Die zwei Gesichter der Liebe
Als die in Deutschland aufgewachsene Shukrana mit 15 verheiratet werden soll, flieht sie sich in die Arme Brahims, der verspricht, sie vor der Zwangsheirat zu bewahren. Doch das Leben mit ihm wird für Shukrana schon bald zur Hölle. Denn auch...
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Als die in Deutschland aufgewachsene Shukrana mit 15 verheiratet werden soll, flieht sie sich in die Arme Brahims, der verspricht, sie vor der Zwangsheirat zu bewahren. Doch das Leben mit ihm wird für Shukrana schon bald zur Hölle. Denn auch Brahim ist den Traditionen des Balkans verhaftet. Erst als Brahim droht, Shukrana von ihrer Tochter zu trennen, hat sie den Mut zu fliehen.
Die zwei Gesichter der Liebe von Schukrana McFadyen, F.-A. Heinen
Brahim schlug sofort zu, als ich die Wohnung betrat. Schon im Hausflur trafen mich die ersten Faustschläge im Gesicht. Er schleuderte mich gegen die Garderobe, ein Kleiderhaken riß von der Wand. Während ich wie in Zeitlupe zu Boden rutschte, floß mir ein dünnes Rinnsal Blut ins rechte Auge. Außer sich vor Wut, griff mein Mann zu unserem Staubsauger und schlug mit dem Metallrohr auf mich ein. Sein Gesicht war eine haßverzerrte Fratze. Es war unheimlich still im Haus. Nur Brahims angestrengtes Keuchen war zu hören und das dumpfe Klatschen des Staubsaugerrohres, das immer wieder auf meinen Körper niedersauste. Ich hielt die Luft an, denn meine Hilferufe hätte ohnehin niemand gehört. Ein Treffer an der Stirn ließ meinen Kopf explodieren. Der nächste Schlag zerriß mein Kleid am Oberschenkel, ein dunkler Blutfleck breitete sich in Windeseile an den zerfransten Stoffrändern aus.
Doch er tobte weiter wie ein Wahnsinniger. Endlos hagelten die Schläge auf meinen Körper, bis mir schwarz vor Augen wurde und mich gnädig eine Ohnmacht umfing.
Als ich das Bewußtsein wiedererlangte und mich aus verquollenen Augen umschaute, sah ich überall Blut im Flur. Brahim war weg, aber meine Tochter saß neben mir. Alles war rot. Mein Körper war völlig zerschunden, Arme und Beine dick angeschwollen, mein Bauch brannte wie Feuer. Ich hatte starke Blutungen, und da wußte ich: Mein Kind war tot – noch im Mutterleib erschlagen vom eigenen Vater.
Während ich mich mühsam an der Wand hochtastete, versuchte ich nachzudenken. Ich war jetzt 20 Jahre alt, und hinter mir lag die Hölle. Die einzelnen Stationen meines Lebens rasten wie ein Film durch meinen Kopf. Bereits als Kind war ich, Schukrana, zwischen die Mühlsteine zweier Kulturen geraten. Von Anfang an war für mich vieles anders gewesen als für meine Altersgenossen. Sie durften alles, ich durfte nichts. Als mich mein Vater auf dem Balkan zu einer Ehe mit einem völlig unbekannten Mann zwingen wollte, war ich gerade 15 Jahre alt. Ich floh zu dem jungen Kosovo Albaner Brahim, der mich gegen den Willen unserer beiden Sippen zur Frau nahm. Im Hause seiner Eltern wurde ich gehalten wie eine Sklavin. Er selbst schlug und vergewaltigte mich. Und jetzt hatte er unser Kind getötet.
In dieser Minute stand für mich fest, daß ich mein Leben ändern mußte. Ich würde den Kampf aufnehmen für meine Freiheit und für das Recht, so zu leben wie eine normale Mitteleuropäerin. Nie wieder würde ich es irgend jemandem erlauben, mich zu schlagen. Ich war wild entschlossen, aus der frauenverachtenden Welt des islamischen Kosovo in die moderne Welt meiner eigentlichen Heimat zu wechseln.
Mein Vater war in jenem Teil Jugoslawiens an der Grenze zu Albanien aufgewachsen, den man gemeinhin als »tiefsten Balkan« bezeichnet. Dort hatte er die seit Jahrhunderten kaum veränderten Bräuche seiner Väter übernommen, und sie waren ihm auch noch Maß aller Dinge, als er im Jahr 1970 als Gastarbeiter nach Deutschland kam. Seiner Frau und uns Kindern zwang er diese Traditionen ohne Wenn und Aber auf, obwohl sie uns in Deutschland zu Außenseitern stempelten.
Da ich in der Bundesrepublik aufwuchs, hatte ich als junges Mädchen lediglich bei Ferienbesuchen die Gelegenheit, Vaters Heimat kennenzulernen. Aufgewachsen war er in einem kleinen Dorf, sechs Autostunden südlich von Belgrad. Die Leute dort sprachen einen albanischen Dialekt, und sie trugen ärmliche Kleider, die sie von den anderen Jugoslawen unterschieden. Sie lebten ausschließlich von der Landwirtschaft. Angebaut wurden Tabak, Kartoffeln und Weizen, und die Ernte verkauften die Bauern auf einem Markt in der Stadt. Selbst für jugoslawische Verhältnisse war dieser Teil des Landes äußerst hinterwäldlerisch. Es gab weder fließendes Wasser noch Kanalanschluß in den Häusern. Was diese Dörfler jedoch noch mehr von denen anderer Regionen des Landes unterschied, waren ihre althergebrachten Sitten. Sie galten ihnen seit jeher als unumstößliche Gesetze, an denen man auch dann nichts änderte, wenn neue staatliche Verordnungen den Traditionen entgegenstanden. Die Blutrache war sicher nicht mehr alltäglich, aber auch nicht ungewöhnlich. Die Sitten lehnten sich teilweise an muslimische religiöse Regeln an, zum Teil entstammten sie aber auch archaischen Zeiten, in denen die Männer alle Rechte gehabt hatten, während die Frauen vollkommen rechtlos gewesen waren. Die Männer faßten alle wichtigen Beschlüsse, ohne daß ihre Frauen und Töchter ein Mitspracherecht besaßen. Sie waren in die Küche verbannt. Die Männer hatten das unumschränkte Recht, ihre Frauen zu züchtigen, und die Töchter durften sich noch nicht einmal ihre Ehemänner aussuchen, denn die Väter versprachen sie bereits als Kind ihrem künftigen Ehemann.
Mutter stammte aus einer größeren Stadt, wo sie unter sehr viel westlicheren Lebensumständen aufgewachsen war. Sie hatte eine ordentliche Schulbildung genossen, und in ihrer Stadt gab es längst alles, was zu einer modernen Infrastruktur gehört. Mama trug zwar schlichte, aber eher städtisch wirkende Röcke. Auch sie war dazu erzogen worden, Respekt vor Männern zu haben, doch in ihrer Heimat waren die Frauen trotzdem nicht so rechtlos wie in der Gegend, aus der Vater stammte. Zwischen Mutters und Vaters Herkunft lagen Welten, und nach der Hochzeit brauchte sie viel Zeit, um sich an seine völlig anderen Sitten zu gewöhnen.
Nach diesen Sitten hätte meine Mutter eigentlich nach der Hochzeit aus ihrer Stadt zur Familie ihres Mannes auf das Dorf ziehen müssen. Doch in diesem Fall machte man eine Ausnahme, weil die Mutter meiner Mutter allein lebte, wodurch sie auf die Hilfe ihrer Tochter und des Schwiegersohnes angewiesen war. So zog Vater in das winzige Holzhäuschen seiner Schwiegermutter in der Stadt, wo es nur drei Zimmer gab, und selbst die waren nicht groß. Ein Zimmer bewohnte meine Oma, in einer Kammer war die Küche, und Vaters gesamte Familie mußte sich in den letzten Raum zwängen. Meine Eltern bekamen in schneller Folge vier Kinder, und es wurde furchtbar eng.
In dieser Situation ließ sich mein Vater im Sommer 1970 von Anwerbern, die Gastarbeiter für deutsche Fabriken anheuerten, überreden, sein Land zu verlassen. Angesichts der Lebensumstände im Kosovo konnte für Papa in Westdeutschland alles nur besser werden. Er versprach sich und seiner Familie eine goldene Zukunft und wurde Gastarbeiter.
Zunächst verließ mein Vater seine Heimat allein, während Mutter mit vier Kindern zurückblieb. Wenig später, am 17. September 1970, kam ich zur Welt, und meine Eltern gaben mir den Namen Schukrana. Schon im Dezember holte Vater seine gesamte Familie nach Deutschland, wo er es gut getroffen hatte. Er lebte in einem großen Haus mit freundlichen Nachbarn. Vater hatte eine Arbeitsstelle in einem Zementwerk in der Eifel gefunden, wo er mehr Geld verdiente als jemals zuvor in seinem Leben. Die Arbeit war zwar schwer, aber die Kollegen waren nett, und Vater galt als fleißiger Mann.
Im Dorf kannte jeder jeden: Dort gab es einen Metzger, zwei Bäcker, ein Lebensmittelgeschäft und einen Frisör. Die Leute waren streng katholisch, und was der Pfarrer von der Kanzel predigte, galt in diesem Teil der Eifel als Gesetz. Obwohl wir ihnen als Muslims fremd waren, nahmen die Eifeler uns freundlich auf. Meine Erinnerungen an diese Zeit gleichen denen deutscher Kinder. Wir spielten zusammen, freundeten uns an und stritten uns, wie Kinder das eben tun. Einen Spielplatz brauchten wir nicht: Die ganze Gegend mit ihrer bergigen, weitläufigen Natur diente uns als riesiger Abenteuerspielplatz.
Mutter erzählte uns Kindern oft, wie freundlich und hilfsbereit die Nachbarn gewesen waren, als wir in der Eifel ankamen, denn wir hatten damals praktisch nichts besessen: Tassen und Teller fehlten ebenso wie Tische und Stühle, nicht einmal Betten hatten wir, aber die deutschen Nachbarn gaben uns alles, was wir benötigten.
Wir waren zunächst fünf Geschwister: Orhan, mein ältester Bruder, und Fadmir, der Zweitgeborene; meine ältere Schwester heißt Mevlyde, dann wurde mein Bruder Mehmed geboren, bevor ich schließlich zur Welt kam. Fünf Jahre später kam als kleiner Nachzügler noch meine Schwester Naslije hinzu. Die älteren Geschwister besuchten im nächstgrößeren Nachbarort die Grundschule. Zum Kindergarten mußte ich nicht, denn Vater meinte, daß Mutter genug Zeit hätte, um die Kleinen zu betreuen.
Auch die Brüder meines Vaters lebten mit ihren Frauen und Kindern in der Nähe. Das war wichtig, denn die Sippe entschied alles gemeinsam. Beschlüsse, die Familienmitglieder betrafen, wurden im Familienrat getroffen. Das war so üblich im Kosovo, und diese Tradition behielten alle Landsleute in Deutschland bei, denn so waren sie es gewöhnt: Die Sippe stand immer an erster Stelle. In diesem Familienverbund durften nur die Männer entscheiden, die Frauen hatten noch nicht mal das Recht mitzureden. Man teilte ihnen später die Beschlüsse mit, wenn man fand, das sei nötig. Der Ehemann, der Vater und der Schwiegervater regierten die Frauen der Familie wie absolute Monarchen. Das lernten wir Kinder so von unseren Eltern, und wir fanden es normal.
Für die Familie war klar, daß wir nicht für immer in Deutschland bleiben würden. Vater wollte zurück auf den Balkan, sobald er genügend Geld verdient hätte. Somit hätte es langfristig eher geschadet als genutzt, sich an die Verhältnisse in Deutschland anzupassen. Wir behielten also die althergebrachten Sitten bei, damit wir uns später im Kosovo nicht wieder würden umstellen müssen.
Unsere Nachbarn sahen bei Besuchen sofort, daß wir Muslims waren. Bei uns zu Hause hing ein Bild der Kaaba in Mekka an der Wand, Gebetsketten zierten die Tapete, Schweinefleisch kam nicht auf den Tisch, und die islamische Fastenzeit wurde eingehalten. Allerdings hielt unsere Familie sich nicht an die Vorschrift, fünfmal täglich auf Knien in Richtung Mekka zu beten, und auch das islamische Alkoholverbot nahm niemand ernst.
Die religiösen Unterschiede fielen uns Kindern vor allem Weihnachten auf. Wenn bei unseren Nachbarn das Christkind kam und für alle Familienmitglieder Geschenke brachte, war bei uns zu Hause ein ganz normaler Wochentag. Diesen christlichen Feiertag ignorierten meine Eltern – wie sie es im Kosovo auch getan hatten. Später erzählten die deutschen Kinder ganz stolz, was sie zu Weihnachten bekommen hatten, und ich wurde ganz traurig, weil meine Eltern mir nichts schenkten. Ähnlich war es mit dem Osterhasen, der in den Gärten unserer Nachbarn Eier und Süßigkeiten versteckte. Manchmal sah ich über den Zaun, wie sich drüben die Kinder über die kleinen Geschenke freuten. Selbst Geburtstage wurden in unserer Familie ignoriert, was so weit ging, daß ich als Schülerin gelegentlich erst durch die Glückwünsche von Lehrern oder Schulkameraden darauf aufmerksam gemacht wurde, daß ich wieder ein Jahr älter geworden war.
Sowohl für unsere Eltern und die Onkel als auch für meine Brüder bestand kein Zweifel daran, daß mein Lebensweg und der meiner Schwestern bereits vorgezeichnet war: Spätestens mit 15 Jahren würde ich einen muslimischen Mann aus dem Kosovo heiraten, und bis zum Tod würde mir als Lebensperspektive nur noch die Kindererziehung und die Küche bleiben. Doch darüber machten meine Schwester Mevlyde und ich uns als Kinder noch keine Gedanken.
Einige Jahre nachdem wir in die Eifel gekommen waren, zog unsere Familie um. Vater hatte in einem Dorf, etwa 15 Kilometer entfernt, eine besser bezahlte Arbeitsstelle in einer Glashütte gefunden, wo wir eine billige Firmenwohnung in der Nähe der Fabrik mieten konnten. Papa fuhr inzwischen einen Gebrauchtwagen, womit unsere Familie ein Stück »normaler« geworden war, meinten wir Kinder.
Aber als wir – Mevlyde und später auch ich – zur Schule gingen, da spürten wir sehr deutlich, daß wir anders waren als die Kinder, die wir kennenlernten. Für Vater und Mutter war die Schule die unwichtigste Nebensache der Welt: Lesen und Schreiben sei überflüssig für ein Mädchen, sagten meine Eltern, viel wichtiger sei, daß eine junge Frau den Haushalt ordentlich führen könne. Ein Mädchen müsse kochen, nähen und putzen, und dafür benötige man weder Algebra noch englische Sprachkenntnisse. Die wichtigeren Entscheidungen werde ohnehin der spätere Ehemann treffen.
Nun, in der Schule war man anderer Meinung: Bildung sei wichtig, auch für Mädchen, damit sie später selbständig werden könnten. Wissen sei nötig, um ein guter Staatsbürger zu werden, und ein Lehrer prophezeite mir einmal unter vier Augen eine gute Zukunft: »Du hast Köpfchen, aus dir kann mal was werden.«
Ich sah, daß ich in zwei völlig verschiedenen Welten lebte: Morgens in der Schule war es das Abendland, in dem die westlichen Werte, wie Demokratie und die Gleichheit von Mann und Frau, proklamiert wurden. Nachmittags, zu Hause, fühlte ich mich hingegen auf den Balkan versetzt, wo Frauen nichts galten, und wo nur die Männer entschieden. Als junges Mädchen konnte ich das alles natürlich noch nicht verstehen. Ich spürte nur, daß ich zwischen den Stühlen saß. Mit dem Verstand begriff ich, dass das, was die Lehrer sagten, richtig war, aber im Herzen fühlte ich mich zu meinen Eltern und damit auch zu ihren Sitten hingezogen. Diesen Konflikt konnte ich nicht lösen, und er prägte mein Leben in Deutschland, solange ich zurückdenken konnte. Ich lernte zwar, damit umzugehen, aber oft genug war es doch sehr lästig und auch demütigend, als in Westeuropa erzogenes Mädchen den Gesetzen des Kosovo gerecht werden zu müssen. So hatte ich eine Freistunde, wenn meinen Klassenkameraden Religionsunterricht erteilt wurde, was mich zur Außenseiterin stempelte. War Schwimmunterricht angesagt, konnte ich nicht teilnehmen, weil Vater mir das verboten hatte: »Ein Mädchen zeigt sich nicht halbnackt.« Bei Klassenfahrten durfte ich nicht mitfahren, weil da »wer weiß was« passieren könne. Dauerwelle, ein Strähnchen im Haar, Schminke, Make-up: Das sah ich nur bei meinen deutschen Freundinnen, ich durfte hingegen nur Wasser und Seife an meinen Körper lassen. Auch enge Kleidung hatte Vater als Zeichen westlichen Sittenverfalls untersagt. Ich mußte in weiten, altmodischen Kleidern herumlaufen, die allen, die mich in Deutschland sahen, sofort signalisierten: Das ist das Aschenputtel vom Balkan. Nur selten versuchte ich, diese Verbote zu umgehen. Dann verließ ich beispielsweise unser Haus mit einem Rock, zog mir aber auf dem Weg zur Schule im Hause einer Freundin enge Jeans und ein T-Shirt an. Doch das tat ich eher selten, weil mich nachher doch Schuldgefühle gegenüber meinen Eltern plagten.
Für die in westlichen Augen merkwürdigen Bekleidungsgewohnheiten meiner Familie war hauptsächlich mein Vater verantwortlich. In dem Dorf, aus dem er stammte, trugen die Leute fast alle ihre traditionelle Kleidung. Die älteren Frauen trugen die Dimija, eine aus zwölf Metern Stoff gefertigte Pumphose. Eine kräftige Kordel in einem Hohlsaum hielt diese Hose auf der Taille. Jüngere Mädchen besaßen ein ähnliches Kleidungsstück namens Kulle, für das nur halb soviel Stoff verwendet wurde. Die Frauen trugen immer Kopftücher, selbst wenn sie zu Hause waren, wo sie die Tücher allerdings hinter dem Kopf zubinden durften, während sie auf der Straße das Tuch immer unter dem Kinn verknoteten, damit ihr Gesicht weitgehend bedeckt war. Im Dorf verbargen die Frauen ihre Körper unter langen Mänteln.
Ein primitives Schuhwerk, das immer dann getragen wurde, wenn man weite Wege vor sich hatte, hieß Nalle. Das waren fußgroße Bretter, unter die man vorn und hinten kleine Holzklötze nagelte. Gehalten wurde die Nalle, ähnlich wie Sandalen, durch einen Lederriemen um den Fußrücken.
In krassem Gegensatz zu dieser ärmlichen Aufmachung stand der üppige Schmuck der Frauen: Fast alle waren mit Goldringen und Ketten reichlich ausgestattet. Dieses Geschmeide bekamen sie bei der Hochzeit von der Familie ihres künftigen Ehemannes. Die Männer trugen normalerweise Stoffhosen und Hemden, und sie gingen barfuß, wenn sie das Dorf nicht verlassen mußten. Den Kopf bedeckte eine weiße Filzmütze. Die Älteren hatten um diese Mütze zusätzlich einen langen Schal geschlungen, und auch um die Hüfte wickelten sie ein großes Tuch.
Als Vater nach Deutschland kam, sah er natürlich, daß man sich hier anders kleidete, und er suchte nach Kompromissen, aber die endeten für meine Schwestern und mich regelmäßig so, daß uns jedermann sofort als Kinder aus dem Kosovo erkennen konnte.
Als meine ältere Schwester Mevlyde 13 Jahre alt war, änderte sich Vaters Verhalten, denn er sorgte sich um ihre Zukunft. Von entscheidender Bedeutung für die Vermittlung seiner Töchter an einen passenden Ehemann auf dem Balkan war in Vaters Augen deren Unschuld. Eine Tochter, die nicht mehr Jungfrau war, hätte er im Kosovo nicht verheiraten können. Das hieß, Papa mußte unter allen Umständen verhindern, daß wir Mädchen Kontakte zu deutschen Jungen knüpften, weil die Gefahr in seinen Augen einfach zu groß war, daß uns ein deutscher, womöglich auch noch christlicher Junge verführen könnte. Vater hätte dadurch sein Gesicht verloren, seine Tochter die Ehre.
Mevlyde fand viele Freunde, und sie schien sehr glücklich zu sein, wenn sie mit den Jungs zusammen war. Als sie in das Alter kam, wo man nicht mehr zu Hause spielt, sondern durch den Ort ziehen möchte, legte Vater ihr unsichtbare Fesseln an. »Ihr bleibt auf dem Hof«, befahl er kurz und bündig. Meine Schwester und ich dachten, daß Vater sich Sorgen um uns machte, wie das alle Väter auf der Welt tun, aber in Wahrheit wollte er uns von den Jungen isolieren, um die drohende »Schande« von seiner Familie fernzuhalten, während unsere Brüder sich frei bewegen durften.
»Vater kommt aus einem kleinen Dorf in Jugoslawien. Dort werden die Mädchen sehr streng erzogen«, erklärte Mutter uns, als meine Schwester sich schluchzend bei ihr beschwerte.
»Bitte, bitte, laß mich zu meinen Freundinnen. Wir tun doch nichts Verbotenes«, flehte Mevlyde Mutter an.
Doch selbst wenn sie gewollt hätte, wäre sie nicht gegen Vaters Sittenstrenge angekommen, und im Lauf der Zeit waren seine Vorstellungen von Moral und Anstand auch die ihren geworden.
Aber Mevlyde wollte sich nicht einsperren lassen, deshalb ging sie einfach weiter mit ihren Freunden weg. Vater schlug sie fürchterlich, als er dahinter kam, denn er fühlte sich von ihr betrogen, und er hatte keinen Zweifel daran, daß die Prügel für seine Tochter gerechtfertigt waren.
»Du weißt, daß du das nicht darfst. Du hast mich hintergangen«, hielt er ihr vor.
Aber Mevlyde wollte so sein wie ihre deutschen Freundinnen. Sie ging trotzdem wieder fort, und Mutter verriet sie nicht, denn sie hatte Mitleid mit ihrer Tochter. Eines Tages kam Vater von der Arbeit, und seine Älteste war nicht da. Völlig außer sich vor Zorn lief er mit meinen Brüdern los, um seine Tochter zu suchen. Sie schlugen Mevlyde, als sie sie nach Hause brachten.
»Warum hast du das getan?« fragte ich sie später, und sie antwortete immer noch schluchzend: »Ich bin bereit, mich für meinen Spaß verprügeln zu lassen.«
Verständnislos sah ich sie an. Ich war zu jung, um zu begreifen, wie schwer es ist, sich Fesseln anlegen zu lassen, wenn man die Freiheit kennt.
Vater war klar, daß er seine 15jährige Tochter in Deutschland auf die Dauer nicht einfach wegsperren konnte.
»Wir müssen sie verheiraten, es geht nicht mehr anders«, verkündete er Mutter eines Tages.
Mama wagte den Einwand: »Aber sie ist noch so jung, was werden die deutschen Behörden sagen?«
»Mir fällt schon was ein«, beruhigte Vater sie. Wenig später hatte Papa einen passenden Bräutigam im Kosovo gefunden, und beide Väter »versprachen« ihre Kinder einander, was etwa die Bedeutung einer Verlobung hatte.
»Das ist bei uns ganz normal«, erklärte Mutter mir. »Immer sucht der Vater einen Mann für seine Tochter. Sie wird ihn nicht kennen, aber sie muß ihn dennoch heiraten. Früher wurden die Mädchen schon als kleines Kind einem Mann versprochen, und mit zwölf Jahren wurde geheiratet.« Mevlyde hatte gesehen, daß das in Deutschland nicht üblich war, und sie wollte noch nicht heiraten, und wenn überhaupt, dann nur einen Mann, den sie sich selbst aussuchte und den sie liebte. Sie ging zum Jugendamt und bat um Hilfe.
Doch ihre Hoffnung, daß die deutschen Behörden sie vor der Zwangsheirat mit einem völlig unbekannten Mann auf dem Balkan schützen könnten, war vergeblich. Vater fuhr in den Sommerferien mit uns nach Jugoslawien, angeblich um Urlaub zu machen. So war die Familie dem Einfluß deutscher Behörden entzogen. Wir wohnten in einem Haus in der Stadt, aus der meine Mutter stammte.
Vater blieb bei seinem Entschluß, Mevlyde in diesem Urlaub zu verheiraten. »Das ist meine Pflicht«, erklärte er. Mama weinte jedesmal, wenn das Gespräch auf die Hochzeit kam, denn sie wußte, was ihrer kleinen Tochter bevorstand, aber sie konnte nichts verhindern, denn ihr Mann und dessen Brüder hatten längst und endgültig entschieden. Mevlyde war erst 15 Jahre jung, und sie wehrte sich mit dem Mut der Verzweiflung dagegen, die Ehefrau irgendeines Fremden zu werden.
»Hilf mir, Mutter«, bat sie. »Ich bin so jung, ich will leben wie die Frauen in Deutschland, ich will mir meinen Mann selbst aussuchen.« Doch Mutter konnte nicht helfen. »Es ist nun mal so. Alle Mädchen müssen heiraten«, tröstete sie ihre Tochter.
Eine Woche später begannen die Hochzeitsfeiern. Fremde Männer kamen in das Haus, das meinen Eltern in der Kleinstadt gehörte. Sie schleppten in Koffern Sachen herbei, die sie in einem Zimmer, in dem meine Schwester schlafen mußte, an die Wände hängten, und Mutter erklärte mir, wie eine traditionelle Hochzeit im Kosovo abläuft: »Wenn eine Frau heiratet, darf sie nichts aus ihrem früheren Leben mit in die Ehe nehmen. Der künftige Mann muß alles neu kaufen, was sehr teuer wird, denn die Braut braucht Trachtenkleider, normale Alltagskleidung und natürlich ein Hochzeitskleid. Dazu kommt noch Schmuck, und meistens bekommt die Braut vier goldene Armbänder, eine kleine goldene Kette und eine zwei Meter lange Kette, acht goldene Ringe und zwei Paar Ohrringe. Oft verlangt der Vater der Braut noch mehr für seine Tochter. Manchmal wird der Brautpreis auch in Bargeld bezahlt, wobei die Kaufsumme zwischen einigen hundert und zigtausend Mark schwanken kann. Wenn der Vater des Ehemannes bestreitet, daß die Braut den Preis wert ist, muß man mit ihrem Vater verhandeln. Wird man sich nicht einig, dann gibt es keine Hochzeit.«
Doch Vater brach mit dieser Tradition. Er sagte, er wolle seine Tochter nicht verkaufen, vielmehr solle die Familie seines Schwiegersohnes das anschaffen, was sie für richtig halte. Papa wollte Mevlyde mit dieser Großzügigkeit helfen: Wenn er einen Preis für sie festgesetzt hätte, dann wäre es in Zukunft ihrem Mann oder ihrem Schwiegervater ein leichtes gewesen, Mevlyde zu allem Erdenklichen zu zwingen – das alles mit dem Hinweis, sie hätten für Mevlyde Geld bezahlt. So war der Handel perfekt: Vater hatte für seine Tochter einen Bräutigam bestimmt, den sie noch nie gesehen hatte.
Am nächsten Morgen, einem Donnerstag, kamen nur Frauen zu uns. Mevlyde mußte baden, und ihr schönes langes Haar wurde zu einem Zopf gedreht, dann mußte sie mit anderen Mädchen in einem Zimmer warten. Mittags kam eine ältere Verwandte in den Raum, und als Mevlyde kurz abgelenkt war, warf die Frau meiner Schwester ein rotes Tuch über den Kopf. Mevlyde weinte und wehrte sich, denn das war so Brauch: Sie sollte bei dieser Prozedur zeigen, daß sie nicht heiraten wollte, was ihr nicht schwerfiel.
Im Nebenzimmer weinte meine Schwester noch lange. Die Frauen versuchten, sie zu trösten, und alle nahmen Mevlyde in die Arme. Sie sangen Lieder im typischen albanischen Dialekt des Kosovo, die davon handelten, daß nach dem Ende der Jungfräulichkeit das harte Leben beginnt. Andere Gesänge beschrieben die Trennung von der alten Familie und den Gehorsam, den Mevlyde künftig ihrem Schwiegervater schuldete. Mama konnte die Tränen nicht zurückhalten, denn sie wußte genau, daß ihrer kleinen Tochter ein hartes Schicksal widerfahren würde.
Am Samstag, einen Tag vor der eigentlichen Hochzeit, tanzten alle Frauen einzeln. Die Mädchen saßen um den typischen runden Tisch, der statt Beinen nur ganz kurze Stützen hatte und Sofer genannt wurde. Sie machten mit Handtrommeln Musik, während meine Schwester mehrfach umgezogen wurde. Sie mußte alle Kleider anprobieren, die ihr Mann für sie gekauft hatte. Später wurde Mevlydes Hand in einen Topf mit Henna getaucht, dann mußte sie ihre Fingerabdrücke für jedes Familienmitglied auf einem Karton hinterlassen, als symbolisches Zeichen des Abschieds.
Am Sonntag wurde meine Schwester schließlich schön zurechtgemacht: Man zog ihr das Hochzeitskleid an und richtete ihre Frisur, und sie wurde zum ersten Mal in ihrem Leben geschminkt, denn zuvor hatte sie weder Lippenstift noch Nagellack benutzen dürfen. Dann kam die Familie des Bräutigams mit vielen geschmückten Autos. Meine Schwester wurde in den Raum geführt, wo die Gäste warteten. Dort mußte sie langsam auf und ab schreiten und sich dabei aufrecht halten. In diesem Moment durfte sie auch nicht weinen.
Sie zitterte am ganzen Leib, als stünde sie unter Strom, denn Mevlyde fürchtete sich davor, mit wildfremden Menschen mitzugehen und abends mit einem Mann, den sie noch nie gesehen hatte, das Bett zu teilen. Sie hatte Angst davor, weil sie in dieser Nacht ihre Jungfräulichkeit verlieren würde. Mevlyde wurde vor die älteste Frau der Familie ihres Bräutigams gestellt, und sie machte eine Handbewegung zur Begrüßung. Dann nahm die Frau ein rotes Tuch, das die Gäste über meiner Schwester ausbreiteten und das vier Frauen an den Ecken festhielten. Die ältere Frau legte an jede Seite einige Bonbons: Die sollten ein Symbol sein für das süße Leben, das die Braut erwartete. Schließlich mußte Mevlyde rückwärts den Raum verlassen, denn als junge Braut durfte sie der Familie ihres Mannes nicht den Rücken zukehren, und wenig später stieg die ganze Hochzeitsgesellschaft in die Autos.
Mevlyde wurde der Familie ihres Mannes übergeben. Alle waren ihr wildfremd, doch mußte sie mit ihnen in eine völlig ungewisse Zukunft fahren. Mutter und Vater weinten.
Später erzählte mir meine Schwester, wie die Hochzeit weitergegangen war.
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- Autor: Schukrana McFadyen
- 2010, 1, 316 Seiten, Maße: 12,5 x 18,8 cm, Taschenbuch
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3868003037
- ISBN-13: 9783868003031
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