mit dem Grauen konfrontiert?
J.L. - Nun, ich traf 1993in Sarajewo ein! Ich habe zwei Jahre in Bosnien verbracht, dann
wurde ich nachTschetschenien geschickt.
P.N. - Die wahren Henkersind dort, in Tschetschenien?
J.L. - O nein, auch inBosnien. Die bosnischen Serben waren nicht schlecht auf diesem
Gebiet. Ich hatte dasPrivileg, auf allen drei Seiten zu arbeiten; ich hatte also auch mit den
entsetzlichenkroatischen Faschisten aus Bosnien- Herzegowina zu tun; im menschlichen
Umgang waren sieschlimmer als die Serben. Wahrhafte Faschisten - mit sehr niedriger Stirn,
wenn Sie wissen, wasich meine. Die Serben waren lustiger, wahnwitziger. Sie tranken viel,
erzählten Geschichten.Was sie an Gräueltaten begingen, war krankhaft, doch irgendwie
waren sie»menschlicher«. Ich habe zum Beispiel einmal mit Nikolaï Koljevic diskutiert,ich
weiß nicht, ob derName Ihnen etwas sagt, er war Vizepräsident der Republika Srpska. Die
Journalisten inSarajewo kannten ihn sehr gut. Ein Literaturwissenschaftler, der jugoslawische
Spezialist fürShakespeare, von einer ungeheuren Bildung, und er war so etwas wie der
Ideologe derbosnischen Serben. Ich habe mit ihm ein zweistündiges Gespräch geführt, wegen
irgendwelcherGenehmigungen, und es war wirklich zum Heulen komisch - ein Humor von
einerDurchtriebenheit, entsetzlich! Übrigens war er der Einzige von dieser ganzenBande, der
aus dem, was geschehenist, die Konsequenzen gezogen hat: Er hat sich umgebracht, gleich
nach Dayton. Alleanderen sind untergetaucht und blieben in der Mehrheit untergetaucht.
Vielleicht war für ihnalso seine Bildung doch zu etwas nutze.
P.N. - Hatten Sie beidieser Mischung aus Intellektuellem und Henker sofort das Gefühl
einer echtenAmbiguität, einer unentwirrbaren Nähe von Kultur und Barbarei?
J.L. - Es ist kein Gefühl,es ist eine Feststellung. Man sieht es. Ich habe bereits an anderer
Stelle von meinenDiskussionen mit diesem Kommandanten erzählt, der Hunderte, wenn nicht
Tausende bosnischerZivilisten massakriert hat und der, wenn man ihn fragte, was sein
Problem sei, dieAntwort gab, man habe ihm seine Angelruten und seine Köder gestohlen.
Man hat es also miteiner ganzen Skala von unterschiedlichen Motiven zu tun, jedes hat seine
eigene Logik. VonAnfang an hat mich die Frage nach den Motiven der Leute, die töten,
gefesselt. Viel mehrals die Opfer. Das muss Gründe haben, die von weit her kommen.
Zweifellos vomVietnamkrieg
P.N. - Ist die russischeVergangenheit Ihrer Familie untergegangen oder ist sie an Sie
weitergegeben worden?Sie scheinen mit der russischen Welt sehr vertraut zu sein.
J.L. - Meine russischeVergangenheit ist das, was man eine neu erfundene Identität nennt,
denn ich habe da keineBindungen mehr. Meine beiden Familien, väterlicher- und
mütterlicherseits,haben Russland um 1880-1886 verlassen, zur Zeit der großen Pogrome, die
auf die ErmordungAlexanders II. folgten. Zweihundertfünfzigtausend Juden sind damals
geflohen, unter ihnenall meine Vorfahren. Meine Familie hat sich also in den achtziger
Jahren des 19.Jahrhunderts in Amerika niedergelassen.
Mein Vater istallerdings Sowjetologe, nicht im akademischen Sinn, sondern als Journalist
und Romanautor. Inmeiner Kindheit wurde zu Hause ständig über Stalin und Lenin
gesprochen, doch auchüber die Dichter - Pasternak, Mandelstam usw. In der Reagan-Ära
habe ich mit meinemVater viel über Politik, über den Sowjetismus geredet; er hatte da sehr
tiefe Einblicke. Icherinnere mich, dass mein Vater, als Reagan behauptete, die russischen
Panzer stünden elfStunden vor Berlin, zu uns sagte: »Ich möchte mal einen russischen Panzer
sehen, der elf Stundendurchfahren kann, ohne eine Panne zu haben.« Er kannte den
sowjetischen Kern sehrgut. Seit der Perestroika scheint er sich allerdings etwas ausgeklinkt
zu haben. Es war dieSowjetunion unter Breschnew und natürlich die unter Stalin, die ihn
interessierte. Als diehumanitäre Arbeit mich zufällig nach Tschetschenien führte, entdeckte
ich ein Russland, dasmit dem, von dem mein Vater erzählte, nichts zu tun hatte. Sein
Russland war das derDissidenten, der großen Diskussionen um den Küchentisch, der
Beschattung durch dieTypen vom KGB, die man in der Metro oder im GUM abzuschütteln
versuchte. Ein sehrrussisches Russland. Als ich diese Mission antrat, fuhr ich innerhalb von
vierundzwanzig Stundenvon Moskau in den Kaukasus. Mein erster direkter Kontakt mit
diesem Land waren diemaskierten Haudegen, die rebellierenden islamischen Minderheiten,
ein Universum, dassich sehr von dem meines Vaters unterschied; es war während der
Sowjetzeit bereitsvorhanden, doch im Verborgenen, und trat dann aufgrund des Untergangs
der Sowjetunion offenzutage.
Zu dieser Zeit, 1996,las ich Tacitus, in Grosny. Es gibt da diese phantastische Seite über das
Vierkaiserjahr, Siewissen
P.N. - »Die Darstellung, andie ich mich mache, berichtet von einer Menge Mißgeschick,
von Schlachtengräueln,zwietrachterfüllten Meutereien, ja selbst von Schreckenstaten in
Friedenszeit: VierFürsten vom Mordstahl getroffen, drei Kriege im Land, noch mehr
auswärts und gar nichtselten ihre Verschmelzung «3? Meinen Sie das?
J.L. - Ja. Was ich um michherum sah, war genau das. Und dann waren da die Tschetschenen.
Der erste Satz, denich auf Russisch lernte, lautete: »Tod dem Besatzer«, auf den Beton eines
russischen check-pointgesprüht. Meine Kontakte zu Russland waren von Anfang an ziemlich
brutal.
P.N. - Um auf das Buchzurückzukommen, wie hat das Projekt in Ihrem Kopf konkrete
Gestalt angenommen?
J.L. - Wie ich schon sagte,gab es da zunächst dieses pharaonische, zum Glück aufgegebene
Projekt, das, wenn Sieso wollen, einen Beitrag zu allen im Buch vorkommenden
Familienschichtengeleistet hat - sie sind gleichsam ein Echo vorausgegangener Schichten.
Und dann gab es danoch ein Projekt zum Krieg im Osten. Damals war ich vom Krieg als
solchem, als Phänomen,besessen, vom menschlichen Verhalten in einem bewaffneten
Konflikt und bei Mord.Es gab also unbestimmte Bilder von Schnee, von Panzern und
ähnlichen Dingen. Dochweiter ging das nicht. Einige Jahre später, um 1992, sah ich Shoah,
und das hatwahrscheinlich die Dinge zur Frage des Genozids hingelenkt.
In Shoah hatmich etwas verblüfft, was ich nicht kannte, der bürokratische Aspekt des
Vorgangs. DieAusrottung kannte ich, die Gaskammern, Auschwitz, aber den bürokratischen
Geist habe ich indiesem Film entdeckt. Was mich da am meisten fasziniert hat, war der lange
Kommentar Hilbergs zurFunktionsweise der Züge, zu den Schwierigkeiten der SS, die
Reichsbahn für dieJudentransporte zu bezahlen. Diese Art von Problemen - zum Beispiel,
dass die Ausrottungein Budget erforderte - war mir nie in den Sinn gekommen, und das hat
sich mir tiefeingeprägt. Später bin ich in eine Phase eingetreten, in der sich die beiden
Schichten begegnetsind, denn in der humanitären Arbeit steht man an der Schnittstelle von
Krieg und Bürokratie.Einerseits befindet man sich mitten im bewaffneten Konflikt,
andererseits imeigenen Funktionssystem - mit den Geldgebern, den Beziehungen,
Auseinandersetzungen,den Diskussionen mit den Vereinten Nationen oder den Botschaften;
man lebt in einembürokratischen Universum. Auch das Militär funktioniert bürokratisch. Ich
habe damals begriffen,dass im Krieg nicht unbedingt die Typen am interessantesten sind, die
aufeinander losfeuern.Selbst in den gewaltsamsten, unmittelbarsten Konflikten sind hinter
den Kulissen immerdiplomatische, administrative, politische Ebenen am Werk, und zwar
kollektiv, das heißtauf bürokratische Art und Weise. Das war, denke ich, der Ausgangspunkt
für die Verschmelzungall dieser Schichten und Ebenen.
P.N. - Sie schreiben dieGeschichte dieses Intellektuellen in der ersten Person. Handelt
es sich dabei um einpersönliches Bedürfnis, das Sie spontan empfunden haben, oder
war Ihnen vonvornherein bewusst, welchen literarischen Nutzen Sie daraus für die
Komplexität desErzählers ziehen konnten, der - wie im Werk von Proust - nicht Proust
und doch auch Proustist
J.L. - Ich habe fast immerin der ersten Person geschrie- ben. Selbst der sehr schlechte
Science-Fiction-Roman,den ich mit neunzehn geschrieben habe, ist in der ersten Person
verfasst. Ich kannnicht anders schreiben. Das einzige Buch, das ich nicht in der ersten Person
Singular geschriebenhabe, ist in der ersten Person Plural verfasst, eine Art »wir« à la Genet,
übrigens sehrungeschickt verwendet. In der Tat war mir schon lange klar, dass das »ich« für
mich wie ein »er«funktionierte, dass ich Angst vor dem »er« hatte, weil das »er« fast mehr
»ich« als das »ich«war. Das »ich« erlaubte mir eine größere Distanzierung.
P.N. - Doch stellt derEinfall mit dem Henker von der Ukraine, vom Kaukasus und von
Auschwitz, derzugleich Jonathan Littell ist, stellt diese Kopplung nicht zugleich den
Genie- undStaatsstreich Ihres Buches dar, das, was seine explosive Neuheit ausmacht?
J.L. - Zu einem bestimmtenZeitpunkt habe ich mir gesagt, dass ich nur weiterkäme, wenn ich
mich selbst derSituation stellen würde. Ich weiß, dass das sehr leicht zu Missverständnissen
Anlass gibt, doch ichhabe nun einmal für diese Person Modell gestanden. Ihr Bezug zur Welt
ist von meinem nichtweit entfernt, selbst wenn ich auf der einen und sie auf der anderen Seite
steht.
P.N. - Gerade darin liegtder Skandal, der Tabubruch dieses Buches.
J.L. - Jedenfalls konnteich so weiter vordringen. Doch wenn man ins Unbekannte vordringt,
läuft man sehr leichtGefahr, in die Irre zu gehen. Ich bin überhaupt nicht sicher, dass das
Ergebnis überzeugt.Aus der Perspektive der Rezeption ist es vielleicht richtig, doch ich bin
nicht sicher, ob eswirklich funktioniert.
P.N. - Was wollen Sie damitsagen?
J.L. - Einige Kritikerhaben darauf hingewiesen, dass Max nicht wirklich eine Person aus
Fleisch und Blut ist.Er ist weniger eine Person als eine Stimme, ein Ton, ein Blick. Zwischen
dem, was Maxbeschreibt - er sieht alle anderen mit äußerst klarem Blick -, und ihm selbst
besteht eine Distanz,eine Kluft, als ob er gewissermaßen nicht der Erzähler wäre.
P.N. - Sie bewegen sichbeständig am Rande des Abgrunds, aber Sie stürzen nicht ab -
das ist eine dergroßen Leistungen des Buches. Die Person ist unwahrscheinlich, und
doch überzeugt sie mitihrer außerordentlichen Kraft und Präsenz. Viele Abschnitte des
Buches enthalten etwasKlischeehaftes, angefangen bei dem homosexuellen Nazi, andere
sind sehr künstlich,wie die Reise Aues nach Paris, wo er Brasillach oder Rebatet trifft,
oder das Exemplar der Lehrjahredes Gefühls, das er im Schlamm aufliest, oder auch
Mandelbrod, diesePerson, die wirkt, als wäre sie einem James-Bond-Film oder einem
Comic entstiegen. IhrBuch hat manchmal etwas Jugendliches; das macht seinen Reiz
aus, gibt ihm aberauch - angesichts eines so beklemmenden Themas - eine leichte und
eigenartige Note, dieman Ihnen vorwerfen könnte. Das Wunder besteht darin, dass der
Atem der Erzählung,der narrative Schwung uns bis ans Ende tragen. Wie stehen Sie zu
der grundsätzlichenKritik, die Ihnen gegenüber geäußert wurde, wie gehen Sie damit
um?
J.L. - Darum geht es nicht:Man liebt oder liebt nicht, man ist dafür oder dagegen - das
interessiert michnicht. Doch ich glaube, es gibt ein grundsätzliches Problem, das interessant
ist. Es gibt in demBuch Widersprüche, ich glaube, ich habe andernorts schon darauf
hingewiesen, Dinge,die nicht zusammenstimmen, weiße Flecken. Zwischen dem Erzähler als
konstruierter Person,dem »er« des »ich«, und allem, was er sieht und beschreibt, besteht ein
gap. Was er sieht, was erbeschreibt und die Tatsache, dass er er ist und nicht zum Beispiel
Eichmann - das führtzu einem Blick, der zwar nicht kritisch, doch distanziert ist. Das
unterscheidet ihn vonden Eichmanns, den Himmlers, die zu einem solchen Blick auf sich
selbst und die anderenund also auch zum Diskurs und Gespräch unfähig sind. Was dagegen
das Wesen von Maxausmacht, die tragischen Schichten, seine philosophische, vollkommen
verstörte Seite, istnicht realistisch. Ich habe bereits in einem anderen Gespräch (Le Monde,
17. November 2006) vonder Unterscheidung zwischen Wahrheit und Wahrscheinlichkeit
gesprochen. Es istklar, dass ich hier nicht die Wahrscheinlichkeit angestrebt habe.
P.N. - Also die Wahrheit?
J.L. - Sagen wir eineWahrheit,denn dieWahrheit gibt es nicht; eine Art, sich der Wahrheit
anders zu nähern.Gewissermaßen handelt es sich tatsächlich um einen literarischen Versuch,
der sich wie jederliterarische Versuch sehr stark von der Geschichte und der Erinnerung
unterscheidet. Vom Standpunktdes historischen Diskurses kann man sagen, »dieses Buch ist
falsch«, während manvon dem des literarischen Diskurses anders urteilt - das schließt sich
nicht aus. Für michist die einzige interessante Frage - sie plagt mich noch immer -, die, ob
dieses Buchfunktioniert, als
P.N. - Als Mittel zurWahrheitsfindung?
J.L. - Nein, als einMittel, Literatur hervorzubringen.
P.N. - Wahre Literatur?
J.L. - Wahrheit in derLiteratur, wenn Sie so wollen, in dem Sinn, in dem ein Buch wie
Madame Bovary wahr ist.
P.N. - Ich würde sagen,dass es als Mittel, Literatur hervorzubringen, funktioniert, weil
es als Mittel zurWahrheitsfindung funktioniert. Man kann das Grauen des Krieges
durch das Grauenempfinden und erfassen, das Sie in die Person selbst legen. Hätten Sie
diese Person nicht soge- schaffen, wie Sie sie geschaffen haben, genauso wahnsinnig wie
der Wahnsinn, den Siebeschreiben, würde es nicht funktionieren.
J.L. - Wenn man denStandpunkt des Lesers einnimmt und nicht den meinen, stellt sich
natürlich einzusätzliches Problem - auf einer anderen Ebene -, das auf die Wahl des Themas
zurückgeht. Ein sobizarres, phantasmagorisches Buch wie der letzte Roman von Thomas
Pynchon, Gegen denTag, der viel wahnwitziger ist als mein Roman, stört absolut niemanden.
Es spielt am Übergangzwischen dem 19. und dem 20. Jahrhundert und endet mit dem Jahr
1913. Es geht in alleRichtungen, aber da es diese eine Realität nicht berührt, die Vernichtung
der europäischenJuden, kann man es als ein literarisches Buch betrachten und sich fragen:
»Ist es gut oderschlecht? Ist es kompliziert?« usw. Was die Konfusion in der Rezeption
meines Buchesausgelöst hat, ist die Tatsache, dass es von einem Thema handelt, das die
Leute nur schwerlichunter der Rubrik der reinen Literatur einordnen.
P.N. - Wir werden daraufzurückkommen, wenn Sie nichts dagegen haben, doch bleiben
wir noch einenAugenblick bei der Genese des Buches; man fragt sich, wie Sie
vorgegangen sind, umeine solche Masse an Stoff bis ins Detail zu bewältigen - mit
Anspielungen,Augenzwinkern und Präzisierungen, die über dreihundert Seiten hinweg
aufeinander verweisen.Bei einem Buch von zweihundertundfünfzig Seiten hätte man
keine Mühe, das zuverstehen, doch hier Verzeihen Sie mir, dass ich es Ihnen sage:
Um so etwas zuschaffen, muss man schon ein Besessener sein. Vielleicht sind Sie sich
dessen selbst nicht soganz bewusst, doch man muss über lange Zeit von mythologischen,
phantastischen,traumhaften und erotischen Themen besessen sein, um sie mit solch
meisterhafterPräzision zu verknüp- fen. Wie sind Sie bei der Konstruktion des Buches
vorgegangen?
J.L. - Wie ich vorhin schonsagte: Ich habe in Strukturen gedacht. Die Details sind die letzte
Schicht, wie dieletzten Arbeiten an einem Bild. Das Erste, woran der Maler denkt, sind die
Diagonalen, der Raum,der Hintergrund, der Vordergrund, das Licht. Danach füllt er aus. Hier
ist es ähnlich.Jahrelang arbeitete ich ins Blaue, weil ich keine Struktur hatte. Mir kamen
Gedanken, ich notiertesie, hier eine Szene, da eine Szene, doch ich hatte nicht die geringste
Vorstellung, wie alldas ein Buch werden sollte.
Und dann habe ich 1998endlich das gefunden, was ich die grundlegende Struktur nenne, die
sich eng an den Zyklusder Orestie anlehnt. Plötzlich wurde mir klar, dass das Ganze
funktionieren würde,wenn ich im Hinblick auf bestimmte wesentliche Fragen, die ich zu
lösen suchte, meinenAnsatz gewissermaßen neu bestimmen würde. Indem ich gewisse
Gegebenheitenumkehrte, konnte ich das Ganze meinen Anforderungen entsprechend
zusammenfügen. Ichhatte jetzt also eine Struktur. Fast hätte ich mich zu diesem Zeitpunkt ins
Schreiben gestürzt,doch die Dinge verliefen anders, und ich bin wieder losgefahren, zunächst
nach Russland, dannfür über ein Jahr nach Tschetschenien. Zum Glück, denn ich war noch
nicht wirklich bereit.Doch es gab schon eine Verankerung, eine Struktur. Man könnte es das
vertikale Rasternennen. Als ich ab 2001 mit den »harten« Recherchen, der Lektüre und
alldem begann, sinddie horizontalen Schichten hinzugekommen. Da ich bereits über die
vertikale Strukturverfügte, war mir klar, wo die horizontalen Schichten - so, wie sie kamen -
unterzubringen waren.Ich brauchte zum Beispiel eines Tages nur in einem Buch zu
entdecken, dassdieselbe 6. Armee, die in Stalingrad vernichtet wurde, Kiew eingenommen
hatte und dass das Einsatzkommando4a mit ihr zusammenarbeitete, um in dem Buch
plötzlich Stalingradmit Baby Yar verknüpfen zu können. Es handelt sich um einen rein
zeitlichen Bogen -1941-1943 -, und zugleich um einen sinntragenden, denn es sind
dieselben Typen, diein Baby Yar töten und die in Stalingrad getötet werden. Aus ähnlichen
Gründen habe ich zumBeispiel die Kaukasus- Episode eingefügt.
Es gab also dieseGrundlagen. Danach habe ich an der, wenn Sie so wollen, sozialen
Biographie desErzählers gearbeitet, indem ich mehr und mehr ein bestimmtes Milieu ins
Visier nahm: das derIntellektuellen des Regimes, das am stärksten dem Typus entsprach, den
ich vor Augen hatte.Abgesehen davon, dass ich ihm - aus anderen Gründen - dann auch
diesedeutsch-französische Dimension gab, eine wesentliche Dimension, womit aus ihm
zugleich auch kein,sagen wir, gewöhnlicher Durchschnittsnazi mehr werden konnte.
So entwickelte sichalso der Aufbau, mit immer neuen Gerüsten. Um Ihnen ein Beispiel zu
nennen: Für dieUkraine, die im Original ungefähr hundertvierzig Seiten einnimmt, habe ich
dieaufeinanderfolgenden Massaker so zerlegt, dass jedes Massaker anders angelegtist. Das
erste ist dasmisslungene Massaker, das noch amateurhaft durchgeführt wird; dann folgt der
Exekutionstourismus, der Voyeurismus,dann das große Massaker, Baby Yar, und schließlich
der Zyklus derHinrichtungen durch den Strang. Das alles ist thematisch gegliedert. Für den
Kaukasus habe ich dieTat-Episode gewählt, zunächst, weil sie kaum bekannt ist - obwohl es
problematisch war,denn es fehlte an historischem Material, und ich musste die Lücken ein
wenig füllen -, aberauch, weil es sich um ein faszinierendes Beispiel für den
Entscheidungsprozessals solchen handelt, der hier - ein Mal - nicht zur Ausrottung der
betroffenen Judenführt, sondern ganz im Gegenteil dazu, dass sie beschützt werden. Es
handelt sich um einGegenbeispiel.
Ich habe das allesalso anhand von möglichst gegensätzlichen Beispielen konstruiert, um zu
zeigen, wie dieEntscheidungen getroffen werden, die zur Ausrottung führen oder nicht.
Dieses »nicht« istwichtig, weil es sich um eine Ausnahme handelt, aber um eine Ausnahme,
die die Regelbestätigt.
Doch das alles warpraktisch die letzte Schicht der vorbereitenden Arbeiten. Und dann stand
diese - fast schonorganisierte - Masse von Materialien. Und nachher kam noch das
Schreiben, das etwasvöllig anderes ist.
P.N. - Nun denn. Alles ganzeinfach
P.N. - Lassen Sie uns nochtiefer in das Buch eindringen. Mir scheint, es gibt in seiner
Rezeption, wie Sieschon angedeutet haben, ein grundlegendes Missverständnis, das Teil
der Polemik und desSkandals ist, die sein Erscheinen begleitet haben; es rührt daher,
dass Sie sehr heiklehistorische Probleme berühren. Sie behandeln sie mit einem
derartigendokumentarischen Wissen, dass die Historiker sich berechtigt fühlen, Ihnen
diesen oder jenenIrrtum, diese oder jene Verwechslung vorzuwerfen. Vor allem wird
das Buch letztlich alshistorischer Roman aufgefasst, was es selbstverständlich nicht ist.
Sie werden zugeben,dass es ungewöhnlich und verwirrend ist, wenn in einem Roman
zwei sogegensätzliche, jeweils bis zum Äußersten getriebene Ströme vereint sind:
einerseits eineintensive, oft halluzinatorische Beziehung zur Geschichte, einer für sich
selbst so brennendenund so genau dokumentierten Geschichte - eine verinnerlichte
Dokumentation, derSie, ich möchte fast sagen, innewohnen; andererseits ein so
explosiver,vorwärtstreibender Trieb aus Fiktion und Wahn, eine verstörende Mischung
von Hyperrealismus undaus dem Unbewussten hochkommenden Elementen - das
Ganze nach einemmythologisch fundierten Lektüreraster. Wirklich Gründe genug, um
nicht zu wissen, wieman die Sache angehen soll.
Nehmen wir zunächst denBezug zur Geschichte. Man kann nur verblüfft sein - nicht
nur darüber, wie Siedie Dokumente verwenden, sondern mehr noch über Ihre Kunst,
ihnen Lebeneinzuflößen. Die Dokumentation wird von innen her wiedererlebt, jeder
einzelne Ort, jedeeinzelne Situation, jede einzelne Person erfährt gleichsam eine intime
Prägung. Dieser Umgangmit der Geschichte ist für mich erstaunlich.
Doch auch in dem, wassich als Erinnerung, als Gedächtnis darbietet, findet sich ein
sehr seltsamesVerhältnis zur Geschichte. Sie stellen die Erinnerungen einer Person dar,
die selbst dieGeschichte in sich aufgenommen hat, die über ihre Erfahrung geschrieben
wurde. Die Historikerhaben meiner Meinung nach seltsamerweise manchmal
engstirnigkorporatistischreagiert - selbst von ihrem Standpunkt aus gesehen; denn sie
haben nicht gemerkt,dass Ihre Fähigkeit, der Wirklichkeit gerecht zu werden, den
ihnen zur Verfügungstehenden dokumentarischen Methoden überlegen war. Die Art,
wie Sie zum BeispielBaby Yar erzählen, ist allem überlegen, was die Historiker dazu
gesagt haben.
Sie sind ganzoffensichtlich mit der Dokumentation, die die Täter und die Überlebenden
hinterlassen oder dieHistoriker erarbeitet haben, sehr vertraut. Die Historiker haben
ein Urteil über Siegefällt; wie reagieren Sie nun Ihrerseits auf die Arbeiten der
Historiker? DanielGoldhagen ist zum Beispiel stark kritisiert worden. Ich war
überrascht, dass dieThese, die aus Ihrem Buch folgt, eher in seine Richtung zu weisen
und ihn zu bestätigenscheint. Nämlich dass der Antisemitismus in Deutschland tief
verwurzelt und weitverbreitet und die Ausrottung ein offenes Geheimnis und eine
Operation war, an derviel mehr Menschen als nur die direkt Ausführenden beteiligt
waren, und vor allem,dass der Übergang vom allgemein herrschenden Antisemitismus
zur Ausrottung quasiautomatisch verlief.
J.L. - Nach meinerAuffassung ist Goldhagens These viel weniger nuanciert: Er behauptet
(das ist seineAusgangsthese, und um sie zu »beweisen«, wählt er die Dokumente aus), dass
die Deutschen dieJuden ermordet haben, weil sie Antisemiten waren - sozusagen alle; sie
hassten die Juden,also haben sie sie ermordet, und alle waren völlig damit einverstanden.
Goldhagen versteht denAntisemitismus als grundlegende und einzige Triebkraft der
Ausrottung. Und damitbin ich nicht einverstanden, und zwar in diesem Fall absolut nicht.
Und wenn mein Buch aufSie den Eindruck macht, eine so grobe und simplifizierende These
zu vertreten, dannhabe ich wirklich Mist gebaut.
P.N. - Würden Sie mir das -da ich Sie missverstanden habe - erklären? Betrachten wir
das Problem, wenn Sieso wollen, von einer höheren Warte aus.
J.L. - Ich teile dieAuffassung derer, die gegen Goldhagen sind, insbesondere die Auffassung
der sogenannten »neuendeutschen Historiker«. Eine Möglichkeit, das Problem anzupacken,
bestünde darin,folgende Frage zu stellen: Welches Verhältnis besteht zwischen dem rohen
historischen Materialund der Interpretation? Verglichen mit anderen Kapiteln der
Geschichtsschreibung,beispielsweise dem der Französischen Revolution, zeichnet sich die
Historiographie derShoah durch eine Besonderheit aus, die faszinierend ist: Sie stützt sich auf
die zweifellosreichhaltigste historische Dokumentation, die es in der Geschichte der
Geschichte je gegebenhat. In den nationalsozialistischen Archiven wur- den Millionen von
Seiten an Dokumentengefunden, Millionen von Seiten an Dokumenten sind seit 1990 in
Moskau zugänglichgeworden, und dazu kommen noch Tausende von Seiten an
Zeugenberichten vonÜberlebenden jeglicher Herkunft und Tausende von Seiten an Aussagen
der Täter, Aussagen,die insbesondere während der Prozesse gemacht wurden. Die Historiker
haben dieses äußerstumfangreiche Material gesichtet und gezeigt, dass es trotz seiner Fülle
Lücken gibt. Je besserman das Ganze des vorhandenen »Korpus« im Griff hat, desto
deutlicher werden dieweißen Flecken dessen, was fehlt. Diese weißen Flecken gehen auf die
Vernichtung vonDokumenten am Ende des Krieges zurück und - das ist noch wesentlicher -
darauf, dass Hitler keineschriftliche Spur hinterlassen hat, keine Notiz, keinen Briefwechsel.
Die Schlüsselproblemeder Historiographie des Nationalsozialismus betreffen heute zwei
Punkte: dieEntscheidungsprozesse, die zur Ausrottung führten, und die Motive der Täter,der
Henker. Es istfaszinierend festzustellen, dass die Schattenzonen umso undurchdringlicher
werden, je mehrMaterial erforscht wird, je mehr man weiß. Bei den historischen Themen,die
sehr vieleSchattenzonen aufweisen, nimmt man zur Erzählung Zuflucht. Die Geschichte wird
ganz einfach zu einerGeschichte, je nach Orientierung unterschiedlich erzählt. Die
FranzösischeRevolution, die Simon Schama erzählt, hat mit der von Michelet erzählten
FranzösischenRevolution nicht viel zu tun. Man verfügt über ein mehr oder weniger
gemeinsames Material,über das Einverständnis herrscht, und dann interpretiert man es und
macht daraus eineGeschichte. Es handelt sich um eine Erzählung, ein Erzählen, das auf
Fakten beruht und dasden Gesetzen der Historiographie gehorcht, und um eine Interpretation,
die der Historiker jenach Ausrichtung und Epoche liefert. Sie haben wie ich Marrou gelesen.
Er legt sehr gut dar,wie man, ausgehend von Dokumenten, methodisch richtig eine plausible
Geschichte schreibt,die man in dem Sinn »wahr« nennen kann, in dem die
Geschichtswissenschaftdieses Wort versteht. Doch es handelt sich bloß um einen bestimmten
Blick, denn jedeHistorikergeneration bringt neue Blicke mit sich. Aus diesem Grund erneuert
sich dieHistoriographie ständig; man bezieht neue Blicke ein, neue Lektüren der Welt -
sowie Quellen, die vonden früheren Generationen nicht als solche angesehen wurden. In der
Geschichte der Bauerndes Languedoc im Mittelalter hat man zum Beispiel von einem
bestimmten Zeitpunktan Gegebenheiten berücksichtigt, die mit der Ökologie zu tun haben,
während früher niemandauf diesen Gedanken gekommen war.
Was denNationalsozialismus angeht, so gibt es seit der Öffnung der sowjetischenArchive
vor etwa fünfzehnJahren keinen massiven Fortschritt in der Dokumentation mehr, wenn auch
ständig neue Dokumentegefunden werden. Dabei träumt alle Welt weiter von einem smoking
gun, wie es auf Englischheißt, von einem Dokument, das alles grundlegend verändern würde.
Nun, ich glaube nichtdaran. Hilberg selbst hat sehr deutlich erklärt, er glaube nicht daran,
dass man ein Dokumentfinden wird, das alles verändern könnte; man habe so ziemlich alles
gesichtet. Wir werdenes also weiterhin mit einem hohen Anteil an Schattenzonen zu tun
haben. Und in derHistoriographie der Shoah finden wir die finstersten und entsetzlichsten
Schattenzonen. Dasführt zu Auseinandersetzungen.
Das historischeMaterial lässt sich in primäres, sekundäres und tertiäres Material gliedern.
Natürlich ist esunumgänglich, dass man mit den beiden ersten umgehen kann, doch wirklich
interessant für denNicht-Spezialisten ist das tertiäre, die interpretatorische Arbeit. Das
primäre Material sinddie Quellen (Prozessakten, Memoiren, Briefe, Verwaltungsakten usw.),
die die Handelndenhinterlassen haben. In das sekundäre Material lassen sich die
Monographieneinordnen, die sehr präzise Themen behandeln wie, sagen wir, die Geschichte
der Gestapo im östlichen Galizien,der ESG D, der Gruppe der Kommandantender
Konzentrationslager.Die dritte Ebene, die der Interpretationen und der Synthesen, versucht,
die Leitlinien zufinden, nach denen sich das Ganze denken und zusammenfügen lässt.
Da die Schattenzoneninnerhalb des primären Materials über die Shoah undurchdringlich
bleiben, nehmen dievon den Interpretationen ausgelösten Kontroversen beträchtlichen Raum
ein und werdenziemlich scharf ausgetragen. Wenn man sie aus der Distanz beobachtet,
erscheint esoffenkundig, dass sie voll und ganz in der Position der beteiligten Personen
begründet liegen. Esist kein Zufall, dass die jüdische Gemeinschaft im Streit um Goldhagen
sein Buch starkverteidigt hat. Es handelt sich um die eigene oder die von den Eltern
gemachte Erfahrung -in der Form der Erinnerung. Es steckt ihnen in den Knochen: »Sie
wollten uns alletöten, weil sie uns alle töten wollten, weil sie uns hassten.« Objektivere
Historiker wieHilberg, Browning oder die deutschen Historiker sagen: »Es ist komplizierter.«
Ebenso ist das, wasman den »Funktionalismus« nennt, aus Lektüremustern entstanden, die
der Strukturalismusund der Marxismus in den sechziger Jahren ermöglicht haben; und wenn
es zu Anfang ebenfallsEntgleisungen in diesem Sinne gab - manche gingen so weit zu
behaupten, Hitler habemit der Vernichtung der Juden wenig zu tun gehabt -, so handelte es
sich gewissermaßen umeine Reaktion auf die vorausgegangenen Thesen, um ein
unumgänglichesDurchgangsstadium auf dem Weg zu einer nuancenreicheren Synthese. Und
dann wurden Anfang derneunziger Jahre die sowjetischen Archive geöffnet.
Plötzlich hatte manZugang zu äußerst reichhaltigem neuen Material. Es gestattete, auf der
sekundären EbeneForschungen zu bisher weitgehend unbekannten Gebieten oder zu
besonderen Berufen wieder Ärzteschaft durchzuführen und sich dabei von der Schablone
»verrückter Lagerarzt«freizumachen; so konnte nun zum Beispiel das Wirken der Ärzte bei
der Errichtung derpolnischen Ghettos von der Seite des Gesundheitswesens aus betrachtet
werden. Man hatte dieRolle der im Gesundheitswesen Tätigen innerhalb der
Entscheidungsprozesse,die zur Errichtung der Ghettos führten, nie untersucht.
Dank des Beitrags alldieser Forschungen der letzten fünfzehn Jahre hat sich die Debatte stark
verdichtet. Man istbei einer kritischen Masse angelangt, die es endlich erlaubt, die richtigen
Fragen zu stellen. Siewerden jetzt dermaßen richtig gestellt, alles spitzt sich dermaßen zu,
und dermaßen vieleDinge stehen auf dem Spiel, dass man bei Goldhagen landet, der für mich
die reine Reaktionist, die Rückkehr zur Standard-Erzählung (»Sie haben die Juden ermordet,
weil sie die Judenhassten«). Auch psychologische und politische Gründe erklären diese
Reaktion, die von denSpezialisten, insbesondere den deutschen Historikern, die kollektiv
über die»nationalsozialistischen Vernichtungspolitiken« forschen, weitgehend in Frage
gestellt wird. Auchich ziehe es vor, eher von »nationalsozialistischen Vernichtungspolitiken«
zu sprechen als zumBeispiel von Shoah oder Holocaust - Begriffe, die ihr Objekt schon
dadurch, dass man siebenutzt, definieren. Diese Historiker haben gewissermaßen das
Forschungsobjekt neuund genauer definiert, einfach dadurch, dass sie ihm einen neuen
Namen gaben und vonden theologischen Kategorien befreiten, um es den sozialen und
politischen Prozessender Moderne zuzuordnen. Sie haben, wie in den Vereinigten Staaten die
Forscher ChristopherBrowning und Omer Bartov, gezeigt und bewiesen, dass die
Nationalsozialisten inAbhängigkeit von Problemkategorien und Problemlösungen dachten
und argumentierten -Lösungen, die den Massenmord mit einschlossen.
Bleibt eine letzteFrage, die entscheidende: Warum die Juden, warum dieses monströse
Privileg, das denJuden innerhalb der Problemkategorien eingeräumt wurde? Was mich
angeht, so habe ich inder Hitler-Biographie von Ian Kershaw eine Antwort gefunden, die für
mich zurzeit - imVergleich zu allem, was bisher geschrieben wurde - die vollkommenste
Synthese ist. Kershawbeschreibt das nationalsozialistische System als eine Bürokratie, die
von einemcharismatischen Führer magnetisiert wird. Jeder ist bei seiner Arbeit auf den
Führer ausgerichtetund behauptet sich im internen bürokratischen Konkurrenzkampf
entsprechend demWillen des Führers. Aufgrund dieser Funktionsweise, dieser Art von
Gesellschaft unddieser politischen Montage bekommen die Delirien Adolf Hitlers, seine
bugs, und vor allem seinganz persönliches, spezifisches Problem mit den Juden eine immense
Bedeutung. Dasjüdische Problem hat nur deshalb für alle Priorität, weil es für den Führer
Priorität hat.
Die Juden und dieSowjets sind für Hitler das Einzige, was zählt. Man kann das leicht an
Gegenbeispielenzeigen. Innerhalb der Problemkategorien gibt es zwei sehr gute
Gegenbeispiele: dieHomosexuellen und die Zigeuner. Sie werden in den bürokratischen
Apparaten ebenfallszum Thema umfassender Debatten: Was soll man mit ihnen machen?
Soll man sie inSammellager einliefern? Sie einsperren? Sie töten? Da die Zigeuner und die
Homosexuellen AdolfHitler völlig egal sind, gibt es weder eine gemeinsame Ausrichtung der
bürokratischenApparate noch irgendeine kollektive und einvernehmliche Lösung. Es gibt nur
Ad-hoc-Lösungen, dieein Ergebnis der Konflikte zwischen den jeweiligen bürokratischen
Apparaten sind,entsprechend ihren jeweiligen Logiken.
Himmler selbst war vonden Homosexuellen wie besessen. Das war seine Obsession, wie die
Juden für Hitler. Erwollte sie alle töten oder wenigstens in Konzentrationslager stecken. Er
stieß (bis 1943) aufdie Weigerung des Justizministeriums, das ihm antwortete: »Wir haben
ein einschlägigesGesetz; Männer, die homosexuellen Praktiken nachgehen, kommen ins
Gefängnis, nicht inein Lager.« Es handelt sich um eine rein bürokratische Logik: »Sie
gehören uns, nichtIhnen, wir geben sie Ihnen nicht.« Dieselbe Antwort von Seiten der
Wehrmacht, die ihreHomosexuellen in den Bau steckt, sie jedoch nicht an Himmler
ausliefert.
Es wird also niemalseine systematische Ausrottung der Homosexuellen geben, weil die
bürokratischenApparate gegeneinander operieren. Da sie Hitler egal sind, gibt er keinerlei
Richtung an. Und wennHitler keine Richtung angibt, geht nichts voran. Das Gleiche lässt
sich für die Zigeuneraufzeigen.
Was die Juden angeht,so spalten sich alle bürokratischen Apparate - da Hitler von der
jüdischen Fragebesessen ist - rasch in zwei Lager: in das Lager derer, die bei der Lösung des
Problems »konstruktiv«vorgehen, und das Lager derer, die gar nicht vorgehen. Diejenigen,
die gar nichtvorgehen, werden kaltgestellt. Das Ganze führt, um mit den Historikern zu
sprechen, zu einer»kumulativen Radikalisierung« aller betroffenen Instanzen, und zwar nicht
etwa, weil dieHandelnden selbst fanatische Antisemiten wären - es gibt solche, aber es gibt
auch viele, die esnicht sind -, sondern weil jede bürokratische Instanz im Verhältnis zum
Führer an der Spitzeder Lösung dieses Problems stehen will.
Das ist meineInterpretation. Man kann darüber diskutieren, aber es ist die Folgerung, dieich
aus meiner Lektüregezogen habe. Um auf Ihre Frage zu meinem Verhältnis zur Geschichte
zurückzukommen: Fürmich sind Fragestellungen dieser Art interessant.
© BerlinVerlag
- Autor: Jonathan Littell
- 2008, 1383 Seiten, Maße: 15,2 x 21,9 cm, Leinen, Deutsch
- Übersetzer: Hainer Kober
- Verlag: BERLIN VERLAG
- ISBN-10: 3827007380
- ISBN-13: 9783827007384
- Erscheinungsdatum: 20.02.2008
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