DU
Es wird schlimmer. Immer schlimmer. Erst in ihren Albträumen, dann auch am helllichten Tag ... Josie versucht, Fuß zu fassen, in einem neuen Leben am College, ohne die bedrohlichen Schatten der Vergangenheit. Sie...
Es wird schlimmer. Immer schlimmer. Erst in ihren Albträumen, dann auch am helllichten Tag ... Josie versucht, Fuß zu fassen, in einem neuen Leben am College, ohne die bedrohlichen Schatten der Vergangenheit. Sie will sie für immer loswerden, die Erinnerung an Alex, das aggressive und straffällige Kind, von dem keiner wissen darf. Doch Josie kann die Erinnerungen ebenso wenig verdrängen wie die Angst, dass die Vergangenheit sie doch wieder einholen könnte...
Es wird schlimmer. Immer schlimmer. Erst in ihren Albträumen, dann auch am helllichten Tag ... Josie versucht, Fuß zu fassen, in einem neuen Leben am College, ohne die bedrohlichen Schatten der Vergangenheit. Sie will sie für immer loswerden, die Erinnerung an Alex, das aggressive und straffällige Kind, von dem keiner wissen darf. Doch Josie kann die Erinnerungen ebenso wenig verdrängen wie die Angst, dass die Vergangenheit sie doch wieder einholen könnte...
"Packendes Psychogramm. (...) Welche Lebensumstände das Kind aus unterstem sozialen Milieu prägten, deckt Sandra Glover mit schonungsloser Intensität auf. (...) Die besondere Qualität des Buches liegt in der komplexen, spannenden Handlungsführung, in der herausragenden psychologischen Darstellung der Hauptfigur und in der unparteiischen Sicht auf das Geschehen." - Rheinpfalz / Martina Wehlte
"Man sollte den Thriller nur nicht abends lesen, dann steht einem nämlich eine längere Nacht bevor." - Westfälische Nachrichten
"Sehr, sehr mutig ... und was für ein toller Stil!" - The Times
Du von Sandra Glover
LESEPROBE
Ist dochklar, dass ich sie mitnehmen musste, oder? Ich hätte doch nicht einfach nurmeinen Kaugummi kaufen und wieder rausgehen können. Nicht nachdem ich dieÜberschrift gelesen hatte. Die meisten großen Zeitungen hatten etwas über Friedensgesprächein den Schlagzeilen. Ein paar Revolverblätter hetzten über irgendeinenShowmaster, aber die Zeitung, die jetzt vor mir auf dem Tisch liegt, hat denAufmacher »Strafen für jugendliche Straftäter zu milde?«.»Und, was darf s sein?« Ichschieße fast von meinem Platz hoch, als mich die Stimme anknurrt. Der Kellnermuss mich für total bescheuert halten. Er wartet genervt und gelangweilt, währendich nach dem laminierten Wisch greife, der hier als Speisekarte dient. »Äh ein Sandwich mit Salat und einen Cappuccino bitte.« »Sonstnoch was?«, fragt er, als hätte es sich nicht gelohnt,zu mir an den Tisch zu kommen. »Nein danke.« Erzuckt die Schultern und schlurft davon, und ich 5 kann nicht umhin zu bemerken,was für einen süßen Hintern er hat. Er ist überhaupt irgendwie süß. Groß, trotzder schlechten Haltung, ganz schmale Hüften, dunkle Haare und olivfarbene Haut. Er könnte Italiener oder so sein, obwohlsein Tonfall deutlich nach Liverpool klingt oder eher Birmingham? Dialektewaren noch nie meine Stärke. Auch sein Gesicht wäre ganz okay, wenn er nichtdie ganze Zeit so unfreundlich schauen würde. Ich frage mich, ob ich s schaffe,ihn zum Lächeln zu bringen. Ich glaube, ja, denn er zwinkert mir zu, während eram nächsten Tisch wartet. Er zeigt eindeutig Interesse. Aber nein. Finger weg, Josie. Er sieht aus wie ein »mieser Kerl« - einer von derSorte, vor der mich Moira immer warnt. Genau wie vor Alkohol, Drogen und dem ganzenanderen Zeug, das mir mein Leben kaputtmachen könnte. Moira denktwahrscheinlich, dass bei mir schon genug kaputt ist und ich nicht nochzusätzliche Probleme brauche. Und da hat sie Recht. Da hat sie ganz eindeutigRecht. »Konzentrier dich ganz aufs College, Josie«,sagt sie immer. »Sieh zu, dass du deine Ausbildung fertig kriegst.« Also achte ich nicht weiter auf den Kellner ausLiverpool- Birmingham-Italien und verstecke mich hinter meiner Zeitung. Leseden Artikel noch einmal. Fühle, wie sich mein Magen verkrampft und wie dieStelle direkt über meinem rechten Auge zu pochen beginnt. Die Zeitung ist wenigbegeistert von den Verlautbarungen der Europäischen Menschenrechtskommission oderden jüngsten Reformen des Innenministeriums. Auch nicht davon, dass jugendlicheStraftäter gemeinnützige Arbeit leisten sollen, und die Verkürzung des Strafmaßespasst ihnen ebenfalls ganz und gar nicht. Ich hab sogar den Eindruck, dass dieZeitung und die Mehrheit ihrer Leser am liebsten die Prügel- und dieTodesstrafe wieder einführen würden. Na also auf der Seite mit denLeserbriefen macht tatsächlich jemand so einen Vorschlag. Die Zeitung klagt,die Gesetze seien auch schon vor den letzten Änderungen nicht hart genuggewesen, und sie haben jede Menge alte Fälle ausgegraben, um ihre Position zuuntermauern. Der Fünfzehnjährige, der einen Rentner beklaut hat undanschließend nicht nur freigesprochen wurde, sondern auch noch aufEntschädigung klagte, weil ihm der Rentner mit seinem Krückstock einsübergebraten hatte. »Ein Skandal!«, meint die Zeitung.Der Junge, der seinen Lehrer angegriffen und später mit Erfolg die Schuleverklagt hat, weil man hier nicht auf seine »besonderen Bedürfnisse«eingegangen war. »Wo bleibt hier die Gerechtigkeit?«,fragt die Zeitung. Der uralte Thompson-und-Venables-Fall.Sogar die Mary-Bell-Affäre von Mitte letzten Jahrhunderts haben sie wiederausgegraben! Wie viel Zeit muss eigentlich vergehen, bis man die Leute endlichin Ruhe lässt? Natürlich haben sie auch die aktuelleren Sachen nicht ausgelassen.Lang und breit regen sie sich darüber auf, dass man dich vorzeitig entlassenhat, Alex. Ihre armen Leser hätten Angst, behauptet die Zeitung. Wohin genauhat man dich entlassen? Was wäre, wenn du nun zufällig in ihrer Stadt lebst? Inihrer Straße? Wären sie dann noch sicher? Wären ihre Kinder dann noch sicher? Wahrscheinlichnicht, denn über sechzig Prozent der entlassenen jugendlichen Straftäter werdenerneut straffällig, behauptet die Zeitung. Eine wahrhaft erschreckende Statistik,wenn das so stimmt. »Sandwich mit Salat und Cappuccino. Bist du sicher, dassich nicht doch noch was für dich tun kann?« Gegenmeinen Willen fahre ich wieder zusammen, und der Kellner denkt bestimmt, erhätte so einen elektrisierenden Effekt auf mich, denn er zwinkert mir zu undlächelt diesmal sogar. »Nein. Nichts.« Ich betone das »nichts«. Er hat schonkapiert und zieht ab. So ist es gut. Braves Mädchen, Josie.Lass dich nicht von den bösen Jungs verführen. Das Problem ist, dass ich auchmit den braven Jungs nichts anfangen darf. Da ist zum Beispiel dieser Typ am College,Graham. Sooft ich kann, setze ich mich hinter ihn. Manchmal dreht er sich umund lächelt, ich weiß also, dass er mich mag. Aber nur weil er mich nicht kennt.Und ich will auch nicht, dass er mich kennen lernt. Ich will nicht, dass mireiner zu nahe kommt. Das ist einer derGründe, warum ich eher für mich bleibe. In der Stadt esse statt irgendwo aufdem Campus. Immer woanders. So falle ich keinem auf. Keiner kommt an mich ran,stellt irgendwelche Fragen. Selbst die einfachsten Fragen bringen mich manchmaltotal aus dem Konzept. »Und, wo kommst du her?« »Hastdu noch Geschwister?« Unheimlich. Die meisten Leutechecken vermutlich gar nicht, wie viele Fragen sie im Laufe eines Tagesgestellt bekommen. Für die meisten Leute sind Fragen einfach nur Fragen. Fürmich sind es Tretminen, die nur darauf warten, mit mir in die Luft zu fliegen.Denn die Wahrheit kann ich ja unmöglich erzählen. Und Lügen ist oft schwerer,als man glaubt. Klar, ich weiß schon, dir ist das Lügen nie schwer gefallen, Alex.Für dich war es so normal wie Atmen. Aber bei mir ist es anders. Große,komplizierte Lügengebäude sind schwer zu merken, deswegen hab ich immer Angst,einen Fehler zu machen. Ich nippe an meinem Cappuccino und knabbere ein bisschenan dem Sandwich herum. Dann bemerke ich, dass mir in der Zeitung noch etwasentgangen ist. Es sind nicht nur die Titelseite, Seite 2, Seite 3 und dieLeserbriefe. Auch auf Seite 14 steht noch ein Artikel. Da haben sie ein paarFamilien, Freunde und Nachbarn der Opfer interviewt. Deine Opfer, Alex! Und ichmuss meinen Cappuccino und das Sandwich beiseite schieben, damit ich die Zeitungauf den Tisch legen kann, so sehr zittern mir die Hände. Was sie alles mit dirmachen würden, wenn sie dich in die Finger kriegten! Das wird natürlich nichtpassieren. Du bist gut geschützt, schätze ich, und das ist noch so ein Punkt,über den sie sich in der Zeitung aufregen. Wie viel es kostet, Leute wie dicheinzubuchten. Und wie viel mehr du dann noch jahrelang nach deiner Entlassung kostest.Und es sind ja nicht nur die Straftäter allein, wie der Artikel hilfreicherläutert. Auch Familienangehörige benötigen oft Hilfe, Therapie, Beratung. Undall das auf Kosten des Steuerzahlers. Und dann müssen die Familien ebenso wiedie Straftäter neue Wohnungen und neue Namen bekommen. Anderenfalls würde manihnen schließlich die Fenster einschmeißen. Oder Todesdrohungen an die Wand sprühenund brennende Zeitungen durch den Briefschlitz schieben. Irgendwie werde ichdas Gefühl nicht los, dass die Zeitung und ihre Leser sich das Geld liebersparen würden und sie alle stattdessen ihrem Schicksal, den Rachsüchtigen, Hobby-Sheriffsund anderen Durchgeknallten überlassen würden. Vielleicht liegt es am Ton desrestlichen Artikels. Oder vielleicht an den Begriffen, mit denen sie dich beschreiben,Alex: »böse«, »psychotisch«, »ein Tier«, »verwirrt«, »verrückt«, »abstoßend«,»bösartig«, »unnatürlich«. Einen Augenblick lang, einen verrückten Augenblick lang,möchte ich aufspringen, die Zeitung herumschwenken und schreien, dass das allesganz falsch ist. So war es gar nicht. So warst du gar nicht. Aber ichtue es nicht. Das Problem ist nämlich, dass sie Recht haben. Ich würde dichgerne verteidigen, und ein Teil von mir meint, ich sollte das tun, aber ichkann es nicht. Nicht einmal mir selbst gegenüber. »Glotz mich nicht so an!« »Wie bitte?«, meint der Kellnerund dreht sich um. »Äh nichts«, sage ich. Wie kann ich ihm erklären, dass ichnicht mit ihm, sondern mit dir geredet habe? Es wird immer schlimmer, es wirdganz eindeutig schlimmer. Zuerst hab ich dich nur nachts gesehen. SchlechteTräume. Albträume, aus denen ich aufgewacht bin, schreiend, dass du abhauensolltest, mich in Ruhe lassen. Dann bist du plötzlichauch zu anderen Zeiten aufgetaucht. »Das ist ganz in Ordnung«, meinte einemeiner Therapeutinnen, als ich es ihr erzählte. »Bei Fällen wie deinem kann sowas vorkommen. Aber wenn du dich den Tatsachen stellst, wenn wir erst einmalüber alles gesprochen haben, dann werden diese Halluzinationen verschwinden,das verspreche ich dir.« Aber so war es nicht.Höchstens für kurze Zeit. Aber seit deiner Entlassung vor acht Monaten ist eswieder mehr geworden. Erschreckender. Bedrohlich. Als wolltest du mir klarmachen, dass du es schaffen wirst, wieder in meinLeben hineinzuplatzen und mich auf Abwege zu führen. Und alles kaputtzumachen,wie du es immer getan hast. »Dieser Teil deines Lebens liegt jetzt hinter dir«,erklärt Moira mir manchmal. »Du musst nach vorne schauen, Josie.Alex und was damals geschehen ist, das ist vorüber.Vorbei. Du musst einfach anfangen, daran zu glauben, Josie.« Und wie gerne würde ich ihr glauben. Wie gerne würde ich tun, was sie sagt. Aber wie kann ich das, wenn du zu allenTages- und Nachtzeiten plötzlich auftauchst und mich derart verfolgst? Ich habezum GCSE und zum A-Level Shakespeare gemacht. Kannst du dir das vorstellen?Dass ich einen Schulabschluss mache und jetzt sogar studieren kann? Dass ichShakespeare lese? Aber es war gar nicht so langweilig, wie du vielleichtdenkst. Es war total gut. In beiden Stücken, die wir durchgenommen haben,»Macbeth « und »Hamlet«, kam ein Geist vor. Und mein Lehrer hat gesagt, dassShakespeare etwas über Geister geschrieben hat, weil die Leute damals darangeglaubt haben. Wir sollten unsere Fantasie gebrauchen und so tun, als lebtenwir selbst in dunklen, abergläubischen Zeiten. Aber ich musste gar nicht sotun, als ob. Mit den dunklen Zeiten und den Geistern. Ich wusste genau, wieHamlet sich gefühlt hat, als er seinen Vater in den Wehrgängen dieses Schlossesherumstreichen sah. Ich weiß, warum Macbeth ausgerastet ist, als er Banquo mit eingeschlagenem Schädel am Tisch sitzen sah. Weilich dich die ganze Zeit sehe. Durchgeknallt. Boshaft. Mit deinem irren Grinsenauf dem Gesicht. Ja klar, alle sagen mir, dass du jetzt gar nicht mehr so bist.Dass du dich verändert hast und das, was du gemacht hast, als falsch ansiehst,Reue zeigst. Dass du keine Gefahr mehr für andere bist. Sonst hätten sie dich jaauch nicht rausgelassen, oder? Na ja, ich hoffe, dasssie Recht haben, Alex. Ich hoffe, dass man dich guten Gewissens in die großeweite Welt entlassen kann. Ich bin mir da nämlich nicht so sicher. Und selbstwenn du keine Gefahr mehr für andere darstellst, dann bist du immer noch eineGefahr für mich. Das wirst du immer bleiben. Ob eingesperrt oder frei, für michmacht das nicht viel Unterschied. Du bist immer da. Verhöhnst mich. Erinnerst michan das, was geschehen ist. Versuchst, mir die Schuld in die Schuhe zu schieben.Aber so war es nicht. Es war deine Schuld, Alex. Deine, und nicht meine! »Alsolass mich in Ruhe!« Das Ehepaar am Nachbartisch dreht sich nach mir um. Und ichweiß, dass ich es schon wieder getan habe. Laut vor mich hin gesprochen. ( )
© cbj Verlag
Übersetzung:Kattrin Stier
- Autor: Sandra Glover
- Altersempfehlung: 13 - 16 Jahre
- 2006, 191 Seiten, Maße: 12,4 x 18,5 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Kattrin Stier
- Verlag: cbt
- ISBN-10: 3570301788
- ISBN-13: 9783570301784
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