Du sollst nicht lügen!
Von einem, der auszog, ehrlich zu sein
Geht das überhaupt: radikal ehrlich sein?Ehrlich währt am längsten - von wegen! Laut Wissenschaft lügt ein Mensch täglich bis zu 200-mal. Mit Ausnahme von Jürgen Schmieder. Im Selbstversuch hat er seinen Mitmenschen vierzig Tage lang konsequent die Wahrheit...
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Produktinformationen zu „Du sollst nicht lügen! “
Geht das überhaupt: radikal ehrlich sein?Ehrlich währt am längsten - von wegen! Laut Wissenschaft lügt ein Mensch täglich bis zu 200-mal. Mit Ausnahme von Jürgen Schmieder. Im Selbstversuch hat er seinen Mitmenschen vierzig Tage lang konsequent die Wahrheit gesagt. Mit durchschlagendem Erfolg: blaue Flecken, Nächte auf der Couch, diverse Beleidigungen, ein verlorener Freund. Manchmal fühlt er sich befreit und mutig, manchmal deprimiert und verunsichert. Privat ('Findest du meinen Hintern fett?') und beruflich ('Mach doch deinen Scheiß alleine!') gerät er in ungemütliche, aber auch witzige und überaus erhellende Situationen.
Klappentext zu „Du sollst nicht lügen! “
Geht das überhaupt: radikal ehrlich sein?Ehrlich währt am längsten - von wegen! Laut Wissenschaft lügt ein Mensch täglich bis zu 200-mal. Mit Ausnahme von Jürgen Schmieder. Im Selbstversuch hat er seinen Mitmenschen vierzig Tage lang konsequent die Wahrheit gesagt. Mit durchschlagendem Erfolg: blaue Flecken, Nächte auf der Couch, diverse Beleidigungen, ein verlorener Freund. Manchmal fühlt er sich befreit und mutig, manchmal deprimiert und verunsichert. Privat ("Findest du meinen Hintern fett?") und beruflich ("Mach doch deinen Scheiß alleine!") gerät er in ungemütliche, aber auch witzige und überaus erhellende Situationen.
Lese-Probe zu „Du sollst nicht lügen! “
Du sollst nicht lügen! von Jürgen SchmiederKapitel 1
Tag 1 - Das erste Mal ehrlich sein
Soll ich sie eine beschissene Schlampe nennen? Oder eine
erdammte Schnepfe? Oder reicht blöde Kuh?
Ich weiß es nicht.
Es ist mein erstes Mal - und ich will beim ersten Mal keinen
Fehler machen. Niemand will beim ersten Mal einen
Fehler machen, obwohl jedes erste Mal im Nachhinein betrachtet
eines der unwichtigsten Ereignisse im Leben eines
Menschen ist, aber das weiß man ja vorher nicht, weshalb
ein erstes Mal mindestens so geplant sein muss wie der Start
einer Rakete oder das Weihnachtsessen bei meinen Eltern.
Sie müssen überlegt sein, diese Worte, die ich gleich aussprechen
werde, sie müssen ins Schwarze treffen, einen
Fehlschuss darf ich mir nicht erlauben - und diese drei erwähnten
Beleidigungen kommen mir als Erstes in den Sinn.
Meine Kinderstube taugt zwar nicht als Vorbild für ein Kinderbenimmbuch,
verbietet mir aber dennoch den übermäßigen
Gebrauch von Schimpfwörtern und Beleidigungen.
Meine Eltern haben mir in den wenigen Momenten, in
denen ich ihnen erlaubt habe, mich tatsächlich zu erziehen,
beigebracht, von den etwa 300 Schimpfwörtern, die mir
täglich durch den Kopf gehen, höchstens 15 auszusprechen,
und davon höchstens fünf für andere Menschen hörbar.
Meine Erziehung ist mir jetzt allerdings egal, denn es
geht um höhere Ziele.
... mehr
Es ist Aschermittwoch. In der Empfangshalle des Münchner
Bahnhofs riecht es nach verschüttetem Alkohol, halb
und rückwärts verdauten Cheeseburgern. Der Boden ist
klebrig, jeder Schritt hört sich an, als würde man einen
Klettverschluss öffnen. Ich muss daran denken, wann der
Boden wohl das letzte Mal gewischt wurde und wie viele
Keime bei jedem Schritt am Schuh kleben bleiben und so in
meine Wohnung gelangen und dort eine lustige Kommune
starten, weil ich zu faul bin, die Zimmer zu putzen. Überall
liegen Luftschlangen und Bierflaschen und Cheeseburger-
Papier. Hin und wieder rülpst einer. Ich frage mich immer,
warum Menschen in Großstädten einfach alles auf den Boden
werfen. Sie schnippen Ziga retten auf die Straße, sie lassen
benutzte Papiertüten einfach fallen, und aus ihren CO2reduzierten
Autos werfen sie so ziemlich alles, was durch
das halb geöffnete Fenster passt - was ziemlich viel sein
kann, wenn man gut genug knüllen kann. Vielleicht glauben
die Menschen in Metropolen, dass es schon irgendjemand
wegräumen wird, wenn schon so viele Leute da sind. Da,
wo ich herkomme, in einem kleinen Städtchen zwei Stunden
nördlich von München, liegt jedenfalls nicht so viel
Müll auf der Straße. Vielleicht haben die Menschen dort
nicht so viele Sachen zum Auf-die-Straße-Werfen, oder es
gibt einen anderen Grund dafür.
Ich bin an diesem Morgen in der U-Bahn neun verklei deten
Personen begegnet, von denen mindestens sieben stolz
auf einen Fahr- und Gehuntüchtigkeit bewirkenden Promillegehalt
sein konnten. Drei hielten sich aneinander fest
und veranstalteten ein menschliches Extrem-Jenga. Bei jedem
Halt stieß es einen der drei auf, als würde man einem
Säugling auf den Rücken klopfen. Die anderen beiden fanden
das lustig und applaudierten. Zwei der Betrunkenen
knutschten wild miteinander. Ich habe grundsätzlich nichts
gegen betrunkene Menschen, die sich einander festhalten
und miteinander knutschen, aber an diesem Morgen muss
ich meinem Gehirn doch 30 Sekunden Zeit geben, um wieder
mit den Augen auf einer Wellenlänge zu sein. Ich meine,
auf so etwas ist der verheiratete Endzwanziger nicht vorbereitet
an einem Aschermittwoch.
Nun stehe ich in der Schlange vor dem Ticketschalter,
für dessen Dienste die Deutsche Bahn tatsächlich einmal
2,50 Euro Schalter-Service-Gebühr verlangen wollte, um
die Kunden dazu zu zwingen, beim Fahrkartenkauf lieber
mit einer Maschine als mit einem anderen Menschen zu
kommunizieren - und dann sämtliche Schalterangestellte
ent lassen zu können, weil so ein Automat natürlich weniger
kostet als ein Mensch. Meiner Meinung nach diente diese
Aktion eher dazu, Kulturpessimisten und jenen, die behaupten,
dass früher sogar die Zukunft besser war, weitere Argumente
für ihre Haltung zu liefern. Erst als die Bürger heftig
protestierten und Angela Merkel höchstselbst beim damaligen
Bahnchef Hartmut Mehdorn anrief, nahm die Bahn den
unsinnigsten Aufpreis seit dem Topzuschlag für ein Spiel gegen
Schalke 04 zurück.
Ich stehe in der Schlange, weil zwei Automaten defekt
sind und an den anderen noch mehr Menschen anstehen
als an den Schaltern - außerdem tippen die noch verwirrt
auf dem Touchscreen herum, weil die Bahn zur Umsatzstei
ge rung durch die geplante Schalter-Service-Gebühr die
Automaten bedienerunfreundlich programmiert hat. Und
natürlich tue ich das auch deshalb, um die erwähnten Pessimisten,
die jeden Computer und das Internet als Vorstufe
zur Hölle betrachten, in ihrer Auffassung zu bestätigen.
Ich bin im Hauptbahnhof, weil mich mein Arbeitgeber
nach Stuttgart schickt und bei Reisen auf öffentliche Verkehrsmittel
setzt, was weniger mit Umweltschutz zu tun hat
als vielmehr mit den Einsparmöglichkeiten durch das BahnDauer-
Spezial. Die Angestellten bekommen keine Bahncard,
weil eine Bahncard ja zum Reisen animiert - und eigentlich
soll ja nur im Notfall gereist werden. Also bin ich ge-
zwungen, bereits um diese Uhrzeit am Bahnhof zu stehen,
auch wenn ich nicht vor 18 Uhr in Stuttgart sein müsste.
Ich möchte das Dauer-Spezial für 19 oder 29 Euro. Ohne
Bahncard.
Es ist sechs Uhr morgens, was meine physischen und psychischen
Fähigkeiten deutlich einschränkt, weil ich zum
Leistungssternzeichen Hamster gehöre und meine besten
und hellsten Momente nachts habe. Ich stehe am Anfang
der Schlange und verlange das Dauer-Spezial nach Stuttgart.
»Warten Sie einen Moment«, sagt die Frau am Schalter. Ich
warte einen Moment. Sie hämmert auf die Tastatur ein, wie
sonst nur das Bodenpersonal der Lufthansa auf Tastaturen
einhämmert. Ich denke kurz daran, wie rasch eine Umschulung
von Bahn auf Bodenpersonal möglich wäre, da
antwor tet sie: »Dauer-Spezial ist ausgebucht.« Ich kann nicht
behaupten, dass ich sauer wäre. Vielmehr bin ich ernüchtert -
als würde einem jemand erzählen, dass es auf der Geburtstagsparty
regnen würde.
»Was kann ich sonst machen?« - »Warten Sie einen Moment.
« Ich warte einen Moment. Sie hämmert auf die Tastatur
ein. Ich bewundere kurz ihre Turmfrisur, bei der die
Haare dreimal um den Kopf geschlungen und schließlich
mit einer goldenen, tellergroßen Schmetterlingsspange festgezurrt
sind. Ich bewundere die Frisur, weil ich mir zum einen
kaum erklären kann, wie man einem Friseur beschreibt,
was man gerne haben möchte. Wahrscheinlich hat sie einfach
eine Zeitschrift aus den 50er-Jahren aufgehoben und
auf die Titelseite gedeutet. Zudem bewundere ich den Ehrgeiz
und die Ausdauer, jeden Morgen im Bad eine Stunde
lang die Haare um den Kopf zu wickeln. Kurz: Diese Frau
ist mir sympathisch, auch wenn sie mir kein Dauer-Spezial
geben möchte.
»Ich habe etwas für Sie gefunden: Erst Bayern-Ticket,
dann mit dem Regionalexpress nach Stuttgart. Kostet auch
nur 41 Euro, die Fahrt dauert viereinhalb Stunden.«
Ich sehe sie an, wie ein Mann seinen Fernseher ansieht,
wenn er statt des Pokalendspiels nur das Testbild geboten
bekommt.
Mein geistiges Auge sieht gerade, wie sich in diesem Moment
die Marketing-Strategen bei der Bahn gegenseitig auf
die Schulter klopfen für die wahnsinnig tolle Kampagne,
mit der sie die Menschen glauben machen, die Bahn würde
einen für 29 Euro innerhalb von sechs Stunden von München
nach Hamburg fahren - und weil die Menschen so
blöd sind, es zu glauben, und morgens um sechs am Bahnhof
stehen und so auch noch die Züge des Regionalverkehrs
füllen.
Ich bin immer noch nicht sauer, aber doch gereizt - als
würde einem jemand erzählen, dass es auf der Geburtstagsparty
regnen würde und die Brauerei vergessen hat, Bier zu
liefern.
Ich will gerade nach weiteren Möglichkeiten fragen und
stelle mich schon darauf ein, noch einen weiteren Moment
zu warten und dem Tastaturhämmern zuzusehen,
da drängt sich ein junger Mann nach vorne. Die Menschen
hinter mir haben ihn vorgelassen, ich als Erster der Reihe
notgedrungen auch, obwohl ich grundsätzlich nicht zu
den Vorlassern gehöre. Atemlos steht er vor dieser Panzerglasscheibe
- als ob jemals jemand einen Raubüberfall auf
einen Fahrkartenschalter verüben würde -, sein Erasmus-
Aufkleber hängt ein wenig unmotiviert von seinem Rucksack.
Er stinkt deutlich weniger nach Bier als die Bayern-
Fans hinter mir und verlangt sein Ticket. Er fügt noch
et was hinzu, von dem ich aufgrund seiner Atemlosigkeit
nur die Worte »Paris«, »bitte schnell« und »in fünf Minuten
weg« verstanden habe.
Ich interpretiere das so, dass der Arme sich möglichst
schnell eine Fahrkarte holen will, weil sein Zug nach Paris
fünf Minuten später abfährt. Die Frau mit der Turmfrisur
sieht ihn an: »Das ist nicht mein Problem, ich will den lau-
fenden Vorgang jetzt nicht abbrechen. Dann verpassen Sie
den Zug eben. Es fährt später bestimmt noch einer.«
Sie sieht ihn an, wie man jemanden ansieht, wenn sich
kugelsicheres Glas dazwischen befindet. »Gehen Sie halt an
einen Automaten, aber da stehen wohl auch Leute davor«,
sagt sie und schüttelt sich ein bisschen, als würde ihr die
Aussage Gänsehaut machen. Ich muss an Abraham Lincoln
denken, der einmal sagte: »Jeder Mensch kann Trübsal aushalten.
Wenn du seinen Charakter testen willst, dann gib
ihm ein bisschen Macht.« Der Charakter dieser Frau würde
wohl nur von einem GEZ-Mitarbeiter oder einem Kampfrichter
beim 50-Kilometer-Gehen unterboten. Für diese Berufe
muss man einfach mit einer gesunden Portion Sadismus
ausgestattet sein.
Nun regnet es nicht nur auf der Geburtstagsparty, und
es gibt kein Bier, sondern nun haben auch noch die meisten
der Gäste abgesagt. So fühle ich mich.
Mein Herz pocht so, als wären keine schützenden Rippen
vor der Haut. Nun bin ich richtig sauer. Erst bekomme ich
kein Dauer-Spezial, dann wird mir eine Viereinhalbstunden-
fahrt vorgeschlagen - und jetzt wird der arme Mann noch
daran gehindert, nach Paris zu fahren.
Normalerweise würde ich sie nun anlächeln, meine Fahrkarte
bestellen und dann schweigend bezahlen. Ich würde
mich kurz darüber ärgern, dass ich zu feige bin, etwas zu
sagen. Die vier Schimpfwörter, die mir in den Kopf steigen,
würden im Gehirn bleiben oder höchstens in den Magen
abrutschen, um dort ein kleines Geschwür zu züchten.
Dann würde ich herzhaft gähnen und die Angelegenheit bei
einem Cheeseburger vergessen.
Aber nicht heute.
Heute will ich radikal ehrlich und absolut aufrichtig sein,
zum ersten Mal in meinem Leben. Ich nehme meinen Mut
zusammen und sage, was aus meinem Gedankenschatz ungebremst
über die Lungenflügel in den Mund rauscht.
Ich sage erst einmal: »Entschuldigen Sie bitte?«
Ich muss mir eingestehen, dass die Beleidigungen weit
we niger drastisch wären, wenn sie ein Nachwuchsmodel
wäre, auch wenn ich ihre Turmfrisur zunächst klasse fand.
Innerhalb von fünf Minuten und drei frechen Aussagen hat
sie sich in meinem Weltbild von einer sympathischen Mittvierzigerin
zu einer blöden Schlampe gewandelt. Ich wundere
mich kurz, wie die Bahn ihre Mitarbeiter bespitzeln
kann, aber niemals etwas gegen deren Unfreundlichkeit
unternimmt, die sie doch auf jedem einzelnen Videoband
sehen muss.
Dann muss ich das eben übernehmen, wenn es sonst keiner
tut.
»Du blöde Schnepfe! Was glaubst du eigentlich, wer du
bist? Und Sie wundern sich echt, dass jeder die Bahn hasst.
Herrgott noch mal! Da wollen Sie zweifünfzig Bedienzuschlag,
und dann hockt da eine dumme Schnepfe wie Sie
und lässt den Mann seinen Zug verpassen. Verdammte
Scheiße!« Zur Unterstützung meiner Aussage lasse ich
meine Faust auf die Theke knallen, was weniger Effekt hat,
als ich mir erhofft hatte.
Ich bin ein wenig von mir selbst schockiert wegen der
Lautstärke und der Wortwahl, begeistere mich aber darüber,
dass ich beim Übergang von Beleidigung zu Begründung
auch das Du in ein Sie getauscht habe.
Es ist plötzlich still. Niemand tritt auf den Boden und
macht Klettverschlussgeräusche. Niemand rülpst.
Die Frau sieht aus, als hätte man ihr erzählt, dass es gleich
regnen würde, sie schüttelt sich: »Was soll ich jetzt machen?«
Ich bleibe hart: »Den Mann bedienen, weil das Ihr verdammter
Job ist, Sie beschissene Kuh! Der verpasst seinen
Zug, weil Sie nichts Besseres zu tun haben, als Ihre Arroganz
an ihm auszulassen!« Die Faust lasse ich nun weg, ich stecke
die Hand lieber in die Hosentasche. Sie zittert - und ich
will nicht, dass sie das sieht.
Nun sieht sie aus, als würde es gleich regnen und sie dabei
bemerken, dass sie das Dach ihres Cabrios offen gelassen
hat.
»Und ist es mein Job, mich Arschloch nennen zu lassen?«
»Ich habe nur Schnepfe und blöde Kuh oder so etwas
gesagt. Ich weiß es nicht mehr genau, mir kamen so viele
Schimpfwörter, und ich musste mich schnell entscheiden.
Und das ist keine Beleidigung, sondern einfach nur ehrlich!
Ich muss es wissen, weil ich keine Lügen mehr erzähle. Jetzt
wissen Sie, was ich von Ihnen halte. Was wahrscheinlich alle
in dieser Schlange von Ihnen halten. Beschissene Kuh! Jetzt
kann ich gehen. Von Ihnen lasse ich mich nicht bedienen, da
kämpfe ich lieber mit dem Automaten - und wenn das eine
Stunde dauert. Der behandelt mich wenigstens mit Respekt.
Auf Wiedersehen!« Ich verabschiede mich mit der international
bekannten Geste eines wütenden Mannes - obwohl
der mittlere nun wirklich nicht zu meinen Lieblingsfingern
gehört - und frage mich, ob man modernen Automaten tatsächlich
Respekt einprogrammieren könnte.
Nun sieht sie aus, als würde sie bei Regen in einem Cabrio
mit offenem Dach sitzen.
Ich kann kaum atmen vor Aufregung. Meine linke Hand
gebärdet sich wie kurz vor einem Epilepsieanfall, meine Gesichtsröte
nähert sich derjenigen von Uli Hoeneß nach einer
1:5-Niederlage, meine Lunge fühlt sich an, als würde sie mit
Stricknadeln malträtiert. So aufgeregt war ich nicht einmal,
als sich meine Frau mir zum ersten Mal nackt zeigte - obwohl,
war ich doch.
Ich habe es geschafft, ich war zum ersten Mal bewusst
aufrichtig und ehrlich. Ich drehe mich um und sehe zwei
Bayern-Fans im Komplett-Outfit. Sie haben ihre Münder
so weit geöffnet, dass ein Hotdog hochkant hineinpassen
würde. Der Mann dahinter, ein älterer Herr mit gezwirbeltem
Schnurrbart und Schnupftabakresten an der Nase, sagt:
»Jawohl. Das war sehr mutig, mein Junge! Bravo! Wird ja
mal Zeit, dass denen jemand mal die Wahrheit sagt.« Er
klopft mir auf die Schulter, als ich an ihm vorbeigehe.
Ich bin stolz. Ich fühle mich befreit. Endlich denke ich
nicht: »Der müsste man mal die Meinung geigen.« Ich habe
ihr gerade die Meinung gegeigt. Laut und deutlich. Es regnet
auf der Party, es gibt kein Bier und es kommen auch
keine Gäste - aber ich habe die Brauerei zusammengeschissen,
den abwesenden Gästen erklärt, dass sie Idioten sind,
und für Petrus hatte ich aufgrund seiner beschissenen Wetterwahl
auch noch ein unfreundliches Gebet übrig. So fühle
ich mich jetzt. Die Beleidigungen sind heraus und nicht in
meinem Magen. Wenn es so läuft, wie ich mir das vorstelle,
dann sind sie vom Ohr der Bahnmitarbeiterin in deren Magen
gewandert und starten dort ein Geschwür und nicht
bei mir.
Aber ich wäre vor Aufregung beinahe in Ohnmacht gefallen.
Ich habe stärker gezittert als damals in der zehnten
Klasse, als ich die unglaublich hübsche und aufregende
Silke fragen musste, ob sie meine Partnerin beim Abschlussball
sein möchte. Mir ist ein wenig schwindlig, als ich mich
in der Bahnhofshalle umsehe.
Auf dem Boden vor mir liegt eine zerbrochene Bierflasche,
die beim Aufprall mindestens halb voll gewesen sein muss.
Zwanzig Meter entfernt steht vor der Bäckerei ein Mann
und schiebt sich einen Hotdog in den Mund. Wäre er aus
Marzipan, könnte er als menschliche Mozartkugel auftreten.
Ich könnte jetzt hinübergehen und ihm das sagen.
Aber ich traue mich nicht.
Einmal reicht erst mal, man soll es mit der Ehrlichkeit
nicht übertreiben am Anfang.
Schon wieder rülpst einer, und ich frage mich, ob an diesem
Tag im Münchner Hauptbahnhof die Weltmeisterschaft
im Bäuerchen-Machen ausgetragen wird.
Zweihundertfünfzig Kilometer von mir entfernt steht
Horst Seehofer in einem nach Bier stinkenden Zelt, er hebt
seinen Maßkrug und überzeugt mehr als 2000 Menschen
davon, dass er ein prima Kerl ist. Im Zelt nebenan steht
Franz Müntefering, er hebt seinen Maßkrug und überzeugt
mehr als 2000 Menschen davon, dass er ein prima
Kerl ist. Sie alle lügen, das ist ihr verdammter Job. Ich stehe
im nach Bier stinkenden Hauptbahnhof, habe gerade meine
Faust erhoben und eine mir fremde Frau davon überzeugt,
dass ich garantiert kein prima Kerl bin. Wahlen werde ich
so wohl nicht gewinnen, obwohl ich als Einziger von uns
dreien nicht lüge. Obwohl ich als Einziger nicht verlogen
lächle. Die Welt ist schon ungerecht.
Ich bin ehrlich, weil ich mir es vorgenommen habe.
Es war mein erstes Mal - und ich habe vor, diesem ersten
Mal mindestens 8000 weitere Male folgen zu lassen.
Ich werde es wieder und wieder und wieder tun. Ich habe
für die Fastenzeit große Pläne. Ich werde weiterhin Alkohol
trinken und Süßigkeiten essen und rauchen. Das aufzugeben
habe ich die vergangenen fünf Jahre mit mäßigem Erfolg
versucht. Deshalb gibt es nun ein neues Projekt:
Ich werde 40 Tage lang nicht lügen.
Um es gleich klarzustellen: Ich werde auch nicht die
Wahrheit sagen. Ich werde ehrlich sein - und zwischen Ehrlichkeit
und Wahrheit gibt es einen Unterschied. Denn ich
weiß natürlich nicht, ob die Frau am Schalter tatsächlich
eine beschissene Schlampe oder eine verdammte Schnepfe
oder eine blöde Kuh ist. Vielleicht ist sie eine liebenswerte
Person, die vier Kinder allein großziehen muss, diesen Job
sorgfältig macht und nebenbei noch Suppe für Obdachlose
kocht - und die einfach nur einen schlechten Tag oder
einen noch schlechteren Moment erwischt hat. Aber ich
halte sie in diesem Moment für eine beschissene Schlampe
oder eine verdammte Schnepfe oder eine blöde Kuh - und
das habe ich ihr ganz ehrlich mitgeteilt. Wahrheit und Ehrlichkeit
führen eine komplexe Beziehung miteinander - und
häufig verwechseln wir beide Begriffe. Wenn ich sage: »Der
FC Bayern München ist deutscher Rekordmeister«, dann
bin ich ehrlich, und ich sage die Wahrheit. Wenn jemand
behauptet: »Der TSV 1860 München ist der am seriösesten
geführte Verein der Welt«, dann mag diese Person ehrlich
(wenn auch verrückt) sein, aber es ist definitiv nicht die
Wahrheit. Und die Aussage »Du hast einen fetten Arsch«
kann ebenfalls ehrlich sein, allerdings ist der Wahrheitsgehalt
nur schwer zu überprüfen, denn wer kann schon sagen,
ab welcher Größe ein Hintern als fett zu gelten hat.
Vielleicht ist tatsächlich wahr, was ich zu der Frau gesagt
habe, aber das weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass ich ehrlich
war. Und darum geht es mir.
Es ist mein Vorsatz für die kommenden 40 Tage: Ehrlichkeit
um jeden Preis. Jederzeit. Kein Taktgefühl, keine
Diplo matie, keine Beschönigungen. Ohne Filter zwischen
Gehirn und Mund. Radikale Ehrlichkeit, immerzu. »Wenn
dir das Wort Arschloch durch den Kopf geht, dann sage
nicht Idiot, auch wenn der andere beleidigt ist und dir aufs
Maul haut. Nenn ihn Arschloch«, sagt Brad Blanton, der
Begründer der amerikanischen Bewegung, die sich Radical
Honesty nennt und aus der mittlerweile gar eine nihilis tische
Religion hervorgegangen ist mit Blanton als »Pope of
No Hope«.
Mir ist jetzt schon klar, dass ich diesen Typen irgendwann
einmal kennenlernen muss.
Sein Satz ist die MTV-Version des Aufklärers Immanuel
Kant, der in seinem Werk Ȇber ein vermeintes Recht aus
Menschenliebe zu lügen« schrieb: »Wahrhaftigkeit ist formale
Pflicht des Menschen gegen jeden, es mag ihm oder
einem anderen daraus auch noch so ein großer Nachteil erwachsen.
« Die neuseeländische Schriftstellerin Katherine
Mansfield schrieb in ihrem Tagebuch gar: »Ehrlichkeit ist
das Einzige, was höher steht als Leben, Liebe, Tod, als alles
andere. Sie allein ist beständig. Sie ist aufwühlender als
Liebe, freudvoller und leidenschaftlicher. Sie kann einfach
nicht versagen. Alles andere versagt. Ich jedenfalls weihe
den Rest meines Lebens der Wahrheit, und ihr allein.« Dass
sie vereinsamt starb, mag auch mit Sätzen wie diesem zu
tun haben.
Sie alle meinen das Gleiche: Sei ehrlich! Immer und überall!
Das werde ich versuchen. Ich bin ehrlich zu meinen Mitmenschen,
ob es ihnen nun passt oder nicht.
Ob es mir nun passt oder nicht.
40 Tage und 40 Nächte lang. Und da der Mensch laut
mehreren Studien etwa 200-mal pro Tag lügt, werde ich auf
insgesamt 8000 Lügen verzichten.
Einmal habe ich geschafft. Also noch 7999-mal ehrlich
sein.
Im Film »40 Tage und 40 Nächte« versucht der Protagonist,
für genau diese Zeitspanne auf Sex und Onanie zu verzichten.
Ganz ehrlich? Ich halte mein Projekt für die schwierigere
Aufgabe. Ich sehe mich - in aller Demut freilich -
eher in der Nähe von Jesus, der 40 Tage lang in der Wüste
fastete und den Versuchungen des Teufels widerstand. Auf
diese in der Bibel erwähnte Episode geht die Fastenzeit zwischen
Fasching und Ostern zurück, in der die Menschen
versuchen, auf etwas zu verzichten, das sie gerne essen oder
trinken oder durch die Lunge einatmen. Es ist heutzutage
keine Fastenzeit mehr, sondern eine Verzichtszeit - und kurioserweise
versuchen mehr Menschen, am Aschermittwoch
das Rauchen aufzugeben als am 1. Januar. Damit jedoch
gehorchen sie keinem der zehn Gebote, sondern befriedigen
nur ihr schlechtes Gewissen darüber, dass sie sich die
anderen 325 Tage im Jahr gehen lassen haben - und wollen
natürlich ihre Verhandlungsposition für den Jüngsten
Tag stärken.
Ich habe mich für das Gebot »Du sollst nicht lügen« entschieden,
weil die christliche Populärversion wenig Spiel-
raum für Interpretationen lässt - anders als das alttestamentarische
»Du sollst kein falsches Zeugnis wider deinen
Nächsten geben«. Außerdem finde ich dieses Gebot schwieriger
einzuhalten als viele andere. Ich meine, mit dem Gebot
»Du sollst nicht töten« hätte ich nun wahrlich keine Prob
leme, weil ich keinen Groll gegen andere Menschen hege
oder zumindest keinen so starken, dass ich jemals gegen das
Gebot verstoßen würde.
Schwer einzuhalten deshalb, weil wir Menschen Lügner
und Betrüger sind. Ich bin ein Lügner und Betrüger.
Ich lüge. Jeden Tag. Ich würde mich jetzt nicht zu den
großen Lügnern der Weltgeschichte zählen, ich leide nicht
an »Pseudologia phantastica« - ja, die offizielle Bezeichnung
für den pathologischen Drang zum Lügen lautet wirklich
so - oder am »Münchhausen-Syndrom«, bei dem man
pathologisch Krankheiten vortäuscht. Ich habe zahlreiche
narzisstische Persönlichkeitsstörungen, aber Mythomanie,
das krampfhafte Lügen, gehört nicht dazu. Ich gehöre eher
zu den Wahrheitsbiegern und Beschönigern, den Lästerern
und Labertaschen. Ich sagte bisher: »Steht dir, das Kleid«,
wenn ich dachte: »Ist dein Arsch fett in dem Ding!« Und
natürlich: »Klar kümmere ich mich drum, lieber Kollege«,
obwohl die Wahrheit wäre: »Warum machst du das nicht
selber, Vollidiot?« Und wenn ein Kollege einen miserablen
Text geschrieben hatte, dann sagte ich nichts - höchstens
hinter seinem Rücken.
Ich bin ein ganz normaler Lügner wie jeder andere auch.
Wie jeder Leser dieses Buches.
Wenn Sie jetzt glauben, Sie wären ein grundehrlicher
Mensch und würden niemals lügen, dann möchte ich Sie
bitten darüber nachzudenken, wie vielen Menschen Sie
heute einen »Guten Morgen« gewünscht haben, obwohl
es ehrlicherweise die Pest am Hals oder zumindest Pilz an
den Füßen gewesen wäre. Ich habe in der Woche vor dem
Aschermittwoch nachgezählt: Es waren acht, neun »Gu-
ten Morgen« pro Tag, die ich nicht so gemeint habe - von
den »Guten Tag« und »Guten Abend« bis zu »Gute Nacht«
will ich gar nicht erst reden. Wie oft haben Sie einem Menschen
gesagt, dass Sie ihn mögen, obwohl er ein Vollidiot
ist? Und haben Sie Ihrer Frau gebeichtet, dass die neue Kollegin
einen fantastischen Arsch hat und Sie ihr jedes Mal
hinterhergaffen, wenn sie an Ihrem Büro vorbeigeht? Natürlich
nicht. Also: Auch Sie, der Leser dieses Buches, sind
ein Lügner. Macht ja nichts.
Bei mir ist das nun vorbei.
Und nun: die Wahrheit und nichts als die Wahrheit.
Oder besser: die Ehrlichkeit und nichts als die Ehrlichkeit.
Eine Fastenzeit ohne Lügen.
Noch bin ich guter Dinge.
Ich bin juergen.schmieder@sueddeutsche.de. Ich bin Journalist
im Süddeutschen Verlag und wohne in München.
Meine Kenntnisse über Fußball, Snooker und American Football
haben mir eine Anstellung im Sportressort verschafft. Da
meine Chefs der Meinung sind, ich könne auch prima über
Papierflieger, italienischen Büffelmozzarella, Pokern, Computerspiele
und Tätowiererinnen berichten, schreibe ich quasi
über alles, das nicht wirklich wichtig ist, aber doch zum täglichen
Leben gehört. Die Kollegen aus den Ressorts Politik
und Wirtschaft sehen mich aufgrund meiner Themenwahl
meist ein wenig abfällig an, wenn sie mir morgens begegnen,
weil sie über die wichtigen Dinge des Lebens, wie Politikerreden
in Bierzelten und Vierteljahresberichte von Banken,
berichten - und ich bin mir sicher, dass auch ihr »Guten
Morgen« nur in seltenen Fällen ehrlich gemeint ist.
Mein Beruf hat mit meinem Projekt nur wenig zu tun. Ich
könnte auch jschmieder@siemens.de oder jsc@audi.de sein.
Ich bin kein besonderer Mensch, wirklich nicht. Ich bin
durchschnittlich groß und breit, durchschnittlich intelligent
und durchschnittlich gebildet. Meine Neurosen stellen keine
wirkliche Gefahr für meine Mitmenschen dar, meine leichte
Paranoia äußert sich in dem Satz: »Nur weil ich paranoid
bin, heißt das noch nicht, dass ich nicht verfolgt werde.« Ich
bin genauso wie etwa 80 Millionen Menschen in Deutschland.
Ich bin jeder. Wenn ich ein Lied mag, ist es garantiert
in den Charts. Ich habe hin und wieder Rückenschmerzen.
Ich gucke amerikanische Serien, die zur besten Sendezeit
lau fen, und Filme, die in großen Kinos gezeigt werden. Ich
mag kein amerikanisches Bier. Am Samstagabend sehe ich
die »Sportschau« an und diskutiere am Sonntag mit Freunden
über die Spiele. Ich bin Mainstream.
Und der Mainstream lügt.
Eigentlich komme ich, wie schon angedeutet, aus einem
Ort in der nördlichen Oberpfalz, den man von München
aus auf zwei Arten erreichen kann. Entweder man fährt
mit einem Zug, der grundsätzlich nicht schneller fährt
als 60 Stundenkilometer und in Kurven verdächtig scheppert,
dann steigt man um in einen Zug, der nicht von der
Deutschen Bahn, sondern von einem privaten Unternehmen
bereit gestellt wird, weil die Bahn es nicht profitabel
findet, Menschen in solch abgelegene Gegenden zu
befördern. Nach einer weiteren Stunde steigt man um in
einen Bus, weil selbst das private Unternehmen es unrentabel
findet, noch weiter zu fahren. Der Bus setzt einen ab
auf dem Marktplatz meines Heimatortes, von dem aus ich
nach zehn Minuten Fußmarsch beim Haus meiner Eltern
bin.
1. Auflage
© 2010 by C. Bertelsmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Umschlaggestaltung: R•M•E Roland Eschlbeck
und Rosemarie Kreuzer
Satz: Uhl + Massopust,Aalen
Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck
Printed in Germany
ISBN 978-3-570-10044-8
www.cbertelsmann.de
Es ist Aschermittwoch. In der Empfangshalle des Münchner
Bahnhofs riecht es nach verschüttetem Alkohol, halb
und rückwärts verdauten Cheeseburgern. Der Boden ist
klebrig, jeder Schritt hört sich an, als würde man einen
Klettverschluss öffnen. Ich muss daran denken, wann der
Boden wohl das letzte Mal gewischt wurde und wie viele
Keime bei jedem Schritt am Schuh kleben bleiben und so in
meine Wohnung gelangen und dort eine lustige Kommune
starten, weil ich zu faul bin, die Zimmer zu putzen. Überall
liegen Luftschlangen und Bierflaschen und Cheeseburger-
Papier. Hin und wieder rülpst einer. Ich frage mich immer,
warum Menschen in Großstädten einfach alles auf den Boden
werfen. Sie schnippen Ziga retten auf die Straße, sie lassen
benutzte Papiertüten einfach fallen, und aus ihren CO2reduzierten
Autos werfen sie so ziemlich alles, was durch
das halb geöffnete Fenster passt - was ziemlich viel sein
kann, wenn man gut genug knüllen kann. Vielleicht glauben
die Menschen in Metropolen, dass es schon irgendjemand
wegräumen wird, wenn schon so viele Leute da sind. Da,
wo ich herkomme, in einem kleinen Städtchen zwei Stunden
nördlich von München, liegt jedenfalls nicht so viel
Müll auf der Straße. Vielleicht haben die Menschen dort
nicht so viele Sachen zum Auf-die-Straße-Werfen, oder es
gibt einen anderen Grund dafür.
Ich bin an diesem Morgen in der U-Bahn neun verklei deten
Personen begegnet, von denen mindestens sieben stolz
auf einen Fahr- und Gehuntüchtigkeit bewirkenden Promillegehalt
sein konnten. Drei hielten sich aneinander fest
und veranstalteten ein menschliches Extrem-Jenga. Bei jedem
Halt stieß es einen der drei auf, als würde man einem
Säugling auf den Rücken klopfen. Die anderen beiden fanden
das lustig und applaudierten. Zwei der Betrunkenen
knutschten wild miteinander. Ich habe grundsätzlich nichts
gegen betrunkene Menschen, die sich einander festhalten
und miteinander knutschen, aber an diesem Morgen muss
ich meinem Gehirn doch 30 Sekunden Zeit geben, um wieder
mit den Augen auf einer Wellenlänge zu sein. Ich meine,
auf so etwas ist der verheiratete Endzwanziger nicht vorbereitet
an einem Aschermittwoch.
Nun stehe ich in der Schlange vor dem Ticketschalter,
für dessen Dienste die Deutsche Bahn tatsächlich einmal
2,50 Euro Schalter-Service-Gebühr verlangen wollte, um
die Kunden dazu zu zwingen, beim Fahrkartenkauf lieber
mit einer Maschine als mit einem anderen Menschen zu
kommunizieren - und dann sämtliche Schalterangestellte
ent lassen zu können, weil so ein Automat natürlich weniger
kostet als ein Mensch. Meiner Meinung nach diente diese
Aktion eher dazu, Kulturpessimisten und jenen, die behaupten,
dass früher sogar die Zukunft besser war, weitere Argumente
für ihre Haltung zu liefern. Erst als die Bürger heftig
protestierten und Angela Merkel höchstselbst beim damaligen
Bahnchef Hartmut Mehdorn anrief, nahm die Bahn den
unsinnigsten Aufpreis seit dem Topzuschlag für ein Spiel gegen
Schalke 04 zurück.
Ich stehe in der Schlange, weil zwei Automaten defekt
sind und an den anderen noch mehr Menschen anstehen
als an den Schaltern - außerdem tippen die noch verwirrt
auf dem Touchscreen herum, weil die Bahn zur Umsatzstei
ge rung durch die geplante Schalter-Service-Gebühr die
Automaten bedienerunfreundlich programmiert hat. Und
natürlich tue ich das auch deshalb, um die erwähnten Pessimisten,
die jeden Computer und das Internet als Vorstufe
zur Hölle betrachten, in ihrer Auffassung zu bestätigen.
Ich bin im Hauptbahnhof, weil mich mein Arbeitgeber
nach Stuttgart schickt und bei Reisen auf öffentliche Verkehrsmittel
setzt, was weniger mit Umweltschutz zu tun hat
als vielmehr mit den Einsparmöglichkeiten durch das BahnDauer-
Spezial. Die Angestellten bekommen keine Bahncard,
weil eine Bahncard ja zum Reisen animiert - und eigentlich
soll ja nur im Notfall gereist werden. Also bin ich ge-
zwungen, bereits um diese Uhrzeit am Bahnhof zu stehen,
auch wenn ich nicht vor 18 Uhr in Stuttgart sein müsste.
Ich möchte das Dauer-Spezial für 19 oder 29 Euro. Ohne
Bahncard.
Es ist sechs Uhr morgens, was meine physischen und psychischen
Fähigkeiten deutlich einschränkt, weil ich zum
Leistungssternzeichen Hamster gehöre und meine besten
und hellsten Momente nachts habe. Ich stehe am Anfang
der Schlange und verlange das Dauer-Spezial nach Stuttgart.
»Warten Sie einen Moment«, sagt die Frau am Schalter. Ich
warte einen Moment. Sie hämmert auf die Tastatur ein, wie
sonst nur das Bodenpersonal der Lufthansa auf Tastaturen
einhämmert. Ich denke kurz daran, wie rasch eine Umschulung
von Bahn auf Bodenpersonal möglich wäre, da
antwor tet sie: »Dauer-Spezial ist ausgebucht.« Ich kann nicht
behaupten, dass ich sauer wäre. Vielmehr bin ich ernüchtert -
als würde einem jemand erzählen, dass es auf der Geburtstagsparty
regnen würde.
»Was kann ich sonst machen?« - »Warten Sie einen Moment.
« Ich warte einen Moment. Sie hämmert auf die Tastatur
ein. Ich bewundere kurz ihre Turmfrisur, bei der die
Haare dreimal um den Kopf geschlungen und schließlich
mit einer goldenen, tellergroßen Schmetterlingsspange festgezurrt
sind. Ich bewundere die Frisur, weil ich mir zum einen
kaum erklären kann, wie man einem Friseur beschreibt,
was man gerne haben möchte. Wahrscheinlich hat sie einfach
eine Zeitschrift aus den 50er-Jahren aufgehoben und
auf die Titelseite gedeutet. Zudem bewundere ich den Ehrgeiz
und die Ausdauer, jeden Morgen im Bad eine Stunde
lang die Haare um den Kopf zu wickeln. Kurz: Diese Frau
ist mir sympathisch, auch wenn sie mir kein Dauer-Spezial
geben möchte.
»Ich habe etwas für Sie gefunden: Erst Bayern-Ticket,
dann mit dem Regionalexpress nach Stuttgart. Kostet auch
nur 41 Euro, die Fahrt dauert viereinhalb Stunden.«
Ich sehe sie an, wie ein Mann seinen Fernseher ansieht,
wenn er statt des Pokalendspiels nur das Testbild geboten
bekommt.
Mein geistiges Auge sieht gerade, wie sich in diesem Moment
die Marketing-Strategen bei der Bahn gegenseitig auf
die Schulter klopfen für die wahnsinnig tolle Kampagne,
mit der sie die Menschen glauben machen, die Bahn würde
einen für 29 Euro innerhalb von sechs Stunden von München
nach Hamburg fahren - und weil die Menschen so
blöd sind, es zu glauben, und morgens um sechs am Bahnhof
stehen und so auch noch die Züge des Regionalverkehrs
füllen.
Ich bin immer noch nicht sauer, aber doch gereizt - als
würde einem jemand erzählen, dass es auf der Geburtstagsparty
regnen würde und die Brauerei vergessen hat, Bier zu
liefern.
Ich will gerade nach weiteren Möglichkeiten fragen und
stelle mich schon darauf ein, noch einen weiteren Moment
zu warten und dem Tastaturhämmern zuzusehen,
da drängt sich ein junger Mann nach vorne. Die Menschen
hinter mir haben ihn vorgelassen, ich als Erster der Reihe
notgedrungen auch, obwohl ich grundsätzlich nicht zu
den Vorlassern gehöre. Atemlos steht er vor dieser Panzerglasscheibe
- als ob jemals jemand einen Raubüberfall auf
einen Fahrkartenschalter verüben würde -, sein Erasmus-
Aufkleber hängt ein wenig unmotiviert von seinem Rucksack.
Er stinkt deutlich weniger nach Bier als die Bayern-
Fans hinter mir und verlangt sein Ticket. Er fügt noch
et was hinzu, von dem ich aufgrund seiner Atemlosigkeit
nur die Worte »Paris«, »bitte schnell« und »in fünf Minuten
weg« verstanden habe.
Ich interpretiere das so, dass der Arme sich möglichst
schnell eine Fahrkarte holen will, weil sein Zug nach Paris
fünf Minuten später abfährt. Die Frau mit der Turmfrisur
sieht ihn an: »Das ist nicht mein Problem, ich will den lau-
fenden Vorgang jetzt nicht abbrechen. Dann verpassen Sie
den Zug eben. Es fährt später bestimmt noch einer.«
Sie sieht ihn an, wie man jemanden ansieht, wenn sich
kugelsicheres Glas dazwischen befindet. »Gehen Sie halt an
einen Automaten, aber da stehen wohl auch Leute davor«,
sagt sie und schüttelt sich ein bisschen, als würde ihr die
Aussage Gänsehaut machen. Ich muss an Abraham Lincoln
denken, der einmal sagte: »Jeder Mensch kann Trübsal aushalten.
Wenn du seinen Charakter testen willst, dann gib
ihm ein bisschen Macht.« Der Charakter dieser Frau würde
wohl nur von einem GEZ-Mitarbeiter oder einem Kampfrichter
beim 50-Kilometer-Gehen unterboten. Für diese Berufe
muss man einfach mit einer gesunden Portion Sadismus
ausgestattet sein.
Nun regnet es nicht nur auf der Geburtstagsparty, und
es gibt kein Bier, sondern nun haben auch noch die meisten
der Gäste abgesagt. So fühle ich mich.
Mein Herz pocht so, als wären keine schützenden Rippen
vor der Haut. Nun bin ich richtig sauer. Erst bekomme ich
kein Dauer-Spezial, dann wird mir eine Viereinhalbstunden-
fahrt vorgeschlagen - und jetzt wird der arme Mann noch
daran gehindert, nach Paris zu fahren.
Normalerweise würde ich sie nun anlächeln, meine Fahrkarte
bestellen und dann schweigend bezahlen. Ich würde
mich kurz darüber ärgern, dass ich zu feige bin, etwas zu
sagen. Die vier Schimpfwörter, die mir in den Kopf steigen,
würden im Gehirn bleiben oder höchstens in den Magen
abrutschen, um dort ein kleines Geschwür zu züchten.
Dann würde ich herzhaft gähnen und die Angelegenheit bei
einem Cheeseburger vergessen.
Aber nicht heute.
Heute will ich radikal ehrlich und absolut aufrichtig sein,
zum ersten Mal in meinem Leben. Ich nehme meinen Mut
zusammen und sage, was aus meinem Gedankenschatz ungebremst
über die Lungenflügel in den Mund rauscht.
Ich sage erst einmal: »Entschuldigen Sie bitte?«
Ich muss mir eingestehen, dass die Beleidigungen weit
we niger drastisch wären, wenn sie ein Nachwuchsmodel
wäre, auch wenn ich ihre Turmfrisur zunächst klasse fand.
Innerhalb von fünf Minuten und drei frechen Aussagen hat
sie sich in meinem Weltbild von einer sympathischen Mittvierzigerin
zu einer blöden Schlampe gewandelt. Ich wundere
mich kurz, wie die Bahn ihre Mitarbeiter bespitzeln
kann, aber niemals etwas gegen deren Unfreundlichkeit
unternimmt, die sie doch auf jedem einzelnen Videoband
sehen muss.
Dann muss ich das eben übernehmen, wenn es sonst keiner
tut.
»Du blöde Schnepfe! Was glaubst du eigentlich, wer du
bist? Und Sie wundern sich echt, dass jeder die Bahn hasst.
Herrgott noch mal! Da wollen Sie zweifünfzig Bedienzuschlag,
und dann hockt da eine dumme Schnepfe wie Sie
und lässt den Mann seinen Zug verpassen. Verdammte
Scheiße!« Zur Unterstützung meiner Aussage lasse ich
meine Faust auf die Theke knallen, was weniger Effekt hat,
als ich mir erhofft hatte.
Ich bin ein wenig von mir selbst schockiert wegen der
Lautstärke und der Wortwahl, begeistere mich aber darüber,
dass ich beim Übergang von Beleidigung zu Begründung
auch das Du in ein Sie getauscht habe.
Es ist plötzlich still. Niemand tritt auf den Boden und
macht Klettverschlussgeräusche. Niemand rülpst.
Die Frau sieht aus, als hätte man ihr erzählt, dass es gleich
regnen würde, sie schüttelt sich: »Was soll ich jetzt machen?«
Ich bleibe hart: »Den Mann bedienen, weil das Ihr verdammter
Job ist, Sie beschissene Kuh! Der verpasst seinen
Zug, weil Sie nichts Besseres zu tun haben, als Ihre Arroganz
an ihm auszulassen!« Die Faust lasse ich nun weg, ich stecke
die Hand lieber in die Hosentasche. Sie zittert - und ich
will nicht, dass sie das sieht.
Nun sieht sie aus, als würde es gleich regnen und sie dabei
bemerken, dass sie das Dach ihres Cabrios offen gelassen
hat.
»Und ist es mein Job, mich Arschloch nennen zu lassen?«
»Ich habe nur Schnepfe und blöde Kuh oder so etwas
gesagt. Ich weiß es nicht mehr genau, mir kamen so viele
Schimpfwörter, und ich musste mich schnell entscheiden.
Und das ist keine Beleidigung, sondern einfach nur ehrlich!
Ich muss es wissen, weil ich keine Lügen mehr erzähle. Jetzt
wissen Sie, was ich von Ihnen halte. Was wahrscheinlich alle
in dieser Schlange von Ihnen halten. Beschissene Kuh! Jetzt
kann ich gehen. Von Ihnen lasse ich mich nicht bedienen, da
kämpfe ich lieber mit dem Automaten - und wenn das eine
Stunde dauert. Der behandelt mich wenigstens mit Respekt.
Auf Wiedersehen!« Ich verabschiede mich mit der international
bekannten Geste eines wütenden Mannes - obwohl
der mittlere nun wirklich nicht zu meinen Lieblingsfingern
gehört - und frage mich, ob man modernen Automaten tatsächlich
Respekt einprogrammieren könnte.
Nun sieht sie aus, als würde sie bei Regen in einem Cabrio
mit offenem Dach sitzen.
Ich kann kaum atmen vor Aufregung. Meine linke Hand
gebärdet sich wie kurz vor einem Epilepsieanfall, meine Gesichtsröte
nähert sich derjenigen von Uli Hoeneß nach einer
1:5-Niederlage, meine Lunge fühlt sich an, als würde sie mit
Stricknadeln malträtiert. So aufgeregt war ich nicht einmal,
als sich meine Frau mir zum ersten Mal nackt zeigte - obwohl,
war ich doch.
Ich habe es geschafft, ich war zum ersten Mal bewusst
aufrichtig und ehrlich. Ich drehe mich um und sehe zwei
Bayern-Fans im Komplett-Outfit. Sie haben ihre Münder
so weit geöffnet, dass ein Hotdog hochkant hineinpassen
würde. Der Mann dahinter, ein älterer Herr mit gezwirbeltem
Schnurrbart und Schnupftabakresten an der Nase, sagt:
»Jawohl. Das war sehr mutig, mein Junge! Bravo! Wird ja
mal Zeit, dass denen jemand mal die Wahrheit sagt.« Er
klopft mir auf die Schulter, als ich an ihm vorbeigehe.
Ich bin stolz. Ich fühle mich befreit. Endlich denke ich
nicht: »Der müsste man mal die Meinung geigen.« Ich habe
ihr gerade die Meinung gegeigt. Laut und deutlich. Es regnet
auf der Party, es gibt kein Bier und es kommen auch
keine Gäste - aber ich habe die Brauerei zusammengeschissen,
den abwesenden Gästen erklärt, dass sie Idioten sind,
und für Petrus hatte ich aufgrund seiner beschissenen Wetterwahl
auch noch ein unfreundliches Gebet übrig. So fühle
ich mich jetzt. Die Beleidigungen sind heraus und nicht in
meinem Magen. Wenn es so läuft, wie ich mir das vorstelle,
dann sind sie vom Ohr der Bahnmitarbeiterin in deren Magen
gewandert und starten dort ein Geschwür und nicht
bei mir.
Aber ich wäre vor Aufregung beinahe in Ohnmacht gefallen.
Ich habe stärker gezittert als damals in der zehnten
Klasse, als ich die unglaublich hübsche und aufregende
Silke fragen musste, ob sie meine Partnerin beim Abschlussball
sein möchte. Mir ist ein wenig schwindlig, als ich mich
in der Bahnhofshalle umsehe.
Auf dem Boden vor mir liegt eine zerbrochene Bierflasche,
die beim Aufprall mindestens halb voll gewesen sein muss.
Zwanzig Meter entfernt steht vor der Bäckerei ein Mann
und schiebt sich einen Hotdog in den Mund. Wäre er aus
Marzipan, könnte er als menschliche Mozartkugel auftreten.
Ich könnte jetzt hinübergehen und ihm das sagen.
Aber ich traue mich nicht.
Einmal reicht erst mal, man soll es mit der Ehrlichkeit
nicht übertreiben am Anfang.
Schon wieder rülpst einer, und ich frage mich, ob an diesem
Tag im Münchner Hauptbahnhof die Weltmeisterschaft
im Bäuerchen-Machen ausgetragen wird.
Zweihundertfünfzig Kilometer von mir entfernt steht
Horst Seehofer in einem nach Bier stinkenden Zelt, er hebt
seinen Maßkrug und überzeugt mehr als 2000 Menschen
davon, dass er ein prima Kerl ist. Im Zelt nebenan steht
Franz Müntefering, er hebt seinen Maßkrug und überzeugt
mehr als 2000 Menschen davon, dass er ein prima
Kerl ist. Sie alle lügen, das ist ihr verdammter Job. Ich stehe
im nach Bier stinkenden Hauptbahnhof, habe gerade meine
Faust erhoben und eine mir fremde Frau davon überzeugt,
dass ich garantiert kein prima Kerl bin. Wahlen werde ich
so wohl nicht gewinnen, obwohl ich als Einziger von uns
dreien nicht lüge. Obwohl ich als Einziger nicht verlogen
lächle. Die Welt ist schon ungerecht.
Ich bin ehrlich, weil ich mir es vorgenommen habe.
Es war mein erstes Mal - und ich habe vor, diesem ersten
Mal mindestens 8000 weitere Male folgen zu lassen.
Ich werde es wieder und wieder und wieder tun. Ich habe
für die Fastenzeit große Pläne. Ich werde weiterhin Alkohol
trinken und Süßigkeiten essen und rauchen. Das aufzugeben
habe ich die vergangenen fünf Jahre mit mäßigem Erfolg
versucht. Deshalb gibt es nun ein neues Projekt:
Ich werde 40 Tage lang nicht lügen.
Um es gleich klarzustellen: Ich werde auch nicht die
Wahrheit sagen. Ich werde ehrlich sein - und zwischen Ehrlichkeit
und Wahrheit gibt es einen Unterschied. Denn ich
weiß natürlich nicht, ob die Frau am Schalter tatsächlich
eine beschissene Schlampe oder eine verdammte Schnepfe
oder eine blöde Kuh ist. Vielleicht ist sie eine liebenswerte
Person, die vier Kinder allein großziehen muss, diesen Job
sorgfältig macht und nebenbei noch Suppe für Obdachlose
kocht - und die einfach nur einen schlechten Tag oder
einen noch schlechteren Moment erwischt hat. Aber ich
halte sie in diesem Moment für eine beschissene Schlampe
oder eine verdammte Schnepfe oder eine blöde Kuh - und
das habe ich ihr ganz ehrlich mitgeteilt. Wahrheit und Ehrlichkeit
führen eine komplexe Beziehung miteinander - und
häufig verwechseln wir beide Begriffe. Wenn ich sage: »Der
FC Bayern München ist deutscher Rekordmeister«, dann
bin ich ehrlich, und ich sage die Wahrheit. Wenn jemand
behauptet: »Der TSV 1860 München ist der am seriösesten
geführte Verein der Welt«, dann mag diese Person ehrlich
(wenn auch verrückt) sein, aber es ist definitiv nicht die
Wahrheit. Und die Aussage »Du hast einen fetten Arsch«
kann ebenfalls ehrlich sein, allerdings ist der Wahrheitsgehalt
nur schwer zu überprüfen, denn wer kann schon sagen,
ab welcher Größe ein Hintern als fett zu gelten hat.
Vielleicht ist tatsächlich wahr, was ich zu der Frau gesagt
habe, aber das weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass ich ehrlich
war. Und darum geht es mir.
Es ist mein Vorsatz für die kommenden 40 Tage: Ehrlichkeit
um jeden Preis. Jederzeit. Kein Taktgefühl, keine
Diplo matie, keine Beschönigungen. Ohne Filter zwischen
Gehirn und Mund. Radikale Ehrlichkeit, immerzu. »Wenn
dir das Wort Arschloch durch den Kopf geht, dann sage
nicht Idiot, auch wenn der andere beleidigt ist und dir aufs
Maul haut. Nenn ihn Arschloch«, sagt Brad Blanton, der
Begründer der amerikanischen Bewegung, die sich Radical
Honesty nennt und aus der mittlerweile gar eine nihilis tische
Religion hervorgegangen ist mit Blanton als »Pope of
No Hope«.
Mir ist jetzt schon klar, dass ich diesen Typen irgendwann
einmal kennenlernen muss.
Sein Satz ist die MTV-Version des Aufklärers Immanuel
Kant, der in seinem Werk Ȇber ein vermeintes Recht aus
Menschenliebe zu lügen« schrieb: »Wahrhaftigkeit ist formale
Pflicht des Menschen gegen jeden, es mag ihm oder
einem anderen daraus auch noch so ein großer Nachteil erwachsen.
« Die neuseeländische Schriftstellerin Katherine
Mansfield schrieb in ihrem Tagebuch gar: »Ehrlichkeit ist
das Einzige, was höher steht als Leben, Liebe, Tod, als alles
andere. Sie allein ist beständig. Sie ist aufwühlender als
Liebe, freudvoller und leidenschaftlicher. Sie kann einfach
nicht versagen. Alles andere versagt. Ich jedenfalls weihe
den Rest meines Lebens der Wahrheit, und ihr allein.« Dass
sie vereinsamt starb, mag auch mit Sätzen wie diesem zu
tun haben.
Sie alle meinen das Gleiche: Sei ehrlich! Immer und überall!
Das werde ich versuchen. Ich bin ehrlich zu meinen Mitmenschen,
ob es ihnen nun passt oder nicht.
Ob es mir nun passt oder nicht.
40 Tage und 40 Nächte lang. Und da der Mensch laut
mehreren Studien etwa 200-mal pro Tag lügt, werde ich auf
insgesamt 8000 Lügen verzichten.
Einmal habe ich geschafft. Also noch 7999-mal ehrlich
sein.
Im Film »40 Tage und 40 Nächte« versucht der Protagonist,
für genau diese Zeitspanne auf Sex und Onanie zu verzichten.
Ganz ehrlich? Ich halte mein Projekt für die schwierigere
Aufgabe. Ich sehe mich - in aller Demut freilich -
eher in der Nähe von Jesus, der 40 Tage lang in der Wüste
fastete und den Versuchungen des Teufels widerstand. Auf
diese in der Bibel erwähnte Episode geht die Fastenzeit zwischen
Fasching und Ostern zurück, in der die Menschen
versuchen, auf etwas zu verzichten, das sie gerne essen oder
trinken oder durch die Lunge einatmen. Es ist heutzutage
keine Fastenzeit mehr, sondern eine Verzichtszeit - und kurioserweise
versuchen mehr Menschen, am Aschermittwoch
das Rauchen aufzugeben als am 1. Januar. Damit jedoch
gehorchen sie keinem der zehn Gebote, sondern befriedigen
nur ihr schlechtes Gewissen darüber, dass sie sich die
anderen 325 Tage im Jahr gehen lassen haben - und wollen
natürlich ihre Verhandlungsposition für den Jüngsten
Tag stärken.
Ich habe mich für das Gebot »Du sollst nicht lügen« entschieden,
weil die christliche Populärversion wenig Spiel-
raum für Interpretationen lässt - anders als das alttestamentarische
»Du sollst kein falsches Zeugnis wider deinen
Nächsten geben«. Außerdem finde ich dieses Gebot schwieriger
einzuhalten als viele andere. Ich meine, mit dem Gebot
»Du sollst nicht töten« hätte ich nun wahrlich keine Prob
leme, weil ich keinen Groll gegen andere Menschen hege
oder zumindest keinen so starken, dass ich jemals gegen das
Gebot verstoßen würde.
Schwer einzuhalten deshalb, weil wir Menschen Lügner
und Betrüger sind. Ich bin ein Lügner und Betrüger.
Ich lüge. Jeden Tag. Ich würde mich jetzt nicht zu den
großen Lügnern der Weltgeschichte zählen, ich leide nicht
an »Pseudologia phantastica« - ja, die offizielle Bezeichnung
für den pathologischen Drang zum Lügen lautet wirklich
so - oder am »Münchhausen-Syndrom«, bei dem man
pathologisch Krankheiten vortäuscht. Ich habe zahlreiche
narzisstische Persönlichkeitsstörungen, aber Mythomanie,
das krampfhafte Lügen, gehört nicht dazu. Ich gehöre eher
zu den Wahrheitsbiegern und Beschönigern, den Lästerern
und Labertaschen. Ich sagte bisher: »Steht dir, das Kleid«,
wenn ich dachte: »Ist dein Arsch fett in dem Ding!« Und
natürlich: »Klar kümmere ich mich drum, lieber Kollege«,
obwohl die Wahrheit wäre: »Warum machst du das nicht
selber, Vollidiot?« Und wenn ein Kollege einen miserablen
Text geschrieben hatte, dann sagte ich nichts - höchstens
hinter seinem Rücken.
Ich bin ein ganz normaler Lügner wie jeder andere auch.
Wie jeder Leser dieses Buches.
Wenn Sie jetzt glauben, Sie wären ein grundehrlicher
Mensch und würden niemals lügen, dann möchte ich Sie
bitten darüber nachzudenken, wie vielen Menschen Sie
heute einen »Guten Morgen« gewünscht haben, obwohl
es ehrlicherweise die Pest am Hals oder zumindest Pilz an
den Füßen gewesen wäre. Ich habe in der Woche vor dem
Aschermittwoch nachgezählt: Es waren acht, neun »Gu-
ten Morgen« pro Tag, die ich nicht so gemeint habe - von
den »Guten Tag« und »Guten Abend« bis zu »Gute Nacht«
will ich gar nicht erst reden. Wie oft haben Sie einem Menschen
gesagt, dass Sie ihn mögen, obwohl er ein Vollidiot
ist? Und haben Sie Ihrer Frau gebeichtet, dass die neue Kollegin
einen fantastischen Arsch hat und Sie ihr jedes Mal
hinterhergaffen, wenn sie an Ihrem Büro vorbeigeht? Natürlich
nicht. Also: Auch Sie, der Leser dieses Buches, sind
ein Lügner. Macht ja nichts.
Bei mir ist das nun vorbei.
Und nun: die Wahrheit und nichts als die Wahrheit.
Oder besser: die Ehrlichkeit und nichts als die Ehrlichkeit.
Eine Fastenzeit ohne Lügen.
Noch bin ich guter Dinge.
Ich bin juergen.schmieder@sueddeutsche.de. Ich bin Journalist
im Süddeutschen Verlag und wohne in München.
Meine Kenntnisse über Fußball, Snooker und American Football
haben mir eine Anstellung im Sportressort verschafft. Da
meine Chefs der Meinung sind, ich könne auch prima über
Papierflieger, italienischen Büffelmozzarella, Pokern, Computerspiele
und Tätowiererinnen berichten, schreibe ich quasi
über alles, das nicht wirklich wichtig ist, aber doch zum täglichen
Leben gehört. Die Kollegen aus den Ressorts Politik
und Wirtschaft sehen mich aufgrund meiner Themenwahl
meist ein wenig abfällig an, wenn sie mir morgens begegnen,
weil sie über die wichtigen Dinge des Lebens, wie Politikerreden
in Bierzelten und Vierteljahresberichte von Banken,
berichten - und ich bin mir sicher, dass auch ihr »Guten
Morgen« nur in seltenen Fällen ehrlich gemeint ist.
Mein Beruf hat mit meinem Projekt nur wenig zu tun. Ich
könnte auch jschmieder@siemens.de oder jsc@audi.de sein.
Ich bin kein besonderer Mensch, wirklich nicht. Ich bin
durchschnittlich groß und breit, durchschnittlich intelligent
und durchschnittlich gebildet. Meine Neurosen stellen keine
wirkliche Gefahr für meine Mitmenschen dar, meine leichte
Paranoia äußert sich in dem Satz: »Nur weil ich paranoid
bin, heißt das noch nicht, dass ich nicht verfolgt werde.« Ich
bin genauso wie etwa 80 Millionen Menschen in Deutschland.
Ich bin jeder. Wenn ich ein Lied mag, ist es garantiert
in den Charts. Ich habe hin und wieder Rückenschmerzen.
Ich gucke amerikanische Serien, die zur besten Sendezeit
lau fen, und Filme, die in großen Kinos gezeigt werden. Ich
mag kein amerikanisches Bier. Am Samstagabend sehe ich
die »Sportschau« an und diskutiere am Sonntag mit Freunden
über die Spiele. Ich bin Mainstream.
Und der Mainstream lügt.
Eigentlich komme ich, wie schon angedeutet, aus einem
Ort in der nördlichen Oberpfalz, den man von München
aus auf zwei Arten erreichen kann. Entweder man fährt
mit einem Zug, der grundsätzlich nicht schneller fährt
als 60 Stundenkilometer und in Kurven verdächtig scheppert,
dann steigt man um in einen Zug, der nicht von der
Deutschen Bahn, sondern von einem privaten Unternehmen
bereit gestellt wird, weil die Bahn es nicht profitabel
findet, Menschen in solch abgelegene Gegenden zu
befördern. Nach einer weiteren Stunde steigt man um in
einen Bus, weil selbst das private Unternehmen es unrentabel
findet, noch weiter zu fahren. Der Bus setzt einen ab
auf dem Marktplatz meines Heimatortes, von dem aus ich
nach zehn Minuten Fußmarsch beim Haus meiner Eltern
bin.
1. Auflage
© 2010 by C. Bertelsmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Umschlaggestaltung: R•M•E Roland Eschlbeck
und Rosemarie Kreuzer
Satz: Uhl + Massopust,Aalen
Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck
Printed in Germany
ISBN 978-3-570-10044-8
www.cbertelsmann.de
... weniger
Autoren-Porträt von Jürgen Schmieder
Jürgen Schmieder, Jahrgang 1979, ist Redakteur für sueddeutsche.de sowie Reporter und Autor für die Süddeutsche Zeitung. Er schreibt regelmäßig über Sport, ist Autor verschiedener erfolgreicher Kolumnen, u.a. »Mein Bauch gehört mir« (auch als Buch in der Süddeutschen Zeitung Edition erschienen), und des Bestsellers »Du sollst nicht lügen!« (C. Bertelsmann, 2010).
Bibliographische Angaben
- Autor: Jürgen Schmieder
- 2011, 336 Seiten, Maße: 12,6 x 18,4 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Goldmann
- ISBN-10: 3442156823
- ISBN-13: 9783442156825
Rezension zu „Du sollst nicht lügen! “
"Dieses Buch liest sich, als hätte man Woody Allen an einen Lügendetektor angeschlossen." (Albert Ostermaier)
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