Du
Roman
Du kannst dir nicht trauen!
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Du “
Du kannst dir nicht trauen!
Klappentext zu „Du “
Nimm einen Mann, der durch ganz Deutschland reist und keine Gnade kennt. Wo er hinkommt, bleibt niemand am Leben. Nenn ihn Der Reisende, mach ihn zum Mythos und fürchte ihn.Nimm fünf Freundinnen, die erst dem Chaos die Tür öffnen und dann die Flucht ergreifen. Nenn sie Die süßen Schlampen und meide sie.
Nimm einen Vater, der verfolgt wird von seiner Vergangenheit und über Leichen geht, um sein Ziel zu erreichen. Und jetzt stell dir vor, er will die fünf Freundinnen aufhalten. Um jeden Preis. Nenn ihn Der Logist und meide ihn.
Sie alle bewegen sich aufeinander zu, sie sind voller Rache und haben keine Ahnung, dass du sie beobachtest.
Lese-Probe zu „Du “
Du von Zoran DrvenkarDER REISENDE
So sehr wir dem Licht entgegenstreben, so sehr wollen wir auch von den Schatten umschlossen werden. Dasselbe Verlangen, das sich nach Harmonie sehnt, sehnt sich in einer dunklen Kammer unseres Herzens nach Chaos. Wir brauchen dieses Chaos in Maßen, denn wir wollen ja keine Barbaren sein. Aber zu Barbaren werden wir, sobald unsere Welt außer Kontrolle gerät. Das Chaos ist immer nur ein Blinzeln weit entfernt.
Noch nie haben Gedanken so schnell Wellen geschlagen. Geschichten werden nicht mehr mündlich überliefert, sie werden uns mit rasender Geschwindigkeit in Kilobytes präsentiert, so dass wir den Blick nicht abwenden können. Und wenn es uns zu viel wird, reagieren wir wie die Barbaren und verwandeln dieses Chaos in Mythen.
Einer dieser Mythen entstand im Winter vor vierzehn Jahren auf der A4 zwischen Bad Hersfeld und Eisenach. Wir schreiben jetzt nicht das genaue Datum, das kann jeder selbst recherchieren. Außerdem halten sich Mythen nicht an Daten, sie sind zeitlos und werden zum Hier und Jetzt. Wir gehen zurück in die Vergangenheit und machen sie zum Jetzt.
Es ist November.
Es ist das Jahr 1995. Es ist Nacht.
... mehr
Der Stau dehnt sich schon seit einer Stunde dreispurig über mehrere Kilometer aus, wird zweispurig und schließlich einspurig, bevor er zum Stehen kommt. Die Autobahn ist vom Schnee zugeweht. Der
Sichtkontakt bricht nach wenigen Metern ab. Die Räumfahrzeuge kriechen über die Landstraßen dem Stau entgegen und bleiben selbst stecken. Der Himmel tobt. Die Scheinwerfer der Autos erinnern an Lichter unter Wasser. Es ist keine Nacht, um unterwegs zu sein. Niemand war auf diesen Wetterumschwung vorbereitet.
Die Leute sitzen in ihren Autos fest. Anfangs lassen sie den Motor noch laufen, suchen hoffnungsvoll nach einem Radiosender, der ihnen sagt, dass sich der Stau bald wieder auflösen wird. Sie suchen vergeblich. Es ist ein Uhr morgens, keine Abfahrt ist in der Nähe, und wenn sich eine auftun würde, wäre sie unbefahrbar. Stillstand. Die Scheinwerfer verlöschen einer nach dem anderen, Motoren verstummen, nur der Wind und der Schneefall sind noch zu hören. Mäntel werden übergezogen, Sitze zurückgelehnt. In einem un beständigen Rhythmus starten die Wagen, die Heizungen laufen für Minuten warm, bevor die Motoren erneut verstummen.
Du bist einer von vielen. Du bist allein und wartest. Dein Navigationssystem sagt dir, dass du eine Stunde und siebenundfünfzig Minuten von deiner Wohnung entfernt bist. Du kannst nicht glauben, dass dir das wirklich passiert. Dass irgendjemandem in diesem Land genau das hier passiert. Ein simpler Stau und Feierabend.
Du bist einer der wenigen, die den Motor ohne Pause laufen lassen. Nicht, weil du frierst. Du weißt, sobald dich die Stille umschließt, wird die Resignation einsetzen, und du bist keiner, der freiwillig resigniert. Selbst das Navigationssystem lässt du eingeschaltet und betrachtest das Display, als könnte sich der Abstand zu deinem Ziel jeden Augenblick wie durch ein Wunder verringern. Und je öfter du hinsiehst, desto öfter fragst du dich, wie dir so was nur passieren kann.
1178 Menschen stellen sich in dieser Nacht die gleiche Frage. Sie sitzen unbequem und verfluchen ihre Entscheidung, so spät noch gefahren zu sein. Schließlich geben sie auf und finden sich mit der Situation ab. Nicht du. Dein Motor läuft ganze zweieinhalb Stunden, bevor du den Schlüssel drehst und von der Stille umschlossen wirst. Dein Benzin ist auf Reserve. Das Navigationssystem verlöscht. Kein Licht, kein Radio. Ende. Alle paar Minuten schaltest du den Scheibenwischer an, um den Schnee wegzuschieben. Du willst sehen, was da draußen geschieht.
Und so bekommst du mit, wie das erste Räumfahrzeug auf der entgegengesetzten Fahrbahn den Schnee teilt. Es wirkt wie ein müdes Wesen, das die gesamte Welt langsam hinter sich herschleppt. Der Schnee wirft am Straßenrand Wellen, die sofort erstarren. Wenn sie die eine Seite frei machen, dann arbeiten sie sicher auch schon auf unserer, denkst du und beobachtest das Räumfahrzeug im Seitenspiegel, bis nur noch das Schimmern der Rücklichter zu sehen ist. Erst da schließt du die Augen und atmest tief durch.
Deine Schwester hat dir vor Jahren einen Yogakurs geschenkt, und einige der Übungen sind bei dir hängengeblieben. Du gehst in dich und meditierst. Du wirst zu einem Teil der Stille und schläfst innerhalb von wenigen Minuten ein. Eine Stunde später sind deine Fenster weiß vom Schnee, und ein fahles Licht füllt den Wagen, als würdest du im Inneren eines Eies sitzen. Die Kälte hat dich erreicht und schmerzt in deinem Kopf. Die Scheibenwischer rühren sich nicht mehr. Du reibst dir die Augen und beschließt auszusteigen. Du willst die Windschutzscheibe vom Schnee befreien und schauen, ob sich weiter vorne ein Räumfahrzeug zeigt.
Die Enttäuschung ist beißend wie die Kälte. Du stehst neben deinem Wagen, und vor dir ist nur Dunkelheit und hinter dir ist nur Dunkelheit. Ich bin ein Teil davon, denkst du und wartest und hoffst auf einen Lichtschimmer und lachst plötzlich los. Allein, ich bin vollkommen allein. Nur der Wind leistet dir Gesellschaft. Der Wind, der Schnee und die verzweifelte Ruhe von Fahrzeugen, die feststecken. Das Lachen schmerzt in deinem Gesicht, du solltest dich bewegen, sonst frierst du ein.
Du nimmst den Mantel vom Rücksitz und ziehst ihn über. Eisnadeln hämmern auf dich ein, Schneeflocken pressen gegen deine Lippen. Du ziehst dir Handschuhe an, atmest durch und fühlst dich überraschend ganz. Als hätte deine Existenz auf diesen einen Mo-
ment hingestrebt - du, der aus dem Wagen steigt, du, der sich umdreht und den Schneefall spürt und dann lächelt. Es ist ein gutes Lächeln. Es schmerzt weniger als das Lachen.
Ein Lastwagen kriecht auf der gegenüberliegenden Fahrbahn vorbei und blendet einmal auf, als wollte er dich grüßen. Der Fahrtwind erreicht dich Sekunden später mit voller Wucht. Du duckst dich nicht, du spürst die Nässe im Gesicht, schwankst ein wenig und fragst dich, wieso du mit diesem verdammten Gegrinse nicht aufhören kannst. Der Lastwagen verschwindet, und du stehst noch immer da und betrachtest die scheinbar endlose Schlange der Fahrzeuge vor dir, wie sie im Schneesturm verschwindet. Dein Zögern ist kurz, du drehst dich um und betrachtest die Dunkelheit hinter dir. Neunzehn Jahre, denkst du, neunzehn Jahre ist es her, dass ich mich so gefühlt habe. Du fragst dich, wie so viel Zeit vergehen konnte, und beschließt, nicht noch einmal neunzehn Jahre zu warten, ehe du deine Suche fortsetzt.
Ich bin im Hier, und das Hier ist jetzt.
Es gibt kein Voran, also entscheidest du dich, nach hinten zu gehen.
In den darauffolgenden Monaten sind unzählige Theorien darüber aufgestellt worden, was in jener Nacht geschehen ist. War es Streit? Waren es Drogen, Rache oder Wahnsinn? Manche dachten, es hätte am Mond gelegen, andere zitierten aus der Bibel - aber der Mond hat sich in dieser Nacht nicht blicken lassen, und falls es einen Gott gibt, hat er in die andere Richtung gesehen. Die Mutmaßungen uferten aus, jeder hatte eine Theorie, und auf diese Weise entstand der Mythos.
Anfangs waren sich alle einig, dass es sich um mehrere Personen handeln musste. Kein Mensch konnte das allein getan haben. Erst mit der Zeit fokussierten sich die Theorien auf einen einzelnen Täter, und der Reisende wurde geboren.
Manche dachten, dass er nie zu einem Ende gekommen wäre, hätte der Schneefall nicht abrupt aufgehört. Andere vermuteten ein System dahinter.
Viele behaupteten, der Reisende wäre müde geworden. Mutmaßungen durch und durch.
Du gehst zu dem Wagen, der hinter dir steht, und steigst auf der Beifahrerseite ein. Die Scheiben sind zugeweht und von innen beschlagen. Du musst nichts sehen. Du weißt, was du tust und verlässt den Wagen nach drei Minuten.
Du verlässt den zweiten Wagen nach vier Minuten.
Den vierten und fünften Wagen überspringst du, weil sich in ihnen mehr als eine Person befindet. Woher weißt du, wann die Beifahrerseite frei ist? Vielleicht ist es Instinkt, vielleicht Glück. Im vierten Wagen schlafen zwei Männer, und im fünften Wagen sitzt eine Familie mit Hund. Der Hund ist als Einziger wach und sieht dich als Schatten am Fenster vorbeigehen. Er beginnt zu wimmern und uriniert auf den Sitz.
In Wagen Nummer zehn triffst du auf dein erstes Problem.
Eine Frau sitzt eingemummt hinter dem Steuer. Sie kann nicht schlafen, weil sie erbärmlich friert und viel zu geizig ist, um den Motor auch nur eine Minute laufen zu lassen. Sie hat sich drei Pullover übergezogen und mit ihrem Mantel zugedeckt. Die Scheiben ihres Autos sind von innen feucht, die Kondenstropfen gefroren. Das Gesicht der Frau schmerzt von der Kälte. Ihre Hände sind Krallen. Sie bereut es, keine Medikamente dabeizuhaben. Eine Schlaftablette oder zwei und alles wäre erträglicher.
Die Frau erschrickt, als sich die Beifahrertür öffnet. Für einen Moment glaubt sie, dass es der Rettungsdienst ist, der ihr Decken und eine Thermoskanne mit Tee bringt. Sie will sich beschweren, weil es so lange gedauert hat.
- Ganz ruhig, sagst du und schließt die Tür hinter dir.
Du riechst ihren Körper, das verblassende Deo. Du riechst ihre Müdigkeit und die Frustration, die sie sauer und klamm ausatmet. Sie fragt, wer du bist. Sie hat dabei einen trockenen Mund, ihre Augen sind geweitet. Sie versucht zurückzuweichen. Ihr Hals fühlt sich unter deiner Hand spröde an. Die Innenbeleuchtung verlöscht. Du presst die Frau gegen die Fahrertür, legst dein ganzes Gewicht in diese Bewegung - den linken Arm ausgestreckt, als wolltest du sie auf Abstand halten. Dabei nimmst du den Blick keine Sekunde von ihr, spürst ihre Schläge gegen deinen Arm, gegen deine Schulter und beobachtest, wie ihre Hände sich verwandeln. Aus Krallen werden panische, flatternde Vögel. Sie keucht, sie würgt, dann findet ihre rechte Hand den Zündschlüssel und startet den Motor. Damit hast du nicht gerechnet. In Wagen Nummer sechs hat der Fahrer versucht, auf den Rücksitz zu klettern. In Wagen Nummer acht hat der Fahrer wiederholt den Kopf gegen das Fenster geschlagen, um auf sich aufmerksam zu machen. Keiner von ihnen hat den Versuch unternommen wegzufahren.
Die Frau drückt das Gaspedal durch, das Auto steht auf Parken. Der Motor röhrt auf, nichts weiter geschieht. Die Frau drückt auf die Hupe. Ein klägliches Meckern entweicht dem Wagen. Du ballst die rechte Hand und schlägst der Frau ins Gesicht. Wieder und wieder. Ihr Kiefer bricht, ihr Gesicht rutscht nach links weg, sie sackt in sich zusammen. Du lässt die Faust sinken, behältst aber die andere Hand an ihrem Hals. Du spürst die Knochen, wie sie sich unter deiner Kraft verschieben. Du spürst, wie das Leben aus ihr entweicht, lässt sie los und stellst den Motor aus. Es hat keine vier Minuten gedauert.
Der Reisende zieht weiter.
In Wagen Nummer siebzehn erwartet dich ein alter Mann. Er ist angeschnallt und sitzt aufrecht, als würde die Fahrt jeden Moment weitergehen. Aus dem Radio ist klassische Musik zu hören.
- Ich warte schon, sagt der alte Mann.
Du schließt die Tür hinter dir, der Alte spricht weiter.
- Ich habe Sie gesehen. Ein Laster fuhr vorbei. Die Scheinwerfer haben durch die Fenster des Wagens vor mir geleuchtet. Ich habe Sie durch den Schnee hindurch gesehen. Und jetzt sind Sie bei mir. Und ich habe keine Angst.
- Danke, sagst du.
Der Alte löst den Sicherheitsgurt. Er schließt die Augen und lässt den Kopf auf das Lenkrad sinken, als wollte er schlafen. Sein Nacken offenbart sich. Du siehst eine Goldkette, die die gespannte Haut wie ein dünner Faden durchschneidet. Du legst die Hände um den Kopf des Alten. Ein Ruck, ein rohes Knacken, dem Alten entweicht ein Seufzer. Du lässt deine Hände eine Weile auf seinem Kopf liegen, als könntest du die entfliehenden Gedanken auffangen. Es ist ein perfekter Moment der Ruhe.
Am Tag darauf wurde in den Nachrichten von einer Organisation gesprochen. Die Kripo gab sich Mühe, eine Verbindung zwischen den sechsundzwanzig Opfern zu finden. Die Familien trauerten, überall im Land waren die Fahnen auf Halbmast gehisst. Man sprach von Terroristen und der russischen Mafia. Man dachte an einen Kult, das Sektenthema wurde mal wieder groß aufgerollt. Nur die Waffenlobby kam nicht zum Zug, weil keine Waffe zum Einsatz gekommen war. Was immer gesagt wurde, was immer die Leute auch mutmaßten, niemand nahm das Wort Massenmord in den Mund. Schließlich schrieb eine Boulevardzeitung es groß und giftig auf ihre Titelseite.
Massenmord aufder A4.
Es wurde ein dunkler Winter für Deutschland.
Die Frage stand im Raum, was den Reisenden wohl dazu veranlasst hatte, aus dem sechsundzwanzigsten Wagen zu steigen und zu denken, genug ist genug. Hat er das wirklich gedacht? Hörte er eine Stimme, sprachen Dämonen zu ihm oder wurde ihm langweilig? Was auch immer die Antwort ist, es lag nicht am Schneefall, denn der Schneefall hielt bis zum Morgengrauen an. Nein, die Wahrheit ist nicht kompliziert, sie ist relativ einfach. Du verlässt den sechsundzwanzigsten Wagen und denkst nichts. Du spürst den Wind und du spürst die Kälte und fühlst dich geborgen und willst gerade zum nächsten Wagen gehen, als du am Horizont einen Lichtfunken bemerkst. Vielleicht reflektiert der Schneefall ein Licht aus weiter Ferne. Was auch immer es ist, du machst dich auf den Rückweg zu deinem Wagen. Du folgst deiner längst verwehten Spur und reißt sie auf wie eine alte Wunde. Bei deinem Wagen angekommen, wischst du die Windschutzscheibe frei und setzt dich hinter das Lenkrad. Du atmest durch, legst Daumen und Zeigefinger um den Zündschlüssel und wartest. Du wartest auf den richtigen Moment. Als du den Motor startest, erwachen die Autos vor dir, und die Scheinwerfer von über hundert Fahrzeugen erhellen die zugewehte Autobahn mit einem fahlen Licht, das an Taschenlampen unter Bettdecken erinnert. Der Stau setzt sich nach genau vier Stunden wieder in Bewegung, weil der Reisende auf den richtigen Moment gewartet hat.
Du legst den Gang ein und bist sehr zufrieden mit dir. Der Schmerz und das Pochen in deinen Händen sind unbedeutend. Später wirst du herausfinden, dass zwei Finger deiner rechten Hand gebrochen und die Knöchel an beiden Händen trotz der Handschuhe geschwollen und blutig geschlagen sind. Deine Schultern schmerzen von der unbequemen Position, die du in den Autos eingenommen hast, aber all das zählt nicht, denn da ist diese unbeschreibliche Zufriedenheit in deinem Inneren. Da ist auch ein süßer Geschmack in deinem Mund, den du dir nicht erklären kannst. Der Geschmack löst eine Erinnerung aus. Die Erinnerung ist neunzehn Jahre alt. Glorreich, blendend, süß. Du weißt, was das alles zu bedeuten hat. Du dachtest, die Suche wäre vorbei, dabei hat sie nur eine Atempause gemacht. Es ist der Anfang einer neuen Ära. Oder anders gesagt - der Anfang vom Ende der Zivilisation, wie du sie kennst.
Dieser Gedanke gefällt dir im Nachhinein immer noch am besten.
Kein Anfang ohne ein Ende. Ein Mann steigt aus seinem Auto, ein Mann steigt wieder in sein Auto, und der Stau vor ihm beginnt sich langsam aufzulösen. Der Reisende reist weiter.
Der Stau dehnt sich schon seit einer Stunde dreispurig über mehrere Kilometer aus, wird zweispurig und schließlich einspurig, bevor er zum Stehen kommt. Die Autobahn ist vom Schnee zugeweht. Der
Sichtkontakt bricht nach wenigen Metern ab. Die Räumfahrzeuge kriechen über die Landstraßen dem Stau entgegen und bleiben selbst stecken. Der Himmel tobt. Die Scheinwerfer der Autos erinnern an Lichter unter Wasser. Es ist keine Nacht, um unterwegs zu sein. Niemand war auf diesen Wetterumschwung vorbereitet.
Die Leute sitzen in ihren Autos fest. Anfangs lassen sie den Motor noch laufen, suchen hoffnungsvoll nach einem Radiosender, der ihnen sagt, dass sich der Stau bald wieder auflösen wird. Sie suchen vergeblich. Es ist ein Uhr morgens, keine Abfahrt ist in der Nähe, und wenn sich eine auftun würde, wäre sie unbefahrbar. Stillstand. Die Scheinwerfer verlöschen einer nach dem anderen, Motoren verstummen, nur der Wind und der Schneefall sind noch zu hören. Mäntel werden übergezogen, Sitze zurückgelehnt. In einem un beständigen Rhythmus starten die Wagen, die Heizungen laufen für Minuten warm, bevor die Motoren erneut verstummen.
Du bist einer von vielen. Du bist allein und wartest. Dein Navigationssystem sagt dir, dass du eine Stunde und siebenundfünfzig Minuten von deiner Wohnung entfernt bist. Du kannst nicht glauben, dass dir das wirklich passiert. Dass irgendjemandem in diesem Land genau das hier passiert. Ein simpler Stau und Feierabend.
Du bist einer der wenigen, die den Motor ohne Pause laufen lassen. Nicht, weil du frierst. Du weißt, sobald dich die Stille umschließt, wird die Resignation einsetzen, und du bist keiner, der freiwillig resigniert. Selbst das Navigationssystem lässt du eingeschaltet und betrachtest das Display, als könnte sich der Abstand zu deinem Ziel jeden Augenblick wie durch ein Wunder verringern. Und je öfter du hinsiehst, desto öfter fragst du dich, wie dir so was nur passieren kann.
1178 Menschen stellen sich in dieser Nacht die gleiche Frage. Sie sitzen unbequem und verfluchen ihre Entscheidung, so spät noch gefahren zu sein. Schließlich geben sie auf und finden sich mit der Situation ab. Nicht du. Dein Motor läuft ganze zweieinhalb Stunden, bevor du den Schlüssel drehst und von der Stille umschlossen wirst. Dein Benzin ist auf Reserve. Das Navigationssystem verlöscht. Kein Licht, kein Radio. Ende. Alle paar Minuten schaltest du den Scheibenwischer an, um den Schnee wegzuschieben. Du willst sehen, was da draußen geschieht.
Und so bekommst du mit, wie das erste Räumfahrzeug auf der entgegengesetzten Fahrbahn den Schnee teilt. Es wirkt wie ein müdes Wesen, das die gesamte Welt langsam hinter sich herschleppt. Der Schnee wirft am Straßenrand Wellen, die sofort erstarren. Wenn sie die eine Seite frei machen, dann arbeiten sie sicher auch schon auf unserer, denkst du und beobachtest das Räumfahrzeug im Seitenspiegel, bis nur noch das Schimmern der Rücklichter zu sehen ist. Erst da schließt du die Augen und atmest tief durch.
Deine Schwester hat dir vor Jahren einen Yogakurs geschenkt, und einige der Übungen sind bei dir hängengeblieben. Du gehst in dich und meditierst. Du wirst zu einem Teil der Stille und schläfst innerhalb von wenigen Minuten ein. Eine Stunde später sind deine Fenster weiß vom Schnee, und ein fahles Licht füllt den Wagen, als würdest du im Inneren eines Eies sitzen. Die Kälte hat dich erreicht und schmerzt in deinem Kopf. Die Scheibenwischer rühren sich nicht mehr. Du reibst dir die Augen und beschließt auszusteigen. Du willst die Windschutzscheibe vom Schnee befreien und schauen, ob sich weiter vorne ein Räumfahrzeug zeigt.
Die Enttäuschung ist beißend wie die Kälte. Du stehst neben deinem Wagen, und vor dir ist nur Dunkelheit und hinter dir ist nur Dunkelheit. Ich bin ein Teil davon, denkst du und wartest und hoffst auf einen Lichtschimmer und lachst plötzlich los. Allein, ich bin vollkommen allein. Nur der Wind leistet dir Gesellschaft. Der Wind, der Schnee und die verzweifelte Ruhe von Fahrzeugen, die feststecken. Das Lachen schmerzt in deinem Gesicht, du solltest dich bewegen, sonst frierst du ein.
Du nimmst den Mantel vom Rücksitz und ziehst ihn über. Eisnadeln hämmern auf dich ein, Schneeflocken pressen gegen deine Lippen. Du ziehst dir Handschuhe an, atmest durch und fühlst dich überraschend ganz. Als hätte deine Existenz auf diesen einen Mo-
ment hingestrebt - du, der aus dem Wagen steigt, du, der sich umdreht und den Schneefall spürt und dann lächelt. Es ist ein gutes Lächeln. Es schmerzt weniger als das Lachen.
Ein Lastwagen kriecht auf der gegenüberliegenden Fahrbahn vorbei und blendet einmal auf, als wollte er dich grüßen. Der Fahrtwind erreicht dich Sekunden später mit voller Wucht. Du duckst dich nicht, du spürst die Nässe im Gesicht, schwankst ein wenig und fragst dich, wieso du mit diesem verdammten Gegrinse nicht aufhören kannst. Der Lastwagen verschwindet, und du stehst noch immer da und betrachtest die scheinbar endlose Schlange der Fahrzeuge vor dir, wie sie im Schneesturm verschwindet. Dein Zögern ist kurz, du drehst dich um und betrachtest die Dunkelheit hinter dir. Neunzehn Jahre, denkst du, neunzehn Jahre ist es her, dass ich mich so gefühlt habe. Du fragst dich, wie so viel Zeit vergehen konnte, und beschließt, nicht noch einmal neunzehn Jahre zu warten, ehe du deine Suche fortsetzt.
Ich bin im Hier, und das Hier ist jetzt.
Es gibt kein Voran, also entscheidest du dich, nach hinten zu gehen.
In den darauffolgenden Monaten sind unzählige Theorien darüber aufgestellt worden, was in jener Nacht geschehen ist. War es Streit? Waren es Drogen, Rache oder Wahnsinn? Manche dachten, es hätte am Mond gelegen, andere zitierten aus der Bibel - aber der Mond hat sich in dieser Nacht nicht blicken lassen, und falls es einen Gott gibt, hat er in die andere Richtung gesehen. Die Mutmaßungen uferten aus, jeder hatte eine Theorie, und auf diese Weise entstand der Mythos.
Anfangs waren sich alle einig, dass es sich um mehrere Personen handeln musste. Kein Mensch konnte das allein getan haben. Erst mit der Zeit fokussierten sich die Theorien auf einen einzelnen Täter, und der Reisende wurde geboren.
Manche dachten, dass er nie zu einem Ende gekommen wäre, hätte der Schneefall nicht abrupt aufgehört. Andere vermuteten ein System dahinter.
Viele behaupteten, der Reisende wäre müde geworden. Mutmaßungen durch und durch.
Du gehst zu dem Wagen, der hinter dir steht, und steigst auf der Beifahrerseite ein. Die Scheiben sind zugeweht und von innen beschlagen. Du musst nichts sehen. Du weißt, was du tust und verlässt den Wagen nach drei Minuten.
Du verlässt den zweiten Wagen nach vier Minuten.
Den vierten und fünften Wagen überspringst du, weil sich in ihnen mehr als eine Person befindet. Woher weißt du, wann die Beifahrerseite frei ist? Vielleicht ist es Instinkt, vielleicht Glück. Im vierten Wagen schlafen zwei Männer, und im fünften Wagen sitzt eine Familie mit Hund. Der Hund ist als Einziger wach und sieht dich als Schatten am Fenster vorbeigehen. Er beginnt zu wimmern und uriniert auf den Sitz.
In Wagen Nummer zehn triffst du auf dein erstes Problem.
Eine Frau sitzt eingemummt hinter dem Steuer. Sie kann nicht schlafen, weil sie erbärmlich friert und viel zu geizig ist, um den Motor auch nur eine Minute laufen zu lassen. Sie hat sich drei Pullover übergezogen und mit ihrem Mantel zugedeckt. Die Scheiben ihres Autos sind von innen feucht, die Kondenstropfen gefroren. Das Gesicht der Frau schmerzt von der Kälte. Ihre Hände sind Krallen. Sie bereut es, keine Medikamente dabeizuhaben. Eine Schlaftablette oder zwei und alles wäre erträglicher.
Die Frau erschrickt, als sich die Beifahrertür öffnet. Für einen Moment glaubt sie, dass es der Rettungsdienst ist, der ihr Decken und eine Thermoskanne mit Tee bringt. Sie will sich beschweren, weil es so lange gedauert hat.
- Ganz ruhig, sagst du und schließt die Tür hinter dir.
Du riechst ihren Körper, das verblassende Deo. Du riechst ihre Müdigkeit und die Frustration, die sie sauer und klamm ausatmet. Sie fragt, wer du bist. Sie hat dabei einen trockenen Mund, ihre Augen sind geweitet. Sie versucht zurückzuweichen. Ihr Hals fühlt sich unter deiner Hand spröde an. Die Innenbeleuchtung verlöscht. Du presst die Frau gegen die Fahrertür, legst dein ganzes Gewicht in diese Bewegung - den linken Arm ausgestreckt, als wolltest du sie auf Abstand halten. Dabei nimmst du den Blick keine Sekunde von ihr, spürst ihre Schläge gegen deinen Arm, gegen deine Schulter und beobachtest, wie ihre Hände sich verwandeln. Aus Krallen werden panische, flatternde Vögel. Sie keucht, sie würgt, dann findet ihre rechte Hand den Zündschlüssel und startet den Motor. Damit hast du nicht gerechnet. In Wagen Nummer sechs hat der Fahrer versucht, auf den Rücksitz zu klettern. In Wagen Nummer acht hat der Fahrer wiederholt den Kopf gegen das Fenster geschlagen, um auf sich aufmerksam zu machen. Keiner von ihnen hat den Versuch unternommen wegzufahren.
Die Frau drückt das Gaspedal durch, das Auto steht auf Parken. Der Motor röhrt auf, nichts weiter geschieht. Die Frau drückt auf die Hupe. Ein klägliches Meckern entweicht dem Wagen. Du ballst die rechte Hand und schlägst der Frau ins Gesicht. Wieder und wieder. Ihr Kiefer bricht, ihr Gesicht rutscht nach links weg, sie sackt in sich zusammen. Du lässt die Faust sinken, behältst aber die andere Hand an ihrem Hals. Du spürst die Knochen, wie sie sich unter deiner Kraft verschieben. Du spürst, wie das Leben aus ihr entweicht, lässt sie los und stellst den Motor aus. Es hat keine vier Minuten gedauert.
Der Reisende zieht weiter.
In Wagen Nummer siebzehn erwartet dich ein alter Mann. Er ist angeschnallt und sitzt aufrecht, als würde die Fahrt jeden Moment weitergehen. Aus dem Radio ist klassische Musik zu hören.
- Ich warte schon, sagt der alte Mann.
Du schließt die Tür hinter dir, der Alte spricht weiter.
- Ich habe Sie gesehen. Ein Laster fuhr vorbei. Die Scheinwerfer haben durch die Fenster des Wagens vor mir geleuchtet. Ich habe Sie durch den Schnee hindurch gesehen. Und jetzt sind Sie bei mir. Und ich habe keine Angst.
- Danke, sagst du.
Der Alte löst den Sicherheitsgurt. Er schließt die Augen und lässt den Kopf auf das Lenkrad sinken, als wollte er schlafen. Sein Nacken offenbart sich. Du siehst eine Goldkette, die die gespannte Haut wie ein dünner Faden durchschneidet. Du legst die Hände um den Kopf des Alten. Ein Ruck, ein rohes Knacken, dem Alten entweicht ein Seufzer. Du lässt deine Hände eine Weile auf seinem Kopf liegen, als könntest du die entfliehenden Gedanken auffangen. Es ist ein perfekter Moment der Ruhe.
Am Tag darauf wurde in den Nachrichten von einer Organisation gesprochen. Die Kripo gab sich Mühe, eine Verbindung zwischen den sechsundzwanzig Opfern zu finden. Die Familien trauerten, überall im Land waren die Fahnen auf Halbmast gehisst. Man sprach von Terroristen und der russischen Mafia. Man dachte an einen Kult, das Sektenthema wurde mal wieder groß aufgerollt. Nur die Waffenlobby kam nicht zum Zug, weil keine Waffe zum Einsatz gekommen war. Was immer gesagt wurde, was immer die Leute auch mutmaßten, niemand nahm das Wort Massenmord in den Mund. Schließlich schrieb eine Boulevardzeitung es groß und giftig auf ihre Titelseite.
Massenmord aufder A4.
Es wurde ein dunkler Winter für Deutschland.
Die Frage stand im Raum, was den Reisenden wohl dazu veranlasst hatte, aus dem sechsundzwanzigsten Wagen zu steigen und zu denken, genug ist genug. Hat er das wirklich gedacht? Hörte er eine Stimme, sprachen Dämonen zu ihm oder wurde ihm langweilig? Was auch immer die Antwort ist, es lag nicht am Schneefall, denn der Schneefall hielt bis zum Morgengrauen an. Nein, die Wahrheit ist nicht kompliziert, sie ist relativ einfach. Du verlässt den sechsundzwanzigsten Wagen und denkst nichts. Du spürst den Wind und du spürst die Kälte und fühlst dich geborgen und willst gerade zum nächsten Wagen gehen, als du am Horizont einen Lichtfunken bemerkst. Vielleicht reflektiert der Schneefall ein Licht aus weiter Ferne. Was auch immer es ist, du machst dich auf den Rückweg zu deinem Wagen. Du folgst deiner längst verwehten Spur und reißt sie auf wie eine alte Wunde. Bei deinem Wagen angekommen, wischst du die Windschutzscheibe frei und setzt dich hinter das Lenkrad. Du atmest durch, legst Daumen und Zeigefinger um den Zündschlüssel und wartest. Du wartest auf den richtigen Moment. Als du den Motor startest, erwachen die Autos vor dir, und die Scheinwerfer von über hundert Fahrzeugen erhellen die zugewehte Autobahn mit einem fahlen Licht, das an Taschenlampen unter Bettdecken erinnert. Der Stau setzt sich nach genau vier Stunden wieder in Bewegung, weil der Reisende auf den richtigen Moment gewartet hat.
Du legst den Gang ein und bist sehr zufrieden mit dir. Der Schmerz und das Pochen in deinen Händen sind unbedeutend. Später wirst du herausfinden, dass zwei Finger deiner rechten Hand gebrochen und die Knöchel an beiden Händen trotz der Handschuhe geschwollen und blutig geschlagen sind. Deine Schultern schmerzen von der unbequemen Position, die du in den Autos eingenommen hast, aber all das zählt nicht, denn da ist diese unbeschreibliche Zufriedenheit in deinem Inneren. Da ist auch ein süßer Geschmack in deinem Mund, den du dir nicht erklären kannst. Der Geschmack löst eine Erinnerung aus. Die Erinnerung ist neunzehn Jahre alt. Glorreich, blendend, süß. Du weißt, was das alles zu bedeuten hat. Du dachtest, die Suche wäre vorbei, dabei hat sie nur eine Atempause gemacht. Es ist der Anfang einer neuen Ära. Oder anders gesagt - der Anfang vom Ende der Zivilisation, wie du sie kennst.
Dieser Gedanke gefällt dir im Nachhinein immer noch am besten.
Kein Anfang ohne ein Ende. Ein Mann steigt aus seinem Auto, ein Mann steigt wieder in sein Auto, und der Stau vor ihm beginnt sich langsam aufzulösen. Der Reisende reist weiter.
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Autoren-Porträt von Zoran Drvenkar
Drvenkar, ZoranZoran Drvenkar, 1967 in Kroatien geboren, wuchs in Berlin auf. Seit 1989 arbeitet er als Schriftsteller und Drehbuchautor. Sein Roman Sorry wurde mit dem Friedrich-Glauser-Preis ausgezeichnet und wird derzeit verfilmt.Weitere Informationen über Zoran Drvenkar finden Sie www.drvenkar.de
Bibliographische Angaben
- Autor: Zoran Drvenkar
- 2012, 573 Seiten, Maße: 12 x 18,8 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Ullstein TB
- ISBN-10: 3548283977
- ISBN-13: 9783548283975
- Erscheinungsdatum: 13.01.2012
Rezension zu „Du “
»Erfordert starke Nerven, belohnt dafür mit hervorragend aufgebauter Erzählkunst.« Emotion, Oktober 2010 »Der Kinoliebhaber Drvenkar bewegt sich zwischen dem dokumentarischen Realismus von 'Prinzessinnenbad' und den brutal-komischen Überzeichnungen von Tarantinos 'Death Proof'. Und dabei ist alles auf unaufgeregte Weise ganz und echt.« Mittelbayerische Zeitung, Matthias Waha, 08.10.10 »Keine Frage, Zoran Drvenkar ist ein rassanter Schreiber. So unmittelbar wendet er sich an seine Leser, dass diese sich dem Sog seiner Geschichten nur schwer entziehen können.« NDR, Katja Weise, 14.10.10
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