Die Zeit, die uns noch bleibt
Ein wunderschöner und dramatischer Roman über eine alte, große Liebe und darüber, dass es nie zu spät ist für eine zweite Chance im Leben. Für Fans von Nicholas Sparks' "Wie ein einziger Tag".
Daisy...
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Produktinformationen zu „Die Zeit, die uns noch bleibt “
Ein wunderschöner und dramatischer Roman über eine alte, große Liebe und darüber, dass es nie zu spät ist für eine zweite Chance im Leben. Für Fans von Nicholas Sparks' "Wie ein einziger Tag".
Daisy Phillips ist 77, doch alt fühlt sie sich noch lange nicht. Deswegen protestiert sie, als ihr Sohn auf die Idee kommt, sie ins Altenheim zu stecken. Daisy hat nämlich ganz andere Pläne. Ein neues Abenteuer muss her. Da findet sie zufällig eine alte Armbanduhr, die sie vor vielen Jahren von ihrer großen Liebe geschenkt bekommen hat: dem amerikanischen Soldaten Michael. Mit einer uralten Adresse im Gepäck macht Daisy sich auf die Reise nach New York, um Michael wiederzufinden. Und damit vielleicht ein Leben zu entdecken, dass sie selbst hätte leben können.
Stacey McGlynn hat mir ihrem Debüt bereits die Herzen ihrer LeserInnen im Sturm erobert. Die Kritik lobte: "Ein volkommen bezauberndes Debüt. Ein Juwel von einem Roman." (Kirkus Review)
Stacey McGlynn hat Filmwissenschaften studiert und lebt mit ihrer Familie auf Long Island.
"Ein Juwel von einem Roman"
Kirkus Review
Lese-Probe zu „Die Zeit, die uns noch bleibt “
Die Zeit, die uns noch bleibt von Stacey McGlynn 1
Ach komm, mama, es ist doch nicht so, als wollten wir dich
wie ein altes Pferd auf einen Gnadenhof abschieben«, sagt
Dennis. Er sagt es zu Daisy und stellt damit von einem Moment
zum anderen ihre Welt auf den Kopf.
Dennis, fünfundfünfzig Jahre, sitzt auf dem Sofa mit dem
maulwurfsgrauen Leinenüberwurf, vor sich das Beistelltischchen
aus Mahagoni. Neben ihm Amanda, seine neue Frau,
die kein Wort sagt. Dennis beugt sich vor und wartet geduldig
darauf, dass Daisy etwas sagt. Er probiert es erneut. Zwingt
sich zu einem Lächeln. »Jedenfalls hoffe ich, dass du es nicht
so siehst.«
Doch genau so hatte Daisy Phillips es gesehen.
Sie riecht schon das Gras auf der Weide.
Fühlt das Kitzeln der Halme unter der Nase.
Sucht auf dem Gesicht ihres Sohnes nach einer Spur, nach
etwas, das sie an das Kind, den Halbwüchsigen erinnert, der
er einst war. Nichts. War auch dumm, das zu erwarten. Aber
Daisy ist völlig aufgewühlt, sie versteht gar nichts mehr.
Dennis fährt fort. »Ich glaube ... nein, wir glauben«, wobei
er eine Handbewegung in Amandas Richtung macht,
»dass es dir dort wirklich gefallen würde. Es wäre doch unsinnig,
so weiterzumachen wie bisher.« Damit meint er, weiter
in dem Haus zu wohnen, in dem sie geboren ist und das
sie von ihren Eltern geerbt hat. Das Haus, in dem sie ihr ganzes
Leben verbracht hat. »Es wäre wie ein dauernder Urlaub
für dich«, fährt Dennis fort.
... mehr
Daisy antwortet nicht. Sie ist viel zu korrekt, viel zu zurückhaltend
und verfügt über eine Eleganz, die ihr, bis auf
ihre sehr aufrechte Haltung, niemand anerziehen musste.
Der gerade Rücken war die Hauptsorge ihrer Mutter gewesen,
die sich ein Leben lang auf unwichtige Dinge konzentriert
hatte. Daisy starrt auf ihre Hände, die sich auf ihrem
Schoß ineinander verkrampft haben, und dreht an ihrem
Ring.
Dennis hält ihr den bunten Hochglanzprospekt hin. Daisy
wendet sich ab. Er hält ihn noch einen Moment, dann wedelt
er ungeduldig damit, als wolle er ihre Aufmerksamkeit
fesseln. Doch er bekommt keine Antwort. Dennis seufzt und
legt die Broschüre neben sich auf das Tischchen. »Du kannst
sie ja mitnehmen. Sieh sie dir an, wenn du Zeit und Lust
dazu hast. Jedenfalls finden Amanda und ich, dass das Carillion
ideal für dich wäre. Diese Seniorenresidenzen haben
weitaus mehr zu bieten, als du ahnst. Denk wenigstens mal
darüber nach, okay?«
Daisy sieht ihn an. Ihre Blicke treffen sich. »Ich möchte
jetzt nach Hause.« Sie steht auf und streicht ihren beigefarbenen
Faltenrock über den schmalen Hüften glatt.
Auch Dennis erhebt sich, schwerfällig. »Ich kann dich
heimfahren, wenn du willst.«
Daisy nickt. »Ja, das wäre schön.«
* * *
Ein paar Minuten später fährt Dennis, der Kopf nassgeregnet
auf dem Weg zwischen Haustür und Auto, seine schweigsame
Mutter heim. Sie lassen die dunklen, regennassen Straßen
von Merseyside hinter sich und fahren in Richtung der
dunklen, regennassen Straßen von St. Helens im Nordosten
von Liverpool. Während die Scheibenwischer sich hin und
her bewegen, geht er das Gespräch von vorhin im Geist noch
einmal durch. Er hatte längst nicht so viel erreicht, wie er
sich erhofft hatte. Amanda würde ihm die Hölle heißmachen,
wenn er nach Hause kam.
Langsam biegt er in die Einfahrt der Rosemary Lane Nr. 24
und stellt die Gangschaltung auf »Leerlauf«. Er sieht seine
Mutter an. »Ich hoffe, das Essen hat dir geschmeckt.«
»Ja, danke, es war sehr gut.« Es klingt steif.
»Sieh mal, Mama«, er dreht sich im Sitz zu ihr und sieht sie
an. »Es tut mir leid, aber es ist nicht leicht, wenn ich mich um
zwei Häuser kümmern muss. Zwei Rasen zu mähen, zwei
Elektro- und Wasserleitungssysteme, um die man sich sorgen
muss. Ich weiß es ja zu schätzen, dass du versuchst, mich möglichst
selten um Hilfe zu bitten, aber irgendwas ist doch immer
los, und ich bin auch nicht mehr der Jüngste. Und du weißt ja,
dass Amanda nach Sussex ziehen möchte, um in der Nähe ihrer
Familie zu sein. Und jetzt, wo Gabriel mit der Schule fertig
ist, gibt es keinen Grund mehr, warum wir es nicht machen
sollten. Wir haben schon angefangen, uns Häuser anzusehen.
Sussex ist wunderschön. Du könntest ein gemütliches kleines
Apartment im Carillion haben, ganz in unserer Nähe. Sieh es
doch als ein Abenteuer, als einen neuen Lebensabschnitt.«
Daisy nickt kaum merklich, tief in ihrem Inneren herrscht
ein Tumult der Gefühle.
Dennis fühlt sich etwas erleichtert. Vielleicht hat es ja
doch etwas gebracht.
Sie greift nach dem Türgriff, beugt sich hinüber und gibt
ihm einen Kuss. »Gute Nacht, Dennis.«
»Gute Nacht, Mama.« Dennis sieht ihr zu, wie sie vorsichtig
aussteigt, ehe sie schnell den Plattenweg am Mäuerchen
entlanggeht. Er beobachtet, wie sie hinter der in fröhlichem
Gelb gestrichenen Haustür verschwindet. Die Tür ist von roten
Kletterrosen umrahmt, die an der weißen Außenmauer
des reetgedeckten Fachwerkhauses emporranken.
Er sieht nicht, was sich auf der anderen Seite der fröhlich
gelben Tür abspielt: wie Daisy sich dagegenlehnt, zitternd
am festen Rahmen Halt sucht und dann endlich den Tränen
freien Lauf lässt.
* * *
Am folgenden Samstag ruft Dennis an. Daisy hatte diesem
wöchentlichen Anruf schon den ganzen Vormittag mit Bangen
entgegengesehen. Während der vergangenen Woche waren
ihre Gedanken in einer Endlosschleife um seinen Vorschlag
gekreist. Wechselweise ignorierte sie ihn, wies ihn
zurück, ärgerte sich darüber, empörte sich, verzweifelte daran
und sehnte sich schließlich danach, ihn wieder ignorieren zu
können.
Und nun klingelt das Telefon.
Beim vierten Klingeln nimmt sie den Hörer ab. Sie kann
es nicht mehr unbekümmert klingeln lassen, das wird ihr mit
jedem Tag stärker bewusst. Denn Dennis würde nicht einfach
denken, dass sie in der Küche, im Wohnzimmer oder
im Bad zu tun hat. Nein, er würde vermuten, sie läge in der
Küche, im Wohnzimmer oder im Bad und sei tot. Seufzend
meldet sie sich.
Eine Begrüßung, ein Austausch von Nettigkeiten. Dennis
kommt nicht gleich zur Sache. Erst erklärt er, dass er ihren
Rasen wegen des Regens wieder nicht werde mähen können.
Überhaupt, der endlose Regen, mehr Gesprächsstoff. Dann,
endlich, kommt er zur Sache. Ob sie schon Zeit gefunden
habe, sich mit der Broschüre zu beschäftigen.
Daisy versichert ihm, das habe sie. Das hatte sie tatsächlich.
Indem sie ihr hinterherschaute, als sie in hohem Bogen
in die Mülltonne flog.
Dennis fragt, was sie darüber denke. Über ein Apartment
im Carillion und darüber, nach Sussex zu ziehen.
Daisy unterbricht: »Oh je, wer kann das denn sein? Tut
mir leid, ich muss Schluss machen. Da ist jemand an der Tür.
Schade, dass wir nicht länger reden können.«
Es stimmt fast. Denn Daisy selbst ist an der Tür. Sie war
mit dem schnurlosen Telefon dort hingegangen, nach draußen,
bis in den Regen. »Ja, tut mir leid, ich muss Schluss machen,
jemand an der Tür. Schade, jetzt wird die Sache wohl
bis nächsten Samstag warten müssen. Oder bis der Regen
endlich aufhört und du den Rasen mähen kannst.«
Als sie das Telefon zurückbringt, hat sie ein schlechtes Gewissen.
Aber sie schiebt es beiseite. Sie muss sich beeilen, sie
ist mit ihrem Club verabredet und muss die Bahn erreichen.
Ein frühes Mittagessen mit den Freundinnen, danach Shopping,
dann zum Tee.
Daisy steht vor dem golden gerahmten Spiegel über dem
Waschbecken im Bad und legt Make-up auf. Sie fährt mit
dem Kamm durch ihr hellbraunes Haar, dann trägt sie Lippenstift
auf. Sie sieht sich lange und prüfend an. Ihr Gesicht,
ihr Kinn. Sie sind schon immer lang gewesen, das ist keine
tückische Alterserscheinung. Ihre Züge sind fein, ihr Kopf ist
zierlich geformt. Die Nase schmal. Große blaue Augen hinter
der ovalen Nickelbrille. Die Haut über den Wangenkno-
chen ist noch nicht zu schlaff, die Stirn nicht zu glatt. Das
wellige Haar links gescheitelt, zwei Ponyhälften, die nach
beiden Seiten fallen und auf ihrer Stirn lauter Cs und Js bilden.
Es ist vorn so lang, dass es bis an die Augenbrauen
reicht, aber an den Seiten kurz genug, um die Ohrläppchen
frei zu lassen. Hinten am Kragen ringelt es sich nach innen.
Eine kleine, schlanke Frau von siebenundsiebzig, gesegnet
mit einem stets freundlichen Gesicht, das immer zum Lachen
bereit ist.
Sie holt tief Luft und reckt sich so hoch sie nur kann, voll
Selbstvertrauen, Trotz und Optimismus.
Das leichte, aber gleichmäßige Tropfen der Dusche ignoriert
sie.
* * *
Alle ihre Freundinnen sind versammelt. An der Tür hängen
Schirme und tropfende Regenmäntel. Gladys und Marylin,
Ellen, Cate und Dot, ihre liebste Freundin.
Daisy genießt diese gemeinsamen Essen am Wochenende.
Sie fährt mit dem Zug in die Stadt, und nach dem Lunch
geht's zum Einkaufsbummel ins renovierte Albert Dock. Hier
fühlt sie das Pulsieren der Stadt und hat das Gefühl, dass sie
dazugehört. Zu diesem Liverpool, seit kurzem Kulturhauptstadt
Europas, mit dem Merseyside-Regionalpark und der
ganzen Küstenregion, die zusammen jedes Jahr Millionen
von Besuchern anziehen. Der Cavern Club, das Beatles-Museum
und die Elternhäuser der ehemaligen Bandmitglieder,
zu denen noch immer Fans aus aller Welt pilgern. Die Cafés,
die Pubs, die überwältigend schönen Gebäude, die führenden
Theater - all das ist Teil der Energie dieser Stadt, die
Daisy so liebt.
Wenn nur der Himmel aufhören würde, alles pausenlos
mit seinem Regen abzuwaschen.
Aber auch das ist Liverpool.
Daisy fühlt sich wohl. Sie trägt ein neues Kleid, marineblau
mit einem Besatz in Beige, das gerade bis übers Knie
reicht. Vernünftige, farblich passende Schuhe mit flachem
Absatz. Sie macht Konversation und lächelt. Streicht sich
Butter auf das Brot. Bestellt den Lammrücken und schließt
alle unangenehmen Gedanken aus, die im Hinterkopf bohren.
Im Geiste geht sie noch einmal durch, worüber sie in
letzter Zeit nachgedacht hat: den Vorschlag, den sie Dot machen
will.
Sie wartet auf eine Gesprächspause, dann wendet sie sich
ihrer besten Freundin zu und will ihr ihre Idee unterbreiten.
Sie findet ihren Vorschlag toll und kann es kaum erwarten,
Dot einzuweihen.
Doch Dot kommt ihr zuvor. Ahnungslos erzählt sie, dass
sie den ganzen Sommer über weg sein wird. In Spanien, wo
ihre Tochter ein Haus besitzt. Und damit hat sie Daisys Idee
zunichtegemacht, noch ehe sie sie ausgesprochen hatte. Hat
ihrem Vorschlag, zusammen Urlaub zu machen, keine Chance
gegeben. Urlaub in Irland oder Schottland, vielleicht sogar
in Wales.
Als Paul noch lebte, sind er und Daisy mehrmals im Jahr
verreist. Sie liebten es, unbekannte Ziele zu entdecken, und
hatten zusammen viel von der Welt gesehen. Aber in den
letzten vier Jahren, seit Paul ohne sie abgereist war, ist Daisy
nirgendwo mehr gewesen. Wegzufahren war ihr nicht einmal
mehr in den Sinn gekommen. Bis vor Kurzem. Fast war sie
selbst erschrocken bei dem Gedanken, wieder einmal zu verreisen.
Natürlich in wesentlich kleinerem Rahmen. An irgendein
Ziel, das mit dem Auto zu erreichen war. Sie musste
nur noch überlegen, mit wem. Plötzlich fiel ihr Dot ein, und
nachdem sie eine Weile darüber nachgedacht hatte, kam sie
zu dem Ergebnis, dass ihre Freundin tatsächlich die ideale
Reisegefährtin wäre. Sie beide liebten dieselben Dinge,
brauchten am Nachmittag zur gleichen Zeit ihren Tee, wurden
abends gleichzeitig müde und standen etwa zur selben
Zeit auf. Sie waren auch beide ziemlich aktiv - sogar ungewöhnlich
aktiv für ihr Alter - und gingen beide demselben
Abendritual nach: Cointreau mit Bitter Lemon. Daisy konnte
sich keinen besseren Ersatz für Paul wünschen als Dot.
Doch kaum hatte sie die Worte »Dot, ich habe eine Idee«
ausgesprochen, ließ Dot die Bombe platzen. Daisy kann nur
noch lächelnd nicken und ihr einen schönen Sommer wünschen,
während ihre Augen in der Tischrunde kreisen, um
nach einer neuen Kandidatin Ausschau zu halten.
Sie verwirft eine nach der anderen, und das unheimliche
Gefühl kommt wieder zurück. Die Wände scheinen näher zu
kommen und sie einzuschließen. Ihre Träume werden wirbelnd
wie in einem Abfluss hinabgesaugt. Möglichkeiten,
die sich nicht erfüllen, wie Samen von Pusteblumen, die auf
einer Vogelschwinge vielversprechend in die Lüfte getragen
werden, aber nie auf der Erde ankommen, um aufzugehen.
Sie kann das Gefühl nicht loswerden, dass ihre beste Zeit
endgültig hinter ihr liegt. Und auf der Liste der Dinge, die
sie nicht mehr verwirklichen wird, ist nun auch das Reisen.
Diese ungeheuer lange Liste, die schon so vieles verschluckt
hat.
Sie seufzt. Mit Paul ist so vieles verschwunden. Außer ihrem
Haus in der Rosemary Lane Nr. 24. Das gehört ihr noch
immer. Und das wird nicht weggepackt werden wie die kurzen
Röcke, die Schuhe mit den hohen Absätzen, ihr Reisepass.
Jedenfalls nicht, solange sie darüber zu entscheiden hat.
Dennis und Amanda sollen ruhig gehen. Sollen die beiden
doch nach Sussex ziehen, aber ohne sie.
Sie wird sich jemanden suchen, der ihr jede Woche den
Rasen mäht. Und die tropfende Dusche wird sie selbst in
Ordnung bringen.
Na also, es geht doch.
2
Mittwoch. Es regnet noch immer, sintflutartig. In ganz
England. Die Leute fragen sich, ob es jemals wieder aufhören
wird. Zeitungen und Fernsehen sind voller Berichte von
Flüssen, die über die Ufer getreten sind, von überschwemmten
Straßen, Staus auf den Autobahnen. Nichts als Wasser,
überall.
Und wo kein Wasser ist, da ist zumindest Feuchtigkeit. In
den Häusern, in den Kleidern, in den Knochen und allen
Gliedern. Die Menschen schütteln den Kopf und versuchen,
das Beste daraus zu machen. Erzählen sich, wie grün das Gras
ist und wie gut das Wasser dem Garten tut.
Daisy ist bei der Arbeit. Sie sitzt hinter der Theke der
Stadtbücherei, ihr Teilzeitjob, seit Paul tot ist. Das Geschäft
war ihr allein bald zu viel geworden. Sie bot es ihren Söhnen
an, aber die winkten dankend ab. Dennis ist ganz zufrieden
mit seiner Stelle bei der Zeitschrift »Artefakte, Archäologische
Schätze, Antiquitäten«. Er sprach von einem neuen
Buch, das seinem ersten folgen sollte. Und Lenny? Ihr aus
der Form gegangener, übergewichtiger, nie sehr ernstzunehmender
Sohn ist viel zu sehr damit beschäftigt, nichts zu tun.
Ein richtiger Job mit wirklicher Verantwortung würde ihn in
seinem minimalistischen Lebensstil als geschiedener, freiberuflicher
Fotograf viel zu stark einschränken. Also hat Daisy
den Laden vermietet, zusammen mit der Wohnung darüber,
und lebt von dem Ertrag. Den Büchereijob hat sie nur, um
unter Menschen zu kommen. Um nicht zu verblöden.
Und um an die Bestseller zu gelangen, ehe sie in den Regalen
landen.
Daisy liest in einem Heimwerker-Handbuch. Das Kapitel
über Installationsarbeiten. Sie wird unterbrochen, und ihre
Konzentration ist dahin. Über eine halbe Stunde lang hatte
sie Bilder von Duschköpfen und deren Zuleitungen angestarrt
und dagegen angekämpft, dass die Druckerschwärze
immer wieder vor ihren Augen verschwamm und alles zu
einem undifferenzierten Brei wurde. Deshalb ist ihr die Unterbrechung
ganz willkommen. Eine vertraute Hand auf ihrer
Schulter. Sie dreht sich um und sieht in Grace Parkers
Gesicht.
Daisy versucht gerade, sich eine Antwort auf die Frage zurechtzulegen,
warum ausgerechnet sie sich so intensiv mit
Klempnerarbeiten beschäftigt, als Grace sie mit einer ganz
anderen Neuigkeit überrascht. »Ich höre auf. Ich wollte es dir
persönlich sagen.«
»Du hörst auf?« Daisy fragt sich, was sie damit meint. Nur
für heute? Für immer? Daisy hofft, dass es nicht Letzteres ist.
Ist es aber. »Ich gehe in den Ruhestand.«
Ruhestand! Sirenen, Alarmglocken, Trillerpfeifen. Daisy
weiß nicht, was sie sagen soll. Sie merkt, dass ihr Mund offen
steht, doch sie bekommt ihn nicht wieder zu. Wie alt ist
Grace denn überhaupt? Sie müsste jünger sein als sie, aber
um wie viel? Fünf Jahre? Zehn?
»Heute in zwei Wochen.«
Daisy konzentriert sich auf Graces Ohren. Sie hatte sie
früher schon wahrgenommen, doch jetzt kann sie den Blick
nicht von ihnen abwenden. Diese große, hübsche, stattliche
Frau mit den silbernen Haaren und der reinen Haut, die
kaum Falten hat, hat die spitzesten Ohren, die Daisy je zu
Gesicht gekommen sind. Sie kleben an ihrem Kopf, als habe
ein Pflastermaler oder ein Zeichner politischer Karikaturen
sie als Übertreibung dort hingesetzt, um eine komische Wirkung
zu erzielen. Daisy weiß, dass Grace immer versucht, sie
unter ihren Haaren zu verbergen, aber in ihrem Alter wird
das schwierig. In jüngeren Jahren konnte sie ihre Ohren bestimmt
problemlos verdecken, aber im Alter tritt so vieles zutage.
Das Alter nimmt uns die Krücken weg, die wir gerade
jetzt so dringend brauchen.
Es scheint, dass Daisy die Ohren zu lange angestarrt hat.
Graces Hände wandern nach oben und zupfen das Haar darüber.
Ertappt. Es ist Daisy peinlich. Doch sie fasst sich schnell
und sagt: »Oh, Grace, ohne dich werden mein Montag und
Mittwoch nicht mehr so sein wie sonst. Aber natürlich freue
ich mich für dich, sehr sogar.«
»Danke. Es wird auch nicht leicht sein, aufzuhören nach
all den Jahren, aber Hal und ich finden, dass es an der Zeit
ist. Wir verkaufen das Haus und suchen uns eine Wohnung,
außerdem wollen wir reisen. Wir haben vier Kinder, die über
die ganze Welt verstreut sind. Wir möchten anfangen, das
Leben zu genießen, solange wir noch fit genug sind.«
Daisy nickt verständnisvoll. Findet die passenden Worte.
Und würde am liebsten nach Hause gehen.
* * *
Daisy weiß nicht mehr, wann sie zum letzten Mal in einer
Eisenwarenhandlung war.
Sie steht mit ihrem Schirm vor dem Laden, blickt durch
die Glastür und versucht sich zu erinnern. Sie kommt zu
dem Schluss, dass sie damals wahrscheinlich einen Lutscher
in der Hand hatte und Spangenschuhe trug, an einem Samstagnachmittag
vor langer, langer Zeit, an der Hand ihres Vaters.
Sie möchte ihren nächsten Vorstoß jetzt nicht länger
aufschieben, also geht sie hinein.
Soweit sie bei ihrem Gang durch die Regalreihen sehen
kann, hat sich nicht viel verändert. Derselbe muffige, staubige
Geruch. Dieselbe Beleuchtung. Dasselbe beruhigende
Gefühl, dass es hier Lösungen für alle Probleme des Lebens
gibt. Sie hat ihre Digitalkamera mitgebracht, damit hat sie
ihren Duschkopf fotografiert. Daisy geht ganz nach hinten,
wo ein älterer Mann ihr alle Hilfe angedeihen lässt, die sie
nur braucht. Er ist älter als sie, da ist sie sich ganz sicher. Eingehend
betrachtet er die Fotos. Mit der kleinen silbernen Kamera
in seiner großen roten Hand hat er das Problem im Nu
erkannt.
Die Dichtung des Ventils in der Zuleitung, also dem Teil,
der in der Wand sitzt, ist abgenutzt. Ganz leicht auszuwechseln.
Kinderspiel. Man muss einfach eine neue Dichtung
einsetzen.
Und bald liegen alle Teile, die Daisy dazu braucht, vor ihr
auf der Theke. Der Mann erklärt ihr, wie es gemacht wird,
langsam und geduldig, als habe er alle Zeit der Welt. Hat er
wahrscheinlich auch, denn sie ist die einzige Kundin. Er versichert
ihr, die Sache sei schnell erledigt, dazu brauche sie
nicht mal eine Stunde. Er zeigt nicht den leisesten Zweifel,
dass sie dazu imstande ist, und dafür wird sie ihm ewig dankbar
sein.
Aber es wird sie auch ewig verblüffen. Vielleicht ist er ja
blind oder nicht mehr ganz richtig im Kopf. Doch im Augenblick
fühlt sie sich von diesem Vertrauensvorschuss regelrecht
gestärkt.
* * *
Es ist schon wieder Samstag. Noch immer regnet es. Der Anruf
von Dennis, pünktlich wie ein Uhrwerk. Daisy geht ans
Telefon. Diesmal ist sie vorbereitet. Sie sagt, sie habe jemanden
gefunden, der ihr den Rasen mäht, er brauche sich also
darum nicht mehr zu sorgen. Sie dankt ihm, dass er es so
lange gemacht hat.
Am anderen Ende - Schweigen. Dann überstürzen sich
Fragen und Entschuldigungen. Dennis empfindet, was seine
Mutter da sagt, als Anklage. Doch dann beruhigt er sich und
merkt, dass es eigentlich ganz vernünftig ist. Warum soll sie
nicht einem Jungen ein paar Pfund dafür geben, dass er ihr
den Rasen mäht? Plötzlich ist Dennis ganz froh über die
Nachricht. Über das Carillion fällt kein Wort. Stattdessen
sprechen sie über Gabriels Abschlussfeier, die am nächsten
Tag sein soll. Dennis wird sie um drei Uhr abholen. Dann
legt er auf, den Kopf voll mit Dingen, die noch zu erledigen
sind.
Daisy fühlt sich gut und schlecht zugleich. Gut, weil sie
es fertiggebracht hat, die Geschichte von dem Jungen zu erzählen,
der ihren Rasen mähen wird. Gut, weil Dennis es offenbar
akzeptiert hat. Schlecht, weil es von Anfang bis Ende
gelogen war. Sie hat noch gar nicht versucht, jemanden zu
finden. Gott sei Dank regnet es. Wenn es immer weiter regnen
würde, brauchte sie nie mehr zu mähen.
Sie geht ins Badezimmer, ignoriert das immer stärker wer-
dende Tropfen aus der Dusche und macht sich fertig zum
Lunch mit ihren Freundinnen. Sie steigt über die säuberlich
aufgereihten Werkzeuge, die sie vor drei Tagen dort hingelegt
hat. Gleich Montag früh wird sie es angehen, ehe sie zur Arbeit
geht, wo Grace Parker ihre Abschiedsparty geben will.
3
Es ist ganz leicht. Einfach den Duschkopf von der Wand
abschrauben. In der Zuleitung nachsehen, wo die defekte
Dichtung im Ventil sitzt. Die alte Dichtung herausnehmen
und die neue einsetzen. Den Duschkopf wieder aufsetzen,
fest anschrauben.
Ein Kinderspiel.
Es ist Montag früh. Daisy sitzt bei Tee und Toast und
denkt an ihre bevorstehende Installationsarbeit. Sie wäscht
Teller und Tasse ab, und dabei fällt ihr ein, dass sie eine geeignetere
Arbeitskleidung braucht. Was sie anhat, ist dafür zu
schade. Bestimmt würde sich kein Klempner in normaler
Kleidung an die Arbeit machen. Sie durchwühlt die Kommode.
Sie weiß nicht genau, was sie sucht, geht aber davon
aus, dass sie es schon wissen wird, wenn ihr das Richtige in
die Hände fällt.
Doch es gibt nichts, was sich zum Reparieren einer Dusche
eignet. Allerdings findet sie einen rosa Pulli, der jahrelang
verschollen war, und erinnert sich, wie gern sie ihn getragen
hat. Sie hatte ihn für die Reise nach Spanien gekauft.
Vor ihren Augen steigt ein Bild auf: Daisy, in einem Straßen-
café in Barcelona, in diesem rosa Pulli, mit einer großen weißen
Sonnenbrille und einem Strohhut mit rosa Band. Sie
nimmt den Pulli heraus und denkt daran, wie schade es doch
ist, dass Dot den Sommer in Spanien verbringen wird, und
wahrscheinlich nicht nur diesen Sommer, sondern auch jeden
zukünftigen. Und damit, ohne es zu ahnen, Daisys einzige
praktikable Reiseplanung zerstört hat. Wodurch das Reisen
für Daisy von nun an nicht mehr zum Kapitel »Künftige
Ereignisse«, sondern zu jenem der »Gelebten Erinnerungen«
gehören wird.
Natürlich ist das nicht Dots Schuld. Es ist Daisys eigene
Schuld, und sie weiß es. Sie sollte sich nach Reisen für Singles
erkundigen. Das wird sie vielleicht tun.
Vielleicht aber auch nicht, und auch das ist ihr klar. Sie ist
in ihrem Leben noch nie allein gereist und hält es für unwahrscheinlich,
dass sie jetzt damit anfangen wird.
Sie legt den Pulli zu den Sachen für die Reinigung. Sie
geht aus dem Zimmer und in den Keller, wobei sie sich selbst
ermahnt, den Morgen nicht weiter mit der unnützen Suche
nach geeigneter Kleidung für die Reparatur zu vertrödeln.
Sie sollte sich jetzt lieber um die eigentliche Sache kümmern.
Denn wenn sie sich mit der Handhabung von grundsätzlichen
Dingen wie Schraubenzieher, Hammer, Nägeln und
Zange vertraut machen würde, könnte sie doch in ihrem
Haus bleiben. Sie könnte Dennis und Amanda ziehen lassen
und selbst entscheiden, wann es Zeit wäre, zu gehen.
Sie steigt die Kellertreppe hinab. Betritt den alten Kohlenkeller,
der mittlerweile zum Waschkeller und Lagerraum umfunktioniert
ist. Ihr fällt der alte Overall ein, den Paul immer
getragen hat. Den könnte sie sicher noch irgendwo finden,
der hat Träger und würde ihr nicht wegrutschen. Sie stellt
sich vor, dass es ein gutes Gefühl wäre, etwas zu tragen, was
er angehabt hat. Fast so, als ob er ihr dabei helfen würde, die
Dichtung auszuwechseln.
Im Keller ist es feucht. Wie kann es auch anders sein, bei
dem ewigen Regen!
Sie knipst das Licht an und steht vor einem Stapel Kartons.
Einige von Paul, einige von ihr. Vielleicht wäre es interessant
nachzusehen, was in Pauls Kartons ist. Er ist kein Sammler
gewesen. Ein Leben von achtundsiebzig Jahren, zusammengefasst
in eine Handvoll Kartons. Daisy nimmt sich den ersten
Karton vor und sucht nach einer Beschriftung. Nichts.
Sie findet einen, der ihr gehört. Alles alte Schätze, sie weiß
gar nicht genau, was drin ist. Nur bei einem, da weiß sie es.
Den hat sie nicht mehr geöffnet seit dem Tag, an dem sie ihn
zugemacht hat. Der Karton mit dem Schmuckkästchen.
Daisy öffnet einen von Pauls Kartons. Bowlingschuhe. Seine
und ihre. Dann Schlittschuhe, ein Paar schwarze, ein Paar
weiße. Und Skihosen, Skianoraks und eine ganze Sammlung
von Mützen, Schals und Handschuhen. Daisy erinnert sich
an das Skilaufen in St. Moritz, wo sie die Sachen gekauft hatten.
Unwahrscheinlich, dass sie die noch einmal brauchen
wird. Weggeben.
Sie schließt den Karton und öffnet den nächsten. Alter
Christbaumschmuck, seit vielen Jahre nicht mehr gebraucht.
Daisy berührt dies und jenes mit den Fingerkuppen, nimmt
es heraus, betrachtet es, verloren in Erinnerungen, und legt
es wieder zurück. Dann schließt sie den Karton und wendet
sich dem nächsten zu. Sie weiß, dass sie ihre Zeit vertrödelt,
sie darf nicht trödeln. Alte Gartengeräte, Gartenhandschuhe,
Tüten mit Samen, die nie gesät wurden. Aber kein Overall.
Der nächste Karton ist wieder von Paul, angefüllt mit Babysachen.
Ihre Augen werden feucht. Er hat sogar die Baby-
decken aufgehoben! Sie ringt nach Atem. Mit einem Seufzer
streicht sie erst leise über Lennys, dann über Dennis' Decke.
Wie zartfühlend Paul doch war. Wie rührend.
Sie war selig gewesen mit ihren Babys. Hatte gewollt, dass
diese Zeit nie zu Ende ging. Vielleicht war sie nicht ganz
sicher gewesen, ob sie heiraten sollte, aber daran, dass sie
Mutter werden wollte, hatte sie nie gezweifelt. Ein zärtliches
Gefühl überkommt sie, und sie erschauert leise, als sie die
Decken wieder in die Hand nimmt. Sie riecht daran, sucht
nach einem Hauch von Babyduft. Nichts, nur ein leichter
Geruch nach Moder. Sie legt sie wieder zurück.
Der nächste Karton, ihr eigener, mit ihrem Brautkleid.
Wie merkwürdig, das wieder zu sehen! Sie weiß noch, wie es
sich angefühlt hatte, als sie es trug. Der innere Konflikt. Die
Ungeduld ihrer Mutter. Beim Gedanken an das Gesicht ihrer
Mutter überläuft Daisy ein leichtes Unbehagen.
Vorsichtig nimmt sie das Kleid aus dem Karton, hält es an
die Schultern und beugt sich vor, um zu sehen, wie es fällt.
Sie hatte das Kleid geliebt. Die kleinen Imitationsperlen, der
hohe Spitzenkragen. Ob es ihr wohl noch passen würde?
Vielleicht ja.
Und sie tut etwas, was sie nicht vorausgesehen hatte. Hier,
in dem düsteren Keller. Sie zieht das Nachthemd aus und
steigt in das Brautkleid. Es kommt ihr gar nicht in den Sinn,
dass das albern sein könnte. Sie tut es einfach, nur um es wieder
an sich zu spüren.
Sie sieht an sich hinunter, der Saum reicht bis auf den Boden
des Kellerraums. Sie dreht sich, um einen Blick nach
hinten zu erhaschen. Versucht sich vorzustellen, wie es wäre,
wenn ihre Söhne sie jetzt sehen könnten. Und lacht bei dem
Gedanken daran.
Sie zieht es aus und legt es sorgfältig in den Karton zurück,
dabei denkt sie wieder an den einen noch ungeöffneten Kar-
ton, in dem das Schmuckkästchen ist. Das eine Anziehung
auf sie auszuüben scheint.
Sie gibt nach. Öffnet den Karton. Entdeckt unter verschiedenen
anderen Sachen das Schmuckkästchen. Sie hebt
es heraus, zum ersten Mal seit sechzig Jahren, und trägt es zur
Treppe. Dort stellt sie es hin, um es später nach oben mitzunehmen,
wenn sie den Overall gefunden hat.
An der Treppe erinnert sie sich an etwas, das der alte Mann
in der Eisenwarenhandlung gesagt hat. Dass man das Wasser
vorher abstellen muss. Also dreht sie den Haupthahn zu.
Dabei kommt sie sich vor wie ein Profi. Nach drei weiteren
Kartons findet sie endlich Pauls Overall. Sie nimmt ihn
mit nach oben, zusammen mit dem Schmuckkästchen. Und
noch etwas anderes nimmt sie mit.
Die Babydecken. Sie geht ins Schlafzimmer, die Arme voll
mit wiedergefundenen Schätzen. Legt den Overall über die
Stuhllehne, stellt das Schmuckkästchen auf den Nachttisch,
breitet die Babydecken liebevoll auf dem Bett aus.
Sie tritt zurück, um die Decken zu bewundern, die jetzt
wieder ein Zuhause haben.
Besuchen Sie uns im Internet:
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Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Copyright der Originalausgabe © 2010 by Stacey McGlynn
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © by
Wilhelm Heyne Verlag, München
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Übersetzung: Christine Naegele
Umschlaggestaltung: bürosüd°, München
Umschlagmotiv: Trevillion Images, Brighton UK
Gesamtherstellung: GGP Media GmbH, Pößneck
Printed in the EU
ISBN 978-3-86800-787-9
2014 2013 2012 2011
Die letzte Jahreszahl gibt die aktuelle Lizenzausgabe an.
Daisy antwortet nicht. Sie ist viel zu korrekt, viel zu zurückhaltend
und verfügt über eine Eleganz, die ihr, bis auf
ihre sehr aufrechte Haltung, niemand anerziehen musste.
Der gerade Rücken war die Hauptsorge ihrer Mutter gewesen,
die sich ein Leben lang auf unwichtige Dinge konzentriert
hatte. Daisy starrt auf ihre Hände, die sich auf ihrem
Schoß ineinander verkrampft haben, und dreht an ihrem
Ring.
Dennis hält ihr den bunten Hochglanzprospekt hin. Daisy
wendet sich ab. Er hält ihn noch einen Moment, dann wedelt
er ungeduldig damit, als wolle er ihre Aufmerksamkeit
fesseln. Doch er bekommt keine Antwort. Dennis seufzt und
legt die Broschüre neben sich auf das Tischchen. »Du kannst
sie ja mitnehmen. Sieh sie dir an, wenn du Zeit und Lust
dazu hast. Jedenfalls finden Amanda und ich, dass das Carillion
ideal für dich wäre. Diese Seniorenresidenzen haben
weitaus mehr zu bieten, als du ahnst. Denk wenigstens mal
darüber nach, okay?«
Daisy sieht ihn an. Ihre Blicke treffen sich. »Ich möchte
jetzt nach Hause.« Sie steht auf und streicht ihren beigefarbenen
Faltenrock über den schmalen Hüften glatt.
Auch Dennis erhebt sich, schwerfällig. »Ich kann dich
heimfahren, wenn du willst.«
Daisy nickt. »Ja, das wäre schön.«
* * *
Ein paar Minuten später fährt Dennis, der Kopf nassgeregnet
auf dem Weg zwischen Haustür und Auto, seine schweigsame
Mutter heim. Sie lassen die dunklen, regennassen Straßen
von Merseyside hinter sich und fahren in Richtung der
dunklen, regennassen Straßen von St. Helens im Nordosten
von Liverpool. Während die Scheibenwischer sich hin und
her bewegen, geht er das Gespräch von vorhin im Geist noch
einmal durch. Er hatte längst nicht so viel erreicht, wie er
sich erhofft hatte. Amanda würde ihm die Hölle heißmachen,
wenn er nach Hause kam.
Langsam biegt er in die Einfahrt der Rosemary Lane Nr. 24
und stellt die Gangschaltung auf »Leerlauf«. Er sieht seine
Mutter an. »Ich hoffe, das Essen hat dir geschmeckt.«
»Ja, danke, es war sehr gut.« Es klingt steif.
»Sieh mal, Mama«, er dreht sich im Sitz zu ihr und sieht sie
an. »Es tut mir leid, aber es ist nicht leicht, wenn ich mich um
zwei Häuser kümmern muss. Zwei Rasen zu mähen, zwei
Elektro- und Wasserleitungssysteme, um die man sich sorgen
muss. Ich weiß es ja zu schätzen, dass du versuchst, mich möglichst
selten um Hilfe zu bitten, aber irgendwas ist doch immer
los, und ich bin auch nicht mehr der Jüngste. Und du weißt ja,
dass Amanda nach Sussex ziehen möchte, um in der Nähe ihrer
Familie zu sein. Und jetzt, wo Gabriel mit der Schule fertig
ist, gibt es keinen Grund mehr, warum wir es nicht machen
sollten. Wir haben schon angefangen, uns Häuser anzusehen.
Sussex ist wunderschön. Du könntest ein gemütliches kleines
Apartment im Carillion haben, ganz in unserer Nähe. Sieh es
doch als ein Abenteuer, als einen neuen Lebensabschnitt.«
Daisy nickt kaum merklich, tief in ihrem Inneren herrscht
ein Tumult der Gefühle.
Dennis fühlt sich etwas erleichtert. Vielleicht hat es ja
doch etwas gebracht.
Sie greift nach dem Türgriff, beugt sich hinüber und gibt
ihm einen Kuss. »Gute Nacht, Dennis.«
»Gute Nacht, Mama.« Dennis sieht ihr zu, wie sie vorsichtig
aussteigt, ehe sie schnell den Plattenweg am Mäuerchen
entlanggeht. Er beobachtet, wie sie hinter der in fröhlichem
Gelb gestrichenen Haustür verschwindet. Die Tür ist von roten
Kletterrosen umrahmt, die an der weißen Außenmauer
des reetgedeckten Fachwerkhauses emporranken.
Er sieht nicht, was sich auf der anderen Seite der fröhlich
gelben Tür abspielt: wie Daisy sich dagegenlehnt, zitternd
am festen Rahmen Halt sucht und dann endlich den Tränen
freien Lauf lässt.
* * *
Am folgenden Samstag ruft Dennis an. Daisy hatte diesem
wöchentlichen Anruf schon den ganzen Vormittag mit Bangen
entgegengesehen. Während der vergangenen Woche waren
ihre Gedanken in einer Endlosschleife um seinen Vorschlag
gekreist. Wechselweise ignorierte sie ihn, wies ihn
zurück, ärgerte sich darüber, empörte sich, verzweifelte daran
und sehnte sich schließlich danach, ihn wieder ignorieren zu
können.
Und nun klingelt das Telefon.
Beim vierten Klingeln nimmt sie den Hörer ab. Sie kann
es nicht mehr unbekümmert klingeln lassen, das wird ihr mit
jedem Tag stärker bewusst. Denn Dennis würde nicht einfach
denken, dass sie in der Küche, im Wohnzimmer oder
im Bad zu tun hat. Nein, er würde vermuten, sie läge in der
Küche, im Wohnzimmer oder im Bad und sei tot. Seufzend
meldet sie sich.
Eine Begrüßung, ein Austausch von Nettigkeiten. Dennis
kommt nicht gleich zur Sache. Erst erklärt er, dass er ihren
Rasen wegen des Regens wieder nicht werde mähen können.
Überhaupt, der endlose Regen, mehr Gesprächsstoff. Dann,
endlich, kommt er zur Sache. Ob sie schon Zeit gefunden
habe, sich mit der Broschüre zu beschäftigen.
Daisy versichert ihm, das habe sie. Das hatte sie tatsächlich.
Indem sie ihr hinterherschaute, als sie in hohem Bogen
in die Mülltonne flog.
Dennis fragt, was sie darüber denke. Über ein Apartment
im Carillion und darüber, nach Sussex zu ziehen.
Daisy unterbricht: »Oh je, wer kann das denn sein? Tut
mir leid, ich muss Schluss machen. Da ist jemand an der Tür.
Schade, dass wir nicht länger reden können.«
Es stimmt fast. Denn Daisy selbst ist an der Tür. Sie war
mit dem schnurlosen Telefon dort hingegangen, nach draußen,
bis in den Regen. »Ja, tut mir leid, ich muss Schluss machen,
jemand an der Tür. Schade, jetzt wird die Sache wohl
bis nächsten Samstag warten müssen. Oder bis der Regen
endlich aufhört und du den Rasen mähen kannst.«
Als sie das Telefon zurückbringt, hat sie ein schlechtes Gewissen.
Aber sie schiebt es beiseite. Sie muss sich beeilen, sie
ist mit ihrem Club verabredet und muss die Bahn erreichen.
Ein frühes Mittagessen mit den Freundinnen, danach Shopping,
dann zum Tee.
Daisy steht vor dem golden gerahmten Spiegel über dem
Waschbecken im Bad und legt Make-up auf. Sie fährt mit
dem Kamm durch ihr hellbraunes Haar, dann trägt sie Lippenstift
auf. Sie sieht sich lange und prüfend an. Ihr Gesicht,
ihr Kinn. Sie sind schon immer lang gewesen, das ist keine
tückische Alterserscheinung. Ihre Züge sind fein, ihr Kopf ist
zierlich geformt. Die Nase schmal. Große blaue Augen hinter
der ovalen Nickelbrille. Die Haut über den Wangenkno-
chen ist noch nicht zu schlaff, die Stirn nicht zu glatt. Das
wellige Haar links gescheitelt, zwei Ponyhälften, die nach
beiden Seiten fallen und auf ihrer Stirn lauter Cs und Js bilden.
Es ist vorn so lang, dass es bis an die Augenbrauen
reicht, aber an den Seiten kurz genug, um die Ohrläppchen
frei zu lassen. Hinten am Kragen ringelt es sich nach innen.
Eine kleine, schlanke Frau von siebenundsiebzig, gesegnet
mit einem stets freundlichen Gesicht, das immer zum Lachen
bereit ist.
Sie holt tief Luft und reckt sich so hoch sie nur kann, voll
Selbstvertrauen, Trotz und Optimismus.
Das leichte, aber gleichmäßige Tropfen der Dusche ignoriert
sie.
* * *
Alle ihre Freundinnen sind versammelt. An der Tür hängen
Schirme und tropfende Regenmäntel. Gladys und Marylin,
Ellen, Cate und Dot, ihre liebste Freundin.
Daisy genießt diese gemeinsamen Essen am Wochenende.
Sie fährt mit dem Zug in die Stadt, und nach dem Lunch
geht's zum Einkaufsbummel ins renovierte Albert Dock. Hier
fühlt sie das Pulsieren der Stadt und hat das Gefühl, dass sie
dazugehört. Zu diesem Liverpool, seit kurzem Kulturhauptstadt
Europas, mit dem Merseyside-Regionalpark und der
ganzen Küstenregion, die zusammen jedes Jahr Millionen
von Besuchern anziehen. Der Cavern Club, das Beatles-Museum
und die Elternhäuser der ehemaligen Bandmitglieder,
zu denen noch immer Fans aus aller Welt pilgern. Die Cafés,
die Pubs, die überwältigend schönen Gebäude, die führenden
Theater - all das ist Teil der Energie dieser Stadt, die
Daisy so liebt.
Wenn nur der Himmel aufhören würde, alles pausenlos
mit seinem Regen abzuwaschen.
Aber auch das ist Liverpool.
Daisy fühlt sich wohl. Sie trägt ein neues Kleid, marineblau
mit einem Besatz in Beige, das gerade bis übers Knie
reicht. Vernünftige, farblich passende Schuhe mit flachem
Absatz. Sie macht Konversation und lächelt. Streicht sich
Butter auf das Brot. Bestellt den Lammrücken und schließt
alle unangenehmen Gedanken aus, die im Hinterkopf bohren.
Im Geiste geht sie noch einmal durch, worüber sie in
letzter Zeit nachgedacht hat: den Vorschlag, den sie Dot machen
will.
Sie wartet auf eine Gesprächspause, dann wendet sie sich
ihrer besten Freundin zu und will ihr ihre Idee unterbreiten.
Sie findet ihren Vorschlag toll und kann es kaum erwarten,
Dot einzuweihen.
Doch Dot kommt ihr zuvor. Ahnungslos erzählt sie, dass
sie den ganzen Sommer über weg sein wird. In Spanien, wo
ihre Tochter ein Haus besitzt. Und damit hat sie Daisys Idee
zunichtegemacht, noch ehe sie sie ausgesprochen hatte. Hat
ihrem Vorschlag, zusammen Urlaub zu machen, keine Chance
gegeben. Urlaub in Irland oder Schottland, vielleicht sogar
in Wales.
Als Paul noch lebte, sind er und Daisy mehrmals im Jahr
verreist. Sie liebten es, unbekannte Ziele zu entdecken, und
hatten zusammen viel von der Welt gesehen. Aber in den
letzten vier Jahren, seit Paul ohne sie abgereist war, ist Daisy
nirgendwo mehr gewesen. Wegzufahren war ihr nicht einmal
mehr in den Sinn gekommen. Bis vor Kurzem. Fast war sie
selbst erschrocken bei dem Gedanken, wieder einmal zu verreisen.
Natürlich in wesentlich kleinerem Rahmen. An irgendein
Ziel, das mit dem Auto zu erreichen war. Sie musste
nur noch überlegen, mit wem. Plötzlich fiel ihr Dot ein, und
nachdem sie eine Weile darüber nachgedacht hatte, kam sie
zu dem Ergebnis, dass ihre Freundin tatsächlich die ideale
Reisegefährtin wäre. Sie beide liebten dieselben Dinge,
brauchten am Nachmittag zur gleichen Zeit ihren Tee, wurden
abends gleichzeitig müde und standen etwa zur selben
Zeit auf. Sie waren auch beide ziemlich aktiv - sogar ungewöhnlich
aktiv für ihr Alter - und gingen beide demselben
Abendritual nach: Cointreau mit Bitter Lemon. Daisy konnte
sich keinen besseren Ersatz für Paul wünschen als Dot.
Doch kaum hatte sie die Worte »Dot, ich habe eine Idee«
ausgesprochen, ließ Dot die Bombe platzen. Daisy kann nur
noch lächelnd nicken und ihr einen schönen Sommer wünschen,
während ihre Augen in der Tischrunde kreisen, um
nach einer neuen Kandidatin Ausschau zu halten.
Sie verwirft eine nach der anderen, und das unheimliche
Gefühl kommt wieder zurück. Die Wände scheinen näher zu
kommen und sie einzuschließen. Ihre Träume werden wirbelnd
wie in einem Abfluss hinabgesaugt. Möglichkeiten,
die sich nicht erfüllen, wie Samen von Pusteblumen, die auf
einer Vogelschwinge vielversprechend in die Lüfte getragen
werden, aber nie auf der Erde ankommen, um aufzugehen.
Sie kann das Gefühl nicht loswerden, dass ihre beste Zeit
endgültig hinter ihr liegt. Und auf der Liste der Dinge, die
sie nicht mehr verwirklichen wird, ist nun auch das Reisen.
Diese ungeheuer lange Liste, die schon so vieles verschluckt
hat.
Sie seufzt. Mit Paul ist so vieles verschwunden. Außer ihrem
Haus in der Rosemary Lane Nr. 24. Das gehört ihr noch
immer. Und das wird nicht weggepackt werden wie die kurzen
Röcke, die Schuhe mit den hohen Absätzen, ihr Reisepass.
Jedenfalls nicht, solange sie darüber zu entscheiden hat.
Dennis und Amanda sollen ruhig gehen. Sollen die beiden
doch nach Sussex ziehen, aber ohne sie.
Sie wird sich jemanden suchen, der ihr jede Woche den
Rasen mäht. Und die tropfende Dusche wird sie selbst in
Ordnung bringen.
Na also, es geht doch.
2
Mittwoch. Es regnet noch immer, sintflutartig. In ganz
England. Die Leute fragen sich, ob es jemals wieder aufhören
wird. Zeitungen und Fernsehen sind voller Berichte von
Flüssen, die über die Ufer getreten sind, von überschwemmten
Straßen, Staus auf den Autobahnen. Nichts als Wasser,
überall.
Und wo kein Wasser ist, da ist zumindest Feuchtigkeit. In
den Häusern, in den Kleidern, in den Knochen und allen
Gliedern. Die Menschen schütteln den Kopf und versuchen,
das Beste daraus zu machen. Erzählen sich, wie grün das Gras
ist und wie gut das Wasser dem Garten tut.
Daisy ist bei der Arbeit. Sie sitzt hinter der Theke der
Stadtbücherei, ihr Teilzeitjob, seit Paul tot ist. Das Geschäft
war ihr allein bald zu viel geworden. Sie bot es ihren Söhnen
an, aber die winkten dankend ab. Dennis ist ganz zufrieden
mit seiner Stelle bei der Zeitschrift »Artefakte, Archäologische
Schätze, Antiquitäten«. Er sprach von einem neuen
Buch, das seinem ersten folgen sollte. Und Lenny? Ihr aus
der Form gegangener, übergewichtiger, nie sehr ernstzunehmender
Sohn ist viel zu sehr damit beschäftigt, nichts zu tun.
Ein richtiger Job mit wirklicher Verantwortung würde ihn in
seinem minimalistischen Lebensstil als geschiedener, freiberuflicher
Fotograf viel zu stark einschränken. Also hat Daisy
den Laden vermietet, zusammen mit der Wohnung darüber,
und lebt von dem Ertrag. Den Büchereijob hat sie nur, um
unter Menschen zu kommen. Um nicht zu verblöden.
Und um an die Bestseller zu gelangen, ehe sie in den Regalen
landen.
Daisy liest in einem Heimwerker-Handbuch. Das Kapitel
über Installationsarbeiten. Sie wird unterbrochen, und ihre
Konzentration ist dahin. Über eine halbe Stunde lang hatte
sie Bilder von Duschköpfen und deren Zuleitungen angestarrt
und dagegen angekämpft, dass die Druckerschwärze
immer wieder vor ihren Augen verschwamm und alles zu
einem undifferenzierten Brei wurde. Deshalb ist ihr die Unterbrechung
ganz willkommen. Eine vertraute Hand auf ihrer
Schulter. Sie dreht sich um und sieht in Grace Parkers
Gesicht.
Daisy versucht gerade, sich eine Antwort auf die Frage zurechtzulegen,
warum ausgerechnet sie sich so intensiv mit
Klempnerarbeiten beschäftigt, als Grace sie mit einer ganz
anderen Neuigkeit überrascht. »Ich höre auf. Ich wollte es dir
persönlich sagen.«
»Du hörst auf?« Daisy fragt sich, was sie damit meint. Nur
für heute? Für immer? Daisy hofft, dass es nicht Letzteres ist.
Ist es aber. »Ich gehe in den Ruhestand.«
Ruhestand! Sirenen, Alarmglocken, Trillerpfeifen. Daisy
weiß nicht, was sie sagen soll. Sie merkt, dass ihr Mund offen
steht, doch sie bekommt ihn nicht wieder zu. Wie alt ist
Grace denn überhaupt? Sie müsste jünger sein als sie, aber
um wie viel? Fünf Jahre? Zehn?
»Heute in zwei Wochen.«
Daisy konzentriert sich auf Graces Ohren. Sie hatte sie
früher schon wahrgenommen, doch jetzt kann sie den Blick
nicht von ihnen abwenden. Diese große, hübsche, stattliche
Frau mit den silbernen Haaren und der reinen Haut, die
kaum Falten hat, hat die spitzesten Ohren, die Daisy je zu
Gesicht gekommen sind. Sie kleben an ihrem Kopf, als habe
ein Pflastermaler oder ein Zeichner politischer Karikaturen
sie als Übertreibung dort hingesetzt, um eine komische Wirkung
zu erzielen. Daisy weiß, dass Grace immer versucht, sie
unter ihren Haaren zu verbergen, aber in ihrem Alter wird
das schwierig. In jüngeren Jahren konnte sie ihre Ohren bestimmt
problemlos verdecken, aber im Alter tritt so vieles zutage.
Das Alter nimmt uns die Krücken weg, die wir gerade
jetzt so dringend brauchen.
Es scheint, dass Daisy die Ohren zu lange angestarrt hat.
Graces Hände wandern nach oben und zupfen das Haar darüber.
Ertappt. Es ist Daisy peinlich. Doch sie fasst sich schnell
und sagt: »Oh, Grace, ohne dich werden mein Montag und
Mittwoch nicht mehr so sein wie sonst. Aber natürlich freue
ich mich für dich, sehr sogar.«
»Danke. Es wird auch nicht leicht sein, aufzuhören nach
all den Jahren, aber Hal und ich finden, dass es an der Zeit
ist. Wir verkaufen das Haus und suchen uns eine Wohnung,
außerdem wollen wir reisen. Wir haben vier Kinder, die über
die ganze Welt verstreut sind. Wir möchten anfangen, das
Leben zu genießen, solange wir noch fit genug sind.«
Daisy nickt verständnisvoll. Findet die passenden Worte.
Und würde am liebsten nach Hause gehen.
* * *
Daisy weiß nicht mehr, wann sie zum letzten Mal in einer
Eisenwarenhandlung war.
Sie steht mit ihrem Schirm vor dem Laden, blickt durch
die Glastür und versucht sich zu erinnern. Sie kommt zu
dem Schluss, dass sie damals wahrscheinlich einen Lutscher
in der Hand hatte und Spangenschuhe trug, an einem Samstagnachmittag
vor langer, langer Zeit, an der Hand ihres Vaters.
Sie möchte ihren nächsten Vorstoß jetzt nicht länger
aufschieben, also geht sie hinein.
Soweit sie bei ihrem Gang durch die Regalreihen sehen
kann, hat sich nicht viel verändert. Derselbe muffige, staubige
Geruch. Dieselbe Beleuchtung. Dasselbe beruhigende
Gefühl, dass es hier Lösungen für alle Probleme des Lebens
gibt. Sie hat ihre Digitalkamera mitgebracht, damit hat sie
ihren Duschkopf fotografiert. Daisy geht ganz nach hinten,
wo ein älterer Mann ihr alle Hilfe angedeihen lässt, die sie
nur braucht. Er ist älter als sie, da ist sie sich ganz sicher. Eingehend
betrachtet er die Fotos. Mit der kleinen silbernen Kamera
in seiner großen roten Hand hat er das Problem im Nu
erkannt.
Die Dichtung des Ventils in der Zuleitung, also dem Teil,
der in der Wand sitzt, ist abgenutzt. Ganz leicht auszuwechseln.
Kinderspiel. Man muss einfach eine neue Dichtung
einsetzen.
Und bald liegen alle Teile, die Daisy dazu braucht, vor ihr
auf der Theke. Der Mann erklärt ihr, wie es gemacht wird,
langsam und geduldig, als habe er alle Zeit der Welt. Hat er
wahrscheinlich auch, denn sie ist die einzige Kundin. Er versichert
ihr, die Sache sei schnell erledigt, dazu brauche sie
nicht mal eine Stunde. Er zeigt nicht den leisesten Zweifel,
dass sie dazu imstande ist, und dafür wird sie ihm ewig dankbar
sein.
Aber es wird sie auch ewig verblüffen. Vielleicht ist er ja
blind oder nicht mehr ganz richtig im Kopf. Doch im Augenblick
fühlt sie sich von diesem Vertrauensvorschuss regelrecht
gestärkt.
* * *
Es ist schon wieder Samstag. Noch immer regnet es. Der Anruf
von Dennis, pünktlich wie ein Uhrwerk. Daisy geht ans
Telefon. Diesmal ist sie vorbereitet. Sie sagt, sie habe jemanden
gefunden, der ihr den Rasen mäht, er brauche sich also
darum nicht mehr zu sorgen. Sie dankt ihm, dass er es so
lange gemacht hat.
Am anderen Ende - Schweigen. Dann überstürzen sich
Fragen und Entschuldigungen. Dennis empfindet, was seine
Mutter da sagt, als Anklage. Doch dann beruhigt er sich und
merkt, dass es eigentlich ganz vernünftig ist. Warum soll sie
nicht einem Jungen ein paar Pfund dafür geben, dass er ihr
den Rasen mäht? Plötzlich ist Dennis ganz froh über die
Nachricht. Über das Carillion fällt kein Wort. Stattdessen
sprechen sie über Gabriels Abschlussfeier, die am nächsten
Tag sein soll. Dennis wird sie um drei Uhr abholen. Dann
legt er auf, den Kopf voll mit Dingen, die noch zu erledigen
sind.
Daisy fühlt sich gut und schlecht zugleich. Gut, weil sie
es fertiggebracht hat, die Geschichte von dem Jungen zu erzählen,
der ihren Rasen mähen wird. Gut, weil Dennis es offenbar
akzeptiert hat. Schlecht, weil es von Anfang bis Ende
gelogen war. Sie hat noch gar nicht versucht, jemanden zu
finden. Gott sei Dank regnet es. Wenn es immer weiter regnen
würde, brauchte sie nie mehr zu mähen.
Sie geht ins Badezimmer, ignoriert das immer stärker wer-
dende Tropfen aus der Dusche und macht sich fertig zum
Lunch mit ihren Freundinnen. Sie steigt über die säuberlich
aufgereihten Werkzeuge, die sie vor drei Tagen dort hingelegt
hat. Gleich Montag früh wird sie es angehen, ehe sie zur Arbeit
geht, wo Grace Parker ihre Abschiedsparty geben will.
3
Es ist ganz leicht. Einfach den Duschkopf von der Wand
abschrauben. In der Zuleitung nachsehen, wo die defekte
Dichtung im Ventil sitzt. Die alte Dichtung herausnehmen
und die neue einsetzen. Den Duschkopf wieder aufsetzen,
fest anschrauben.
Ein Kinderspiel.
Es ist Montag früh. Daisy sitzt bei Tee und Toast und
denkt an ihre bevorstehende Installationsarbeit. Sie wäscht
Teller und Tasse ab, und dabei fällt ihr ein, dass sie eine geeignetere
Arbeitskleidung braucht. Was sie anhat, ist dafür zu
schade. Bestimmt würde sich kein Klempner in normaler
Kleidung an die Arbeit machen. Sie durchwühlt die Kommode.
Sie weiß nicht genau, was sie sucht, geht aber davon
aus, dass sie es schon wissen wird, wenn ihr das Richtige in
die Hände fällt.
Doch es gibt nichts, was sich zum Reparieren einer Dusche
eignet. Allerdings findet sie einen rosa Pulli, der jahrelang
verschollen war, und erinnert sich, wie gern sie ihn getragen
hat. Sie hatte ihn für die Reise nach Spanien gekauft.
Vor ihren Augen steigt ein Bild auf: Daisy, in einem Straßen-
café in Barcelona, in diesem rosa Pulli, mit einer großen weißen
Sonnenbrille und einem Strohhut mit rosa Band. Sie
nimmt den Pulli heraus und denkt daran, wie schade es doch
ist, dass Dot den Sommer in Spanien verbringen wird, und
wahrscheinlich nicht nur diesen Sommer, sondern auch jeden
zukünftigen. Und damit, ohne es zu ahnen, Daisys einzige
praktikable Reiseplanung zerstört hat. Wodurch das Reisen
für Daisy von nun an nicht mehr zum Kapitel »Künftige
Ereignisse«, sondern zu jenem der »Gelebten Erinnerungen«
gehören wird.
Natürlich ist das nicht Dots Schuld. Es ist Daisys eigene
Schuld, und sie weiß es. Sie sollte sich nach Reisen für Singles
erkundigen. Das wird sie vielleicht tun.
Vielleicht aber auch nicht, und auch das ist ihr klar. Sie ist
in ihrem Leben noch nie allein gereist und hält es für unwahrscheinlich,
dass sie jetzt damit anfangen wird.
Sie legt den Pulli zu den Sachen für die Reinigung. Sie
geht aus dem Zimmer und in den Keller, wobei sie sich selbst
ermahnt, den Morgen nicht weiter mit der unnützen Suche
nach geeigneter Kleidung für die Reparatur zu vertrödeln.
Sie sollte sich jetzt lieber um die eigentliche Sache kümmern.
Denn wenn sie sich mit der Handhabung von grundsätzlichen
Dingen wie Schraubenzieher, Hammer, Nägeln und
Zange vertraut machen würde, könnte sie doch in ihrem
Haus bleiben. Sie könnte Dennis und Amanda ziehen lassen
und selbst entscheiden, wann es Zeit wäre, zu gehen.
Sie steigt die Kellertreppe hinab. Betritt den alten Kohlenkeller,
der mittlerweile zum Waschkeller und Lagerraum umfunktioniert
ist. Ihr fällt der alte Overall ein, den Paul immer
getragen hat. Den könnte sie sicher noch irgendwo finden,
der hat Träger und würde ihr nicht wegrutschen. Sie stellt
sich vor, dass es ein gutes Gefühl wäre, etwas zu tragen, was
er angehabt hat. Fast so, als ob er ihr dabei helfen würde, die
Dichtung auszuwechseln.
Im Keller ist es feucht. Wie kann es auch anders sein, bei
dem ewigen Regen!
Sie knipst das Licht an und steht vor einem Stapel Kartons.
Einige von Paul, einige von ihr. Vielleicht wäre es interessant
nachzusehen, was in Pauls Kartons ist. Er ist kein Sammler
gewesen. Ein Leben von achtundsiebzig Jahren, zusammengefasst
in eine Handvoll Kartons. Daisy nimmt sich den ersten
Karton vor und sucht nach einer Beschriftung. Nichts.
Sie findet einen, der ihr gehört. Alles alte Schätze, sie weiß
gar nicht genau, was drin ist. Nur bei einem, da weiß sie es.
Den hat sie nicht mehr geöffnet seit dem Tag, an dem sie ihn
zugemacht hat. Der Karton mit dem Schmuckkästchen.
Daisy öffnet einen von Pauls Kartons. Bowlingschuhe. Seine
und ihre. Dann Schlittschuhe, ein Paar schwarze, ein Paar
weiße. Und Skihosen, Skianoraks und eine ganze Sammlung
von Mützen, Schals und Handschuhen. Daisy erinnert sich
an das Skilaufen in St. Moritz, wo sie die Sachen gekauft hatten.
Unwahrscheinlich, dass sie die noch einmal brauchen
wird. Weggeben.
Sie schließt den Karton und öffnet den nächsten. Alter
Christbaumschmuck, seit vielen Jahre nicht mehr gebraucht.
Daisy berührt dies und jenes mit den Fingerkuppen, nimmt
es heraus, betrachtet es, verloren in Erinnerungen, und legt
es wieder zurück. Dann schließt sie den Karton und wendet
sich dem nächsten zu. Sie weiß, dass sie ihre Zeit vertrödelt,
sie darf nicht trödeln. Alte Gartengeräte, Gartenhandschuhe,
Tüten mit Samen, die nie gesät wurden. Aber kein Overall.
Der nächste Karton ist wieder von Paul, angefüllt mit Babysachen.
Ihre Augen werden feucht. Er hat sogar die Baby-
decken aufgehoben! Sie ringt nach Atem. Mit einem Seufzer
streicht sie erst leise über Lennys, dann über Dennis' Decke.
Wie zartfühlend Paul doch war. Wie rührend.
Sie war selig gewesen mit ihren Babys. Hatte gewollt, dass
diese Zeit nie zu Ende ging. Vielleicht war sie nicht ganz
sicher gewesen, ob sie heiraten sollte, aber daran, dass sie
Mutter werden wollte, hatte sie nie gezweifelt. Ein zärtliches
Gefühl überkommt sie, und sie erschauert leise, als sie die
Decken wieder in die Hand nimmt. Sie riecht daran, sucht
nach einem Hauch von Babyduft. Nichts, nur ein leichter
Geruch nach Moder. Sie legt sie wieder zurück.
Der nächste Karton, ihr eigener, mit ihrem Brautkleid.
Wie merkwürdig, das wieder zu sehen! Sie weiß noch, wie es
sich angefühlt hatte, als sie es trug. Der innere Konflikt. Die
Ungeduld ihrer Mutter. Beim Gedanken an das Gesicht ihrer
Mutter überläuft Daisy ein leichtes Unbehagen.
Vorsichtig nimmt sie das Kleid aus dem Karton, hält es an
die Schultern und beugt sich vor, um zu sehen, wie es fällt.
Sie hatte das Kleid geliebt. Die kleinen Imitationsperlen, der
hohe Spitzenkragen. Ob es ihr wohl noch passen würde?
Vielleicht ja.
Und sie tut etwas, was sie nicht vorausgesehen hatte. Hier,
in dem düsteren Keller. Sie zieht das Nachthemd aus und
steigt in das Brautkleid. Es kommt ihr gar nicht in den Sinn,
dass das albern sein könnte. Sie tut es einfach, nur um es wieder
an sich zu spüren.
Sie sieht an sich hinunter, der Saum reicht bis auf den Boden
des Kellerraums. Sie dreht sich, um einen Blick nach
hinten zu erhaschen. Versucht sich vorzustellen, wie es wäre,
wenn ihre Söhne sie jetzt sehen könnten. Und lacht bei dem
Gedanken daran.
Sie zieht es aus und legt es sorgfältig in den Karton zurück,
dabei denkt sie wieder an den einen noch ungeöffneten Kar-
ton, in dem das Schmuckkästchen ist. Das eine Anziehung
auf sie auszuüben scheint.
Sie gibt nach. Öffnet den Karton. Entdeckt unter verschiedenen
anderen Sachen das Schmuckkästchen. Sie hebt
es heraus, zum ersten Mal seit sechzig Jahren, und trägt es zur
Treppe. Dort stellt sie es hin, um es später nach oben mitzunehmen,
wenn sie den Overall gefunden hat.
An der Treppe erinnert sie sich an etwas, das der alte Mann
in der Eisenwarenhandlung gesagt hat. Dass man das Wasser
vorher abstellen muss. Also dreht sie den Haupthahn zu.
Dabei kommt sie sich vor wie ein Profi. Nach drei weiteren
Kartons findet sie endlich Pauls Overall. Sie nimmt ihn
mit nach oben, zusammen mit dem Schmuckkästchen. Und
noch etwas anderes nimmt sie mit.
Die Babydecken. Sie geht ins Schlafzimmer, die Arme voll
mit wiedergefundenen Schätzen. Legt den Overall über die
Stuhllehne, stellt das Schmuckkästchen auf den Nachttisch,
breitet die Babydecken liebevoll auf dem Bett aus.
Sie tritt zurück, um die Decken zu bewundern, die jetzt
wieder ein Zuhause haben.
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Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Copyright der Originalausgabe © 2010 by Stacey McGlynn
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © by
Wilhelm Heyne Verlag, München
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Übersetzung: Christine Naegele
Umschlaggestaltung: bürosüd°, München
Umschlagmotiv: Trevillion Images, Brighton UK
Gesamtherstellung: GGP Media GmbH, Pößneck
Printed in the EU
ISBN 978-3-86800-787-9
2014 2013 2012 2011
Die letzte Jahreszahl gibt die aktuelle Lizenzausgabe an.
... weniger
Bibliographische Angaben
- Autor: Stacey McGlynn
- 351 Seiten, Maße: 14,4 x 22 cm, Geb. mit Su.
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3868007873
- ISBN-13: 9783868007879
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