Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller
'Vom Toten Haus' zu den 'Brüdern Karamasow'
Der international renommierte Dostojewskij-Forscher Horst-Jürgen Gerigk liefert mit dieser Einführung für den Leser von heute einen lebendigen Zugang zu den fünf großen Romanen, auf denen Dostojewskijs Weltruhm beruht: »Verbrechen und Strafe«, »Der Idiot«,...
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Produktinformationen zu „Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller “
Klappentext zu „Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller “
Der international renommierte Dostojewskij-Forscher Horst-Jürgen Gerigk liefert mit dieser Einführung für den Leser von heute einen lebendigen Zugang zu den fünf großen Romanen, auf denen Dostojewskijs Weltruhm beruht: »Verbrechen und Strafe«, »Der Idiot«, »Böse Geister«, »Ein grüner Junge« und »Die Brüder Karamasow«.
Lese-Probe zu „Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller “
Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller von Horst-Jürgen GerigkErstes Kapitel
Unter Verbrechern in Sibirien
Aufzeichnungen aus einem toten Haus
Dostojewskij lebte von 1821 bis 1881. Er wurde in Moskau geboren, starb in Petersburg und ist 59 Jahre alt geworden. Vier Jahre verbrachte er als politischer Sträfling im sibirischen Zuchthaus: zunächst in Tobolsk (zwölf Tage), dann in Omsk. Das waren die Jahre 1850 bis 1854. In diesen vier Jahren durchlebte er die Hölle. Herausgerissen aus der bürgerlichen Existenzform eines professionellen Schriftstellers in Petersburg, befindet er sich plötzlich unter Verbrechern in Sibirien.
Er hat über diese Erfahrung einen Bericht geschrieben: Die Aufzeichnungen aus einem toten Haus, die 1860 bis 1862 zum ersten Mal, wenn auch noch unvollständig, in der Zeitschrift »Der russische Bote« (Russkij vestnik) veröffentlicht wurden. Vollständig erschienen diese »Aufzeichnungen« aber erst 1865. Die Niederschrift begann 1859, nachdem Dostojewskij im März, aufgrund seiner Epilepsie, aus der Verbannung in Sibirien entlassen worden war und ab August in der Stadt Twer eine Wohnung nahm.
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Keimzelle des Werks war sein sogenanntes »Sibirisches Heft« (35 Manuskriptseiten), worin Dostojewskij sich in 486 durchnummerierten Einträgen Wörter, besondere Redewendungen lokaler, meist folkloristischer Eigenart und Anekdoten aus dem Zuchthaus in Omsk notiert hatte sowie kurze Kommentare aus seiner anschließenden Zeit als Soldat im Siebenten Sibirischen Linienbataillon in Semipalatinsk. Mehr als 200 dieser Einträge fanden Eingang in den Text der Aufzeichnungen aus einem toten Haus. Auch die darin eingeschobene Erzählung Akulkas Mann, auf die sogleich näher einzugehen ist, wird in den Einträgen skizziert, Dostojewskij hatte sie offensichtlich tatsächlich von jemandem gehört. Übernommen werden auch Namen von Sträflingen. Schon im Zuchthaus war Dostojewskij also entschlossen, seine hier gemachten Erfahrungen literarisch zu verarbeiten. Es war ihm aber an Ort und Stelle in Omsk nicht erlaubt zu schreiben (und wenn, dann nur unter bestimmten Bedingungen im Gefängnishospital). Das »Sibirische Heft« hatte ein Arzt des Gefängnishospitals (genau gesagt dessen ältester Feldscher) für ihn in seine Obhut genommen, so dass es von ihm noch in Semipalatinsk fortgesetzt werden konnte. Erst nach seiner Entlassung aus der sibirischen Verbannung im März 1859 konnte Dostojewskij wieder aktiv am literarischen Leben seiner Zeit teilnehmen.
Die Veröffentlichung der Aufzeichnungen aus einem toten Haus ab 1860 wurde für Dostojewskij ein großer Erfolg, und das in gleicher Weise bei Publikum und Kritik. Am 31. März 1865 schreibt der glückliche Autor aus Petersburg an Alexander Wrangel: »Mein ›Totes Haus‹ hat richtig Furore gemacht, und ich habe mit ihm meinen literarischen Ruf wiederhergestellt.« Dem ist hinzuzufügen: mit einer völlig neuen Thematik, einer Thematik, für die offenbar allein Dostojewskij wirklich zuständig war. Später wird Tolstoj in einem Brief vom 26. September 1880 aus Jasnaja Poljana an Nikolaj Strachow bemerken: »Habe kürzlich, als ich mich schlecht fühlte, das ›Tote Haus‹ gelesen. Hatte vieles vergessen, las es jetzt wieder und kenne kein besseres Buch in der gesamten neuen Literatur, Puschkin eingeschlossen. « Um dieses erstaunliche Urteil richtig einzuschätzen, muss man wissen, dass Tolstoj dem übrigen OEuvre Dostojewskijs skeptisch gegenüberstand.
Wenden wir uns nun dem Toten Haus zu. Mit protokollarischer Genauigkeit schildert das Werk das Leben in einem sibirischen Zuchthaus. In der »Einführung« umreißt ein anonymer Herausgeber die Persönlichkeit des im vergangenen Herbst mit etwa fünfunddreißig Jahren verstorbenen Alexander Gorjantschikow (von russ. gore = »Leid«), der wegen Ermordung seiner Frau zehn Jahre Zuchthaus verbüßt hat und nach seiner Freilassung vor drei Jahren über diese Zeit eine »zusammenhanglose Beschreibung« hinterlassen hatte. Er war nach Abbüßung seiner Strafe in Sibirien geblieben, als Ansiedler in einem Dorf nahe der Stadt. Von der Wirtin des Verstorbenen, der in völliger Vereinsamung gelebt hatte und ganze Nächte in seinem Zimmer auf und ab gegangen sei und vor sich hingesprochen habe, erwirbt der Herausgeber »für ein Zwanzigkopekenstück« einen ganzen Korb voller Papiere. Darunter auch das Heft mit den Aufzeichnungen über die Zuchthausjahre. Weil der Verfasser diese Aufzeichnungen an einer Stelle Szenen aus einem toten Haus nennt, hat der fiktive Herausgeber unter diesem Titel nun »zur Probe« einige Kapitel zusammengestellt.
Man sieht: Dostojewskij legt Wert auf eine völlig unpolitische Einkleidung seines eigenen Sträflingsreports. Die Manuskriptfiktion wird auf animierende Weise umständlich präsentiert. So heißt es, dass sich in diesem ziemlich umfangreichen, eng vollgeschriebenen und unvollendeten Heft mit den Aufzeichnungen über das Leben im Zuchthaus auch noch »seltsame, schreckliche Erinnerungen« eingestreut fanden, hastig und krampfhaft wie unter einem Zwang hingeworfen. Aus diesen Bruchstücken gewann der Herausgeber fast die Überzeugung, dass sie »im Wahnsinn« geschrieben worden seien. Sofort möchte der Leser mehr wissen, aber der Herausgeber gibt über diese Erinnerungen des Verstorbenen keine weitere Auskunft, hält lediglich fest: »Er war ein sehr blasser, hagerer Mann, noch nicht alt, von etwa fünfunddreißig Jahren, klein und schwächlich«, habe sich immer sehr sauber und nach europäischer Art gekleidet und ein tadelloses tugendhaftes Leben geführt. Er galt als extrem menschenscheu, es hieß, er lese viel, spreche aber wenig und unterrichte Kinder, die man ihm aus angesehenen Familien ohne weiteres anvertraue. Und er habe seit seiner Verbannung alle Beziehungen zu seinen Verwandten in Russland abgebrochen.
Dostojewskij hat nun die Aufmerksamkeit des Lesers voll im Griff und lässt seinen Herausgeber einschieben: »Außerdem kannten bei uns alle seine Geschichte, wussten, dass er seine Frau im ersten Jahr der Ehe aus Eifersucht ermordete und sich dann selber anzeigte (was das Strafmaß bedeutend milderte). Solche Verbrechen werden aber stets als Unglücksfälle angesehen und erregen Mitleid. Trotz alledem ging aber der Sonderling allen hartnäckig aus dem Wege und erschien nur, um Stunden zu geben.« Der Leser erwartet jetzt von den ja sofort anschließenden Szenen aus einem toten Haus Auskunft über den Hergang des Verbrechens. Solche Auskunft erfolgt aber nicht. Alexander Gorjantschikow behält das Rätsel seines Verbrechens für sich, bleibt auch mit seinen Aufzeichnungen genau der, der er in der Einführung des Herausgebers für uns ist: ein verschlossener Sonderling. Darüber aber dürfen wir nicht vergessen, dass es Dostojewskij ist, der hier Regie führt über das, was gesagt wird, und das, was ungesagt bleibt. Und Dostojewskij ist es, der uns mit der Erzählung von Akulkas Mann (Teil II, Kap. 4), die Gorjantschikow nachts im Hospital aus einem der Nachbarbetten mithört, wissen lässt, wie es in Gorjantschikow ausgesehen hat, als er seine Frau ermordete. Gorjantschikow, und der Leser mit ihm, hört zwar mit besonderem Interesse zu, vertritt aber uns gegenüber nicht die künstlerischen Intentionen des Autors Dostojewskij, der uns mit Akulkas Mann eine Ahnung davon vermittelt, wie es im Innern seines Erzählers aussieht, ohne dass dieser sein Schweigen gegenüber seiner eigenen Tat, das ihn kennzeichnet, zu brechen hätte.
Kurzum: Die »Einführung« ist ein literarisches Kunstwerk eigener Art: vorgestellt wird ein in sich widersprüchlicher Charakter, der, nach Abbüßung einer zehnjährigen Zuchthausstrafe wegen Ermordung seiner Ehefrau, Sibirien nicht verlässt und ein diszipliniert ungeselliges Leben als Ansiedler führt, offensichtlich von Erinnerungen heimgesucht, die er niemandem mitteilt. Seine Hinterlassenschaft enthält ein Manuskript über seine Zuchthausjahre, das er als Szenen aus einem toten Haus verstanden hat. Wäre Dostojewskijs Text hier zu Ende, so hätten wir eine durchaus in sich geschlossene Skizze eines rätselhaften Charakters vorliegen.
Dostojewskijs Text ist aber hier nicht zu Ende, und es stellt sich die Frage: Wozu diese Einführung? Offensichtlich will Dostojewskij die Einsicht vermitteln, dass der Mord dem Mörder selbst ein Rätsel bleibt. Aklexander Gorjantschikow hat seine Strafe verbüßt, ist in die menschliche Gemeinschaft zurückgekehrt, die er durch sein Verbrechen verlassen hat, wird von dieser Gemeinschaft wieder akzeptiert und kommt doch nicht zur Ruhe. Was ihn aber beunruhigt, das wird uns nicht gesagt, wir erfahren nur, dass er nächtelang in seinem Zimmer auf und ab geht und Selbstgespräche führt. Der Leser ist auf das gespannt, was ihn in den »Aufzeichnungen« dieses Menschen erwartet.
Eine mögliche Antwort auf das Rätsel des Verbrechens findet sich denn auch in Kapitel 5 des Ersten Teils. Es heißt dort mit Bezug auf gewisse merkwürdige und scheinbar sinnlose Gewalttaten der Sträflinge im Zuchthaus: »Die Vorgesetzten wundern sich manchmal, dass ein Arrestant, der einige Jahre so friedlich und mustergültig gelebt hat und dem man wegen seines guten Betragens sogar eine Aufseherfunktion einräumte, plötzlich, als sei irgendein Teufel in ihn gefahren, wild wird, Radau macht, ja sogar eine kriminelle Handlung riskiert: sei es, dass er sich seinem höchsten Vorgesetzten offen widersetzt, sei es, dass er jemanden totschlägt oder vergewaltigt und so weiter. Man blickt auf solch einen Menschen mit Verwunderung. Vielleicht ist aber dieser plötzliche Ausbruch in diesem Menschen, von dem man es am allerwenigsten erwartet hat, eine sehnsüchtige, krankhafte Behauptung seiner Persönlichkeit, ein instinktives Heimweh nach sich selber (russ. instinktivnaja toska po samom sebe), der Wunsch, sich zu äußern, seine unterdrückte Individualität zu zeigen, der sich bis zur Wut, zur Raserei, bis zur Verfinsterung der Vernunft, bis zum Anfall, bis zur Konvulsion steigern kann. So klopft vielleicht ein lebendig Begrabener, wenn er im Sarg erwacht, gegen den Sargdeckel und bemüht sich, ihn aufzustoßen, obwohl seine Vernunft ihm sagen müsste, dass alles vergeblich ist. Aber das ist es ja eben, dass es hier nicht um Vernunft geht, sondern um Konvulsionen.«
Zur Debatte stehen hier zwar Straftaten der Sträflinge im Zuchthaus, und doch evoziert die Passage sofort eine allgemeine psychologische und soziologische Theorie des Verbrechens. Dem Verbrecher wird ein Heimweh des Menschen nach sich selber unterstellt, das aufgrund der Zwangslage seiner Lebensumstände so heftig wird, dass er sich durch eine kriminelle Tat aus seiner Situation befreien will. Die Befreiung aber kann nicht gelingen, denn der Täter wird den Sarg seiner persönlichen Situation nicht los. Was uns Alexander Gorjantschikow hier zu denken gibt, sollte, wie ich meine, auf die Einführung des Herausgebers sowie auf die Geschichte von Akulkas Mann bezogen werden. In höchster Allgemeinheit und umfassender Präzision wird mit der soeben zitierten Passage die Situation eines jeden Täters umrissen, unabhängig von seinem jeweiligen Reflexionsvermögen sowie auch unabhängig von der objektiven Schwere seiner Tat. Es ist die Ohnmacht des Täters, die seine Tat hervorbringt, die Ohnmacht angesichts »seiner« Wirklichkeit. Mit seiner Tat will er die Wirklichkeit wie auch seine erworbene Identität verändern.
Nach diesem vorauseilenden Aufhänger, das Heimweh des Verbrechers nach sich selber betreffend, seien die Aufzeichnungen aus einem toten Haus zur Gänze betrachtet. Sie bestehen aus zwei Teilen. Ins Auge springt sofort die psychologisch einleuchtende zeitliche Struktur: Der erste Teil dieser Aufzeichnungen beschreibt nur einen einzigen Monat, den Monat Dezember, in dem Alexander Gorjantschikow ins Zuchthaus eingeliefert wurde. Der zweite Teil überschreitet mit seiner aktuellen Schilderung nicht die Grenze eines einzigen Jahres, nämlich des ersten Jahres, das Alexander Gorjantschikow im Zuchthaus verbrachte. Die Eindrücke dieses ersten Jahres haben sich ihm mit ihren zeitlichen Koordinaten erhalten. Nach Ende dieses Jahres werden in den letzten drei Kapiteln des zweiten Teils die Ausführungen des Erzählers nach thematischen Gesichtspunkten gegliedert und liefern Illustrationen zu vorher aufgetauchten Fragen, zum Beispiel die Möglichkeiten der Flucht aus dem Zuchthaus betreffend. Der Augenblick der Freilassung aber ist dann als zeitlicher Ort unverwechselbar und wieder völlig »scharf« vorhanden. Ja, das ganze letzte Jahr ist ihm gut erinnerlich, weil es auf die Freiheit zusteuert und ihn deshalb glücklich sein lässt. Die zeitliche Struktur ist hier also ganz und gar an der Empirie der Erinnerung ausgerichtet und wird von Dostojewskij durch und durch professionell gehandhabt. Von »zusammenhangloser Beschreibung« kann nicht die Rede sein. So hatte der fiktive Herausgeber das Manuskript der Szenen aus einem toten Haus des verstorbenen Alexander Gorjantschikow gekennzeichnet. Dostojewskij hat seine Kunst erfolgreich verborgen. Uns, den Lesern, stellt sich die Aufgabe, sie wahrzunehmen.
Die Verhärtung des Täters in Reuelosigkeit nach schwerstem Verbrechen kommt in den Aufzeichnungen aus einem toten Haus immer wieder beunruhigend zur Sprache. Der Erzähler stellt fest: »Wir waren unser im Zuchthaus insgesamt so an die zweihundertfünfzig Mann - diese Zahl blieb fast immer konstant. « Und: »Es ist anzunehmen, daß es kein Verbrechen gibt, das hier nicht seinen Vertreter gefunden hätte.« Auffällig ist, dass die Sträflinge im Allgemeinen über ihre Vergangenheit wenig erzählen und sich offenbar bemühen, ihre Vergangenheit regelrecht zu vergessen. Und nun heißt es: »Ich kannte selbst unter den Mördern Leute, die so lustig waren und sich so wenig Gedanken machten, daß man wetten konnte, ihr Gewissen hatte sie noch kein einziges Mal getadelt.« Im Hinblick auf diese Reaktion will dem Erzähler insbesondere ein leichtsinniger und unvernünftiger Mensch nicht aus dem Sinn, der wegen Ermordung seines Vaters zu zwanzig Jahren Zwangsarbeit unter Aberkennung seiner Adelsrechte und seines Titels verurteilt wurde. »Er hatte ein äußerst ausschweifendes Leben geführt und bis an den Hals in Schulden gesteckt. Der Vater hatte ihn immer wieder in die Schranken gewiesen, ihn ermahnt; aber der Vater besaß ein Haus, besaß ein Gut, man vermutete auch Bargeld bei ihm - und der Sohn ermordete ihn, begierig auf das Erbe.« Das Verbrechen wurde erst nach einem Monat bekannt. Der Mörder selber hatte bei der Polizei Anzeige erstattet: sein Vater sei spurlos verschwunden. Endlich fand die Polizei die Leiche des Ermordeten. Wörtlich heißt es: »Auf seinem Hof befand sich, auf ganzer Länge, ein mit Brettern überdeckter Graben, der dem Abfluß der Fäkalien diente. Die Leiche lag in diesem Graben. Sie war bekleidet und gewaschen, der abgeschnittene ergraute Kopf war an den Rumpf angesetzt worden, und der Mörder hatte ihm ein Kissen unterlegt. Er gestand nicht; man erklärte ihn seiner Adelsrechte, seines Titels für verlustig und verurteilte ihn zu zwanzig Jahren Zwangsarbeit. Die ganze Zeit, die ich mit ihm zusammen war, befand er sich in der allerbesten, in der heitersten Gemütsverfassung.« Ja, dieser Mörder kommt sogar zuweilen, als wäre nichts gewesen, auf seinen Vater zu sprechen und erwähnt etwa die in seiner Familie erbliche Konstitution: »Mein Erzeuger zum Beispiel hat sich bis zu seinem Tode niemals über irgendeine Krankheit beklagt.« Der Erzähler weiß nicht, was er von solch einer »tierischen Gefühllosigkeit« (zverskaja bez.cuvstvennost') halten soll: »Sie ist ein Phänomen: hier liegt irgendein Mangel vor, irgendeine körperliche und sittliche Verkrüppelung, die der Wissenschaft noch nicht bekannt ist, und nicht einfach ein Verbrechen. Es versteht sich von selbst, daß ich an dieses Verbrechen nicht glaubte. Doch Leute aus seiner Stadt, die alle Einzelheiten seiner Geschichte kennen mußten, haben mir die ganze Sache immer wieder erzählt. Die Tatsachen waren so klar, daß es unmöglich war, sie nicht zu glauben.«
Was Dostojewskij mit der Beschreibung dieses Vatermörders beschwört, ist nichts anderes als das, was Cesare Lombroso (1836-1909) wenig später den »geborenen Verbrecher« nennen wird, dessen körperliche und sittliche Merkmale nicht als Krankheit, sondern als Atavismus einzustufen seien. Bereits 1835 hatte James Cowles Prichard (1786-1848) den Begriff der moral insanity geprägt, mit dem das freiheitliche Handeln der kriminellen Persönlichkeit ausgeschlossen wird. Im deutschen Sprachraum hat Richard von Krafft-Ebing (1840-1903) der Lehre vom »moralischen Wahnsinn« (auch »sittliche Idiotie«, »moralisches Irresein« oder »moralischer Schwachsinn« genannt) seine beständige Aufmerksamkeit gewidmet. Wie es scheint, steht Dostojewskij mit der Kennzeichnung der »tierischen Gefühllosigkeit « des soeben hervorgehobenen Vatermörders als »körperliche und sittliche Verkrüppelung« in dieser Tradition.
Es scheint aber nur so. Die Auflösung dieses gleich im ersten Kapitel des Ersten Teils der Aufzeichnungen aus einem toten Haus präsentierten menschlichen Rätsels erfolgt im siebten Kapitel des Zweiten Teils. Der Herausgeber der Aufzeichnungen des verstorbenen Alexander Gorjantschikow schiebt hier ein, daß jener Vatermörder, wie sich dieser Tage herausgestellt habe, in Wahrheit unschuldig war: dass »seine Unschuld offiziell vom Gericht anerkannt« worden sei, dass die wirklichen Täter sich gefunden und alles gestanden hätten und daß der Unglückliche bereits aus dem Zuchthaus entlassen worden sei, worin er zehn Jahre unverdienterweise verbringen musste.
Der Herausgeber bedauert das unter einer so furchtbaren Anklage zugrunde gerichtete Leben und fügt hinzu, »schon die bloße Möglichkeit« einer solchen Tatsache ergänze das Bild des Totenhauses um ein neues und außergewöhnlich prägnantes Charakteristikum. Bezeichnenderweise habe Gorjantschikow, der, inzwischen verstorben, den Ausgang dieser Geschichte nicht mehr erfahren konnte, seiner Schilderung dieses Vatermörders die Feststellung beigefügt, er glaube nicht an dessen Verbrechen.
Dostojewskij wendet hier ein Erzählverfahren an, das für seine fünf großen Romane typisch sein wird, aber auch schon in der frühen Erzählung Die Wirtin (1847) vorliegt. Dieses Verfahren besteht, so möchte ich sagen, darin, eine »Wirklichkeit auf Widerruf« herzustellen. Dostojewskij liefert uns einer Evidenztäuschung aus, um uns dann plötzlich zu einer völlig anderen Einschätzung des präsentierten Sachverhalts, ja mit einem völlig anderen Sachverhalt zu konfrontieren, so dass wir unser bereits feststehendes Urteil zu ändern haben.
Mit dem vorliegenden Fall einer Evidenztäuschung will uns Dostojewskij dazu anhalten, auch bei einer erdrückenden Beweislast für die »tierische Gefühllosigkeit« eines Menschen einen Rest an Zweifel zu reservieren, denn die Fakten können sich ändern - sie können sich als Resultat von Vorurteilen plötzlich in Luft auflösen. Die Reichweite einer solchen Argumentation kann überhaupt nicht überschätzt werden, sie ist erkenntnistheoretisch wie auch lebensphilosophisch von höchster Relevanz. Dostojewskij schafft sich mit der Art, wie er seine eigene, extreme Leiderfahrung in den Aufzeichnungen aus einem toten Haus verarbeitet, die Grundlage für seine Philosophie der Freiheit. Auch die niederdrückende Galerie reueloser Schwerverbrecher, die sich, unabhängig von jenem Vatermörder, der am Ende keiner war, im Toten Haus findet, ist kein Grund dafür, den Glauben an den Menschen zu verlieren. Anders ausgedrückt: Eine Theorie des Menschen, die den Menschen negativ, d. h. nihilistisch definiert, ist für Dostojewskij immer schon falsifiziert worden. Dostojewskij geht so weit, den Menschen als das Wesen zu bestimmen, das sich nicht auf den Begriff bringen lässt, weil der Mensch immer und überall in der Freiheit steht. Wenn es im Toten Haus heißt, der Mensch sei das Lebewesen, »das sich an alles gewöhnt«, so bedeutet das: der Mensch steht ständig in der Gefahr, seine Freiheit zu vergessen. Was aber bedeutet Freiheit?
Man darf sagen, dass Dostojewskij Freiheit ganz im Sinne Kants versteht, nämlich nicht als Erfahrungstatsache, sondern als Vernunftfaktum. Kants Definition der Freiheit lautet: »Freiheit ist das Vermögen, nur durch Vernunft determiniert zu werden, und nicht bloß mittelbar, sondern unmittelbar, also nicht durch Materie, sondern Form des Gesetzes. Also moralisch.«
Für Dostojewskij wie für Kant ist der Mensch durch das Vermögen ausgezeichnet, sich unmittelbar durch Vernunft determinieren zu lassen. Dieses Vermögen ist die menschliche Freiheit. Im Unterschied zu Kant sieht Dostojewskij aber die Religion als das notwendige Medium dieses Vermögens an - genauer gesagt: die christliche Religion in ihrer russisch-orthodoxen Ausprägung, die Dostojewskij wiederum auf seine Weise auffasst. Der Preis allerdings, den Dostojewskij für dieses Medium zahlt, sieht so aus, dass er die Angehörigen anderer Religionen ablehnt. Es kommt so in den Aufzeichnungen aus einem toten Haus zu gezielten antisemitischen Seitenhieben, die sich auf die Gestalt des Juden Issai Fomitsch Bumstein konzentrieren, und zur Ablehnung der polnischen Häftlinge, denn sie sind katholisch. Diese religiös gespeiste Intoleranz Dostojewskijs ist auch für seine fünf großen Romane typisch; in erkennbar systematischer Ausfaltung tritt sie uns zum ersten Mal in den Aufzeichnungen aus einem toten Haus (1860-1862) entgegen.
Es ist nun deutlich geworden, welche Schlüsselstellung dieses Werk für die Selbstfindung Dostojewskijs einnimmt. Für den hier anstehenden Zusammenhang ist wesentlich, dass Dostojewskij in der persönlichen Konfrontation mit Straftätern zu einem obsessiven Interesse an der Täterpersönlichkeit, ja an allem gelangt, was sich dem Gebiet der »Kriminologie« zurechnen lässt. Es überrascht nicht, dass seine Aufzeichnungen aus einem toten Haus in jüngster Zeit unter dem Begriff der »Täterliteratur «, der seit 1978 verwendet wird, eine neue Aufmerksamkeit erfahren. Man versteht unter »Täterliteratur« Werke von Autoren, die selber im Zuchthaus bzw. im Gefängnis gesessen haben und die dort gemachten Erfahrungen darstellen - sei es im Brief, im Tagebuch, im Gedicht, im Drama, im Roman oder als Dokumentation. Jede nur denkbare Mischform ist möglich, wenn sie nur die autobiographisch geforderte Thematik aufweist. Zur »Täterliteratur« gehören Giacomo Casanovas Memoiren mit der Schilderung seiner Flucht aus den Bleikammern in Venedig wie auch die Briefe, die Rosa Luxemburg in den Jahren 1915 bis 1918 aus verschiedenen Gefängnissen an Angehörige und Bekannte schrieb, Silvio Pellicos Meine Gefängnisse und Paul Verlaines Meine Gefängnisse, Oscar Wildes Ballade vom Zuchthaus zu Reading und Walter Kempowskis Im Block, Christian Friedrich Daniel Schubarts Bericht über seine zehnjährige Haftzeit auf dem Hohenasperg ebenso wie Albrecht Haushofers Moabiter Sonette und Henry Jaegers Die bestrafte Zeit. Einen eindrucksvollen Forschungsbericht zur »Täterliteratur«, die »Täter des Wortes« gleichermaßen umfasst wie »Täter der Tat«, hat 1990 der Saarbrücker Strafrechtler Heinz Müller-Dietz vorgelegt. Dostojewskij nimmt mit seinen Aufzeichnungen aus einem toten Haus innerhalb der »Täterliteratur« aus ganz verschiedenen Gründen einen bedeutenden Platz ein.
Auffällig ist nun, dass Dostojewskij mit diesen Aufzeichnungen die Erfahrungen, die er selber gemacht hat, nicht aufarbeitet, um sie gleichsam ad acta zu legen; vielmehr wird die hier geschilderte Konfrontation mit Straftätern zur Initialzündung für die zentralen Problemformulierungen seiner großen Romane. Im Durchgang durch das Tote Haus findet Dostojewskij zum Menschenbild seiner großen Romane. In diesem Menschenbild nimmt der Verbrecher, genauer: der Mörder einen zentralen Platz ein.
Das vierte Kapitel des Zweiten Teils der Aufzeichnungen aus einem toten Haus hat die Überschrift: Akulkas Mann. Eine Erzählung. Dostojewskij, der Dichter des Verbrechens, hat hier seine erste durchkomponierte Mordgeschichte geschrieben (die zwei davor ebenfalls im Toten Haus, Petrow und Bakluschin betreffend, liefern nur Streiflichter, und Dostojewskijs Frühwerk bis 1849 kennt keinen Mord, wenn auch Die Wirtin eine Mordabsicht gestaltet). An Grausamkeit nicht zu überbieten, eröffnet Akulkas Mann die Reihe der weiteren vier Morde, mit denen wir in den großen Romanen konfrontiert werden. Wie auch dort, befindet sich das Opfer hier im Zustand der totalen Wehrlosigkeit, als es die tödliche Verletzung erhält: Akulkas Mann zieht ihr »das Messer über die Kehle« und lässt sie verbluten. Der Ich- Erzähler ist der Mörder. Nur noch in den Brüdern Karamasow lässt Dostojewskij den Mörder selber erzählen, wie er gemordet hat. Und genau wie dort hat der Mörder hier einen Zuhörer, an den er sich wendet. Während aber Iwan Karamasow dem Mörder Smerdjakow mit höchstem Interesse, ja atemlos zuhört, hat Akulkas Mann einen Zuhörer, der nur widerwillig bei der Sache ist und nur hin und wieder eine triviale oder zynische Zwischenbemerkung macht. Der Leser wird dadurch in seinem Entsetzen, auf das es Dostojewskij ja anlegt, regelrecht gestört.
Doch gehen wir ins Detail. Die Erzählsituation sieht so aus, dass nachts im Gefängnishospital, als es im Schlafsaal dunkel wird und »nur der trübe Schein des fernen Nachtlichts« zu sehen ist, ein Sträfling einem anderen erzählt, wie er seine Frau umgebracht hat. Erzähler und Zuhörer befinden sich, inmitten der anderen Sträflinge, in ihren Betten. Der Erzähler spricht im Flüsterton. Es gibt aber noch einen weiteren Zuhörer, der unbemerkt bleibt. Das ist Alexander Gorjantschikow. Er liegt schlaflos im Hospital und hört, ohne es zu wollen, was da im Dunkeln geflüstert wird. Über Gorjantschikow als Mithörer sogleich ein besonderes Wort. Halten wir uns zunächst an das Erzählte.
Der nächtliche Erzähler, Iwan Semjonowitsch Schischkow, ein junger Bursche von etwa dreißig Jahren, ein Zivilsträfling, erzählt erhitzt und erregt mit starkem Mitteilungsbedürfnis sein Verbrechen einem vollkommen gleichgültigen Zuhörer, der, ein Soldat der Strafkolonie, etwa fünfzig Jahre alt, mit ausgestreckten Beinen auf seinem Bett sitzt, sich jeden Augenblick eine neue Prise Tabak in die Nase steckt und nur gleichsam anstandshalber Zeichen von Anteilnahme von sich gibt. Er heißt Tscherewin.
Worum geht es in Schischkows Erzählung? Um eine junge Frau, 18 Jahre alt, die Akulka heißt (Diminutiv von Akulina, abgeleitet von lat. aquila, »Adler«). Sie ist die Tochter eines reichen, jetzt 70-jährigen Bauern, der sie mit dem betagten Witwer Nikita Grigorjewitsch verheiraten möchte. Das aber will Filka Morosow nicht, und er macht Akulka überall schlecht, nennt sie eine Dirne und Saufschwester und beschmiert ihr das Tor mit Pech - ein russischer Brauch, um den schlechten Lebenswandel eines Mädchens zu plakatieren.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
Keimzelle des Werks war sein sogenanntes »Sibirisches Heft« (35 Manuskriptseiten), worin Dostojewskij sich in 486 durchnummerierten Einträgen Wörter, besondere Redewendungen lokaler, meist folkloristischer Eigenart und Anekdoten aus dem Zuchthaus in Omsk notiert hatte sowie kurze Kommentare aus seiner anschließenden Zeit als Soldat im Siebenten Sibirischen Linienbataillon in Semipalatinsk. Mehr als 200 dieser Einträge fanden Eingang in den Text der Aufzeichnungen aus einem toten Haus. Auch die darin eingeschobene Erzählung Akulkas Mann, auf die sogleich näher einzugehen ist, wird in den Einträgen skizziert, Dostojewskij hatte sie offensichtlich tatsächlich von jemandem gehört. Übernommen werden auch Namen von Sträflingen. Schon im Zuchthaus war Dostojewskij also entschlossen, seine hier gemachten Erfahrungen literarisch zu verarbeiten. Es war ihm aber an Ort und Stelle in Omsk nicht erlaubt zu schreiben (und wenn, dann nur unter bestimmten Bedingungen im Gefängnishospital). Das »Sibirische Heft« hatte ein Arzt des Gefängnishospitals (genau gesagt dessen ältester Feldscher) für ihn in seine Obhut genommen, so dass es von ihm noch in Semipalatinsk fortgesetzt werden konnte. Erst nach seiner Entlassung aus der sibirischen Verbannung im März 1859 konnte Dostojewskij wieder aktiv am literarischen Leben seiner Zeit teilnehmen.
Die Veröffentlichung der Aufzeichnungen aus einem toten Haus ab 1860 wurde für Dostojewskij ein großer Erfolg, und das in gleicher Weise bei Publikum und Kritik. Am 31. März 1865 schreibt der glückliche Autor aus Petersburg an Alexander Wrangel: »Mein ›Totes Haus‹ hat richtig Furore gemacht, und ich habe mit ihm meinen literarischen Ruf wiederhergestellt.« Dem ist hinzuzufügen: mit einer völlig neuen Thematik, einer Thematik, für die offenbar allein Dostojewskij wirklich zuständig war. Später wird Tolstoj in einem Brief vom 26. September 1880 aus Jasnaja Poljana an Nikolaj Strachow bemerken: »Habe kürzlich, als ich mich schlecht fühlte, das ›Tote Haus‹ gelesen. Hatte vieles vergessen, las es jetzt wieder und kenne kein besseres Buch in der gesamten neuen Literatur, Puschkin eingeschlossen. « Um dieses erstaunliche Urteil richtig einzuschätzen, muss man wissen, dass Tolstoj dem übrigen OEuvre Dostojewskijs skeptisch gegenüberstand.
Wenden wir uns nun dem Toten Haus zu. Mit protokollarischer Genauigkeit schildert das Werk das Leben in einem sibirischen Zuchthaus. In der »Einführung« umreißt ein anonymer Herausgeber die Persönlichkeit des im vergangenen Herbst mit etwa fünfunddreißig Jahren verstorbenen Alexander Gorjantschikow (von russ. gore = »Leid«), der wegen Ermordung seiner Frau zehn Jahre Zuchthaus verbüßt hat und nach seiner Freilassung vor drei Jahren über diese Zeit eine »zusammenhanglose Beschreibung« hinterlassen hatte. Er war nach Abbüßung seiner Strafe in Sibirien geblieben, als Ansiedler in einem Dorf nahe der Stadt. Von der Wirtin des Verstorbenen, der in völliger Vereinsamung gelebt hatte und ganze Nächte in seinem Zimmer auf und ab gegangen sei und vor sich hingesprochen habe, erwirbt der Herausgeber »für ein Zwanzigkopekenstück« einen ganzen Korb voller Papiere. Darunter auch das Heft mit den Aufzeichnungen über die Zuchthausjahre. Weil der Verfasser diese Aufzeichnungen an einer Stelle Szenen aus einem toten Haus nennt, hat der fiktive Herausgeber unter diesem Titel nun »zur Probe« einige Kapitel zusammengestellt.
Man sieht: Dostojewskij legt Wert auf eine völlig unpolitische Einkleidung seines eigenen Sträflingsreports. Die Manuskriptfiktion wird auf animierende Weise umständlich präsentiert. So heißt es, dass sich in diesem ziemlich umfangreichen, eng vollgeschriebenen und unvollendeten Heft mit den Aufzeichnungen über das Leben im Zuchthaus auch noch »seltsame, schreckliche Erinnerungen« eingestreut fanden, hastig und krampfhaft wie unter einem Zwang hingeworfen. Aus diesen Bruchstücken gewann der Herausgeber fast die Überzeugung, dass sie »im Wahnsinn« geschrieben worden seien. Sofort möchte der Leser mehr wissen, aber der Herausgeber gibt über diese Erinnerungen des Verstorbenen keine weitere Auskunft, hält lediglich fest: »Er war ein sehr blasser, hagerer Mann, noch nicht alt, von etwa fünfunddreißig Jahren, klein und schwächlich«, habe sich immer sehr sauber und nach europäischer Art gekleidet und ein tadelloses tugendhaftes Leben geführt. Er galt als extrem menschenscheu, es hieß, er lese viel, spreche aber wenig und unterrichte Kinder, die man ihm aus angesehenen Familien ohne weiteres anvertraue. Und er habe seit seiner Verbannung alle Beziehungen zu seinen Verwandten in Russland abgebrochen.
Dostojewskij hat nun die Aufmerksamkeit des Lesers voll im Griff und lässt seinen Herausgeber einschieben: »Außerdem kannten bei uns alle seine Geschichte, wussten, dass er seine Frau im ersten Jahr der Ehe aus Eifersucht ermordete und sich dann selber anzeigte (was das Strafmaß bedeutend milderte). Solche Verbrechen werden aber stets als Unglücksfälle angesehen und erregen Mitleid. Trotz alledem ging aber der Sonderling allen hartnäckig aus dem Wege und erschien nur, um Stunden zu geben.« Der Leser erwartet jetzt von den ja sofort anschließenden Szenen aus einem toten Haus Auskunft über den Hergang des Verbrechens. Solche Auskunft erfolgt aber nicht. Alexander Gorjantschikow behält das Rätsel seines Verbrechens für sich, bleibt auch mit seinen Aufzeichnungen genau der, der er in der Einführung des Herausgebers für uns ist: ein verschlossener Sonderling. Darüber aber dürfen wir nicht vergessen, dass es Dostojewskij ist, der hier Regie führt über das, was gesagt wird, und das, was ungesagt bleibt. Und Dostojewskij ist es, der uns mit der Erzählung von Akulkas Mann (Teil II, Kap. 4), die Gorjantschikow nachts im Hospital aus einem der Nachbarbetten mithört, wissen lässt, wie es in Gorjantschikow ausgesehen hat, als er seine Frau ermordete. Gorjantschikow, und der Leser mit ihm, hört zwar mit besonderem Interesse zu, vertritt aber uns gegenüber nicht die künstlerischen Intentionen des Autors Dostojewskij, der uns mit Akulkas Mann eine Ahnung davon vermittelt, wie es im Innern seines Erzählers aussieht, ohne dass dieser sein Schweigen gegenüber seiner eigenen Tat, das ihn kennzeichnet, zu brechen hätte.
Kurzum: Die »Einführung« ist ein literarisches Kunstwerk eigener Art: vorgestellt wird ein in sich widersprüchlicher Charakter, der, nach Abbüßung einer zehnjährigen Zuchthausstrafe wegen Ermordung seiner Ehefrau, Sibirien nicht verlässt und ein diszipliniert ungeselliges Leben als Ansiedler führt, offensichtlich von Erinnerungen heimgesucht, die er niemandem mitteilt. Seine Hinterlassenschaft enthält ein Manuskript über seine Zuchthausjahre, das er als Szenen aus einem toten Haus verstanden hat. Wäre Dostojewskijs Text hier zu Ende, so hätten wir eine durchaus in sich geschlossene Skizze eines rätselhaften Charakters vorliegen.
Dostojewskijs Text ist aber hier nicht zu Ende, und es stellt sich die Frage: Wozu diese Einführung? Offensichtlich will Dostojewskij die Einsicht vermitteln, dass der Mord dem Mörder selbst ein Rätsel bleibt. Aklexander Gorjantschikow hat seine Strafe verbüßt, ist in die menschliche Gemeinschaft zurückgekehrt, die er durch sein Verbrechen verlassen hat, wird von dieser Gemeinschaft wieder akzeptiert und kommt doch nicht zur Ruhe. Was ihn aber beunruhigt, das wird uns nicht gesagt, wir erfahren nur, dass er nächtelang in seinem Zimmer auf und ab geht und Selbstgespräche führt. Der Leser ist auf das gespannt, was ihn in den »Aufzeichnungen« dieses Menschen erwartet.
Eine mögliche Antwort auf das Rätsel des Verbrechens findet sich denn auch in Kapitel 5 des Ersten Teils. Es heißt dort mit Bezug auf gewisse merkwürdige und scheinbar sinnlose Gewalttaten der Sträflinge im Zuchthaus: »Die Vorgesetzten wundern sich manchmal, dass ein Arrestant, der einige Jahre so friedlich und mustergültig gelebt hat und dem man wegen seines guten Betragens sogar eine Aufseherfunktion einräumte, plötzlich, als sei irgendein Teufel in ihn gefahren, wild wird, Radau macht, ja sogar eine kriminelle Handlung riskiert: sei es, dass er sich seinem höchsten Vorgesetzten offen widersetzt, sei es, dass er jemanden totschlägt oder vergewaltigt und so weiter. Man blickt auf solch einen Menschen mit Verwunderung. Vielleicht ist aber dieser plötzliche Ausbruch in diesem Menschen, von dem man es am allerwenigsten erwartet hat, eine sehnsüchtige, krankhafte Behauptung seiner Persönlichkeit, ein instinktives Heimweh nach sich selber (russ. instinktivnaja toska po samom sebe), der Wunsch, sich zu äußern, seine unterdrückte Individualität zu zeigen, der sich bis zur Wut, zur Raserei, bis zur Verfinsterung der Vernunft, bis zum Anfall, bis zur Konvulsion steigern kann. So klopft vielleicht ein lebendig Begrabener, wenn er im Sarg erwacht, gegen den Sargdeckel und bemüht sich, ihn aufzustoßen, obwohl seine Vernunft ihm sagen müsste, dass alles vergeblich ist. Aber das ist es ja eben, dass es hier nicht um Vernunft geht, sondern um Konvulsionen.«
Zur Debatte stehen hier zwar Straftaten der Sträflinge im Zuchthaus, und doch evoziert die Passage sofort eine allgemeine psychologische und soziologische Theorie des Verbrechens. Dem Verbrecher wird ein Heimweh des Menschen nach sich selber unterstellt, das aufgrund der Zwangslage seiner Lebensumstände so heftig wird, dass er sich durch eine kriminelle Tat aus seiner Situation befreien will. Die Befreiung aber kann nicht gelingen, denn der Täter wird den Sarg seiner persönlichen Situation nicht los. Was uns Alexander Gorjantschikow hier zu denken gibt, sollte, wie ich meine, auf die Einführung des Herausgebers sowie auf die Geschichte von Akulkas Mann bezogen werden. In höchster Allgemeinheit und umfassender Präzision wird mit der soeben zitierten Passage die Situation eines jeden Täters umrissen, unabhängig von seinem jeweiligen Reflexionsvermögen sowie auch unabhängig von der objektiven Schwere seiner Tat. Es ist die Ohnmacht des Täters, die seine Tat hervorbringt, die Ohnmacht angesichts »seiner« Wirklichkeit. Mit seiner Tat will er die Wirklichkeit wie auch seine erworbene Identität verändern.
Nach diesem vorauseilenden Aufhänger, das Heimweh des Verbrechers nach sich selber betreffend, seien die Aufzeichnungen aus einem toten Haus zur Gänze betrachtet. Sie bestehen aus zwei Teilen. Ins Auge springt sofort die psychologisch einleuchtende zeitliche Struktur: Der erste Teil dieser Aufzeichnungen beschreibt nur einen einzigen Monat, den Monat Dezember, in dem Alexander Gorjantschikow ins Zuchthaus eingeliefert wurde. Der zweite Teil überschreitet mit seiner aktuellen Schilderung nicht die Grenze eines einzigen Jahres, nämlich des ersten Jahres, das Alexander Gorjantschikow im Zuchthaus verbrachte. Die Eindrücke dieses ersten Jahres haben sich ihm mit ihren zeitlichen Koordinaten erhalten. Nach Ende dieses Jahres werden in den letzten drei Kapiteln des zweiten Teils die Ausführungen des Erzählers nach thematischen Gesichtspunkten gegliedert und liefern Illustrationen zu vorher aufgetauchten Fragen, zum Beispiel die Möglichkeiten der Flucht aus dem Zuchthaus betreffend. Der Augenblick der Freilassung aber ist dann als zeitlicher Ort unverwechselbar und wieder völlig »scharf« vorhanden. Ja, das ganze letzte Jahr ist ihm gut erinnerlich, weil es auf die Freiheit zusteuert und ihn deshalb glücklich sein lässt. Die zeitliche Struktur ist hier also ganz und gar an der Empirie der Erinnerung ausgerichtet und wird von Dostojewskij durch und durch professionell gehandhabt. Von »zusammenhangloser Beschreibung« kann nicht die Rede sein. So hatte der fiktive Herausgeber das Manuskript der Szenen aus einem toten Haus des verstorbenen Alexander Gorjantschikow gekennzeichnet. Dostojewskij hat seine Kunst erfolgreich verborgen. Uns, den Lesern, stellt sich die Aufgabe, sie wahrzunehmen.
Die Verhärtung des Täters in Reuelosigkeit nach schwerstem Verbrechen kommt in den Aufzeichnungen aus einem toten Haus immer wieder beunruhigend zur Sprache. Der Erzähler stellt fest: »Wir waren unser im Zuchthaus insgesamt so an die zweihundertfünfzig Mann - diese Zahl blieb fast immer konstant. « Und: »Es ist anzunehmen, daß es kein Verbrechen gibt, das hier nicht seinen Vertreter gefunden hätte.« Auffällig ist, dass die Sträflinge im Allgemeinen über ihre Vergangenheit wenig erzählen und sich offenbar bemühen, ihre Vergangenheit regelrecht zu vergessen. Und nun heißt es: »Ich kannte selbst unter den Mördern Leute, die so lustig waren und sich so wenig Gedanken machten, daß man wetten konnte, ihr Gewissen hatte sie noch kein einziges Mal getadelt.« Im Hinblick auf diese Reaktion will dem Erzähler insbesondere ein leichtsinniger und unvernünftiger Mensch nicht aus dem Sinn, der wegen Ermordung seines Vaters zu zwanzig Jahren Zwangsarbeit unter Aberkennung seiner Adelsrechte und seines Titels verurteilt wurde. »Er hatte ein äußerst ausschweifendes Leben geführt und bis an den Hals in Schulden gesteckt. Der Vater hatte ihn immer wieder in die Schranken gewiesen, ihn ermahnt; aber der Vater besaß ein Haus, besaß ein Gut, man vermutete auch Bargeld bei ihm - und der Sohn ermordete ihn, begierig auf das Erbe.« Das Verbrechen wurde erst nach einem Monat bekannt. Der Mörder selber hatte bei der Polizei Anzeige erstattet: sein Vater sei spurlos verschwunden. Endlich fand die Polizei die Leiche des Ermordeten. Wörtlich heißt es: »Auf seinem Hof befand sich, auf ganzer Länge, ein mit Brettern überdeckter Graben, der dem Abfluß der Fäkalien diente. Die Leiche lag in diesem Graben. Sie war bekleidet und gewaschen, der abgeschnittene ergraute Kopf war an den Rumpf angesetzt worden, und der Mörder hatte ihm ein Kissen unterlegt. Er gestand nicht; man erklärte ihn seiner Adelsrechte, seines Titels für verlustig und verurteilte ihn zu zwanzig Jahren Zwangsarbeit. Die ganze Zeit, die ich mit ihm zusammen war, befand er sich in der allerbesten, in der heitersten Gemütsverfassung.« Ja, dieser Mörder kommt sogar zuweilen, als wäre nichts gewesen, auf seinen Vater zu sprechen und erwähnt etwa die in seiner Familie erbliche Konstitution: »Mein Erzeuger zum Beispiel hat sich bis zu seinem Tode niemals über irgendeine Krankheit beklagt.« Der Erzähler weiß nicht, was er von solch einer »tierischen Gefühllosigkeit« (zverskaja bez.cuvstvennost') halten soll: »Sie ist ein Phänomen: hier liegt irgendein Mangel vor, irgendeine körperliche und sittliche Verkrüppelung, die der Wissenschaft noch nicht bekannt ist, und nicht einfach ein Verbrechen. Es versteht sich von selbst, daß ich an dieses Verbrechen nicht glaubte. Doch Leute aus seiner Stadt, die alle Einzelheiten seiner Geschichte kennen mußten, haben mir die ganze Sache immer wieder erzählt. Die Tatsachen waren so klar, daß es unmöglich war, sie nicht zu glauben.«
Was Dostojewskij mit der Beschreibung dieses Vatermörders beschwört, ist nichts anderes als das, was Cesare Lombroso (1836-1909) wenig später den »geborenen Verbrecher« nennen wird, dessen körperliche und sittliche Merkmale nicht als Krankheit, sondern als Atavismus einzustufen seien. Bereits 1835 hatte James Cowles Prichard (1786-1848) den Begriff der moral insanity geprägt, mit dem das freiheitliche Handeln der kriminellen Persönlichkeit ausgeschlossen wird. Im deutschen Sprachraum hat Richard von Krafft-Ebing (1840-1903) der Lehre vom »moralischen Wahnsinn« (auch »sittliche Idiotie«, »moralisches Irresein« oder »moralischer Schwachsinn« genannt) seine beständige Aufmerksamkeit gewidmet. Wie es scheint, steht Dostojewskij mit der Kennzeichnung der »tierischen Gefühllosigkeit « des soeben hervorgehobenen Vatermörders als »körperliche und sittliche Verkrüppelung« in dieser Tradition.
Es scheint aber nur so. Die Auflösung dieses gleich im ersten Kapitel des Ersten Teils der Aufzeichnungen aus einem toten Haus präsentierten menschlichen Rätsels erfolgt im siebten Kapitel des Zweiten Teils. Der Herausgeber der Aufzeichnungen des verstorbenen Alexander Gorjantschikow schiebt hier ein, daß jener Vatermörder, wie sich dieser Tage herausgestellt habe, in Wahrheit unschuldig war: dass »seine Unschuld offiziell vom Gericht anerkannt« worden sei, dass die wirklichen Täter sich gefunden und alles gestanden hätten und daß der Unglückliche bereits aus dem Zuchthaus entlassen worden sei, worin er zehn Jahre unverdienterweise verbringen musste.
Der Herausgeber bedauert das unter einer so furchtbaren Anklage zugrunde gerichtete Leben und fügt hinzu, »schon die bloße Möglichkeit« einer solchen Tatsache ergänze das Bild des Totenhauses um ein neues und außergewöhnlich prägnantes Charakteristikum. Bezeichnenderweise habe Gorjantschikow, der, inzwischen verstorben, den Ausgang dieser Geschichte nicht mehr erfahren konnte, seiner Schilderung dieses Vatermörders die Feststellung beigefügt, er glaube nicht an dessen Verbrechen.
Dostojewskij wendet hier ein Erzählverfahren an, das für seine fünf großen Romane typisch sein wird, aber auch schon in der frühen Erzählung Die Wirtin (1847) vorliegt. Dieses Verfahren besteht, so möchte ich sagen, darin, eine »Wirklichkeit auf Widerruf« herzustellen. Dostojewskij liefert uns einer Evidenztäuschung aus, um uns dann plötzlich zu einer völlig anderen Einschätzung des präsentierten Sachverhalts, ja mit einem völlig anderen Sachverhalt zu konfrontieren, so dass wir unser bereits feststehendes Urteil zu ändern haben.
Mit dem vorliegenden Fall einer Evidenztäuschung will uns Dostojewskij dazu anhalten, auch bei einer erdrückenden Beweislast für die »tierische Gefühllosigkeit« eines Menschen einen Rest an Zweifel zu reservieren, denn die Fakten können sich ändern - sie können sich als Resultat von Vorurteilen plötzlich in Luft auflösen. Die Reichweite einer solchen Argumentation kann überhaupt nicht überschätzt werden, sie ist erkenntnistheoretisch wie auch lebensphilosophisch von höchster Relevanz. Dostojewskij schafft sich mit der Art, wie er seine eigene, extreme Leiderfahrung in den Aufzeichnungen aus einem toten Haus verarbeitet, die Grundlage für seine Philosophie der Freiheit. Auch die niederdrückende Galerie reueloser Schwerverbrecher, die sich, unabhängig von jenem Vatermörder, der am Ende keiner war, im Toten Haus findet, ist kein Grund dafür, den Glauben an den Menschen zu verlieren. Anders ausgedrückt: Eine Theorie des Menschen, die den Menschen negativ, d. h. nihilistisch definiert, ist für Dostojewskij immer schon falsifiziert worden. Dostojewskij geht so weit, den Menschen als das Wesen zu bestimmen, das sich nicht auf den Begriff bringen lässt, weil der Mensch immer und überall in der Freiheit steht. Wenn es im Toten Haus heißt, der Mensch sei das Lebewesen, »das sich an alles gewöhnt«, so bedeutet das: der Mensch steht ständig in der Gefahr, seine Freiheit zu vergessen. Was aber bedeutet Freiheit?
Man darf sagen, dass Dostojewskij Freiheit ganz im Sinne Kants versteht, nämlich nicht als Erfahrungstatsache, sondern als Vernunftfaktum. Kants Definition der Freiheit lautet: »Freiheit ist das Vermögen, nur durch Vernunft determiniert zu werden, und nicht bloß mittelbar, sondern unmittelbar, also nicht durch Materie, sondern Form des Gesetzes. Also moralisch.«
Für Dostojewskij wie für Kant ist der Mensch durch das Vermögen ausgezeichnet, sich unmittelbar durch Vernunft determinieren zu lassen. Dieses Vermögen ist die menschliche Freiheit. Im Unterschied zu Kant sieht Dostojewskij aber die Religion als das notwendige Medium dieses Vermögens an - genauer gesagt: die christliche Religion in ihrer russisch-orthodoxen Ausprägung, die Dostojewskij wiederum auf seine Weise auffasst. Der Preis allerdings, den Dostojewskij für dieses Medium zahlt, sieht so aus, dass er die Angehörigen anderer Religionen ablehnt. Es kommt so in den Aufzeichnungen aus einem toten Haus zu gezielten antisemitischen Seitenhieben, die sich auf die Gestalt des Juden Issai Fomitsch Bumstein konzentrieren, und zur Ablehnung der polnischen Häftlinge, denn sie sind katholisch. Diese religiös gespeiste Intoleranz Dostojewskijs ist auch für seine fünf großen Romane typisch; in erkennbar systematischer Ausfaltung tritt sie uns zum ersten Mal in den Aufzeichnungen aus einem toten Haus (1860-1862) entgegen.
Es ist nun deutlich geworden, welche Schlüsselstellung dieses Werk für die Selbstfindung Dostojewskijs einnimmt. Für den hier anstehenden Zusammenhang ist wesentlich, dass Dostojewskij in der persönlichen Konfrontation mit Straftätern zu einem obsessiven Interesse an der Täterpersönlichkeit, ja an allem gelangt, was sich dem Gebiet der »Kriminologie« zurechnen lässt. Es überrascht nicht, dass seine Aufzeichnungen aus einem toten Haus in jüngster Zeit unter dem Begriff der »Täterliteratur «, der seit 1978 verwendet wird, eine neue Aufmerksamkeit erfahren. Man versteht unter »Täterliteratur« Werke von Autoren, die selber im Zuchthaus bzw. im Gefängnis gesessen haben und die dort gemachten Erfahrungen darstellen - sei es im Brief, im Tagebuch, im Gedicht, im Drama, im Roman oder als Dokumentation. Jede nur denkbare Mischform ist möglich, wenn sie nur die autobiographisch geforderte Thematik aufweist. Zur »Täterliteratur« gehören Giacomo Casanovas Memoiren mit der Schilderung seiner Flucht aus den Bleikammern in Venedig wie auch die Briefe, die Rosa Luxemburg in den Jahren 1915 bis 1918 aus verschiedenen Gefängnissen an Angehörige und Bekannte schrieb, Silvio Pellicos Meine Gefängnisse und Paul Verlaines Meine Gefängnisse, Oscar Wildes Ballade vom Zuchthaus zu Reading und Walter Kempowskis Im Block, Christian Friedrich Daniel Schubarts Bericht über seine zehnjährige Haftzeit auf dem Hohenasperg ebenso wie Albrecht Haushofers Moabiter Sonette und Henry Jaegers Die bestrafte Zeit. Einen eindrucksvollen Forschungsbericht zur »Täterliteratur«, die »Täter des Wortes« gleichermaßen umfasst wie »Täter der Tat«, hat 1990 der Saarbrücker Strafrechtler Heinz Müller-Dietz vorgelegt. Dostojewskij nimmt mit seinen Aufzeichnungen aus einem toten Haus innerhalb der »Täterliteratur« aus ganz verschiedenen Gründen einen bedeutenden Platz ein.
Auffällig ist nun, dass Dostojewskij mit diesen Aufzeichnungen die Erfahrungen, die er selber gemacht hat, nicht aufarbeitet, um sie gleichsam ad acta zu legen; vielmehr wird die hier geschilderte Konfrontation mit Straftätern zur Initialzündung für die zentralen Problemformulierungen seiner großen Romane. Im Durchgang durch das Tote Haus findet Dostojewskij zum Menschenbild seiner großen Romane. In diesem Menschenbild nimmt der Verbrecher, genauer: der Mörder einen zentralen Platz ein.
Das vierte Kapitel des Zweiten Teils der Aufzeichnungen aus einem toten Haus hat die Überschrift: Akulkas Mann. Eine Erzählung. Dostojewskij, der Dichter des Verbrechens, hat hier seine erste durchkomponierte Mordgeschichte geschrieben (die zwei davor ebenfalls im Toten Haus, Petrow und Bakluschin betreffend, liefern nur Streiflichter, und Dostojewskijs Frühwerk bis 1849 kennt keinen Mord, wenn auch Die Wirtin eine Mordabsicht gestaltet). An Grausamkeit nicht zu überbieten, eröffnet Akulkas Mann die Reihe der weiteren vier Morde, mit denen wir in den großen Romanen konfrontiert werden. Wie auch dort, befindet sich das Opfer hier im Zustand der totalen Wehrlosigkeit, als es die tödliche Verletzung erhält: Akulkas Mann zieht ihr »das Messer über die Kehle« und lässt sie verbluten. Der Ich- Erzähler ist der Mörder. Nur noch in den Brüdern Karamasow lässt Dostojewskij den Mörder selber erzählen, wie er gemordet hat. Und genau wie dort hat der Mörder hier einen Zuhörer, an den er sich wendet. Während aber Iwan Karamasow dem Mörder Smerdjakow mit höchstem Interesse, ja atemlos zuhört, hat Akulkas Mann einen Zuhörer, der nur widerwillig bei der Sache ist und nur hin und wieder eine triviale oder zynische Zwischenbemerkung macht. Der Leser wird dadurch in seinem Entsetzen, auf das es Dostojewskij ja anlegt, regelrecht gestört.
Doch gehen wir ins Detail. Die Erzählsituation sieht so aus, dass nachts im Gefängnishospital, als es im Schlafsaal dunkel wird und »nur der trübe Schein des fernen Nachtlichts« zu sehen ist, ein Sträfling einem anderen erzählt, wie er seine Frau umgebracht hat. Erzähler und Zuhörer befinden sich, inmitten der anderen Sträflinge, in ihren Betten. Der Erzähler spricht im Flüsterton. Es gibt aber noch einen weiteren Zuhörer, der unbemerkt bleibt. Das ist Alexander Gorjantschikow. Er liegt schlaflos im Hospital und hört, ohne es zu wollen, was da im Dunkeln geflüstert wird. Über Gorjantschikow als Mithörer sogleich ein besonderes Wort. Halten wir uns zunächst an das Erzählte.
Der nächtliche Erzähler, Iwan Semjonowitsch Schischkow, ein junger Bursche von etwa dreißig Jahren, ein Zivilsträfling, erzählt erhitzt und erregt mit starkem Mitteilungsbedürfnis sein Verbrechen einem vollkommen gleichgültigen Zuhörer, der, ein Soldat der Strafkolonie, etwa fünfzig Jahre alt, mit ausgestreckten Beinen auf seinem Bett sitzt, sich jeden Augenblick eine neue Prise Tabak in die Nase steckt und nur gleichsam anstandshalber Zeichen von Anteilnahme von sich gibt. Er heißt Tscherewin.
Worum geht es in Schischkows Erzählung? Um eine junge Frau, 18 Jahre alt, die Akulka heißt (Diminutiv von Akulina, abgeleitet von lat. aquila, »Adler«). Sie ist die Tochter eines reichen, jetzt 70-jährigen Bauern, der sie mit dem betagten Witwer Nikita Grigorjewitsch verheiraten möchte. Das aber will Filka Morosow nicht, und er macht Akulka überall schlecht, nennt sie eine Dirne und Saufschwester und beschmiert ihr das Tor mit Pech - ein russischer Brauch, um den schlechten Lebenswandel eines Mädchens zu plakatieren.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
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Autoren-Porträt von Horst-Jürgen Gerigk
Horst-Jürgen Gerigk, geboren 1937 in Berlin, starb am 09. Februar 2024 in Heidelberg, wo er seit 1974 als Professor für Russische Literatur und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität Heidelberg lehrte. Mit »Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller« hat er die Summe seines über fünfzigjährigen Nachdenkens über das Werk und das Leben Dostojewskijs vorgelegt. Von 1998 bis 2004 war Horst-Jürgen Gerigk Präsident der Internationalen Dostojewskij-Gesellschaft, die er 1971 mitbegründet hat, und war lange Jahre Herausgeber der »Dostoevsky Studies. The Journal of the International Dostoevsky Society«. Seit 2008 war er korrespondierendes Mitglied der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Wichtige Veröffentlichungen: »Die Russen in Amerika. Dostojewskij, Tolstoj, Turgenjew und Tschechow in ihrer Bedeutung für die Literatur der USA« (1995), »Lesen und Interpretieren« (2. Aufl. 2006), »Die Spur der Endlichkeit. Meine akademischen Lehrer. Vier Porträts: Dmitrij Tschizewskij, Hans-Georg Gadamer, René Wellek, Paul Fussell« (2007).
Bibliographische Angaben
- Autor: Horst-Jürgen Gerigk
- 2013, 2. Auflage, 348 Seiten, Maße: 12,5 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: FISCHER Taschenbuch
- ISBN-10: 3596905583
- ISBN-13: 9783596905584
- Erscheinungsdatum: 24.04.2013
Rezension zu „Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller “
Seine Monografie ist ein Muss für alle Fans. Neue Zürcher Zeitung 20140610
Pressezitat
Seine Monografie ist ein Muss für alle Fans. Neue Zürcher Zeitung 201406
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