Du bist o.k. so, wie du bist
Das Ende der Erziehung
"Erziehung war gestern. Was wir brauchen, ist Beziehung!" Nach diesem Motto stellt Diplompädagogin Katharina Saalfrank ihr Konzept für ein lebendiges Familienleben vor. "Wir müssen unsere Sicht auf Kinder grundsätzlich verändern",...
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Produktinformationen zu „Du bist o.k. so, wie du bist “
"Erziehung war gestern. Was wir brauchen, ist Beziehung!" Nach diesem Motto stellt Diplompädagogin Katharina Saalfrank ihr Konzept für ein lebendiges Familienleben vor. "Wir müssen unsere Sicht auf Kinder grundsätzlich verändern", meint sie, "wenn wir eine aufrichtige und herzliche Beziehung gestalten wollen".
Klappentext zu „Du bist o.k. so, wie du bist “
Kinder müssen nicht erzogen werden!Nur zwei Buchstaben scheinen es zu sein, um von der Er ziehung zur Be ziehung zu kommen. Tatsächlich aber müssen wir unsere Haltung und unsere Sicht auf Kinder ganz grundlegend verändern, wenn wir eine lebendige, aufrichtige und herzliche Beziehung zu unseren Kindern gestalten wollen.Kinder stehen in unserer Gesellschaft so sehr im Fokus wie nie zuvor. Beständig neue Konzepte über Frühförderung, Betreuungsangebote und Bildungsreformen werden entworfen. Eltern fragen sich: Wie soll ich mein Kind richtig erziehen? Wie schaffe ich es, dass es optimal gefördert wird? Eingeschlichen hat sich in all diese Diskussionen jüngst ein befremdlicher Ton: Plötzlich ist da von kleinen Tyrannen die Rede, die uns Eltern auf der Nase rumtanzen. Ein Lob der Disziplin befeuert die Erziehungsdebatte, immer mehr Kinder werden mit Diagnosen wie ADHS zu Kinder- und Jugendpsychiatern geschickt. Katharina Saalfrank wendet sich gegen einen solchen problematisierenden Umgang mit Kindern. Sie beschreibt die Notwendigkeit eines grundsätzlichen Paradigmenwechsels: Kinder brauchen keine Erziehung, ist ihre Überzeugung, die sie aus ihrer Arbeit mit Familien, aber auch aus Erkenntnissen der Hirnforschung und Entwicklungspsychologie gewinnt. Was Kinder stattdessen brauchen, um gesund aufwachsen zu können und gut zu lernen, ist eine stabile und konstruktive Beziehung. Wer das Buch von Katharina Saalfrank gelesen hat, wird einen neuen Schlüssel für ein bereicherndes und lebendiges Familienleben finden, in dem sich die Potentiale von Kindern und Eltern frei entwickeln und alle aneinander wachsen können.
Lese-Probe zu „Du bist o.k. so, wie du bist “
Du bist ok, so wie du bist von Katharina SaalfrankWo wir heute stehen
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Die Ausgaben von Bund, Ländern und Gemeinden für die Bildung sind in den vergangenen Jahren überdurchschnittlich gestiegen. 106,2 Milliarden Euro waren es 2011 laut Bildungsfinanzbericht. Im Jahr 1995 lagen die Ausgaben nicht einmal bei 80 Milliarden. Auch Familien werden hoch subventioniert. Neben dem Kindergeld können junge Familien seit 2007 auch das Elterngeld in Anspruch nehmen. Weitere staatliche Leistungen wie das Betreuungsgeld sollen dazukommen. Die Förderung der Familie vermittels vielfältiger Transferleistungen ist politischer Konsens in Deutschland. Und nicht nur die Familie, auch das Kind selbst soll gefördert werden. Zum Betreuungsauftrag ist der Bildungsauftrag hinzugekommen. Infolgedessen sind zahlreiche Bildungsinstitutionen mit ebenso zahlreichen pädagogischen Konzepten wie Pilze aus dem Boden geschossen.
Kinder werden immer früher mit staatlich organisierter Bildung, mit immer noch mehr Wissen und dessen gezielter Vermittlung konfrontiert. Besonders die frühkindliche Förderung wurde in den letzten Jahren optimiert. Gute Bildung soll schon in frühen Jahren möglich sein. Unsere Kinder sollen alle Chancen haben, sich gut, nein: optimal zu entwickeln. Kinderkrippen, Kindertagesstätten und Ganztagsbetreuung für Kinder werden ausgebaut, gefördert - ein attraktives Angebot, das Familien kaum ausschlagen können. Oder nur auf eigene Verantwortung. Die Kinder als Ressource des Wohlstands von morgen sind fest im Blick, ihr Wert allerdings wird ausschließlich in ihrer Fähigkeit beurteilt, Deutschland im internationalen Wettbewerb zu stärken.
Was auf den ersten Blick nach einer begrüßenswerten Entwicklung aussehen mag, hat auch Schattenseiten. Die Ansprüche, die durch die umfassenden Förder- und Betreuungsangebote an die Familien herangetragen werden oder die sie an sich selbst stellen, sind enorm gestiegen. Wie kann ich meinem Erziehungsauftrag gerecht werden? Wie finde ich die richtige Betreuung? Welche Bildung soll mein Kind wann und in welcher »Dosierung« erhalten? Sind wir gute Eltern? Was wird aus meinem Kind, wenn es versagt, wenn ich versage als Mutter oder Vater? Kurz gesagt: Wie erziehe ich mein Kind richtig?
Verunsicherung durch Angst
Eltern wollen alles gut, alles richtig machen. Die Anforderungen, allem gerecht zu werden, steigen, und durch äußere oder auch eigene Ansprüche geraten Eltern schnell unter Druck, was zu Verunsicherung führt. Und Eltern sind leicht zu verunsichern. Das wird immer wieder in Familienberatungen deutlich. Eltern sind angreifbar und verletzlich in ihrer emotionalen Rolle als Mutter oder Vater, und sie fühlen sich sofort schuldig, wenn etwas (vermeintlich) nicht gelingt. Eltern erleben den Widerspruch zwischen dem Wunsch, das Beste für ihre Kinder zu ermöglichen und so deren gesellschaftliche Chancen zu steigern, und dem Bedürfnis nach familiärer Geborgenheit. Deshalb stellt sich ihnen die Frage, wie sie ihr Kind besser verstehen und gut mit ihm umgehen können, heute dringlicher denn je.
Wir sind auf der Suche nach neuen Möglichkeiten, miteinander zu leben. Wir sind in einer Phase der Ungewissheit und des Umbruchs. Dieser Zustand erklärt, warum so viele Debatten geführt werden über die angebliche »Disziplinlosigkeit« der Kinder und Jugendlichen von heute. Auch ist es in solch einer gesellschaftlichen Stimmung nur nachvollziehbar, dass Bücher, die aus medizinisch-psychiatrischer Sicht einen angeblichen »Erziehungsnotstand« ausrufen und Kindern neben der infationären Diagnose ADHS zugleich noch eine psychische Reifeverzögerung attestieren, auf breites Interesse stoßen. Und nachvollziehbar ist ebenfalls, dass die autoritären Traktate, in denen von »kleinen Monstern« die Rede ist, die uns den »letzten Nerv rauben«, die uns »auf der Nase herumtanzen«, die »irrsinnig anstrengend« sind, offene Ohren finden.
Diese Diskussionen über Kinder, die nicht »erzogen« sind, und über Eltern, deren Erziehung »aus dem Ruder gelaufen« ist und die sich »kleine Tyrannen herangezüchtet« haben, tragen ihren Teil dazu bei, dass bei vielen Eltern die Unsicherheit verstärkt wird. Zusätzlich angeheizt wird die Stimmung durch Schriften, die ein Loblied auf die »Disziplin« singen und in denen gefordert wird, dass Eltern mehr »durchgreifen« sollten. Wie viel zusätzliche Verantwortung lastet da auf den Schultern der Eltern!
Auffällig - und alarmierend - ist, dass gerade in derartigen Büchern kindliches Verhalten als »normal« oder »anormal« eingeordnet und gewertet wird, ohne dass die Verfasser sich mit der jeweiligen Situation, in der ein Kind agiert, oder mit den Gründen für ein bestimmtes Verhalten auseinandersetzen. Dabei ist »normales«, also typisches Verhalten von Kindern erst mal ein rein statistischer Wert, und es bedarf einer differenzierten, umfassenden Beobachtung des Kindes unter Einbeziehung seiner Lebensumwelt, um fachlich einordnen zu können, ob es sich im konkreten Fall um ein Normverhalten handelt oder ob eine Abweichung vorliegt. So ist die Vielfalt dessen, was innerhalb einer gesunden kindgerechten Entwicklung geschehen kann, ungemein groß und lässt viel Platz für Interpretation. Heute scheinen Kinder sofort mit Diagnosen belegt und bei jeder kleinsten Abweichung als »verhaltensauffällig« eingestuft zu werden. Ganz so, als ob keine Zweifel bestünden, was als »normal«, »nicht normal«, als abweichendes Verhalten oder gar als krankhaft zu gelten habe! Pauschalierungen und Vereinfachungen von komplexen Fragen sind weder für Kinder noch für Eltern hilfreich und werden der diffizilen Materie nicht gerecht. Sie tragen vielmehr zur Unsicherheit von Eltern bei und lösen Angst und Sorge aus.
Eltern werden heute beständig mit Untergangsszenarien konfrontiert, die durch vermeintlich logische, tatsächlich aber haarsträubende Kausalketten hergeleitet werden. Von einem Kind, das sich protestierend auf den Boden wirft, weil es nicht einsehen will, dass seine Mutter ihm den Mund abwischt, ist es - glaubt man diesen Experten - nicht weit bis zu einem jugendlichen Arbeitslosen, der nicht fähig ist, eine Ausbildung einzugehen und zu beenden. Nicht selten landen dann verunsicherte Eltern bei Kinderärzten, Psychiatern und Psychologen; die Kinder müssen sich Tests unterziehen, man stellt ihnen Diagnosen, sie werden therapiert und häufig medikamentiert. Ihre Symptome werden behandelt. Sie werden als auffällige, schwierige Kinder eingeordnet, ausschließlich mit ihren Defiziten gesehen, aber nicht mit ihren Nöten verstanden.
So werden sie von einer Institution zur anderen herumgeschoben, ihr Gefühl, dass sie »anders« und »nicht richtig« sind, verstärkt sich, während ihre Eltern neue, klinische Vokabeln lernen wie »Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätssyndrom«, kurz ADHS. Besorgte, entmutigte oder panische Eltern hocken zuhauf mit ihrem Nachwuchs, der von der Umwelt als »Problemkinder« eingestuft und damit stigmatisiert wird, in den Wartezimmern, lösen Rezepte für Ritalin ein und fühlen sich belastet und schuldig. Glaubt man diesen Experten, so scheint eine ganze Generation unaufhaltsam auf die große Katastrophe zuzusteuern und eine gute Entwicklung von Kindern kaum noch möglich zu sein. Eltern erzählen Freunden, Verwandten und Kollegen unsicher von ihrem »schwierigen« Kind. Auch in den Schulen sind »diese Kinder« ein Thema. Sie stören den Ablauf, oh je! Dieses »schwierige« Kind ist ein »Riesenproblem«. Hört man Lehrer oder auch die Eltern der Kinder - durch die Diagnosen der Ärzte verunsichert - reden, könnte man meinen, ein Walfisch habe sich in den Goldfischteich verirrt. Es klingt, als wäre etwas überaus Unnatürliches und Schlimmes passiert, das Kind steht mit seinen vermeintlichen Defiziten plötzlich im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Es passt nicht in unser Bild, es ist im Weg, es »funktioniert« nicht in unserem System.
Sieht man die steigenden Zahlen von verhaltensauffälligen Kindern, könnte man den Experten fast selbst Glauben schenken. So ist doch die Botschaft zwischen den Zeilen: Die Kinder wachsen uns über den Kopf, sie werden immer schwieriger, wir stehen machtlos daneben. Das Kind wird zunehmend eher als Bedrohung und Belastung denn als Bereicherung und Glück empfunden. Bei solchen Aussichten ist es kaum verwunderlich, dass Eltern massiv verunsichert sind, eine grundsätzliche Entscheidung, Kinder zu bekommen, noch schwieriger wird, als sie ohnehin schon ist, und dass Kinder zunehmend argwöhnisch beobachtet werden: Wie eine Heuschreckenplage, die wir zwar selbst in die Welt gesetzt, über die wir aber längst die Kontrolle verloren haben.
Wenn ständig behauptet wird, dass Kinder, die sich nicht so verhalten, wie ihre Eltern oder die Umwelt es erwarten, schnell zu einer Bedrohung der gesamten Gesellschaft werden, dass Unsicherheiten von Eltern und kleine »Fehler« in der Erziehung unserer Kinder folgenschwere Konsequenzen haben können - dann ist es kein Wunder, dass sich Eltern bei der ersten Abweichung von dem von ihren Kindern erwarteten Verhalten irritiert an den nächsten Arzt wenden oder sich mit einer Wand aus Ratgebern umstellen und die darin vorgeschlagenen Maßnahmen und Regeln Schritt für Schritt wie bei einem Backrezept befolgen. Wenn man sich nur an alle Zutaten und Arbeitsschritte hält, dann kommt doch am Ende hoffentlich ein »anständiges« und »normales« - ein für unsere Welt kompatibles - Kind dabei heraus. Was auch immer das ist.
Durch zunehmende Normierungstendenzen in allen Bereichen wird unser Blickfeld auf Kinder immer enger. Dass Entwicklung vielfältig und individuell und trotzdem noch natürlich sein kann, findet in den Tabellen kaum Platz. Und so werden Eltern verunsichert und fragen sich: Ist mein Kind in Ordnung? Zeigt es »normales« Verhalten? Ein wenig so, als sei eine Krankheit im Umlauf, die unsere Kinder mehr oder weniger zufällig befallen könnte. Als habe niemand und nichts Einfuss auf diese Entwicklung unserer Kinder und als stünde das Verhalten von Kindern in keinem familiären oder gesellschaftlichen Zusammenhang.
Natürlich ist es einfacher und mit weniger Aufwand verbunden, mit dem Finger auf den anderen zu zeigen und zu sagen: Du, Kind, bist nicht in Ordnung, mit dir stimmt etwas nicht! Es ist auch deshalb bequem, weil die Erwachsenen dann Verantwortung abgeben können und nicht auf sich selbst schauen müssen: Welchen Anteil tragen wir selbst vielleicht daran, dass ein Kind sich so oder so verhält? Stattdessen wird das Verhalten der Kinder problematisiert und pathologisiert. Es ist bequem und entlastend für uns, zu sagen: Das ist nicht normal! Was wir damit eigentlich meinen: Das Kind ist nicht normal - es verhält sich nicht normgerecht! Es fällt auf und raus aus unserem Raster für das, was wir als »normal« empfinden.
Aber: Es geht hier nicht darum, Eltern und Erziehenden »Schuld« zuzuschieben. Es geht um Verantwortung! Und darum, zunächst unsere eigenen Denk- und Verhaltensmuster aufzudecken und zu verstehen, welche Wirkung sie auf uns und unsere Kinder haben.
Es entsteht ein Zerrbild, und es ist ein Missverständnis, wenn wir denken, dass wir keine Verantwortung tragen! Denn unser Umgang mit einem Kind und auch die von uns bereitgestellte Umwelt haben immer Einfluss auf das Kind und seine Entwicklung. Es verhält sich immer der Umwelt entsprechend, deshalb können wir Kinder und ihr Verhalten nicht ohne den Gesamtzusammenhang betrachten.
Ich beobachte aber noch etwas anderes: Wesentliche Erkenntnisse der Entwicklungspsychologie - zu den Ursachen bestimmter Verhaltensweisen, die zu einer notwendigen und gesunden Gesamtentwicklung von Kindern gehören - sind nicht in unserer Gesellschaft angekommen. Ein tiefes Tal der Zusammenhangslosigkeit liegt zwischen den Erkenntnissen von Erziehungswissenschaft, empirischer Säuglingsforschung, Entwicklungspsychologie und aktueller Hirnforschung einerseits und angewandter praktischer Pädagogik in Familien und staatlichen Institutionen andererseits. Diese Tatsache hat zu einem gewaltigen gesellschaftlichen Innovationsstau geführt. Die Wissenschaften, die sich letztendlich alle mit der Entwicklung und dem Wachstum von Menschen beschäftigen, scheinen jeweils ein Eigenleben zu führen, anstatt gemein sam in eine Richtung zu wirken. Daher finden die Erkenntnisse der einzelnen Disziplinen kaum Wege in die praktische Anwendung.
Kein Wunder also, dass entwicklungsgerechtes Verhalten von Kindern immer wieder falsch bewertet wird. Ein Beispiel aus meiner Beratungspraxis:
»Wir haben ein Problem mit unserem vierjährigen Sohn Linus. Er besucht seit zwei Jahren die Kita in unserem Ort. Gestern hat mich die Erzieherin angesprochen und mir mitgeteilt, dass unser Sohn aus der Gruppe ausgeschlossen werden müsse. Das Problem: Er sei aggressiv und habe sich nicht unter Kontrolle. Er gehe auf andere Kinder los und störe so die Gruppe und den Ablauf bei gemeinsamen Aktivitäten. Wir wissen, dass Linus sich manchmal ärgert. Vor ein paar Monaten kam es zum Streit mit seinem besten Freund. Dabei ist er gestürzt und hat sich selbst in der folgenden Rangelei die Nase aufgeschlagen, was ihn wohl sehr wütend gemacht hat. Denn dann gab es mit einem anderen Jungen Ärger, sie haben sich gestritten und am Boden gebalgt. Die Mütter dieser beiden Jungen finden das nicht toll, das ist klar. Würde ich auch nicht. Allerdings sind es andere Mütter aus der Gruppe, die jetzt für Aufruhr sorgen. Ich will unseren Sohn nicht in den Himmel loben, aber er ist ein herzensguter, lustiger kleiner Mensch. Das sagt selbst die Erzieherin. Es ist alles so widersprüchlich. Aber wie bekommt man das aus ihm raus? Die Erzieherin meinte, wir müssen die Aggression aus ihm rausbekommen, sonst habe er in der Schule später nur Probleme. Und die geht ja auch schon bald los. Haben Sie einen Tipp, was wir machen können? Ich bin so ratlos und mache mir große Sorgen. Das macht mich alles so fertig. «
Linus' Geschichte ist ein typisches Beispiel dafür, dass entwicklungsgerechtes Verhalten von Kindern etwa von Erziehern nicht erkannt wird und deshalb nicht konstruktiv darauf reagiert werden kann. Deutlich wird hier die Haltung der Erwachsenen: Diese Gefühle darf ein Kind nicht haben; und wenn doch, dann nicht hier! Sein Verhalten ist nicht erwünscht, und das Kind wird ausgegrenzt.
In der Erziehung spielten noch vor gut sechzig Jahren Gefühle kaum eine Rolle. Sie wurden in der Regel unterdrückt. Heute wissen wir, dass Menschen hierdurch in ihrer emotionalen Entwicklung gehemmt werden und in der Folge Störungen entwickeln können. Vielfältige wissenschaftliche Studien belegen, dass das Verleugnen und Wegdrücken von Gefühlen den Menschen krank machen.
Aber Menschen können Aggressionen doch nicht einfach ungefiltert ausagieren, wird der eine oder andere einwenden. Der Begriff »Aggression« ist von dem lateinischen Wort für »herangehen, angreifen« abgeleitet. Aggressionen an sich sind wichtig, sie bringen uns zu Hochleistungen, etwa im Sport. Wer beispielsweise bei der Olympiade die Sportler im Fernsehen bei der Zeitlupenwiedergabe genau beobachtet, kann erkennen, wie sich Aggressivität in den Gesichtern spiegelt und in Energie verwandelt, die den Athleten nach vorn bringt.
Es ist ein weitverbreiteter Irrtum, Aggressivität führe unweigerlich zu Gewalt. Deshalb meint man, Kinder sollten schon frühzeitig lernen, Konflikte ausschließlich verbal zu klären. Dies bedeutet für sie jedoch häufig eine absolute Überforderung. Für eine solche Konfliktlösung müssten sie sehr früh schon eine intellektuelle Leistung erbringen, die oft auch uns Erwachsenen schwerfällt.
Wir denken und handeln so jedoch nur aus der absurden Befürchtung, dass aus einem aggressiven vierjährigen Jungen zwangsläufig ein gewalttätiger Jugendlicher wird. Die Kausalkette so zu knüpfen beruht auf einem Fehlschluss. Denn nicht das aggressive Verhalten in der Kindheit ist ursächlich für die spätere Gewalttätigkeit von Jugendlichen. Vielmehr, das zeigen zahlreiche Untersuchungen, haben gewalttätige Jugendliche fast ausnahmslos in ihren Familien psychische oder physische Gewalterfahrungen gemacht und waren häufig selbst Opfer.
Es gibt nicht nur eine Angst oder die Aggression. Gefühle treten in vielen Abstufungen und Färbungen auf. Unsere Gefühlswelt ist komplex, und jedes Gefühl hat verschiedene Facetten; es gilt, alle Emotionen im Laufe der Zeit kennenzulernen, Erfahrungen im Umgang mit ihnen zu sammeln und sie letztendlich sämtlich in uns zu integrieren. Dieser Prozess beansprucht rund sechzehn bis siebzehn Jahre - dauert also bis zur Pubertät - und gehört zur normalen seelisch-emotionalen Entwicklung von Kindern.
Linus macht also wesentliche Erfahrungen in seiner emotionalen Entwicklung. Doch anstatt sich die Kinder auch körperlich auseinandersetzen zu lassen, sie kindgerecht beim Umgang mit Konflikten zu unterstützen, sie in ihrer Entwicklung zu begleiten, wird das unerwünschte Verhalten weggedrückt, und das störende Kind soll die Gruppe verlassen.
Normalität kann ganz schön anstrengend sein
Linus ist kein Einzelfall. Immer wieder wird ein völlig entwicklungsgerechtes Verhalten nicht richtig eingeordnet, sodass Eltern in eine ähnliche Verunsicherungsspirale geraten wie die Mutter von Linus: Eltern wird suggeriert, ihr Kind verhalte sich auffällig, also nicht normal. Die Eltern erschrecken, vor allem, wenn sie unerfahren sind. Sie überlegen, wie sie das Verhalten ihres Kindes so beeinflussen können, dass es wieder als »normal« wahrgenommen wird.
Verunsicherung ist aber nichts Schlechtes, sie gehört sogar unbedingt zum Elternsein. Solche Empfindungen machen es überhaupt erst möglich, dass wir uns auf unsere Kinder einstellen, dass wir dynamisch und beweglich bleiben. Wenn jedoch nichts als Hilflosigkeit und das Gefühl, man habe versagt, beim Erwachsenen zurückbleibt, dann ist es nur zu verständlich, dass man vermeintlich hilfreichen Ratschlägen folgt: Wir Erwachsenen dürfen uns das Ruder nicht aus der Hand nehmen lassen! Wir müssen doch immer wissen, wo es langgeht! Schnell geht es dann zurück ins alte Muster: Strafe wird wieder ein probates Mittel im Umgang mit Kindern. Kindliche Handlungen und Verhaltensweisen, die nicht erwünscht sind, werden sanktioniert.
Und wenn sich Eltern nicht mehr selbst zu helfen wissen, nehmen sie heute ganz selbstverständlich psychiatrisch-ambulante Hilfe in Anspruch und überlassen den vermeintlichen Experten das Feld. Diese Kinder- und Jugendpsychiater, -psychologen und -ärzte hatten in den vergangenen Jahren viel zu tun.
Ist es nicht seltsam, dass laut einer Studie des Robert-Koch-Instituts mittlerweile jedes fünfte Kind in Deutschland als verhaltensauffällig gilt? Wieso stutzen wir nicht, wenn wir hören, dass die Zahl der ADHS-Diagnosen zwischen 1989 und 2001 um 400 Prozent gestiegen ist? Selbst dass immer wieder von Ärzten diskutiert wird, ob es sich hier nicht um eine »konstruierte Krankheit« handele, lässt kaum aufhorchen. Genauso wenig wie die immer wieder aufgeworfene Frage, ob von all den Diagnosen dieser »Krankheit« - die fast ausschließlich medikamentös, kaum therapeutisch behandelt wird - nicht vor allem die Pharmaindustrie profitiert.
Man könnte die Aufzählung solcher blinden Flecken lange fortführen: Macht es uns nicht skeptisch, dass Diagnosen häufig beliebig, nach Gutdünken des jeweiligen Arztes und aufgrund einer Handvoll oft recht unklarer Symptome, die Eltern aus ihrer Sicht von zu Hause und aus der Schule berichten, gefällt werden? Warum lässt es uns nicht aufmerken, dass ADHS besonders häufig bei extrem früh eingeschulten Kindern auftritt? »Aufmerksamkeitsdefizite« muss man hier wohl eher uns Erwachsenen attestieren. Schauten wir genauer hin, ergäben sich interessante Fragen. Zum Beispiel, ob die frühe Einschulung entwicklungspsychologisch überhaupt sinnvoll ist und ob wir hiermit nicht selbst unsere Kinder überfordern? Doch offenbar sind wir noch nicht bereit, unseren Umgang mit den Schwächsten in der Gesellschaft grundsätzlich zu hinterfragen.
So kritisieren, maßregeln und therapieren wir unsere Kinder, um sie für unser (Erwachsenen-)Leben und unsere Gesellschaft passend zu machen. Dass die Gründe für ihr Verhalten, wenn es unseren Vorstellungen nicht entspricht, in der von uns selbst geschaffenen Umgebung oder auch in unserem eigenen Verhalten den Kindern gegenüber liegen könnten, ziehen wir nicht in Betracht. Es ist deshalb nur scheinbar ein Fortschritt, wenn wir Verhaltensauffälligkeiten und Konzentrationsstörungen von Kindern therapieren lassen - denn wir sind es, die diese Leiden zuallererst erzeugen.
Dass das Verhalten von Kindern pathologisiert wird, ist die extremste Ausprägung von Erziehung. Doch was ist Erziehung überhaupt, und wem dient sie wirklich?
Familie und Erziehung
Die Familienformen und damit auch das Familienleben haben sich in den letzten Jahrzehnten enorm verändert. Dafür gibt es verschiedene Gründe. Partnerschaften werden heute um ihrer selbst willen und auf einer emotionalen Basis gegründet. Die Qualität der Beziehung steht im Vordergrund. Wenn diese für die Partner nicht mehr zufriedenstellend ist, gehen Beziehungen (und damit auch Familien) auseinander. Das war noch vor sechzig Jahren anders - ob auch besser, sei dahingestellt. Heutzutage finden sich zudem neue Partnerschaftsformen, Patchworkfamilien und damit ein vielfältiges Geflecht an Beziehungen und familiären Verknüpfungen. Auch haben sich die Rollen innerhalb der Partnerschaft gewandelt. Die Berufstätigkeit der Frau ist heute Normalität und oft zur Sicherung der Existenz notwendig geworden. Der Mann ist nicht mehr der Alleinverdiener. Auch die Bedeutung von Kindern für eine Partnerschaft und der Grad der Aufmerksamkeit, die man ihnen zukommen lässt, haben sich verändert.
Von eigener Erziehungserfahrung geprägt - oft keiner guten -, sind sich Eltern heute zumeist darüber einig, dass sie es anders machen wollen, als sie es selbst erlebt haben. Die am eigenen Leib erfahrenen Kränkungen und Verletzungen wollen junge Eltern ihren Kindern unbedingt ersparen. Kinder brauchen Liebe, Verständnis und Wärme. Sie brauchen aber doch auch - so heißt es überall - klare Regeln und Grenzen. Zwischen diesen Polen schwanken die Eltern. Und je herausfordernder sich der Familienalltag gestaltet, desto verführerischer ist es, sich in kurzfristig wirksame autoritäre Methoden zu flüchten. Kinder sollen und müssen funktionieren, auch Eltern haben nur begrenzte Kräfte - und so werden im Tagesgeschäft der Erziehung gute Vorsätze schnell durch alte Gewohnheiten verdrängt.
Dabei können wir uns heute aber nicht mehr auf Nichtwissen berufen! Denn wir wissen heute viel mehr über die kindliche Entwicklung als in früheren Zeiten. In den letzten Jahrzehnten haben Pädagogik und Psychologie zwar vermehrt mit entscheidenden Erkenntnissen aufgewartet, doch die wurden immer wieder leichtfertig vom Tisch gewischt. Nun jedoch gibt es auch objektive naturwissenschaftliche Befunde. Die Biologie und die Neurologie haben langjährige Forschungen betrieben, und die Hirnforschung kann viele bereits gewonnene Erkenntnisse aus ihrer Sicht bestätigen. So wissen wir sicher, dass vieles, was früher an Erziehung stattgefunden hat, Kindern nicht nur nicht gutgetan hat, sondern häufig sogar schädlich war.
Wenn ich nun von einem neuen Umgang und einer veränderten Haltung Kindern gegenüber spreche, dann geht es nicht darum, festzustellen, dass die Generationen vorher alles »falsch« gemacht haben, sondern darum, mit den heutigen wissenschaftlichen Erkenntnissen, wie sich Kinder gut entwickeln, ein ganz neues Verhältnis zu ihnen herzustellen.
Denker wie Jean-Jacques Rousseau, der sich bereits Mitte des 18. Jahrhunderts des Themas Erziehung angenommen hat, haben unser Wissen über »Kindheit« entscheidend erweitert. Johann Heinrich Pestalozzi an der Schwelle zum 19. Jahrhundert oder Maria Montessori in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts haben wesentliche Beiträge zu einer den Kindern zugewandten Pädagogik geleistet. Inspiriert unter anderem von Sigmund Freud haben Pädagogen, Psychologen und Psychoanalytiker die Fragen nach frühkindlichen Erfahrungen, Traumata und Prägungen zu ihrem Anliegen gemacht. Alice Miller, eine Gewährsfrau auch meiner Arbeit, beschrieb eindrucksvoll die vielen Hemmnisse und Hindernisse der Erwachsenen beim Verstehen von Kindern. Entwicklungspsychologen begreifen und beschreiben heute gut, was Kinder in welchen Stadien ihrer Entwicklung brauchen, wie ihre Bedürfnisse erkannt und beantwortet werden können. Viel angekommen in den Familien und in der allgemeinen gesellschaftlichen Diskussion darüber ist davon jedoch nicht.
Dabei braucht es bestimmt kein Studium oder einen »Elternführerschein«, um auf die Bedürfnisse von Kindern eingehen zu können. Erforderlich wäre zunächst ein breiter gesellschaftlicher Konsens, dass Kinder nicht im herkömmlichen Sinne erzogen werden müssen. Dass Respekt und Gehorsam keine kindgerechten Kategorien sind. Dass Kinder stören dürfen. Genauso wie es einer gesellschaftlichen Akzeptanz bedurfte, dass Mann und Frau gleichberechtigt sind oder dass die sexuelle Orientierung kein Werturteil über Menschen bedingen darf.
Zwar haben sich gerade in den vergangenen Jahren neue Tendenzen herausgebildet, haben sich die Formen und Modelle der Erziehung immer wieder gewandelt. Letztendlich jedoch ist es immer das eine geblieben: Erziehung. Die Modelle haben sich verändert, die grundsätzliche Haltung zu Kindern nur wenig.
Wenn wir uns auf ein neues Ziel verständigen und Kindern ein gesundes Aufwachsen ermöglichen und eine kindgerechte Entwicklung zugestehen wollen, dann, so bin ich überzeugt, müssen wir ganz neue Wege finden, um das zu gewährleisten. Ich weiß, dass eine solche Situation, ein scheinbares Vakuum, vorübergehend unsicher macht. Noch unsicherer, als wir ohnehin schon sind. Diese Situation bietet andererseits auch Chancen. Sie gibt Raum zum Nachdenken. In einer so beschleunigten Welt, in der jedermann jederzeit auf neueste Informationen zurückgreifen kann, in der jedermann jederzeit möglichst schnelle, richtige und effiziente Entscheidungen treffen soll, können und dürfen wir uns an dieser Stelle Entschleunigung erlauben.
Ich erlebe Eltern immer wieder als sehr offen für Neues und glaube mit ihnen an die Möglichkeit einer grundlegenden Veränderung. Allerdings gibt es wenig, an dem wir uns orientieren können. Nur in einem scheinen wir uns sicher: Das Autoritäre, das uns geprägt hat, haben wir überwunden. Ob das tatsächlich so ist? Ich bin mir da nicht so sicher.
In meiner Arbeit mit Familien begegnen mir viele verschiedene Einstellungen und Erziehungsansätze - zwei unterschiedliche möchte ich näher beschreiben. So gibt es die Eltern, die ihren Kindern (scheinbar) negative Erfahrungen ersparen wollen.
»Auf dem Spielplatz ruft die Mutter sorgenvoll der zweijährigen Charlotte nach, sie solle langsam laufen, sonst falle sie noch hin. Sie folgt ihr aus Angst, sie könne abrutschen, hinunterfallen und sich wehtun, schnell zum Klettergerüst, um zu verhindern, dass sie selbstständig hinaufklettert. Charlotte macht den ersten Schritt auf die Stufe. Die eine Hand der Mutter am Bein, die andere am Rücken. Die Mutter lässt Charlotte nicht aus den Augen und aus den Händen, begleitet sie auf Schritt und Tritt. «
Eltern wie die Mutter von Charlotte haben die Vorstellung, dass Kinder keine »Fehltritte« machen, dass sie immer »glücklich« sein sollen. Sie sollen keinen Schmerz empfinden, keine Tränen weinen, sie sollen nicht unglücklich sein. So verhindern sie (in gutem Glauben) jedoch wichtige Entwicklungen bei ihren Kindern. Eltern, die sich so verhalten, nehmen den Kindern die Möglichkeit, eigene Erfahrungen mit sich selbst und der Umwelt zu machen: zu erfahren, wie man Gleichgewicht hält, wie viel Kraft es kostet, sich hochzuziehen, und auch zu erfahren, wie sich eine Beule oder ein blauer Fleck anfühlt.
Dies alles sind grundlegende Erfahrungen im Leben. Kinder begreifen ihre Umwelt, und es ist wichtig, dass sie forschen, ausprobieren, autonom werden und ihre eigenen Erfahrungen machen dürfen. Dabei geht es nicht darum, Kinder ernsthaften Gefahren auszusetzen oder sie sich selbst zu überlassen. Eine »Überbehütung« - ihnen gar keinen Raum zu geben, sie aus Furcht vor Schmerz oder Verletzung vor allem »Unglück« bewahren und ihnen jede Hürde aus dem Weg räumen zu wollen - ist aber genauso problematisch und hemmt die Entwicklung von Kindern.
Schmerz, Verletzung, Ärger und Krisen, das alles ist negativ belegt - es gehört jedoch genauso zum Leben wie Glück und Freude. Das eine kann man nur wahrnehmen, wenn das andere auch vorhanden ist. Kinder kommen mit vielen Potenzialen und Kompetenzen, talentiert, offen und klug auf die Welt - ihnen fehlt es lediglich an Erfahrungen. Diese Erfahrungen müssen sie selbst machen dürfen. Eltern, die ihren Kindern jeden Wunsch von den Augen ablesen, die ihnen alles kaufen, alle Wünsche erfüllen, rauben ihnen wesentliche emotionale Erfahrungen, nämlich die, sich nach etwas zu sehnen oder sich auf etwas zu freuen.
Natürlich gibt es auch Erfahrungen, die wir selbst gemacht haben und die wir unseren Kindern ersparen wollen. Das geschieht in der vermeintlich guten elterlichen Absicht, die eigenen Kinder vor scheinbar »schlechten Erfahrungen« beschützen zu wollen, und ich kann den Wunsch auch verstehen. Trotz allem ist ein solcher Umgang nicht hilfreich und entwicklungsfördernd. Die Mär vom »immerzu glücklichen Kind« ist ein Auswuchs einer als modern empfundenen Erziehung. Dem Kind wird so suggeriert: Du bist nicht o.k., so wie du bist - mit deinem Entdeckertrieb! Ich muss auf dich aufpassen, meine elterliche Fürsorgepflicht ist es, dir alle Wege zu ebnen. Nach meiner Erfahrung beschneidet eine solche Haltung das Kind in seiner Entwicklung und beraubt es grundsätzlich der Möglichkeit, die Welt selbstständig zu erkunden.
Kinder brauchen eigene gelebte Erfahrungen und keine von uns gewonnenen und weitergegebenen Weisheiten. Strategien im Umgang mit körperlichem Schmerz - etwa das Hinfallen auf dem Spielplatz - und seelischem Schmerz - zum Beispiel auch der Tod einer nahen Person oder die Erfahrung, dass sich ein dringender Wunsch nicht erfüllen wird - lassen sich nur durch eigenes Erleben erfahren, nicht vermitteln. Aus Sicht der Hirnforschung: Nur das selbst Erfahrene führt zu einer entsprechenden Vernetzung im Gehirn und lässt physiologische Bedingungen als Antwort auf unsere Erfahrungen entstehen.
Was wir allerdings tun können, ist, von unseren eigenen Erfahrungen zu berichten, in einen ernsthaften und konstruktiven Dialog mit Kindern zu gehen und ihnen zu erzählen, wie es bei uns war. Auch können wir Stellung beziehen: »Ich finde das gut« oder »Das habe ich anders gemacht«. Wir sollten jedoch nicht die Erwartung haben, dass das Kind dann den Drang, die Erfahrung selbst machen zu wollen, nicht mehr verspürt. Wichtig ist, dass Kinder (auch mit schwierigen Erfahrungen) nicht allein sind, dass sie Eltern haben, die sie in allen diesen Situationen begleiten und die als authentische Ansprechpartner zur Verfügung stehen. Ein anderer Erziehungsansatz beruht darauf, dass Eltern gleichbleibend »nett« agieren, um Konflikten aus dem Weg zu gehen. Dabei erleben Kinder ihre Eltern in ihrem Verhalten jedoch als unklar; sie können sie außerdem mit ihren Gedanken und Gefühlen und somit als echte Persönlichkeit mit eigenen Bedürfnissen nicht richtig wahrnehmen.
»Der fünfjährige Max ist mit seinen Eltern in einem Café. Max springt auf, nachdem er gut eine halbe Stunde ruhig am Tisch gesessen hat. Er rennt durch das Café und spielt Flugzeug, die Arme weit zur Seite ausgebreitet. Seine Eltern beobachten ihn. Sein Vater runzelt leicht die Stirn und überlegt, ob er etwas sagen soll. Im Vorbeirasen stößt Max nun an einen Stuhl. Es poltert, der Stuhl fällt um. Leise seufzend stellt der Vater den Stuhl wieder hin. Er sieht sich zu anderen Gästen um, die unruhig werden. »Max, hör bitte auf«, sagt er sanft lächelnd, seine Stimme ist jedoch gepresst und verrät seine Ungeduld. Max spielt weiter und scheint seinen Vater gar nicht gehört zu haben. Seine Mutter reagiert nun auch, sie wirkt angespannt, bittet Max jedoch ebenfalls lächelnd: »Max, spiel doch nicht so laut. Schau doch mal, ob du vielleicht draußen spielen kannst.«
Zunächst: Max verhält sich völlig altersgerecht. Nach einer gewissen Zeit im Café mit seinen Eltern muss er sich bewegen und hat das Bedürfnis zu spielen. Max' Eltern spüren, dass ihr Sohn die anderen Gäste stört, sie haben aber die Vorstellung, dass Eltern in ihrer Rolle vor allem »freundlich« sein sollen, und reagieren deshalb in der beschriebenen Form. Hierdurch allerdings entziehen sie sich gleichzeitig einem eventuell drohenden Konflikt mit ihrem Sohn, und Max verliert durch die »aufgesetzte Nettigkeit« authentische Ansprechpartner. Er wird so einer grundlegenden Beziehungserfahrung beraubt.
Eltern wollen heute oft harmonische Übereinstimmung, erwarten Verständnis und meiden (vielleicht nur scheinbare) Konflikte mit ihren Kindern. Was würde passieren, wenn die Eltern Max das Spielen im Café untersagen und ihn bitten würden, nach draußen zu gehen? Entweder geht Max nach draußen und spielt dort weiter. Oder er wird ärgerlich und kommt der Aufforderung der Eltern nicht nach. Dann wäre ein Konflikt zu lösen. Eines wird jedenfalls nicht passieren, nämlich dass Max sich an seine Eltern wendet und sagt: »Ja, liebe Eltern. Ihr habt ja völlig recht, ich bin viel zu laut hier und sollte lieber draußen weiterspielen. Wie gut, dass ihr da seid und mich darauf hingewiesen habt. Und außerdem: Hier im Café ist es auch viel zu langweilig.«
Diese Vorstellung mag zum Schmunzeln anregen. Meine Erfahrung ist, dass Eltern nicht selten (unbewusst) jedoch genau diese Erwartung haben. Letztendlich soll das Kind Verständnis für die Position der Erwachsenen haben. Das ist zu viel verlangt. Selbst wenn Max wütend werden und es zum Konflikt kommen würde, wäre das keine Katastrophe. So etwas gehört auch mit dazu, und es gilt, das auszuhalten.
Ich erlebe häufig Eltern, die nicht wollen, dass ihr Kind weint und negative Gefühle hat. Sie fühlen sich dann schuldig und erleben sich als »schlechte« Eltern. Warum eigentlich? Weil sie ihre eigenen Bedürfnisse über die des Kindes stellen und sich klar positionieren? Hier macht der Ton die Musik, und die Frage ist nicht nur, was Eltern sagen, sondern vor allem, wie sie Stellung beziehen. Eine Möglichkeit wäre es, in dieser Situation zu sagen: »Max, du hast lange bei uns gesessen. Hier stört es nun, wenn du spielst. Mach das bitte vor der Tür.« Nicht böse, nicht ärgerlich, sondern ruhig, freundlich und klar. Das entspräche dem eigentlichen Gefühl der Eltern und wäre authentisch. Ein Kind kann damit gut umgehen.
In beiden Situationen - in der Spielplatzszene mit Charlotte und in der Szene im Café mit Max - wird die Unsicherheit von Eltern offenkundig und ihr Bemühen, sich autoritärer Erziehungskonzepte zu enthalten. Die Eltern versuchen es in beiden Fällen anders. Dennoch: Zunächst einmal gibt es ja gar keinen Konflikt zwischen Erwachsenen und Kindern. Was aber, wenn Charlotte irgendwann allein das Klettergerüst erkunden will, die Hilfe der Mutter ablehnt und sich so ihre Autonomie erkämpft? Und was, wenn Max auf die immer gleichbleibend freundliche Ansprache seiner Eltern hin einmal nicht »funktioniert«?
Sobald Kinder sich in diesen und ähnlichen Situationen nicht der meist unausgesprochenen Erwartungshaltung der Eltern unterordnen und mehr Autonomie fordern, kommt es zu Konflikten. Die Eltern müssen sich positionieren, kommen jedoch mit ihren (neuen) erzieherischen Ansätzen nicht weiter. Automatisch fallen sie dann häufig in etwas lange Gelerntes zurück: in (selbst erlebte) autoritäre Erziehungsmuster. Wir greifen dann zum Beispiel auf Strafen, und seien es auch nur kleine, auf Druck oder auch gewaltsame Durchsetzungsmittel zurück. Ausgerechnet diese rücksichtslosen und oft selbst als machtvoll und gewaltsam erlebten Erziehungsmethoden sind es, die wir dann anwenden, obwohl wir geglaubt hatten, diese längst überwunden zu haben.
Gerade weil die Unsicherheit darüber groß ist, wie wir »richtig« reagieren, machen wir re fexartig einen Schritt zurück auf emotional (vermeintlich) sicheres, weil vertrautes Terrain, nämlich in das autoritär geprägte Erziehungsmuster. Für Kinder hat das unmittelbare Auswirkungen auf der Beziehungsebene: Sie erleben, wie ihre Eltern ständig ihre Stimmungen und Haltungen wechseln. Von freundlich und scheinbar gut gelaunt kippt die Situation für Kinder nicht nachvollziehbar ins Gegenteil, in autoritäre, strenge Reaktionen. Die Kinder sind verwirrt. Sie erhalten keine klare, authentische Antwort auf der Beziehungsebene und erleben permanent unklare und unsichere Erwachsene, die anscheinend selbst nicht wissen, was sie wollen. Und so bleibt den Kindern nur das Entwickeln ihrer eigenen Strategie, mit der Unklarheit ihres erwachsenen Gegenübers umzugehen.
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Die Ausgaben von Bund, Ländern und Gemeinden für die Bildung sind in den vergangenen Jahren überdurchschnittlich gestiegen. 106,2 Milliarden Euro waren es 2011 laut Bildungsfinanzbericht. Im Jahr 1995 lagen die Ausgaben nicht einmal bei 80 Milliarden. Auch Familien werden hoch subventioniert. Neben dem Kindergeld können junge Familien seit 2007 auch das Elterngeld in Anspruch nehmen. Weitere staatliche Leistungen wie das Betreuungsgeld sollen dazukommen. Die Förderung der Familie vermittels vielfältiger Transferleistungen ist politischer Konsens in Deutschland. Und nicht nur die Familie, auch das Kind selbst soll gefördert werden. Zum Betreuungsauftrag ist der Bildungsauftrag hinzugekommen. Infolgedessen sind zahlreiche Bildungsinstitutionen mit ebenso zahlreichen pädagogischen Konzepten wie Pilze aus dem Boden geschossen.
Kinder werden immer früher mit staatlich organisierter Bildung, mit immer noch mehr Wissen und dessen gezielter Vermittlung konfrontiert. Besonders die frühkindliche Förderung wurde in den letzten Jahren optimiert. Gute Bildung soll schon in frühen Jahren möglich sein. Unsere Kinder sollen alle Chancen haben, sich gut, nein: optimal zu entwickeln. Kinderkrippen, Kindertagesstätten und Ganztagsbetreuung für Kinder werden ausgebaut, gefördert - ein attraktives Angebot, das Familien kaum ausschlagen können. Oder nur auf eigene Verantwortung. Die Kinder als Ressource des Wohlstands von morgen sind fest im Blick, ihr Wert allerdings wird ausschließlich in ihrer Fähigkeit beurteilt, Deutschland im internationalen Wettbewerb zu stärken.
Was auf den ersten Blick nach einer begrüßenswerten Entwicklung aussehen mag, hat auch Schattenseiten. Die Ansprüche, die durch die umfassenden Förder- und Betreuungsangebote an die Familien herangetragen werden oder die sie an sich selbst stellen, sind enorm gestiegen. Wie kann ich meinem Erziehungsauftrag gerecht werden? Wie finde ich die richtige Betreuung? Welche Bildung soll mein Kind wann und in welcher »Dosierung« erhalten? Sind wir gute Eltern? Was wird aus meinem Kind, wenn es versagt, wenn ich versage als Mutter oder Vater? Kurz gesagt: Wie erziehe ich mein Kind richtig?
Verunsicherung durch Angst
Eltern wollen alles gut, alles richtig machen. Die Anforderungen, allem gerecht zu werden, steigen, und durch äußere oder auch eigene Ansprüche geraten Eltern schnell unter Druck, was zu Verunsicherung führt. Und Eltern sind leicht zu verunsichern. Das wird immer wieder in Familienberatungen deutlich. Eltern sind angreifbar und verletzlich in ihrer emotionalen Rolle als Mutter oder Vater, und sie fühlen sich sofort schuldig, wenn etwas (vermeintlich) nicht gelingt. Eltern erleben den Widerspruch zwischen dem Wunsch, das Beste für ihre Kinder zu ermöglichen und so deren gesellschaftliche Chancen zu steigern, und dem Bedürfnis nach familiärer Geborgenheit. Deshalb stellt sich ihnen die Frage, wie sie ihr Kind besser verstehen und gut mit ihm umgehen können, heute dringlicher denn je.
Wir sind auf der Suche nach neuen Möglichkeiten, miteinander zu leben. Wir sind in einer Phase der Ungewissheit und des Umbruchs. Dieser Zustand erklärt, warum so viele Debatten geführt werden über die angebliche »Disziplinlosigkeit« der Kinder und Jugendlichen von heute. Auch ist es in solch einer gesellschaftlichen Stimmung nur nachvollziehbar, dass Bücher, die aus medizinisch-psychiatrischer Sicht einen angeblichen »Erziehungsnotstand« ausrufen und Kindern neben der infationären Diagnose ADHS zugleich noch eine psychische Reifeverzögerung attestieren, auf breites Interesse stoßen. Und nachvollziehbar ist ebenfalls, dass die autoritären Traktate, in denen von »kleinen Monstern« die Rede ist, die uns den »letzten Nerv rauben«, die uns »auf der Nase herumtanzen«, die »irrsinnig anstrengend« sind, offene Ohren finden.
Diese Diskussionen über Kinder, die nicht »erzogen« sind, und über Eltern, deren Erziehung »aus dem Ruder gelaufen« ist und die sich »kleine Tyrannen herangezüchtet« haben, tragen ihren Teil dazu bei, dass bei vielen Eltern die Unsicherheit verstärkt wird. Zusätzlich angeheizt wird die Stimmung durch Schriften, die ein Loblied auf die »Disziplin« singen und in denen gefordert wird, dass Eltern mehr »durchgreifen« sollten. Wie viel zusätzliche Verantwortung lastet da auf den Schultern der Eltern!
Auffällig - und alarmierend - ist, dass gerade in derartigen Büchern kindliches Verhalten als »normal« oder »anormal« eingeordnet und gewertet wird, ohne dass die Verfasser sich mit der jeweiligen Situation, in der ein Kind agiert, oder mit den Gründen für ein bestimmtes Verhalten auseinandersetzen. Dabei ist »normales«, also typisches Verhalten von Kindern erst mal ein rein statistischer Wert, und es bedarf einer differenzierten, umfassenden Beobachtung des Kindes unter Einbeziehung seiner Lebensumwelt, um fachlich einordnen zu können, ob es sich im konkreten Fall um ein Normverhalten handelt oder ob eine Abweichung vorliegt. So ist die Vielfalt dessen, was innerhalb einer gesunden kindgerechten Entwicklung geschehen kann, ungemein groß und lässt viel Platz für Interpretation. Heute scheinen Kinder sofort mit Diagnosen belegt und bei jeder kleinsten Abweichung als »verhaltensauffällig« eingestuft zu werden. Ganz so, als ob keine Zweifel bestünden, was als »normal«, »nicht normal«, als abweichendes Verhalten oder gar als krankhaft zu gelten habe! Pauschalierungen und Vereinfachungen von komplexen Fragen sind weder für Kinder noch für Eltern hilfreich und werden der diffizilen Materie nicht gerecht. Sie tragen vielmehr zur Unsicherheit von Eltern bei und lösen Angst und Sorge aus.
Eltern werden heute beständig mit Untergangsszenarien konfrontiert, die durch vermeintlich logische, tatsächlich aber haarsträubende Kausalketten hergeleitet werden. Von einem Kind, das sich protestierend auf den Boden wirft, weil es nicht einsehen will, dass seine Mutter ihm den Mund abwischt, ist es - glaubt man diesen Experten - nicht weit bis zu einem jugendlichen Arbeitslosen, der nicht fähig ist, eine Ausbildung einzugehen und zu beenden. Nicht selten landen dann verunsicherte Eltern bei Kinderärzten, Psychiatern und Psychologen; die Kinder müssen sich Tests unterziehen, man stellt ihnen Diagnosen, sie werden therapiert und häufig medikamentiert. Ihre Symptome werden behandelt. Sie werden als auffällige, schwierige Kinder eingeordnet, ausschließlich mit ihren Defiziten gesehen, aber nicht mit ihren Nöten verstanden.
So werden sie von einer Institution zur anderen herumgeschoben, ihr Gefühl, dass sie »anders« und »nicht richtig« sind, verstärkt sich, während ihre Eltern neue, klinische Vokabeln lernen wie »Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätssyndrom«, kurz ADHS. Besorgte, entmutigte oder panische Eltern hocken zuhauf mit ihrem Nachwuchs, der von der Umwelt als »Problemkinder« eingestuft und damit stigmatisiert wird, in den Wartezimmern, lösen Rezepte für Ritalin ein und fühlen sich belastet und schuldig. Glaubt man diesen Experten, so scheint eine ganze Generation unaufhaltsam auf die große Katastrophe zuzusteuern und eine gute Entwicklung von Kindern kaum noch möglich zu sein. Eltern erzählen Freunden, Verwandten und Kollegen unsicher von ihrem »schwierigen« Kind. Auch in den Schulen sind »diese Kinder« ein Thema. Sie stören den Ablauf, oh je! Dieses »schwierige« Kind ist ein »Riesenproblem«. Hört man Lehrer oder auch die Eltern der Kinder - durch die Diagnosen der Ärzte verunsichert - reden, könnte man meinen, ein Walfisch habe sich in den Goldfischteich verirrt. Es klingt, als wäre etwas überaus Unnatürliches und Schlimmes passiert, das Kind steht mit seinen vermeintlichen Defiziten plötzlich im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Es passt nicht in unser Bild, es ist im Weg, es »funktioniert« nicht in unserem System.
Sieht man die steigenden Zahlen von verhaltensauffälligen Kindern, könnte man den Experten fast selbst Glauben schenken. So ist doch die Botschaft zwischen den Zeilen: Die Kinder wachsen uns über den Kopf, sie werden immer schwieriger, wir stehen machtlos daneben. Das Kind wird zunehmend eher als Bedrohung und Belastung denn als Bereicherung und Glück empfunden. Bei solchen Aussichten ist es kaum verwunderlich, dass Eltern massiv verunsichert sind, eine grundsätzliche Entscheidung, Kinder zu bekommen, noch schwieriger wird, als sie ohnehin schon ist, und dass Kinder zunehmend argwöhnisch beobachtet werden: Wie eine Heuschreckenplage, die wir zwar selbst in die Welt gesetzt, über die wir aber längst die Kontrolle verloren haben.
Wenn ständig behauptet wird, dass Kinder, die sich nicht so verhalten, wie ihre Eltern oder die Umwelt es erwarten, schnell zu einer Bedrohung der gesamten Gesellschaft werden, dass Unsicherheiten von Eltern und kleine »Fehler« in der Erziehung unserer Kinder folgenschwere Konsequenzen haben können - dann ist es kein Wunder, dass sich Eltern bei der ersten Abweichung von dem von ihren Kindern erwarteten Verhalten irritiert an den nächsten Arzt wenden oder sich mit einer Wand aus Ratgebern umstellen und die darin vorgeschlagenen Maßnahmen und Regeln Schritt für Schritt wie bei einem Backrezept befolgen. Wenn man sich nur an alle Zutaten und Arbeitsschritte hält, dann kommt doch am Ende hoffentlich ein »anständiges« und »normales« - ein für unsere Welt kompatibles - Kind dabei heraus. Was auch immer das ist.
Durch zunehmende Normierungstendenzen in allen Bereichen wird unser Blickfeld auf Kinder immer enger. Dass Entwicklung vielfältig und individuell und trotzdem noch natürlich sein kann, findet in den Tabellen kaum Platz. Und so werden Eltern verunsichert und fragen sich: Ist mein Kind in Ordnung? Zeigt es »normales« Verhalten? Ein wenig so, als sei eine Krankheit im Umlauf, die unsere Kinder mehr oder weniger zufällig befallen könnte. Als habe niemand und nichts Einfuss auf diese Entwicklung unserer Kinder und als stünde das Verhalten von Kindern in keinem familiären oder gesellschaftlichen Zusammenhang.
Natürlich ist es einfacher und mit weniger Aufwand verbunden, mit dem Finger auf den anderen zu zeigen und zu sagen: Du, Kind, bist nicht in Ordnung, mit dir stimmt etwas nicht! Es ist auch deshalb bequem, weil die Erwachsenen dann Verantwortung abgeben können und nicht auf sich selbst schauen müssen: Welchen Anteil tragen wir selbst vielleicht daran, dass ein Kind sich so oder so verhält? Stattdessen wird das Verhalten der Kinder problematisiert und pathologisiert. Es ist bequem und entlastend für uns, zu sagen: Das ist nicht normal! Was wir damit eigentlich meinen: Das Kind ist nicht normal - es verhält sich nicht normgerecht! Es fällt auf und raus aus unserem Raster für das, was wir als »normal« empfinden.
Aber: Es geht hier nicht darum, Eltern und Erziehenden »Schuld« zuzuschieben. Es geht um Verantwortung! Und darum, zunächst unsere eigenen Denk- und Verhaltensmuster aufzudecken und zu verstehen, welche Wirkung sie auf uns und unsere Kinder haben.
Es entsteht ein Zerrbild, und es ist ein Missverständnis, wenn wir denken, dass wir keine Verantwortung tragen! Denn unser Umgang mit einem Kind und auch die von uns bereitgestellte Umwelt haben immer Einfluss auf das Kind und seine Entwicklung. Es verhält sich immer der Umwelt entsprechend, deshalb können wir Kinder und ihr Verhalten nicht ohne den Gesamtzusammenhang betrachten.
Ich beobachte aber noch etwas anderes: Wesentliche Erkenntnisse der Entwicklungspsychologie - zu den Ursachen bestimmter Verhaltensweisen, die zu einer notwendigen und gesunden Gesamtentwicklung von Kindern gehören - sind nicht in unserer Gesellschaft angekommen. Ein tiefes Tal der Zusammenhangslosigkeit liegt zwischen den Erkenntnissen von Erziehungswissenschaft, empirischer Säuglingsforschung, Entwicklungspsychologie und aktueller Hirnforschung einerseits und angewandter praktischer Pädagogik in Familien und staatlichen Institutionen andererseits. Diese Tatsache hat zu einem gewaltigen gesellschaftlichen Innovationsstau geführt. Die Wissenschaften, die sich letztendlich alle mit der Entwicklung und dem Wachstum von Menschen beschäftigen, scheinen jeweils ein Eigenleben zu führen, anstatt gemein sam in eine Richtung zu wirken. Daher finden die Erkenntnisse der einzelnen Disziplinen kaum Wege in die praktische Anwendung.
Kein Wunder also, dass entwicklungsgerechtes Verhalten von Kindern immer wieder falsch bewertet wird. Ein Beispiel aus meiner Beratungspraxis:
»Wir haben ein Problem mit unserem vierjährigen Sohn Linus. Er besucht seit zwei Jahren die Kita in unserem Ort. Gestern hat mich die Erzieherin angesprochen und mir mitgeteilt, dass unser Sohn aus der Gruppe ausgeschlossen werden müsse. Das Problem: Er sei aggressiv und habe sich nicht unter Kontrolle. Er gehe auf andere Kinder los und störe so die Gruppe und den Ablauf bei gemeinsamen Aktivitäten. Wir wissen, dass Linus sich manchmal ärgert. Vor ein paar Monaten kam es zum Streit mit seinem besten Freund. Dabei ist er gestürzt und hat sich selbst in der folgenden Rangelei die Nase aufgeschlagen, was ihn wohl sehr wütend gemacht hat. Denn dann gab es mit einem anderen Jungen Ärger, sie haben sich gestritten und am Boden gebalgt. Die Mütter dieser beiden Jungen finden das nicht toll, das ist klar. Würde ich auch nicht. Allerdings sind es andere Mütter aus der Gruppe, die jetzt für Aufruhr sorgen. Ich will unseren Sohn nicht in den Himmel loben, aber er ist ein herzensguter, lustiger kleiner Mensch. Das sagt selbst die Erzieherin. Es ist alles so widersprüchlich. Aber wie bekommt man das aus ihm raus? Die Erzieherin meinte, wir müssen die Aggression aus ihm rausbekommen, sonst habe er in der Schule später nur Probleme. Und die geht ja auch schon bald los. Haben Sie einen Tipp, was wir machen können? Ich bin so ratlos und mache mir große Sorgen. Das macht mich alles so fertig. «
Linus' Geschichte ist ein typisches Beispiel dafür, dass entwicklungsgerechtes Verhalten von Kindern etwa von Erziehern nicht erkannt wird und deshalb nicht konstruktiv darauf reagiert werden kann. Deutlich wird hier die Haltung der Erwachsenen: Diese Gefühle darf ein Kind nicht haben; und wenn doch, dann nicht hier! Sein Verhalten ist nicht erwünscht, und das Kind wird ausgegrenzt.
In der Erziehung spielten noch vor gut sechzig Jahren Gefühle kaum eine Rolle. Sie wurden in der Regel unterdrückt. Heute wissen wir, dass Menschen hierdurch in ihrer emotionalen Entwicklung gehemmt werden und in der Folge Störungen entwickeln können. Vielfältige wissenschaftliche Studien belegen, dass das Verleugnen und Wegdrücken von Gefühlen den Menschen krank machen.
Aber Menschen können Aggressionen doch nicht einfach ungefiltert ausagieren, wird der eine oder andere einwenden. Der Begriff »Aggression« ist von dem lateinischen Wort für »herangehen, angreifen« abgeleitet. Aggressionen an sich sind wichtig, sie bringen uns zu Hochleistungen, etwa im Sport. Wer beispielsweise bei der Olympiade die Sportler im Fernsehen bei der Zeitlupenwiedergabe genau beobachtet, kann erkennen, wie sich Aggressivität in den Gesichtern spiegelt und in Energie verwandelt, die den Athleten nach vorn bringt.
Es ist ein weitverbreiteter Irrtum, Aggressivität führe unweigerlich zu Gewalt. Deshalb meint man, Kinder sollten schon frühzeitig lernen, Konflikte ausschließlich verbal zu klären. Dies bedeutet für sie jedoch häufig eine absolute Überforderung. Für eine solche Konfliktlösung müssten sie sehr früh schon eine intellektuelle Leistung erbringen, die oft auch uns Erwachsenen schwerfällt.
Wir denken und handeln so jedoch nur aus der absurden Befürchtung, dass aus einem aggressiven vierjährigen Jungen zwangsläufig ein gewalttätiger Jugendlicher wird. Die Kausalkette so zu knüpfen beruht auf einem Fehlschluss. Denn nicht das aggressive Verhalten in der Kindheit ist ursächlich für die spätere Gewalttätigkeit von Jugendlichen. Vielmehr, das zeigen zahlreiche Untersuchungen, haben gewalttätige Jugendliche fast ausnahmslos in ihren Familien psychische oder physische Gewalterfahrungen gemacht und waren häufig selbst Opfer.
Es gibt nicht nur eine Angst oder die Aggression. Gefühle treten in vielen Abstufungen und Färbungen auf. Unsere Gefühlswelt ist komplex, und jedes Gefühl hat verschiedene Facetten; es gilt, alle Emotionen im Laufe der Zeit kennenzulernen, Erfahrungen im Umgang mit ihnen zu sammeln und sie letztendlich sämtlich in uns zu integrieren. Dieser Prozess beansprucht rund sechzehn bis siebzehn Jahre - dauert also bis zur Pubertät - und gehört zur normalen seelisch-emotionalen Entwicklung von Kindern.
Linus macht also wesentliche Erfahrungen in seiner emotionalen Entwicklung. Doch anstatt sich die Kinder auch körperlich auseinandersetzen zu lassen, sie kindgerecht beim Umgang mit Konflikten zu unterstützen, sie in ihrer Entwicklung zu begleiten, wird das unerwünschte Verhalten weggedrückt, und das störende Kind soll die Gruppe verlassen.
Normalität kann ganz schön anstrengend sein
Linus ist kein Einzelfall. Immer wieder wird ein völlig entwicklungsgerechtes Verhalten nicht richtig eingeordnet, sodass Eltern in eine ähnliche Verunsicherungsspirale geraten wie die Mutter von Linus: Eltern wird suggeriert, ihr Kind verhalte sich auffällig, also nicht normal. Die Eltern erschrecken, vor allem, wenn sie unerfahren sind. Sie überlegen, wie sie das Verhalten ihres Kindes so beeinflussen können, dass es wieder als »normal« wahrgenommen wird.
Verunsicherung ist aber nichts Schlechtes, sie gehört sogar unbedingt zum Elternsein. Solche Empfindungen machen es überhaupt erst möglich, dass wir uns auf unsere Kinder einstellen, dass wir dynamisch und beweglich bleiben. Wenn jedoch nichts als Hilflosigkeit und das Gefühl, man habe versagt, beim Erwachsenen zurückbleibt, dann ist es nur zu verständlich, dass man vermeintlich hilfreichen Ratschlägen folgt: Wir Erwachsenen dürfen uns das Ruder nicht aus der Hand nehmen lassen! Wir müssen doch immer wissen, wo es langgeht! Schnell geht es dann zurück ins alte Muster: Strafe wird wieder ein probates Mittel im Umgang mit Kindern. Kindliche Handlungen und Verhaltensweisen, die nicht erwünscht sind, werden sanktioniert.
Und wenn sich Eltern nicht mehr selbst zu helfen wissen, nehmen sie heute ganz selbstverständlich psychiatrisch-ambulante Hilfe in Anspruch und überlassen den vermeintlichen Experten das Feld. Diese Kinder- und Jugendpsychiater, -psychologen und -ärzte hatten in den vergangenen Jahren viel zu tun.
Ist es nicht seltsam, dass laut einer Studie des Robert-Koch-Instituts mittlerweile jedes fünfte Kind in Deutschland als verhaltensauffällig gilt? Wieso stutzen wir nicht, wenn wir hören, dass die Zahl der ADHS-Diagnosen zwischen 1989 und 2001 um 400 Prozent gestiegen ist? Selbst dass immer wieder von Ärzten diskutiert wird, ob es sich hier nicht um eine »konstruierte Krankheit« handele, lässt kaum aufhorchen. Genauso wenig wie die immer wieder aufgeworfene Frage, ob von all den Diagnosen dieser »Krankheit« - die fast ausschließlich medikamentös, kaum therapeutisch behandelt wird - nicht vor allem die Pharmaindustrie profitiert.
Man könnte die Aufzählung solcher blinden Flecken lange fortführen: Macht es uns nicht skeptisch, dass Diagnosen häufig beliebig, nach Gutdünken des jeweiligen Arztes und aufgrund einer Handvoll oft recht unklarer Symptome, die Eltern aus ihrer Sicht von zu Hause und aus der Schule berichten, gefällt werden? Warum lässt es uns nicht aufmerken, dass ADHS besonders häufig bei extrem früh eingeschulten Kindern auftritt? »Aufmerksamkeitsdefizite« muss man hier wohl eher uns Erwachsenen attestieren. Schauten wir genauer hin, ergäben sich interessante Fragen. Zum Beispiel, ob die frühe Einschulung entwicklungspsychologisch überhaupt sinnvoll ist und ob wir hiermit nicht selbst unsere Kinder überfordern? Doch offenbar sind wir noch nicht bereit, unseren Umgang mit den Schwächsten in der Gesellschaft grundsätzlich zu hinterfragen.
So kritisieren, maßregeln und therapieren wir unsere Kinder, um sie für unser (Erwachsenen-)Leben und unsere Gesellschaft passend zu machen. Dass die Gründe für ihr Verhalten, wenn es unseren Vorstellungen nicht entspricht, in der von uns selbst geschaffenen Umgebung oder auch in unserem eigenen Verhalten den Kindern gegenüber liegen könnten, ziehen wir nicht in Betracht. Es ist deshalb nur scheinbar ein Fortschritt, wenn wir Verhaltensauffälligkeiten und Konzentrationsstörungen von Kindern therapieren lassen - denn wir sind es, die diese Leiden zuallererst erzeugen.
Dass das Verhalten von Kindern pathologisiert wird, ist die extremste Ausprägung von Erziehung. Doch was ist Erziehung überhaupt, und wem dient sie wirklich?
Familie und Erziehung
Die Familienformen und damit auch das Familienleben haben sich in den letzten Jahrzehnten enorm verändert. Dafür gibt es verschiedene Gründe. Partnerschaften werden heute um ihrer selbst willen und auf einer emotionalen Basis gegründet. Die Qualität der Beziehung steht im Vordergrund. Wenn diese für die Partner nicht mehr zufriedenstellend ist, gehen Beziehungen (und damit auch Familien) auseinander. Das war noch vor sechzig Jahren anders - ob auch besser, sei dahingestellt. Heutzutage finden sich zudem neue Partnerschaftsformen, Patchworkfamilien und damit ein vielfältiges Geflecht an Beziehungen und familiären Verknüpfungen. Auch haben sich die Rollen innerhalb der Partnerschaft gewandelt. Die Berufstätigkeit der Frau ist heute Normalität und oft zur Sicherung der Existenz notwendig geworden. Der Mann ist nicht mehr der Alleinverdiener. Auch die Bedeutung von Kindern für eine Partnerschaft und der Grad der Aufmerksamkeit, die man ihnen zukommen lässt, haben sich verändert.
Von eigener Erziehungserfahrung geprägt - oft keiner guten -, sind sich Eltern heute zumeist darüber einig, dass sie es anders machen wollen, als sie es selbst erlebt haben. Die am eigenen Leib erfahrenen Kränkungen und Verletzungen wollen junge Eltern ihren Kindern unbedingt ersparen. Kinder brauchen Liebe, Verständnis und Wärme. Sie brauchen aber doch auch - so heißt es überall - klare Regeln und Grenzen. Zwischen diesen Polen schwanken die Eltern. Und je herausfordernder sich der Familienalltag gestaltet, desto verführerischer ist es, sich in kurzfristig wirksame autoritäre Methoden zu flüchten. Kinder sollen und müssen funktionieren, auch Eltern haben nur begrenzte Kräfte - und so werden im Tagesgeschäft der Erziehung gute Vorsätze schnell durch alte Gewohnheiten verdrängt.
Dabei können wir uns heute aber nicht mehr auf Nichtwissen berufen! Denn wir wissen heute viel mehr über die kindliche Entwicklung als in früheren Zeiten. In den letzten Jahrzehnten haben Pädagogik und Psychologie zwar vermehrt mit entscheidenden Erkenntnissen aufgewartet, doch die wurden immer wieder leichtfertig vom Tisch gewischt. Nun jedoch gibt es auch objektive naturwissenschaftliche Befunde. Die Biologie und die Neurologie haben langjährige Forschungen betrieben, und die Hirnforschung kann viele bereits gewonnene Erkenntnisse aus ihrer Sicht bestätigen. So wissen wir sicher, dass vieles, was früher an Erziehung stattgefunden hat, Kindern nicht nur nicht gutgetan hat, sondern häufig sogar schädlich war.
Wenn ich nun von einem neuen Umgang und einer veränderten Haltung Kindern gegenüber spreche, dann geht es nicht darum, festzustellen, dass die Generationen vorher alles »falsch« gemacht haben, sondern darum, mit den heutigen wissenschaftlichen Erkenntnissen, wie sich Kinder gut entwickeln, ein ganz neues Verhältnis zu ihnen herzustellen.
Denker wie Jean-Jacques Rousseau, der sich bereits Mitte des 18. Jahrhunderts des Themas Erziehung angenommen hat, haben unser Wissen über »Kindheit« entscheidend erweitert. Johann Heinrich Pestalozzi an der Schwelle zum 19. Jahrhundert oder Maria Montessori in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts haben wesentliche Beiträge zu einer den Kindern zugewandten Pädagogik geleistet. Inspiriert unter anderem von Sigmund Freud haben Pädagogen, Psychologen und Psychoanalytiker die Fragen nach frühkindlichen Erfahrungen, Traumata und Prägungen zu ihrem Anliegen gemacht. Alice Miller, eine Gewährsfrau auch meiner Arbeit, beschrieb eindrucksvoll die vielen Hemmnisse und Hindernisse der Erwachsenen beim Verstehen von Kindern. Entwicklungspsychologen begreifen und beschreiben heute gut, was Kinder in welchen Stadien ihrer Entwicklung brauchen, wie ihre Bedürfnisse erkannt und beantwortet werden können. Viel angekommen in den Familien und in der allgemeinen gesellschaftlichen Diskussion darüber ist davon jedoch nicht.
Dabei braucht es bestimmt kein Studium oder einen »Elternführerschein«, um auf die Bedürfnisse von Kindern eingehen zu können. Erforderlich wäre zunächst ein breiter gesellschaftlicher Konsens, dass Kinder nicht im herkömmlichen Sinne erzogen werden müssen. Dass Respekt und Gehorsam keine kindgerechten Kategorien sind. Dass Kinder stören dürfen. Genauso wie es einer gesellschaftlichen Akzeptanz bedurfte, dass Mann und Frau gleichberechtigt sind oder dass die sexuelle Orientierung kein Werturteil über Menschen bedingen darf.
Zwar haben sich gerade in den vergangenen Jahren neue Tendenzen herausgebildet, haben sich die Formen und Modelle der Erziehung immer wieder gewandelt. Letztendlich jedoch ist es immer das eine geblieben: Erziehung. Die Modelle haben sich verändert, die grundsätzliche Haltung zu Kindern nur wenig.
Wenn wir uns auf ein neues Ziel verständigen und Kindern ein gesundes Aufwachsen ermöglichen und eine kindgerechte Entwicklung zugestehen wollen, dann, so bin ich überzeugt, müssen wir ganz neue Wege finden, um das zu gewährleisten. Ich weiß, dass eine solche Situation, ein scheinbares Vakuum, vorübergehend unsicher macht. Noch unsicherer, als wir ohnehin schon sind. Diese Situation bietet andererseits auch Chancen. Sie gibt Raum zum Nachdenken. In einer so beschleunigten Welt, in der jedermann jederzeit auf neueste Informationen zurückgreifen kann, in der jedermann jederzeit möglichst schnelle, richtige und effiziente Entscheidungen treffen soll, können und dürfen wir uns an dieser Stelle Entschleunigung erlauben.
Ich erlebe Eltern immer wieder als sehr offen für Neues und glaube mit ihnen an die Möglichkeit einer grundlegenden Veränderung. Allerdings gibt es wenig, an dem wir uns orientieren können. Nur in einem scheinen wir uns sicher: Das Autoritäre, das uns geprägt hat, haben wir überwunden. Ob das tatsächlich so ist? Ich bin mir da nicht so sicher.
In meiner Arbeit mit Familien begegnen mir viele verschiedene Einstellungen und Erziehungsansätze - zwei unterschiedliche möchte ich näher beschreiben. So gibt es die Eltern, die ihren Kindern (scheinbar) negative Erfahrungen ersparen wollen.
»Auf dem Spielplatz ruft die Mutter sorgenvoll der zweijährigen Charlotte nach, sie solle langsam laufen, sonst falle sie noch hin. Sie folgt ihr aus Angst, sie könne abrutschen, hinunterfallen und sich wehtun, schnell zum Klettergerüst, um zu verhindern, dass sie selbstständig hinaufklettert. Charlotte macht den ersten Schritt auf die Stufe. Die eine Hand der Mutter am Bein, die andere am Rücken. Die Mutter lässt Charlotte nicht aus den Augen und aus den Händen, begleitet sie auf Schritt und Tritt. «
Eltern wie die Mutter von Charlotte haben die Vorstellung, dass Kinder keine »Fehltritte« machen, dass sie immer »glücklich« sein sollen. Sie sollen keinen Schmerz empfinden, keine Tränen weinen, sie sollen nicht unglücklich sein. So verhindern sie (in gutem Glauben) jedoch wichtige Entwicklungen bei ihren Kindern. Eltern, die sich so verhalten, nehmen den Kindern die Möglichkeit, eigene Erfahrungen mit sich selbst und der Umwelt zu machen: zu erfahren, wie man Gleichgewicht hält, wie viel Kraft es kostet, sich hochzuziehen, und auch zu erfahren, wie sich eine Beule oder ein blauer Fleck anfühlt.
Dies alles sind grundlegende Erfahrungen im Leben. Kinder begreifen ihre Umwelt, und es ist wichtig, dass sie forschen, ausprobieren, autonom werden und ihre eigenen Erfahrungen machen dürfen. Dabei geht es nicht darum, Kinder ernsthaften Gefahren auszusetzen oder sie sich selbst zu überlassen. Eine »Überbehütung« - ihnen gar keinen Raum zu geben, sie aus Furcht vor Schmerz oder Verletzung vor allem »Unglück« bewahren und ihnen jede Hürde aus dem Weg räumen zu wollen - ist aber genauso problematisch und hemmt die Entwicklung von Kindern.
Schmerz, Verletzung, Ärger und Krisen, das alles ist negativ belegt - es gehört jedoch genauso zum Leben wie Glück und Freude. Das eine kann man nur wahrnehmen, wenn das andere auch vorhanden ist. Kinder kommen mit vielen Potenzialen und Kompetenzen, talentiert, offen und klug auf die Welt - ihnen fehlt es lediglich an Erfahrungen. Diese Erfahrungen müssen sie selbst machen dürfen. Eltern, die ihren Kindern jeden Wunsch von den Augen ablesen, die ihnen alles kaufen, alle Wünsche erfüllen, rauben ihnen wesentliche emotionale Erfahrungen, nämlich die, sich nach etwas zu sehnen oder sich auf etwas zu freuen.
Natürlich gibt es auch Erfahrungen, die wir selbst gemacht haben und die wir unseren Kindern ersparen wollen. Das geschieht in der vermeintlich guten elterlichen Absicht, die eigenen Kinder vor scheinbar »schlechten Erfahrungen« beschützen zu wollen, und ich kann den Wunsch auch verstehen. Trotz allem ist ein solcher Umgang nicht hilfreich und entwicklungsfördernd. Die Mär vom »immerzu glücklichen Kind« ist ein Auswuchs einer als modern empfundenen Erziehung. Dem Kind wird so suggeriert: Du bist nicht o.k., so wie du bist - mit deinem Entdeckertrieb! Ich muss auf dich aufpassen, meine elterliche Fürsorgepflicht ist es, dir alle Wege zu ebnen. Nach meiner Erfahrung beschneidet eine solche Haltung das Kind in seiner Entwicklung und beraubt es grundsätzlich der Möglichkeit, die Welt selbstständig zu erkunden.
Kinder brauchen eigene gelebte Erfahrungen und keine von uns gewonnenen und weitergegebenen Weisheiten. Strategien im Umgang mit körperlichem Schmerz - etwa das Hinfallen auf dem Spielplatz - und seelischem Schmerz - zum Beispiel auch der Tod einer nahen Person oder die Erfahrung, dass sich ein dringender Wunsch nicht erfüllen wird - lassen sich nur durch eigenes Erleben erfahren, nicht vermitteln. Aus Sicht der Hirnforschung: Nur das selbst Erfahrene führt zu einer entsprechenden Vernetzung im Gehirn und lässt physiologische Bedingungen als Antwort auf unsere Erfahrungen entstehen.
Was wir allerdings tun können, ist, von unseren eigenen Erfahrungen zu berichten, in einen ernsthaften und konstruktiven Dialog mit Kindern zu gehen und ihnen zu erzählen, wie es bei uns war. Auch können wir Stellung beziehen: »Ich finde das gut« oder »Das habe ich anders gemacht«. Wir sollten jedoch nicht die Erwartung haben, dass das Kind dann den Drang, die Erfahrung selbst machen zu wollen, nicht mehr verspürt. Wichtig ist, dass Kinder (auch mit schwierigen Erfahrungen) nicht allein sind, dass sie Eltern haben, die sie in allen diesen Situationen begleiten und die als authentische Ansprechpartner zur Verfügung stehen. Ein anderer Erziehungsansatz beruht darauf, dass Eltern gleichbleibend »nett« agieren, um Konflikten aus dem Weg zu gehen. Dabei erleben Kinder ihre Eltern in ihrem Verhalten jedoch als unklar; sie können sie außerdem mit ihren Gedanken und Gefühlen und somit als echte Persönlichkeit mit eigenen Bedürfnissen nicht richtig wahrnehmen.
»Der fünfjährige Max ist mit seinen Eltern in einem Café. Max springt auf, nachdem er gut eine halbe Stunde ruhig am Tisch gesessen hat. Er rennt durch das Café und spielt Flugzeug, die Arme weit zur Seite ausgebreitet. Seine Eltern beobachten ihn. Sein Vater runzelt leicht die Stirn und überlegt, ob er etwas sagen soll. Im Vorbeirasen stößt Max nun an einen Stuhl. Es poltert, der Stuhl fällt um. Leise seufzend stellt der Vater den Stuhl wieder hin. Er sieht sich zu anderen Gästen um, die unruhig werden. »Max, hör bitte auf«, sagt er sanft lächelnd, seine Stimme ist jedoch gepresst und verrät seine Ungeduld. Max spielt weiter und scheint seinen Vater gar nicht gehört zu haben. Seine Mutter reagiert nun auch, sie wirkt angespannt, bittet Max jedoch ebenfalls lächelnd: »Max, spiel doch nicht so laut. Schau doch mal, ob du vielleicht draußen spielen kannst.«
Zunächst: Max verhält sich völlig altersgerecht. Nach einer gewissen Zeit im Café mit seinen Eltern muss er sich bewegen und hat das Bedürfnis zu spielen. Max' Eltern spüren, dass ihr Sohn die anderen Gäste stört, sie haben aber die Vorstellung, dass Eltern in ihrer Rolle vor allem »freundlich« sein sollen, und reagieren deshalb in der beschriebenen Form. Hierdurch allerdings entziehen sie sich gleichzeitig einem eventuell drohenden Konflikt mit ihrem Sohn, und Max verliert durch die »aufgesetzte Nettigkeit« authentische Ansprechpartner. Er wird so einer grundlegenden Beziehungserfahrung beraubt.
Eltern wollen heute oft harmonische Übereinstimmung, erwarten Verständnis und meiden (vielleicht nur scheinbare) Konflikte mit ihren Kindern. Was würde passieren, wenn die Eltern Max das Spielen im Café untersagen und ihn bitten würden, nach draußen zu gehen? Entweder geht Max nach draußen und spielt dort weiter. Oder er wird ärgerlich und kommt der Aufforderung der Eltern nicht nach. Dann wäre ein Konflikt zu lösen. Eines wird jedenfalls nicht passieren, nämlich dass Max sich an seine Eltern wendet und sagt: »Ja, liebe Eltern. Ihr habt ja völlig recht, ich bin viel zu laut hier und sollte lieber draußen weiterspielen. Wie gut, dass ihr da seid und mich darauf hingewiesen habt. Und außerdem: Hier im Café ist es auch viel zu langweilig.«
Diese Vorstellung mag zum Schmunzeln anregen. Meine Erfahrung ist, dass Eltern nicht selten (unbewusst) jedoch genau diese Erwartung haben. Letztendlich soll das Kind Verständnis für die Position der Erwachsenen haben. Das ist zu viel verlangt. Selbst wenn Max wütend werden und es zum Konflikt kommen würde, wäre das keine Katastrophe. So etwas gehört auch mit dazu, und es gilt, das auszuhalten.
Ich erlebe häufig Eltern, die nicht wollen, dass ihr Kind weint und negative Gefühle hat. Sie fühlen sich dann schuldig und erleben sich als »schlechte« Eltern. Warum eigentlich? Weil sie ihre eigenen Bedürfnisse über die des Kindes stellen und sich klar positionieren? Hier macht der Ton die Musik, und die Frage ist nicht nur, was Eltern sagen, sondern vor allem, wie sie Stellung beziehen. Eine Möglichkeit wäre es, in dieser Situation zu sagen: »Max, du hast lange bei uns gesessen. Hier stört es nun, wenn du spielst. Mach das bitte vor der Tür.« Nicht böse, nicht ärgerlich, sondern ruhig, freundlich und klar. Das entspräche dem eigentlichen Gefühl der Eltern und wäre authentisch. Ein Kind kann damit gut umgehen.
In beiden Situationen - in der Spielplatzszene mit Charlotte und in der Szene im Café mit Max - wird die Unsicherheit von Eltern offenkundig und ihr Bemühen, sich autoritärer Erziehungskonzepte zu enthalten. Die Eltern versuchen es in beiden Fällen anders. Dennoch: Zunächst einmal gibt es ja gar keinen Konflikt zwischen Erwachsenen und Kindern. Was aber, wenn Charlotte irgendwann allein das Klettergerüst erkunden will, die Hilfe der Mutter ablehnt und sich so ihre Autonomie erkämpft? Und was, wenn Max auf die immer gleichbleibend freundliche Ansprache seiner Eltern hin einmal nicht »funktioniert«?
Sobald Kinder sich in diesen und ähnlichen Situationen nicht der meist unausgesprochenen Erwartungshaltung der Eltern unterordnen und mehr Autonomie fordern, kommt es zu Konflikten. Die Eltern müssen sich positionieren, kommen jedoch mit ihren (neuen) erzieherischen Ansätzen nicht weiter. Automatisch fallen sie dann häufig in etwas lange Gelerntes zurück: in (selbst erlebte) autoritäre Erziehungsmuster. Wir greifen dann zum Beispiel auf Strafen, und seien es auch nur kleine, auf Druck oder auch gewaltsame Durchsetzungsmittel zurück. Ausgerechnet diese rücksichtslosen und oft selbst als machtvoll und gewaltsam erlebten Erziehungsmethoden sind es, die wir dann anwenden, obwohl wir geglaubt hatten, diese längst überwunden zu haben.
Gerade weil die Unsicherheit darüber groß ist, wie wir »richtig« reagieren, machen wir re fexartig einen Schritt zurück auf emotional (vermeintlich) sicheres, weil vertrautes Terrain, nämlich in das autoritär geprägte Erziehungsmuster. Für Kinder hat das unmittelbare Auswirkungen auf der Beziehungsebene: Sie erleben, wie ihre Eltern ständig ihre Stimmungen und Haltungen wechseln. Von freundlich und scheinbar gut gelaunt kippt die Situation für Kinder nicht nachvollziehbar ins Gegenteil, in autoritäre, strenge Reaktionen. Die Kinder sind verwirrt. Sie erhalten keine klare, authentische Antwort auf der Beziehungsebene und erleben permanent unklare und unsichere Erwachsene, die anscheinend selbst nicht wissen, was sie wollen. Und so bleibt den Kindern nur das Entwickeln ihrer eigenen Strategie, mit der Unklarheit ihres erwachsenen Gegenübers umzugehen.
Copyright © 2013, Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln
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Autoren-Porträt von Katharina Saalfrank
Katharina Saalfrank lebt mit ihrem Mann und ihren vier Söhnen in Berlin. Sie hat eine Kolumne in der BILD und schreibt u.a. in der Berliner Morgenpost (die Kolumne "Kinder, Kinder") und LISA
Bibliographische Angaben
- Autor: Katharina Saalfrank
- 2013, 276 Seiten, Maße: 14,2 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Kiepenheuer & Witsch
- ISBN-10: 3462045024
- ISBN-13: 9783462045024
Rezension zu „Du bist o.k. so, wie du bist “
"Katharina Saalfrank hat ein kluges Buch geschrieben. Eines, das beweist, dass es ihr um die Kinder geht - und nicht allein um die Quote." Süddeutsche Zeitung 20130309
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