Die Wünsche meiner Schwestern
Roman
Der Tod ihrer Tante zwingt die Schwestern Aubrey, Bitty und Meggie, sich mit dem Vermächtnis ihrer Familie auseinanderzusetzen: Sie erfüllen den Menschen ihre sehnlichsten Wünsche, indem sie sie in Wolle verweben. Doch Wünsche haben ihren Preis.
Leider schon ausverkauft
Buch
2.99 €
Produktdetails
Produktinformationen zu „Die Wünsche meiner Schwestern “
Der Tod ihrer Tante zwingt die Schwestern Aubrey, Bitty und Meggie, sich mit dem Vermächtnis ihrer Familie auseinanderzusetzen: Sie erfüllen den Menschen ihre sehnlichsten Wünsche, indem sie sie in Wolle verweben. Doch Wünsche haben ihren Preis.
Klappentext zu „Die Wünsche meiner Schwestern “
Woraus ist unser Glück gestrickt? Seit langer Zeit hüten die Frauen der Van Rippers das Geheimnis ihrer Magie - und die liegt im Stricken: Sie haben die Gabe, Wünsche wahr werden zu lassen, indem sie diese mit Wolle verweben. Nur gemeinsam können die drei Schwestern Aubrey, Bitty und Meggie diese Familientradition bewahren, aber allein Aubrey ist dazu gewillt. Und auch sie beginnt zu zweifeln, als sie sich in Vic verliebt. Doch welche Wünsche machen uns glücklich, wenn sie sich erfüllen? Der Tod ihrer Tante Mariah führt die Schwestern Aubrey, Bitty und Meggie nach Jahren der Trennung wieder zusammen und zwingt sie dazu, sich mit dem Vermächtnis ihrer Familie auseinanderzusetzen. Seit mehr als zwei Jahrhunderten hüten die Frauen der Van Rippers in in der alten Strickerei das Geheimnis ihrer Magie: Sie erfüllen den Menschen von Tarrytown ihre sehnlichsten Wünsche, indem sie sie mit Wolle verweben. Während Bitty und Meggie das Haus nun verkaufen wollen, um sich ihrer eigenen Sorgen anzunehmen, möchte Aubrey die Familientradition fortführen. Ein Wunsch, der ins Wanken gerät, als sie sich zum ersten Mal verliebt - in Vic. Doch Wünsche haben ihren Preis, und manche erfordern große Opfer - wer wüsste das besser als die drei Schwestern? Eine romantische Familiensaga voller Magie.
Lese-Probe zu „Die Wünsche meiner Schwestern “
Die Wünsche Schwestern meiner Schwestern von Lisa Van Allen Aus dem Amerikanischen von Yasemin Dincer
Kapitel 1
Beginne mit dem Kreuzanschlag
Mariah Van Ripper war im Leben stets ihrem eigenen Zeitplan gefolgt und machte auch beim Sterben keine Ausnahme. An Mariahs letztem Tag auf Erden hatte ihre Nichte Aubrey, mit den Maschen eines Spitzenschals aus Mohair zwischen den Fingern, in der Strickstube ihres gemeinsamen Hauses in Tarrytown gesessen. Sie hatte nicht gemerkt, dass sie eingenickt war und ihr Geist auf träumerischen Nebenwegen wandelte, während ihre Nadeln weiter durch die Maschen tanzten, bis Mariah im Türrahmen aufgetaucht war.
»Oh, gut. Aubrey, ich wollte dir noch etwas sagen.«
Aubrey sah von ihrem Strickzeug auf. Zwischen den Türpfosten neigte sich Mariah zur Seite, wie eine breite Fahne, die in einer sanften Brise weht. Sie trug ein langes, unförmiges Baumwollkleid, das so frisch und weiß war, dass es beinahe leuchtete.
»Wieso bist du schon zurück?«, fragte Aubrey. »Ich dachte, du hast einen Termin bei Gemeinderat Halpern. Hast du irgendetwas vergessen?«
»Ja ... Ich glaube, das habe ich.«
»Ganz gleich, was es auch war, ich hätte es dir doch gebracht, wenn du mich angerufen hättest«, sagte Aubrey leicht tadelnd. »Was brauchst du?«
Mariah antwortete nicht. Ihre Augen waren weit geöffnet, ihr Blick war verwirrt wie der eines schläfrigen Kindes. Sie murmelte etwas mit halbgeöffneten Lippen.
»Mariah?« Aubrey unterbrach ihr Stricken am Ende einer Reihe und ließ die Hände sinken. Der Schal lag, von der Sonne beschienen, zerknittert und gelb wie Herbstlaub, auf ihrem Schoß. »Was ist los? Was fehlt dir?«
... mehr
»Da ist etwas, das ich dir sagen wollte ...«
»Na, dann schieß los.«
»Etwas ...«
»Hey. Alles in Ordnung?«
Aubrey sah, wie die Pupillen ihrer Tante zu kleinen schwarzen Punkten zusammenschrumpften. Ihre Augen schienen sich auf etwas zu richten, das Aubrey nicht sehen konnte, vielleicht auf ein in der Luft wirbelndes Staubkorn oder irgendeinen geheimen Gedanken, der so tief in Mariahs grauen Zellen verankert war, dass ihr leerer Blick abdriftete wie ein Boot von seinem Ankerplatz. Mariah war von mittlerer Größe, hatte dabei einen beachtlichen Körperumfang, und ihr langes, dünnes Haar umfloss ihre Schultern in taubengrauen Wellen. Sie war schon in ihrer Jugend keine Schönheit gewesen, hatte jedoch freundlich blickende Augen und ein wohlwollendes Lächeln, das von ausgeprägten, aber einnehmenden Falten begleitet wurde. Die von hinten auf sie fallende Sonne überzog ihr Haar und den weißen Saum ihres Kleides mit Silberglanz.
»Ach, nun ja. Ich schätze, du wirst es selbst herausfinden müssen.« Mariah seufzte leicht und trat dann aus der Strickstube und außer Sichtweite.
Aubrey legte ihr Strickzeug beiseite und lief über die breiten Holzdielen zur Zimmertür. Ihr war schwindlig, als würden all ihre Sorgen sie auf einmal überschwemmen. Mariahs gesundheitlicher Zustand hatte sich in den letzten Jahren verschlechtert, und Aubrey fürchtete, ihre Tante könnte einen Schlaganfall erlitten haben. Die Ärzte hatten sie davor gewarnt. Aubrey spähte hinter den Türpfosten, doch Mariah war verschwunden, und kein einziges Geräusch verriet die Richtung, in die sie gegangen war.
Das gibt's doch gar nicht, dachte Aubrey.
Trotzdem rief sie die Treppe hinauf: »Mariah?« Sie rief den Flur hinunter: »Hey, Mari?«
Beim Klingeln des Telefons zuckte sie zusammen. Ihre Nackenhaare stellten sich auf. Langsam nahm sie den Hörer ab. »Ja?«
»Aubrey Van Ripper?«, fragte sie eine fremde Stimme.
In diesem Augenblick wusste Aubrey, noch bevor man es ihr gesagt hatte, dass ihre Tante nicht in die Strickerei zurückgekehrt war, weil sie etwas vergessen hatte. Tatsächlich war sie überhaupt nicht in der Strickerei. Und Aubrey kam der Gedanke, wie geschmacklos es doch eigentlich sei, dass etwas so Intimes und Privates wie die Nachricht eines Todes von Fremden überbracht wurde.
Zum ersten Mal in ihrem Leben war Aubrey allein, vollkommen und endgültig und unerwartet, allein in diesem Augenblick und für immer, während ihre Nadeln auf einem Tisch in der Strickstube ruhten, ihr Ohr vom Druck des Telefonhörers heiß wurde und die Worte einer Fremden von irgendwoher auf sie eindrangen und ihr erklärten, was sich am anderen Ende der Stadt ereignet hatte.
In seinem privaten Büro in der Nähe des Gemeindezentrums von Tarrytown, verborgen hinter neokolonialistischen Säulen und flämischem Mauerwerk, schenkte sich Gemeinderat Steve Halpern aus dem kleinen Flachmann, den er für Notfälle in der untersten Schreibtischschublade aufbewahrte, ein Glas ein. Der Krankenwagen war gerade erst abgefahren, nachdem die Sanitäter Mariah Van Rippers Körper aus seinem Büro getragen hatten. Er lehnte sich in seinem zigarrenbraunen Stuhl zurück, der unter seinem Gewicht aufjaulte.
»Weißt du, kein Mensch will, dass so etwas geschieht«, sagte er.
Jackie Halpern, die sich um seine Wahlkampagnen, seine Buchhaltung, seine Sockenschublade und seine Blutdruckmedikamente kümmerte, lächelte. »Natürlich nicht.«
»Aber wenn es nun einmal passieren musste ...«
»Sag es nicht«, bat sie ihn. »Ich weiß.«
Langsam, wie ein schwacher Dunst, der sich gemächlich durch Tarrytowns freundliche Vorstadtstraßen schlängelte, verbreiteten sich Gerüchte über Mariah Van Rippers Tod unter den Menschen, die sie kannten, und unter denen, die sie nicht kannten, bis daraus ein undurchdringlicher Nebel schlechter Neuigkeiten, so dicht wie Rohwolle, geworden war, der zum Fluss hinunterwaberte, hinein in das marode Viertel, das Mariahs Heimat gewesen war. Die Hunde in Tappan Square, räudige Rottweiler und Pitbulls, die sonst durch die geschlossenen Fenster bellten, verstummten plötzlich und gaben keinen Laut von sich, wenn jemand an ihrem Haus vorbeikam. Der verrostete alte Wetterhahn auf dem Turm der Strickerei drehte sich dreimal gegen den Uhrzeigersinn um sich selbst, bis er, nach Osten weisend, zum Stehen kam, und wenn einer der Bewohner von Tappan Square es gesehen hätte, wäre ihm sofort klar gewesen, dass dies kein gutes Zeichen war.
Tappan Square war alles andere als Tarrytowns bestgehütetes Geheimnis. Der Stadtteil war nicht Teil der weitverbreiteten, allgemein anerkannten Sagen dieser Gegend. Wenn Besucher sich von ihren Navigationsgeräten nach Tarrytown und in die Nachbarstadt Sleepy Hollow führen ließen, übergingen sie Tappan Square stets. Stattdessen strömten sie nach Sunnyside, zu dem unter Efeu erstickenden Cottage, in dem Washington Irving einst lebte und starb und vom Galoppierenden Reiter und von Ichabod Crane träumte. Sie strichen fröhlich um den Fuß der zinnenbewehrten gotischen Burg Lyndhurst, die düster und gebieterisch über den Hudson River hinwegblickte, und zeigten sich gegenseitig Wahrzeichen aus Vampirhorrorfilmen in ihren dämmrigen, feierlichen Hallen. Sie stapften zwischen den mit Flechten überzogenen Statuen der Old Dutch Church entlang und wanderten, mit Kameras und festem Schuhwerk versehen, vorbei an Grabsteinen mit Familiennamen wie Beekman, Carnegie, Rockefeller und Sloat. Sie waren auf der Suche nach dem, was jeder an den Ufern des Hudson River suchte: Verzauberung. Ein Fünkchen der guten, alten Magie. Und dennoch machten sich Fremde selten auf den Weg in die Nachbarschaft von Tappan Square, wo aus den Fenstern rostiger Schrottkarren laute Salsabeats dröhnten, wo illegale Kabeldrähte von Fenster zu Fenster gespannt waren und wo in jenem Haus, das seit Ewigkeiten von der Van-Ripper-Familie bewohnt wurde, eben diese Magie oder zumindest ein Anflug davon beheimatet war.
Die Strickerei, wie sie von ihren Nachbarn und irgendwann auch von ihren Bewohnern genannt wurde, hatte schon immer den Van Rippers gehört. Für die Anwohner war sie ein Kuriosum wie der Augapfel eines Wals in einem Einweckglas mit Formaldehyd, ein ausgestopftes Fohlen mit staubbedeckten Wachsaugen - ein Ding, dem man hätte erlauben sollen, zu zerfallen, nachdem das Leben aus ihm entwichen war, das jedoch künstlich bewahrt wurde. Das Haus mit seinem über die Jahrhunderte zusammengeschusterten architektonischen Mischmasch - seinem zurückhaltenden georgianischen Kern, seinem feurigen Mansardendach, seinem mit Fischschuppenziegeln bedeckten Turm, gekrönt von einem Hexenhutdach - wirkte nicht gerade einladend. Die jüngste Generation der Van Rippers, zuletzt angeführt von Mariah, hielt nichts von Renovierungen. Sie überstrichen nicht die Tapete mit dem scheußlichen Kohlrosenmuster im Wohnzimmer, reparierten das verschnörkelte schwarze Tor vor dem Haus nicht, das seit dem großen Schneesturm von 1888 windschief in den Angeln hing, und tauschten auch nicht das Schild mit der Aufschrift STRICKEREI am Hauseingang aus, obwohl es kaum noch zu entziffern war. Tatsächlich protestierten sie heftig gegen solche Veränderungen und »unnötigen« Verbesserungen, die sie als Beleidigung der Geschichte ansahen. Mariah Van Ripper soll buchstäblich geweint haben, als das Innenleben einer der großen alten Toiletten der Strickerei entkernt werden musste und sich keine baugleichen Ersatzteile für das alte Verdauungssystem finden ließen.
Und weil Mariah zu viel Respekt vor ihren Ahnen zeigte, als dass sie einen lächerlichen Fensterladen repariert oder einen Geländerpfosten befestigt hätte, wurde die Strickerei mit der Zeit erst altmodisch, dann unansehnlich, bis sie schließlich der Schandfleck einer Nachbarschaft war, die ohnehin schon das Auge beleidigte. Wie Schneeflocken legte sich die Vergangenheit über alles, und Mariah hatte es stets zugelassen, so wie man zuließ, dass die Sonne morgens auf- und abends unterging. Natürlich passte ihre Philosophie bestens zu ihrer Abneigung gegenüber Hausarbeit und ihrem Widerwillen, das wenige Geld, das die Van Rippers verdienten, für etwas so Frivoles wie eine neue Türklingel auszugeben. Doch was auch immer die Motivation sein mochte, das Ergebnis war, dass die Strickerei - von einigen als Herz von Tappan Square angesehen, von anderen als dessen Tumor - hässlich, verwahrlost und verfallen war.
Als die Neuigkeit von Mariahs Tod ihre Tentakel in die Nachbarschaft ausgestreckt hatte, versammelten sich nach und nach ein paar der Bewohner Tarrytowns, die das Schicksal aus allen Ecken der Welt hierher verschlagen hatte, vor der Strickerei. Die Gläubigen unter ihnen bekreuzigten sich und beteten, nicht ganz uneigennützig, Mariahs Seele möge emporgehoben und rasch an ihrem endgültigen Landeplatz deponiert werden, damit sie bloß nicht gemeinsam mit den höflicheren Geistern von Sleepy Hollow und Tarrytown auf der Erde umherstreifte. Frauen, die der Familie Van Ripper freundlich gesinnt waren, stellten bunte Kerzen in hohen Gläsern auf den Bürgersteig und steckten Nelken in das verbogene Tor des Gebäudes. Sie brauchten keine gemeinsame Sprache, um dieselbe Sorge zu teilen: Was würde mit der Strickerei geschehen? Und schlimmer noch: Was würde nach Mariahs Tod mit ihnen allen geschehen?
Die Van Rippers waren in den Augen der einen Scharlatane, in denen der anderen waren sie Retter. Gauner oder Engel. Heilige oder Diebe. Doch selbst wenn an all dem Gerede über die Strickerei nichts dran war, wenn das einzig Merkwürdige an der Strickerei das war, was man sich über sie erzählte, hatte auch dies die vielen Generationen von Frauen in Tarrytown nicht davon abgehalten, sich in ihrer Verzweiflung zur Türschwelle der Van Rippers zu schleppen und um Hilfe zu bitten. Mach mir einen Pullover, mach mir Fäustlinge, mach mein Baby gesund, mach, dass mein Mann mich wieder liebt.
Es hieß, die Magie der Van Rippers liege im Stricken.
Sofern es überhaupt Magie war.
Kapitel 2
Mach einen Knoten
Es gab nur eine Handvoll Orte in Tarrytown, an denen Aubrey Van Ripper mit relativer Regelmäßigkeit erschien: den Lebensmittelladen, die Bibliothek, die Zoohandlung, den Sushi-Imbiss und manchmal - an klaren, kühlen Abenden - den Park. Als sie an Mariahs Todestag im Krankenhaus auftauchte, blickten ihr die Einwohner von Tarrytown daher halb ängstlich, halb fasziniert hinterher. Sie trug die klobigen weißen Gesundheitsschuhe einer älteren Dame, obwohl sie erst achtundzwanzig war, eine grauenvolle, mit vielen winzigen Vergissmeinnichtblüten bedruckte Polyesterbluse und dicke, dunkle Brillengläser in einem Plastikgestell. Ihr blondes Haar fiel ihr bis auf die Schultern und hätte schön sein können, wäre es nicht kraus und verknotet gewesen.
Was Aubrey betraf, war sie lange nicht so interessiert am Krankenhaus wie dessen Personal an ihr. Ihrer Vorstellung nach sollte das Krankenhaus ein lebhafter, hektischer Ort im Kampf um Leben und Tod sein. Stattdessen war es öde. Gelangweilte Verwaltungsleute kauten Kaugummi und sahen sich auf dem Fernseher im Wartezimmer den Gameshow-Kanal an, der eine Wiederholung von Glücksrad ausstrahlte. Der Empfangsbereich hätte haargenau so steril und schläfrig ausgesehen, wenn nicht zufällig gerade ihre Tante gestorben wäre.
»Eine Unterschrift, bitte.« Die Frau hinter dem Empfangstresen schob ihr ein durchsichtiges lila Klemmbrett entgegen. »Wenn Sie Fragen haben, scheuen Sie sich nicht, sie zu stellen - aber bitte irgendjemand anderem.«
Aubrey fügte sich. Auf jedem einzelnen Blatt Papier standen so viele Wörter, winzige Wörter aus winzigen Buchstaben, die ineinander übergingen. Wenn sie all diese Wörter auf einem einzigen langen Faden aufziehen könnte, würde er einmal um das ganze Gebäude herumreichen. Sie könnte daraus einen Pullover stricken. Oder einen dicken schwarzen Schal.
Aus dem Augenwinkel sah Aubrey, wie zwei Krankenschwestern in einer entfernten Ecke des Raumes die Köpfe zusammensteckten und leise flüsterten. Sie trugen schlabbrige helle, mit Blumenmustern verzierte Kittel. Eine von ihnen war Katrina Van der Donck, die gern behauptete, von Adriaen Van der Donck abzustammen, dem berühmten Dokumentaristen von Sleepy Hollow aus dem siebzehnten Jahrhundert, der als Erster Slapershaven als Name für den durch das schmale Tal fließenden Nebenfluss des Hudson verzeichnete. Die andere Frau war Aubrey unbekannt. Die beiden bemühten sich, nicht in ihre Richtung zu schauen, konnten der Versuchung jedoch nicht widerstehen.
Aubrey ertrug ihre prüfenden Blicke, solange sie konnte. Ihr Geflüster kratzte an ihrem Trommelfell wie ein Hund an einer Tür. Schließlich hielt sie es nicht mehr aus. Sie blickte auf, und die beiden Frauen zuckten zusammen. Aubrey sprach, so laut sie es wagte: »Euch ist schon klar, dass ich weiß, was ihr sagt, oder?«
»O mein Gott. Sie kann also auch Gedanken lesen?«, fragte die Fremde laut genug, dass Aubrey es hören konnte. »Du hast mir nicht gesagt, dass sie Gedanken lesen kann!«
»Sie kann keine Gedanken lesen«, erwiderte Aubrey in derselben Lautstärke.
»Ach nein?« Katrina grinste. »Was denke ich gerade?« Sie verschränkte die Arme und starrte sie feindselig an.
Aubrey senkte den Blick wieder auf ihre Papiere. Sie konnte spüren, wie ihr Gesicht knallrot anlief. Unter ihren Achseln prickelte der Schweiß. Sie wusste nicht genau, weshalb Katrina Van der Donck beschlossen hatte, sie zu hassen, doch sie nahm an, dass es etwas mit der Magie zu tun hatte. Vielleicht hatte Katrina einmal für einen unwirksamen Zauber bezahlt. Aubrey verabscheute Auseinandersetzungen noch mehr als matschiges Weißbrot aus Plastiktüten, Lachkonserven in Sitcoms oder Steve Halpern.
Mariah hätte gewusst, was sie sagen sollte.
Die Strickerei und die Frauen, die sie bewohnten, waren schon immer von einer vagen Ungewissheit, von giftigen Spekulationen umgeben gewesen. Die Spur von Aubreys Vorfahren ließ sich bis zu den ersten Siedlern verfolgen, die in den Gräben der neuniederländischen Erde lebten, und je weiter sich die moderne Welt von diesen verlausten und halbverhungerten Abenteurern entfernte, desto geheimnisvoller und faszinierender erschienen sie.
Zu Aubreys Pech fanden die Tratschtanten Tarrytowns sie, die Bibliotheksassistentin, die im Lebensmittelladen Rote Bete kaufte und ein Bild ihres zahmen Igels im Geldbeutel mit sich herumtrug, nicht besonders faszinierend. Die Geschichten, die sich um die Strickerei rankten, waren rätselhaft, und Mariah war ihre seltsame, doch altehrwürdige Kennerin gewesen. Die arme Aubrey dagegen war einfach nur verschroben.
Ihr Aussehen war ihrem Ruf nicht gerade förderlich. Als nächste Hüterin der Strickerei trug sie deren Zeichen. Bei Mariah hatte sich das Zeichen recht diskret offenbart: Auch ohne Parfüm, selbst wenn das Thermometer im August auf über dreißig Grad stieg, roch Mariahs Haut intensiv nach Blütenblättern. Die Duftdrüsen, die andere Menschen wie Pferde stinken ließen, hatten Mariah buchstäblich wie eine Rose duften lassen - zugegebenermaßen wie eine billige Rose, die einen manchmal an eine Wildwesthure denken ließ, aber immerhin wie eine Rose. Tarrytowns Bewohner waren davon ausgegangen, dass Mariah bloß eine dieser alten Damen war, die ihre Sorgen in Drogerieparfüm ertränkten. Und von ein paar Ausnahmen abgesehen, mochten die Leute sie zumindest so sehr, wie man eine Van Ripper eben mögen konnte.
Doch Aubreys Zeichen - das schon früh keinen Zweifel daran gelassen hatte, dass sie die neue Hüterin der Strickerei sein würde - war weder so harmlos noch so leicht zu erklären wie Mariahs. Ihr Zeichen war anderen Menschen unangenehm. Und es ließ sich nicht verstecken. Auch wenn Aubrey beim Blick in den Spiegel nicht erkennen konnte, was an ihr nicht stimmte, hatte man ihr oft genug gesagt, was andere Leute sahen: Ihre viel zu großen Augen waren von einem so hell strahlenden Blau, dass einem davon beinahe schlecht wurde. Sie waren so blau wie das Ei einer Wanderdrossel, das man in blaue Lebensmittelfarbe getaucht und in metallicblauem Glitzerstaub gewälzt hatte. Ihre Farbe war geradezu aggressiv, und man konnte nicht lange hineinsehen, bevor man den Blick abwenden musste.
Mittlerweile vermisste Aubrey Blickkontakt in Gesprächen kaum mehr, als ein Erwachsener einen halbvergessenen Kindheitsfreund entbehrte. Mit einer Ausnahme. Er hieß Vic, und sie wünschte sich, ihm einmal, ein einziges Mal nur, direkt in die Augen blicken zu können.
Eine Hand legte sich auf ihre Schulter. Sie drehte sich um und sah Jeanette Judge vor sich stehen, die direkt von ihrer Schicht in der Bibliothek kam und noch leicht nach alten Büchern roch. Jeanette sah sie aus ihren feuchten schwarzen Augen, die ihre Gefühle nie verbargen, tief besorgt an.
»Ich habe es gerade gehört. Wie geht es dir?«
»Eigentlich ganz gut.«
»Lüg mich nicht an, Aubrey Van Ripper«, schimpfte Jeanette. Sie trug den grauen Poncho, den Aubrey ihr vor einigen Jahren gestrickt hatte, als Jeanette sich bemühte, einen Kredit für ihr neues Auto zu bekommen, und wie sie nun vor ihr stand, mit den in die Hüfte gestemmten schwarzen Händen und Unterarmen, die unter grauen Wollfransen hervorschauten, erinnerte sie Aubrey ein bisschen an einen grauen Ritter mit einem diamantförmigen Schild. »Komm her.« Jeanette schlang ihre kräftigen Arme um sie, und Aubrey überließ sich dem warmen, festen Griff ihrer Freundin und war fast verlockt, zu probieren, ob sie die Füße vom Boden abheben könnte.
»Was ist denn genau passiert?«, wollte Jeanette wissen, als sie Aubrey schließlich losließ.
»Ihrem Herzen ist die Luft ausgegangen.«
»Die Luft ausgegangen? Ein Herz ist doch kein Ersatzreifen. «
Aubrey zuckte die Achseln. Sie wollte nicht Herzanfall sagen. Ein Herz sollte keine Anfälle bekommen. Sie wollte sich erklären, doch Jeanettes Blick wurde plötzlich starr und richtete sich bedrohlich auf etwas hinter Aubreys Schulter.
»Was willst du denn, Katrina Van der Donck?«
Aubrey drehte sich leicht zur Seite und sah in Katrinas wachsamen Augen Vergnügen aufblitzen.
»Nichts Besonderes«, entgegnete Katrina.
Jeanettes Nasenflügel weiteten sich. »Du tratschst wohl gerne, hm? Na, da hab ich was für dich. Es geht um eine bestimmte, uns beiden wohlbekannte Person, die in der Strickerei aufgetaucht ist - auf der Suche nach dem Van- Ripper-Voodoo.«
»Das wagst du nicht«, sagte Katrina.
»Und ob«, meinte Jeanette. »Warum haust du nicht ab und leerst jemandem die Bettpfanne aus?«
Katrina zog die Oberlippe hoch und bleckte die Zähne. »Besser als mich um diese Scheiße hier kümmern zu müssen. « Sie zerrte ihre Freundin am Ärmel ihres Kittels davon, und die beiden verschwanden im Labyrinth der Krankenhausgänge.
»Das hättest du nicht tun müssen«, bemerkte Aubrey.
»Glaub mir, es ist mir ein Vergnügen.«
Trotz ihres Kummers kräuselten sich Aubreys Lippen zu einem Lächeln. »Van-Ripper-Voodoo?«
»Das Miststück legt sich besser nicht mit mir an«, erwiderte Jeanette.
Aubrey lachte. »Mir gefällt deine Wortwahl, wenn du wütend bist.«
»Meine alten Collegeprofessoren sollen doch stolz auf mich sein können.«
Die Frau hinter dem Tresen, die Aubrey das lila Klemmbrett gereicht hatte, räusperte sich. Aubrey wendete sich seufzend wieder dem Papierkram zu. Sie fragte sich, wie oft man sie noch daran würde erinnern müssen, dass Mariah tot war, bis sie nicht mehr überrascht darüber wäre.
Vor Jahren hatte Mariah eine Hellseherin dafür bezahlt, ihr die Zukunft vorherzusagen, und die kettenrauchende alleinerziehende Mutter hatte geschworen, Mariah werde an ihrem hundertsten Geburtstag von einem Blitz erschlagen werden. Stattdessen war Mariah nun - gut zwanzig Jahre vor dem angekündigten Datum - an einem wolkenlosen Tag mitten im Gemeindezentrum tot umgefallen. Aubrey konnte es sich genau vorstellen: wie Mariah Steve Halpern wegen seines neuen Einkaufszentrums, dem Tappan Square weichen sollte, mit in die Luft gestreckter Faust und auberginefarben angelaufenem Gesicht gehörig den Kopf wusch und dann plötzlich zusammenbrach, um nie wieder aufzustehen. Hätte es doch nur einen Vorhang zum Zuziehen gegeben, ein Publikum, das Rosen warf und Bravo! rief - es wäre ein passenderes Ende gewesen. Aubrey setzte ihren Namen neben ein weiteres X.
»Sind wir denn sicher, dass es keine Fremdeinwirkung gab?«, fragte Jeanette.
»Natürlich.«
»Ich meine ja nur. Der Typ hat vielleicht keine Waffe gehabt, aber umgebracht hat er sie dennoch.«
»Steve Halpern ist ein Mistkerl, aber kein Mörder.«
»Er ist Politiker. Und er hat sie mit all dem Stress umgebracht. «
»Na ja, er - «
»Das hat er. Er hat sie umgebracht. Wegen eines gottverdammten Einkaufszentrums. Mein Gott, Mariah ist im Kampf gegen die Zerstörung ihres Zuhauses gestorben!« Riesige Tränen kullerten Jeanettes ockerbraune Wangen hinunter, und das Weiß ihrer Augen war mit Rot durchsetzt. »Ich verstehe nicht, wie du überhaupt noch hier sein kannst, Aubrey. Warum bist du nicht zu Hause? Warum vergießt du keine Tränen über einer Tasse Pfefferminztee? Wir sprechen hier von Mariah. Der Frau, die dich großgezogen hat. Der einzigen Familie, die dir noch geblieben war - «
»Meine Schwestern - «
»Die zählen nicht. Komm schon, Aub. Willst du mir sagen, dass du gar keine Träne für sie hast? Nicht eine?«
Aubrey dachte einen Moment lang nach. Manchmal sagten Leute, die einen geliebten Menschen verloren hatten, dass sie wie benommen waren. Sie sagten Dinge wie: Es ist noch nicht richtig bei mir angekommen. Aubrey verstand ganz genau, was es bedeutete, dass ihre Tante gestorben war; und schon kam ihr alles, was sie tat und sah, weit entfernt vor. Sie sah einen Baum - etwa den knorrigen kleinen Hornstrauch vor der Highschool, den sie schon tausende Male gesehen hatte -, und auch wenn es derselbe Baum war wie immer, spürte sie doch, dass etwas daran anders war. Anders, aber nicht verändert.
Es war die Strickerei, die sie bereits zu sich rief, an ihr zog wie tausend kleine Haken an ihrer Haut. Seit Aubrey dreizehn war und ihre Augen ein Blau angenommen hatten, das schlicht ein medizinisches Wunder war, wusste sie, dass sie eines Tages mit der Strickerei vermählt sein würde, so wie ihre Tante Mariah, und davor ihre Großmutter und davor ihre Urgroßmutter und davor die Schwester ihrer Ururgroßmutter und davor wer auch immer, die ganze Reihe zurück bis zu Helen Praisegod Van Ripper, die den Anfang gemacht und sie alle verdammt hatte. Aubrey war lediglich die jüngste Van Ripper, die die Strickerei zur Hüterin ihrer Geheimnisse erwählt hatte - ihr Leben war nicht mehr oder weniger wichtig als das ihrer Vorgängerinnen. Und sie hatte sich schon vor langer Zeit dazu gezwungen, ihr Schicksal am Rand der Gesellschaft zu akzeptieren - es anzunehmen. Sie lebte Tag für Tag mit dem Wissen, dass sie irgendwann in vielen Jahren, wenn sie bereit war, die Rolle ihrer Tante in der Strickerei und in der Gemeinde übernehmen würde. Die Frauen Tarrytowns würden zu ihr kommen und ihren geheimen Kummer, ihr Leid und ihre Wünsche auf Aubreys Schultern abladen, und nach einem Zauber würden sie Aubrey dann schmähen oder verehren, so wie sie auch Mariah geschmäht oder verehrt hatten, und Aubrey würde hinter den Mauern der Strickerei verwelken wie eine zwischen die Seiten eines Buches gepresste Blume.
Doch all dies hätte in ferner Zukunft geschehen sollen - nicht jetzt, nicht, solange Aubrey noch so jung war. Mariah, die alle Geheimnisse Tarrytowns mit beeindruckender Belastbarkeit geschultert hatte, war nicht mehr da, um ihr zu helfen. Und ihre Schwestern, die ihr einst so nah waren, wie es die Kerne im Gehäuse eines Apfels einander sind, waren verschwunden.
»Soll ich dich nach Hause begleiten?«, fragte Jeanette und strich ihr über den Rücken. »Wir könnten Pizza bestellen und uns im Schlafanzug Filme ansehen.«
»Ist schon in Ordnung«, meinte Aubrey.
»Ich finde einfach, du solltest jetzt nicht allein sein.«
»Danke. Aber genau das möchte ich«, erwiderte Aubrey.
Nachdem entschieden war, was mit Mariahs Leichnam geschehen sollte, und nachdem sie Jeanette ein letztes Mal umarmt hatte, schleppte sie sich zurück zur Strickerei. Sie öffnete die Tür und bemerkte, dass sie beim Verlassen des Hauses vor so vielen Stunden vergessen hatte, hinter sich abzuschließen. Sie blieb im Hauseingang stehen. Vor ihr erstreckte sich wie immer der Flur mit den braunen Schatten der Wasserflecken, den geisterhaften Umrissen längst abgehängter Bilderrahmen und der fleckigen blauen Tapete, die sich an den Rändern wellte. Rechts von ihr befand sich das Wohnzimmer, das niemand mehr benutzte. Zu ihrer Linken war die Strickstube voller Körbe und Fässer und einer Überfülle an Wolle, Strängen und Wollknäueln.
Das Haus legte sich ihr über die Schultern wie ein staubiges Sargtuch.
Sie nahm sich vor, besser nicht nachzudenken. Sie bereitete - nur für sich allein - ein aufwendiges Abendessen aus Tofu-Sushi zu, stellte dann jedoch fest, dass sie keinen Appetit hatte. Also duschte sie ausgiebig. Dann polierte sie das alte Tafelsilber. Sie putzte und schrubbte. Sie wusch sogar ihren zahmen Igel Ichabod Van Ripper im Badezimmerwaschbecken und bürstete seine braun gesprenkelten kleinen Stacheln mit einer alten Zahnbürste, während er entrüstet vor sich hin schnüffelte. Sie versuchte zu lesen. Doch sosehr sie sich auch bemühte, ihre Hände beschäftigt zu halten, fingen ihre Finger wie von selbst an, sich zu bewegen, die Luft zu stricken.
Aubrey schlurfte in ihren Pantoffeln, die sich zu schwer zum Anheben anfühlten, den Flur entlang. Ich werde nicht lange fort sein, hatte Mariah gesagt, und ihr Schlafzimmer schien sie jeden Moment zurückzuerwarten. Die sensationelle Dahlientapete. Die altmodischen Postkarten, die im dicken Rahmen des Spiegels steckten. Der Tod war nicht als finsterer Schatten erschienen, als schwerfällige, grüblerische Angelegenheit. Der Sensenmann hatte Mariah so leicht und gedankenverloren geholt, als hätte er nur eben die Hand erhoben, um eine Mücke totzuschlagen.
Aubrey setzte sich auf Mariahs Bett, vor Kummer gebeugt, doch ohne eine Träne zu vergießen. Auf dem Nachttisch lag Mariahs letztes Projekt, eine vielfarbige Norwegerstrickmütze, noch genau so, wie Mariah sie zurückgelassen hatte, im festen Glauben, dass sie die Arbeit daran bald wiederaufnehmen würde. Aus den winzigen, gleichmäßigen Maschen tauchte das Muster aus dunklem Orange, Marineblau und Buttermilchweiß gerade erst auf. Die Mütze war kein Zauber, das wusste Aubrey. Bloß ein Zeitvertreib. Sie griff nach der angefangenen Arbeit, die im Moment noch mehr Ähnlichkeit mit einer schlaffen Frisbeescheibe ohne Mitte hatte als mit einer Mütze, und legte sie sich auf den Schoß. Wie oft hatte sie im Lauf ihres Lebens ihre Tante, mehr zu sich selbst, sagen hören: »Wo ist nur meine Schere geblieben?« Wie oft hatte sie gesehen, wie ihre Tante lose Fäden in die fertigen Arbeiten hineinsteckte, Anfänge und Enden verbarg?
Ohne Mariah und ohne ihre Schwestern lag Aubreys Zukunft in der Strickerei so lang und trostlos vor ihr wie ein winterlicher Schatten.
Sie dachte: Mari ... Ich bin noch nicht bereit.
Wenn es tatsächlich Schicksalsgöttinnen gab, diese vorzeitlichen Schwestern, die das Leben der Menschen mit Schnur und Faden ausmaßen, dann waren sie Aubrey dank des tief in ihrer DNA verankerten Wissens wohlvertraut: Frauen, die färbten und spannen, Frauen, die Fasern mit prüfendem Blick durch die Finger gleiten ließen, Frauen, die abschätzten und abschnitten, Dinge besprachen, ihre Scheren niederlegten und dann - nur für einen Moment - vergaßen, wo.
Copyright © 2013 Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin.
»Da ist etwas, das ich dir sagen wollte ...«
»Na, dann schieß los.«
»Etwas ...«
»Hey. Alles in Ordnung?«
Aubrey sah, wie die Pupillen ihrer Tante zu kleinen schwarzen Punkten zusammenschrumpften. Ihre Augen schienen sich auf etwas zu richten, das Aubrey nicht sehen konnte, vielleicht auf ein in der Luft wirbelndes Staubkorn oder irgendeinen geheimen Gedanken, der so tief in Mariahs grauen Zellen verankert war, dass ihr leerer Blick abdriftete wie ein Boot von seinem Ankerplatz. Mariah war von mittlerer Größe, hatte dabei einen beachtlichen Körperumfang, und ihr langes, dünnes Haar umfloss ihre Schultern in taubengrauen Wellen. Sie war schon in ihrer Jugend keine Schönheit gewesen, hatte jedoch freundlich blickende Augen und ein wohlwollendes Lächeln, das von ausgeprägten, aber einnehmenden Falten begleitet wurde. Die von hinten auf sie fallende Sonne überzog ihr Haar und den weißen Saum ihres Kleides mit Silberglanz.
»Ach, nun ja. Ich schätze, du wirst es selbst herausfinden müssen.« Mariah seufzte leicht und trat dann aus der Strickstube und außer Sichtweite.
Aubrey legte ihr Strickzeug beiseite und lief über die breiten Holzdielen zur Zimmertür. Ihr war schwindlig, als würden all ihre Sorgen sie auf einmal überschwemmen. Mariahs gesundheitlicher Zustand hatte sich in den letzten Jahren verschlechtert, und Aubrey fürchtete, ihre Tante könnte einen Schlaganfall erlitten haben. Die Ärzte hatten sie davor gewarnt. Aubrey spähte hinter den Türpfosten, doch Mariah war verschwunden, und kein einziges Geräusch verriet die Richtung, in die sie gegangen war.
Das gibt's doch gar nicht, dachte Aubrey.
Trotzdem rief sie die Treppe hinauf: »Mariah?« Sie rief den Flur hinunter: »Hey, Mari?«
Beim Klingeln des Telefons zuckte sie zusammen. Ihre Nackenhaare stellten sich auf. Langsam nahm sie den Hörer ab. »Ja?«
»Aubrey Van Ripper?«, fragte sie eine fremde Stimme.
In diesem Augenblick wusste Aubrey, noch bevor man es ihr gesagt hatte, dass ihre Tante nicht in die Strickerei zurückgekehrt war, weil sie etwas vergessen hatte. Tatsächlich war sie überhaupt nicht in der Strickerei. Und Aubrey kam der Gedanke, wie geschmacklos es doch eigentlich sei, dass etwas so Intimes und Privates wie die Nachricht eines Todes von Fremden überbracht wurde.
Zum ersten Mal in ihrem Leben war Aubrey allein, vollkommen und endgültig und unerwartet, allein in diesem Augenblick und für immer, während ihre Nadeln auf einem Tisch in der Strickstube ruhten, ihr Ohr vom Druck des Telefonhörers heiß wurde und die Worte einer Fremden von irgendwoher auf sie eindrangen und ihr erklärten, was sich am anderen Ende der Stadt ereignet hatte.
In seinem privaten Büro in der Nähe des Gemeindezentrums von Tarrytown, verborgen hinter neokolonialistischen Säulen und flämischem Mauerwerk, schenkte sich Gemeinderat Steve Halpern aus dem kleinen Flachmann, den er für Notfälle in der untersten Schreibtischschublade aufbewahrte, ein Glas ein. Der Krankenwagen war gerade erst abgefahren, nachdem die Sanitäter Mariah Van Rippers Körper aus seinem Büro getragen hatten. Er lehnte sich in seinem zigarrenbraunen Stuhl zurück, der unter seinem Gewicht aufjaulte.
»Weißt du, kein Mensch will, dass so etwas geschieht«, sagte er.
Jackie Halpern, die sich um seine Wahlkampagnen, seine Buchhaltung, seine Sockenschublade und seine Blutdruckmedikamente kümmerte, lächelte. »Natürlich nicht.«
»Aber wenn es nun einmal passieren musste ...«
»Sag es nicht«, bat sie ihn. »Ich weiß.«
Langsam, wie ein schwacher Dunst, der sich gemächlich durch Tarrytowns freundliche Vorstadtstraßen schlängelte, verbreiteten sich Gerüchte über Mariah Van Rippers Tod unter den Menschen, die sie kannten, und unter denen, die sie nicht kannten, bis daraus ein undurchdringlicher Nebel schlechter Neuigkeiten, so dicht wie Rohwolle, geworden war, der zum Fluss hinunterwaberte, hinein in das marode Viertel, das Mariahs Heimat gewesen war. Die Hunde in Tappan Square, räudige Rottweiler und Pitbulls, die sonst durch die geschlossenen Fenster bellten, verstummten plötzlich und gaben keinen Laut von sich, wenn jemand an ihrem Haus vorbeikam. Der verrostete alte Wetterhahn auf dem Turm der Strickerei drehte sich dreimal gegen den Uhrzeigersinn um sich selbst, bis er, nach Osten weisend, zum Stehen kam, und wenn einer der Bewohner von Tappan Square es gesehen hätte, wäre ihm sofort klar gewesen, dass dies kein gutes Zeichen war.
Tappan Square war alles andere als Tarrytowns bestgehütetes Geheimnis. Der Stadtteil war nicht Teil der weitverbreiteten, allgemein anerkannten Sagen dieser Gegend. Wenn Besucher sich von ihren Navigationsgeräten nach Tarrytown und in die Nachbarstadt Sleepy Hollow führen ließen, übergingen sie Tappan Square stets. Stattdessen strömten sie nach Sunnyside, zu dem unter Efeu erstickenden Cottage, in dem Washington Irving einst lebte und starb und vom Galoppierenden Reiter und von Ichabod Crane träumte. Sie strichen fröhlich um den Fuß der zinnenbewehrten gotischen Burg Lyndhurst, die düster und gebieterisch über den Hudson River hinwegblickte, und zeigten sich gegenseitig Wahrzeichen aus Vampirhorrorfilmen in ihren dämmrigen, feierlichen Hallen. Sie stapften zwischen den mit Flechten überzogenen Statuen der Old Dutch Church entlang und wanderten, mit Kameras und festem Schuhwerk versehen, vorbei an Grabsteinen mit Familiennamen wie Beekman, Carnegie, Rockefeller und Sloat. Sie waren auf der Suche nach dem, was jeder an den Ufern des Hudson River suchte: Verzauberung. Ein Fünkchen der guten, alten Magie. Und dennoch machten sich Fremde selten auf den Weg in die Nachbarschaft von Tappan Square, wo aus den Fenstern rostiger Schrottkarren laute Salsabeats dröhnten, wo illegale Kabeldrähte von Fenster zu Fenster gespannt waren und wo in jenem Haus, das seit Ewigkeiten von der Van-Ripper-Familie bewohnt wurde, eben diese Magie oder zumindest ein Anflug davon beheimatet war.
Die Strickerei, wie sie von ihren Nachbarn und irgendwann auch von ihren Bewohnern genannt wurde, hatte schon immer den Van Rippers gehört. Für die Anwohner war sie ein Kuriosum wie der Augapfel eines Wals in einem Einweckglas mit Formaldehyd, ein ausgestopftes Fohlen mit staubbedeckten Wachsaugen - ein Ding, dem man hätte erlauben sollen, zu zerfallen, nachdem das Leben aus ihm entwichen war, das jedoch künstlich bewahrt wurde. Das Haus mit seinem über die Jahrhunderte zusammengeschusterten architektonischen Mischmasch - seinem zurückhaltenden georgianischen Kern, seinem feurigen Mansardendach, seinem mit Fischschuppenziegeln bedeckten Turm, gekrönt von einem Hexenhutdach - wirkte nicht gerade einladend. Die jüngste Generation der Van Rippers, zuletzt angeführt von Mariah, hielt nichts von Renovierungen. Sie überstrichen nicht die Tapete mit dem scheußlichen Kohlrosenmuster im Wohnzimmer, reparierten das verschnörkelte schwarze Tor vor dem Haus nicht, das seit dem großen Schneesturm von 1888 windschief in den Angeln hing, und tauschten auch nicht das Schild mit der Aufschrift STRICKEREI am Hauseingang aus, obwohl es kaum noch zu entziffern war. Tatsächlich protestierten sie heftig gegen solche Veränderungen und »unnötigen« Verbesserungen, die sie als Beleidigung der Geschichte ansahen. Mariah Van Ripper soll buchstäblich geweint haben, als das Innenleben einer der großen alten Toiletten der Strickerei entkernt werden musste und sich keine baugleichen Ersatzteile für das alte Verdauungssystem finden ließen.
Und weil Mariah zu viel Respekt vor ihren Ahnen zeigte, als dass sie einen lächerlichen Fensterladen repariert oder einen Geländerpfosten befestigt hätte, wurde die Strickerei mit der Zeit erst altmodisch, dann unansehnlich, bis sie schließlich der Schandfleck einer Nachbarschaft war, die ohnehin schon das Auge beleidigte. Wie Schneeflocken legte sich die Vergangenheit über alles, und Mariah hatte es stets zugelassen, so wie man zuließ, dass die Sonne morgens auf- und abends unterging. Natürlich passte ihre Philosophie bestens zu ihrer Abneigung gegenüber Hausarbeit und ihrem Widerwillen, das wenige Geld, das die Van Rippers verdienten, für etwas so Frivoles wie eine neue Türklingel auszugeben. Doch was auch immer die Motivation sein mochte, das Ergebnis war, dass die Strickerei - von einigen als Herz von Tappan Square angesehen, von anderen als dessen Tumor - hässlich, verwahrlost und verfallen war.
Als die Neuigkeit von Mariahs Tod ihre Tentakel in die Nachbarschaft ausgestreckt hatte, versammelten sich nach und nach ein paar der Bewohner Tarrytowns, die das Schicksal aus allen Ecken der Welt hierher verschlagen hatte, vor der Strickerei. Die Gläubigen unter ihnen bekreuzigten sich und beteten, nicht ganz uneigennützig, Mariahs Seele möge emporgehoben und rasch an ihrem endgültigen Landeplatz deponiert werden, damit sie bloß nicht gemeinsam mit den höflicheren Geistern von Sleepy Hollow und Tarrytown auf der Erde umherstreifte. Frauen, die der Familie Van Ripper freundlich gesinnt waren, stellten bunte Kerzen in hohen Gläsern auf den Bürgersteig und steckten Nelken in das verbogene Tor des Gebäudes. Sie brauchten keine gemeinsame Sprache, um dieselbe Sorge zu teilen: Was würde mit der Strickerei geschehen? Und schlimmer noch: Was würde nach Mariahs Tod mit ihnen allen geschehen?
Die Van Rippers waren in den Augen der einen Scharlatane, in denen der anderen waren sie Retter. Gauner oder Engel. Heilige oder Diebe. Doch selbst wenn an all dem Gerede über die Strickerei nichts dran war, wenn das einzig Merkwürdige an der Strickerei das war, was man sich über sie erzählte, hatte auch dies die vielen Generationen von Frauen in Tarrytown nicht davon abgehalten, sich in ihrer Verzweiflung zur Türschwelle der Van Rippers zu schleppen und um Hilfe zu bitten. Mach mir einen Pullover, mach mir Fäustlinge, mach mein Baby gesund, mach, dass mein Mann mich wieder liebt.
Es hieß, die Magie der Van Rippers liege im Stricken.
Sofern es überhaupt Magie war.
Kapitel 2
Mach einen Knoten
Es gab nur eine Handvoll Orte in Tarrytown, an denen Aubrey Van Ripper mit relativer Regelmäßigkeit erschien: den Lebensmittelladen, die Bibliothek, die Zoohandlung, den Sushi-Imbiss und manchmal - an klaren, kühlen Abenden - den Park. Als sie an Mariahs Todestag im Krankenhaus auftauchte, blickten ihr die Einwohner von Tarrytown daher halb ängstlich, halb fasziniert hinterher. Sie trug die klobigen weißen Gesundheitsschuhe einer älteren Dame, obwohl sie erst achtundzwanzig war, eine grauenvolle, mit vielen winzigen Vergissmeinnichtblüten bedruckte Polyesterbluse und dicke, dunkle Brillengläser in einem Plastikgestell. Ihr blondes Haar fiel ihr bis auf die Schultern und hätte schön sein können, wäre es nicht kraus und verknotet gewesen.
Was Aubrey betraf, war sie lange nicht so interessiert am Krankenhaus wie dessen Personal an ihr. Ihrer Vorstellung nach sollte das Krankenhaus ein lebhafter, hektischer Ort im Kampf um Leben und Tod sein. Stattdessen war es öde. Gelangweilte Verwaltungsleute kauten Kaugummi und sahen sich auf dem Fernseher im Wartezimmer den Gameshow-Kanal an, der eine Wiederholung von Glücksrad ausstrahlte. Der Empfangsbereich hätte haargenau so steril und schläfrig ausgesehen, wenn nicht zufällig gerade ihre Tante gestorben wäre.
»Eine Unterschrift, bitte.« Die Frau hinter dem Empfangstresen schob ihr ein durchsichtiges lila Klemmbrett entgegen. »Wenn Sie Fragen haben, scheuen Sie sich nicht, sie zu stellen - aber bitte irgendjemand anderem.«
Aubrey fügte sich. Auf jedem einzelnen Blatt Papier standen so viele Wörter, winzige Wörter aus winzigen Buchstaben, die ineinander übergingen. Wenn sie all diese Wörter auf einem einzigen langen Faden aufziehen könnte, würde er einmal um das ganze Gebäude herumreichen. Sie könnte daraus einen Pullover stricken. Oder einen dicken schwarzen Schal.
Aus dem Augenwinkel sah Aubrey, wie zwei Krankenschwestern in einer entfernten Ecke des Raumes die Köpfe zusammensteckten und leise flüsterten. Sie trugen schlabbrige helle, mit Blumenmustern verzierte Kittel. Eine von ihnen war Katrina Van der Donck, die gern behauptete, von Adriaen Van der Donck abzustammen, dem berühmten Dokumentaristen von Sleepy Hollow aus dem siebzehnten Jahrhundert, der als Erster Slapershaven als Name für den durch das schmale Tal fließenden Nebenfluss des Hudson verzeichnete. Die andere Frau war Aubrey unbekannt. Die beiden bemühten sich, nicht in ihre Richtung zu schauen, konnten der Versuchung jedoch nicht widerstehen.
Aubrey ertrug ihre prüfenden Blicke, solange sie konnte. Ihr Geflüster kratzte an ihrem Trommelfell wie ein Hund an einer Tür. Schließlich hielt sie es nicht mehr aus. Sie blickte auf, und die beiden Frauen zuckten zusammen. Aubrey sprach, so laut sie es wagte: »Euch ist schon klar, dass ich weiß, was ihr sagt, oder?«
»O mein Gott. Sie kann also auch Gedanken lesen?«, fragte die Fremde laut genug, dass Aubrey es hören konnte. »Du hast mir nicht gesagt, dass sie Gedanken lesen kann!«
»Sie kann keine Gedanken lesen«, erwiderte Aubrey in derselben Lautstärke.
»Ach nein?« Katrina grinste. »Was denke ich gerade?« Sie verschränkte die Arme und starrte sie feindselig an.
Aubrey senkte den Blick wieder auf ihre Papiere. Sie konnte spüren, wie ihr Gesicht knallrot anlief. Unter ihren Achseln prickelte der Schweiß. Sie wusste nicht genau, weshalb Katrina Van der Donck beschlossen hatte, sie zu hassen, doch sie nahm an, dass es etwas mit der Magie zu tun hatte. Vielleicht hatte Katrina einmal für einen unwirksamen Zauber bezahlt. Aubrey verabscheute Auseinandersetzungen noch mehr als matschiges Weißbrot aus Plastiktüten, Lachkonserven in Sitcoms oder Steve Halpern.
Mariah hätte gewusst, was sie sagen sollte.
Die Strickerei und die Frauen, die sie bewohnten, waren schon immer von einer vagen Ungewissheit, von giftigen Spekulationen umgeben gewesen. Die Spur von Aubreys Vorfahren ließ sich bis zu den ersten Siedlern verfolgen, die in den Gräben der neuniederländischen Erde lebten, und je weiter sich die moderne Welt von diesen verlausten und halbverhungerten Abenteurern entfernte, desto geheimnisvoller und faszinierender erschienen sie.
Zu Aubreys Pech fanden die Tratschtanten Tarrytowns sie, die Bibliotheksassistentin, die im Lebensmittelladen Rote Bete kaufte und ein Bild ihres zahmen Igels im Geldbeutel mit sich herumtrug, nicht besonders faszinierend. Die Geschichten, die sich um die Strickerei rankten, waren rätselhaft, und Mariah war ihre seltsame, doch altehrwürdige Kennerin gewesen. Die arme Aubrey dagegen war einfach nur verschroben.
Ihr Aussehen war ihrem Ruf nicht gerade förderlich. Als nächste Hüterin der Strickerei trug sie deren Zeichen. Bei Mariah hatte sich das Zeichen recht diskret offenbart: Auch ohne Parfüm, selbst wenn das Thermometer im August auf über dreißig Grad stieg, roch Mariahs Haut intensiv nach Blütenblättern. Die Duftdrüsen, die andere Menschen wie Pferde stinken ließen, hatten Mariah buchstäblich wie eine Rose duften lassen - zugegebenermaßen wie eine billige Rose, die einen manchmal an eine Wildwesthure denken ließ, aber immerhin wie eine Rose. Tarrytowns Bewohner waren davon ausgegangen, dass Mariah bloß eine dieser alten Damen war, die ihre Sorgen in Drogerieparfüm ertränkten. Und von ein paar Ausnahmen abgesehen, mochten die Leute sie zumindest so sehr, wie man eine Van Ripper eben mögen konnte.
Doch Aubreys Zeichen - das schon früh keinen Zweifel daran gelassen hatte, dass sie die neue Hüterin der Strickerei sein würde - war weder so harmlos noch so leicht zu erklären wie Mariahs. Ihr Zeichen war anderen Menschen unangenehm. Und es ließ sich nicht verstecken. Auch wenn Aubrey beim Blick in den Spiegel nicht erkennen konnte, was an ihr nicht stimmte, hatte man ihr oft genug gesagt, was andere Leute sahen: Ihre viel zu großen Augen waren von einem so hell strahlenden Blau, dass einem davon beinahe schlecht wurde. Sie waren so blau wie das Ei einer Wanderdrossel, das man in blaue Lebensmittelfarbe getaucht und in metallicblauem Glitzerstaub gewälzt hatte. Ihre Farbe war geradezu aggressiv, und man konnte nicht lange hineinsehen, bevor man den Blick abwenden musste.
Mittlerweile vermisste Aubrey Blickkontakt in Gesprächen kaum mehr, als ein Erwachsener einen halbvergessenen Kindheitsfreund entbehrte. Mit einer Ausnahme. Er hieß Vic, und sie wünschte sich, ihm einmal, ein einziges Mal nur, direkt in die Augen blicken zu können.
Eine Hand legte sich auf ihre Schulter. Sie drehte sich um und sah Jeanette Judge vor sich stehen, die direkt von ihrer Schicht in der Bibliothek kam und noch leicht nach alten Büchern roch. Jeanette sah sie aus ihren feuchten schwarzen Augen, die ihre Gefühle nie verbargen, tief besorgt an.
»Ich habe es gerade gehört. Wie geht es dir?«
»Eigentlich ganz gut.«
»Lüg mich nicht an, Aubrey Van Ripper«, schimpfte Jeanette. Sie trug den grauen Poncho, den Aubrey ihr vor einigen Jahren gestrickt hatte, als Jeanette sich bemühte, einen Kredit für ihr neues Auto zu bekommen, und wie sie nun vor ihr stand, mit den in die Hüfte gestemmten schwarzen Händen und Unterarmen, die unter grauen Wollfransen hervorschauten, erinnerte sie Aubrey ein bisschen an einen grauen Ritter mit einem diamantförmigen Schild. »Komm her.« Jeanette schlang ihre kräftigen Arme um sie, und Aubrey überließ sich dem warmen, festen Griff ihrer Freundin und war fast verlockt, zu probieren, ob sie die Füße vom Boden abheben könnte.
»Was ist denn genau passiert?«, wollte Jeanette wissen, als sie Aubrey schließlich losließ.
»Ihrem Herzen ist die Luft ausgegangen.«
»Die Luft ausgegangen? Ein Herz ist doch kein Ersatzreifen. «
Aubrey zuckte die Achseln. Sie wollte nicht Herzanfall sagen. Ein Herz sollte keine Anfälle bekommen. Sie wollte sich erklären, doch Jeanettes Blick wurde plötzlich starr und richtete sich bedrohlich auf etwas hinter Aubreys Schulter.
»Was willst du denn, Katrina Van der Donck?«
Aubrey drehte sich leicht zur Seite und sah in Katrinas wachsamen Augen Vergnügen aufblitzen.
»Nichts Besonderes«, entgegnete Katrina.
Jeanettes Nasenflügel weiteten sich. »Du tratschst wohl gerne, hm? Na, da hab ich was für dich. Es geht um eine bestimmte, uns beiden wohlbekannte Person, die in der Strickerei aufgetaucht ist - auf der Suche nach dem Van- Ripper-Voodoo.«
»Das wagst du nicht«, sagte Katrina.
»Und ob«, meinte Jeanette. »Warum haust du nicht ab und leerst jemandem die Bettpfanne aus?«
Katrina zog die Oberlippe hoch und bleckte die Zähne. »Besser als mich um diese Scheiße hier kümmern zu müssen. « Sie zerrte ihre Freundin am Ärmel ihres Kittels davon, und die beiden verschwanden im Labyrinth der Krankenhausgänge.
»Das hättest du nicht tun müssen«, bemerkte Aubrey.
»Glaub mir, es ist mir ein Vergnügen.«
Trotz ihres Kummers kräuselten sich Aubreys Lippen zu einem Lächeln. »Van-Ripper-Voodoo?«
»Das Miststück legt sich besser nicht mit mir an«, erwiderte Jeanette.
Aubrey lachte. »Mir gefällt deine Wortwahl, wenn du wütend bist.«
»Meine alten Collegeprofessoren sollen doch stolz auf mich sein können.«
Die Frau hinter dem Tresen, die Aubrey das lila Klemmbrett gereicht hatte, räusperte sich. Aubrey wendete sich seufzend wieder dem Papierkram zu. Sie fragte sich, wie oft man sie noch daran würde erinnern müssen, dass Mariah tot war, bis sie nicht mehr überrascht darüber wäre.
Vor Jahren hatte Mariah eine Hellseherin dafür bezahlt, ihr die Zukunft vorherzusagen, und die kettenrauchende alleinerziehende Mutter hatte geschworen, Mariah werde an ihrem hundertsten Geburtstag von einem Blitz erschlagen werden. Stattdessen war Mariah nun - gut zwanzig Jahre vor dem angekündigten Datum - an einem wolkenlosen Tag mitten im Gemeindezentrum tot umgefallen. Aubrey konnte es sich genau vorstellen: wie Mariah Steve Halpern wegen seines neuen Einkaufszentrums, dem Tappan Square weichen sollte, mit in die Luft gestreckter Faust und auberginefarben angelaufenem Gesicht gehörig den Kopf wusch und dann plötzlich zusammenbrach, um nie wieder aufzustehen. Hätte es doch nur einen Vorhang zum Zuziehen gegeben, ein Publikum, das Rosen warf und Bravo! rief - es wäre ein passenderes Ende gewesen. Aubrey setzte ihren Namen neben ein weiteres X.
»Sind wir denn sicher, dass es keine Fremdeinwirkung gab?«, fragte Jeanette.
»Natürlich.«
»Ich meine ja nur. Der Typ hat vielleicht keine Waffe gehabt, aber umgebracht hat er sie dennoch.«
»Steve Halpern ist ein Mistkerl, aber kein Mörder.«
»Er ist Politiker. Und er hat sie mit all dem Stress umgebracht. «
»Na ja, er - «
»Das hat er. Er hat sie umgebracht. Wegen eines gottverdammten Einkaufszentrums. Mein Gott, Mariah ist im Kampf gegen die Zerstörung ihres Zuhauses gestorben!« Riesige Tränen kullerten Jeanettes ockerbraune Wangen hinunter, und das Weiß ihrer Augen war mit Rot durchsetzt. »Ich verstehe nicht, wie du überhaupt noch hier sein kannst, Aubrey. Warum bist du nicht zu Hause? Warum vergießt du keine Tränen über einer Tasse Pfefferminztee? Wir sprechen hier von Mariah. Der Frau, die dich großgezogen hat. Der einzigen Familie, die dir noch geblieben war - «
»Meine Schwestern - «
»Die zählen nicht. Komm schon, Aub. Willst du mir sagen, dass du gar keine Träne für sie hast? Nicht eine?«
Aubrey dachte einen Moment lang nach. Manchmal sagten Leute, die einen geliebten Menschen verloren hatten, dass sie wie benommen waren. Sie sagten Dinge wie: Es ist noch nicht richtig bei mir angekommen. Aubrey verstand ganz genau, was es bedeutete, dass ihre Tante gestorben war; und schon kam ihr alles, was sie tat und sah, weit entfernt vor. Sie sah einen Baum - etwa den knorrigen kleinen Hornstrauch vor der Highschool, den sie schon tausende Male gesehen hatte -, und auch wenn es derselbe Baum war wie immer, spürte sie doch, dass etwas daran anders war. Anders, aber nicht verändert.
Es war die Strickerei, die sie bereits zu sich rief, an ihr zog wie tausend kleine Haken an ihrer Haut. Seit Aubrey dreizehn war und ihre Augen ein Blau angenommen hatten, das schlicht ein medizinisches Wunder war, wusste sie, dass sie eines Tages mit der Strickerei vermählt sein würde, so wie ihre Tante Mariah, und davor ihre Großmutter und davor ihre Urgroßmutter und davor die Schwester ihrer Ururgroßmutter und davor wer auch immer, die ganze Reihe zurück bis zu Helen Praisegod Van Ripper, die den Anfang gemacht und sie alle verdammt hatte. Aubrey war lediglich die jüngste Van Ripper, die die Strickerei zur Hüterin ihrer Geheimnisse erwählt hatte - ihr Leben war nicht mehr oder weniger wichtig als das ihrer Vorgängerinnen. Und sie hatte sich schon vor langer Zeit dazu gezwungen, ihr Schicksal am Rand der Gesellschaft zu akzeptieren - es anzunehmen. Sie lebte Tag für Tag mit dem Wissen, dass sie irgendwann in vielen Jahren, wenn sie bereit war, die Rolle ihrer Tante in der Strickerei und in der Gemeinde übernehmen würde. Die Frauen Tarrytowns würden zu ihr kommen und ihren geheimen Kummer, ihr Leid und ihre Wünsche auf Aubreys Schultern abladen, und nach einem Zauber würden sie Aubrey dann schmähen oder verehren, so wie sie auch Mariah geschmäht oder verehrt hatten, und Aubrey würde hinter den Mauern der Strickerei verwelken wie eine zwischen die Seiten eines Buches gepresste Blume.
Doch all dies hätte in ferner Zukunft geschehen sollen - nicht jetzt, nicht, solange Aubrey noch so jung war. Mariah, die alle Geheimnisse Tarrytowns mit beeindruckender Belastbarkeit geschultert hatte, war nicht mehr da, um ihr zu helfen. Und ihre Schwestern, die ihr einst so nah waren, wie es die Kerne im Gehäuse eines Apfels einander sind, waren verschwunden.
»Soll ich dich nach Hause begleiten?«, fragte Jeanette und strich ihr über den Rücken. »Wir könnten Pizza bestellen und uns im Schlafanzug Filme ansehen.«
»Ist schon in Ordnung«, meinte Aubrey.
»Ich finde einfach, du solltest jetzt nicht allein sein.«
»Danke. Aber genau das möchte ich«, erwiderte Aubrey.
Nachdem entschieden war, was mit Mariahs Leichnam geschehen sollte, und nachdem sie Jeanette ein letztes Mal umarmt hatte, schleppte sie sich zurück zur Strickerei. Sie öffnete die Tür und bemerkte, dass sie beim Verlassen des Hauses vor so vielen Stunden vergessen hatte, hinter sich abzuschließen. Sie blieb im Hauseingang stehen. Vor ihr erstreckte sich wie immer der Flur mit den braunen Schatten der Wasserflecken, den geisterhaften Umrissen längst abgehängter Bilderrahmen und der fleckigen blauen Tapete, die sich an den Rändern wellte. Rechts von ihr befand sich das Wohnzimmer, das niemand mehr benutzte. Zu ihrer Linken war die Strickstube voller Körbe und Fässer und einer Überfülle an Wolle, Strängen und Wollknäueln.
Das Haus legte sich ihr über die Schultern wie ein staubiges Sargtuch.
Sie nahm sich vor, besser nicht nachzudenken. Sie bereitete - nur für sich allein - ein aufwendiges Abendessen aus Tofu-Sushi zu, stellte dann jedoch fest, dass sie keinen Appetit hatte. Also duschte sie ausgiebig. Dann polierte sie das alte Tafelsilber. Sie putzte und schrubbte. Sie wusch sogar ihren zahmen Igel Ichabod Van Ripper im Badezimmerwaschbecken und bürstete seine braun gesprenkelten kleinen Stacheln mit einer alten Zahnbürste, während er entrüstet vor sich hin schnüffelte. Sie versuchte zu lesen. Doch sosehr sie sich auch bemühte, ihre Hände beschäftigt zu halten, fingen ihre Finger wie von selbst an, sich zu bewegen, die Luft zu stricken.
Aubrey schlurfte in ihren Pantoffeln, die sich zu schwer zum Anheben anfühlten, den Flur entlang. Ich werde nicht lange fort sein, hatte Mariah gesagt, und ihr Schlafzimmer schien sie jeden Moment zurückzuerwarten. Die sensationelle Dahlientapete. Die altmodischen Postkarten, die im dicken Rahmen des Spiegels steckten. Der Tod war nicht als finsterer Schatten erschienen, als schwerfällige, grüblerische Angelegenheit. Der Sensenmann hatte Mariah so leicht und gedankenverloren geholt, als hätte er nur eben die Hand erhoben, um eine Mücke totzuschlagen.
Aubrey setzte sich auf Mariahs Bett, vor Kummer gebeugt, doch ohne eine Träne zu vergießen. Auf dem Nachttisch lag Mariahs letztes Projekt, eine vielfarbige Norwegerstrickmütze, noch genau so, wie Mariah sie zurückgelassen hatte, im festen Glauben, dass sie die Arbeit daran bald wiederaufnehmen würde. Aus den winzigen, gleichmäßigen Maschen tauchte das Muster aus dunklem Orange, Marineblau und Buttermilchweiß gerade erst auf. Die Mütze war kein Zauber, das wusste Aubrey. Bloß ein Zeitvertreib. Sie griff nach der angefangenen Arbeit, die im Moment noch mehr Ähnlichkeit mit einer schlaffen Frisbeescheibe ohne Mitte hatte als mit einer Mütze, und legte sie sich auf den Schoß. Wie oft hatte sie im Lauf ihres Lebens ihre Tante, mehr zu sich selbst, sagen hören: »Wo ist nur meine Schere geblieben?« Wie oft hatte sie gesehen, wie ihre Tante lose Fäden in die fertigen Arbeiten hineinsteckte, Anfänge und Enden verbarg?
Ohne Mariah und ohne ihre Schwestern lag Aubreys Zukunft in der Strickerei so lang und trostlos vor ihr wie ein winterlicher Schatten.
Sie dachte: Mari ... Ich bin noch nicht bereit.
Wenn es tatsächlich Schicksalsgöttinnen gab, diese vorzeitlichen Schwestern, die das Leben der Menschen mit Schnur und Faden ausmaßen, dann waren sie Aubrey dank des tief in ihrer DNA verankerten Wissens wohlvertraut: Frauen, die färbten und spannen, Frauen, die Fasern mit prüfendem Blick durch die Finger gleiten ließen, Frauen, die abschätzten und abschnitten, Dinge besprachen, ihre Scheren niederlegten und dann - nur für einen Moment - vergaßen, wo.
Copyright © 2013 Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin.
... weniger
Autoren-Porträt von Lisa Van Allen
Lisa Van Allen arbeitete in einem Verlag, bevor sie an die Uni zurückging, um Literatur zu studieren, und zu schreiben begann. Ihre Texte erschienen in diversen literarischen Zeitungen und wurden mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Preis der 'Best New American Voices'.Yasemin Dinçer, geboren 1983, studierte Literaturübersetzen.
Bibliographische Angaben
- Autor: Lisa Van Allen
- 2013, 448 Seiten, Maße: 12,5 x 21,5 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Übersetzung: Dinçer, Yasemin
- Übersetzer: Yasemin Dinçer
- Verlag: Rütten & Loening
- ISBN-10: 3352008698
- ISBN-13: 9783352008696
- Erscheinungsdatum: 19.08.2013
Kommentare zu "Die Wünsche meiner Schwestern"
0 Gebrauchte Artikel zu „Die Wünsche meiner Schwestern“
Zustand | Preis | Porto | Zahlung | Verkäufer | Rating |
---|
3 von 5 Sternen
5 Sterne 0Schreiben Sie einen Kommentar zu "Die Wünsche meiner Schwestern".
Kommentar verfassen