Düstermühle / Hauptkommissar Hambrock Bd.5
Ein Münsterland-Krimi
Bei einem Brandanschlag auf einen Gutshof im Münsterland sterben zwei Menschen. Kommissar Bernhard Hambrock sucht fieberhaft nach einem Motiv. Bei den Ermittlungen stößt er auf alte Familienfehden und ungesühnte Verbrechen.
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Produktinformationen zu „Düstermühle / Hauptkommissar Hambrock Bd.5 “
Bei einem Brandanschlag auf einen Gutshof im Münsterland sterben zwei Menschen. Kommissar Bernhard Hambrock sucht fieberhaft nach einem Motiv. Bei den Ermittlungen stößt er auf alte Familienfehden und ungesühnte Verbrechen.
Klappentext zu „Düstermühle / Hauptkommissar Hambrock Bd.5 “
Bei einem Brandanschlag auf einen Gutshof im Dörfchen Düstermühle sterben zwei Menschen: der ehemalige Hofherr und sein Nachbar. Kommissar Bernhard Hambrock sucht fieberhaft nach einem Motiv. Bei den Ermittlungen, die ihn tief in die Vergangenheit führen, stößt er auf alte Familienfehden und ungesühnte Verbrechen. Doch kaum jemand kann sich erinnern, es gibt keine Zeitzeugen mehr. Und dann brennt es erneut in Düstermühle ...
Lese-Probe zu „Düstermühle / Hauptkommissar Hambrock Bd.5 “
Düstermühle von Stefan Holtkötter 1
Draußen zog die Dämmerung herauf.
Ein neuer Tag.
Siegfried Wüllenhues stand am Fenster der Werkstatt und blickte hinaus. Dunst lag über den Wiesen, Raureif überzog Gräser und Zweige, und hinter den kahlen Wipfeln der Bäume konnte er den alten Kirchturm von Düstermühle sehen. Ein weiterer grauer Wintertag kündigte sich an. Es war nicht mehr lang bis zur Wintersonnenwende, und dann würde irgendwann die eisige Kälte hinzukommen.
Wann hatte er angefangen, sich vor dem Winter zu fürchten? Vor der Dunkelheit und der Kälte? Wann hatte er begonnen, sich zu fragen, wie viele Sommer er noch vor sich haben mochte?
Er wandte sich vom Fenster ab. Es hatte keinen Sinn, über diese Fragen nachzugrübeln.
In der Werkstatt war es still, abgesehen vom Pendelschlag der alten Wanduhr. Auf der Werkbank lagen Scheren, Zangen und Messer. Weidenruten, abgeschälte Rinde und mittendrin eine begonnene Korbarbeit. Ein Ring abstehender Stöcke, die durch ein Flechtmuster gehalten wurden. Der Raum strahlte Behaglichkeit aus, hier drinnen herrschten Ruhe und Frieden.
Aber damit war es nun vorbei. Siegfried Wüllenhues machte sich an seine Arbeit. Er stieg über die Blutlache am Boden und durchschritt den Raum. Den Toten beachtete er nicht.
Schmerz durchfuhr seinen Körper. Das Rheuma würde ihn noch einmal umbringen. Bei diesem kalten Wetter war es immer am schlimmsten. Es gab Tage, an denen war er kein Mensch mehr, so groß wurden die Schmerzen.
... mehr
Er biss die Zähne zusammen. Vorsichtig griff er nach dem Kanister und schraubte den Verschluss ab. Benzindämpfe stiegen auf. Seine Bewegungen waren langsam und qualvoll. Er goss Benzin über die Werkbank und den Teppich und schließlich auch über die Leiche am Boden. Dann spritzte er Flüssigkeit gegen die Wände und zog mit dem letzten Rest Benzin eine Spur hinaus auf den Hof. Mit einem Seufzer stellte er den leeren Kanister ab. Wenn dies alles vorüber war, wollte er sich in seinen weichen Sessel an die Heizung setzen. In der Zeitung lesen und dabei die Wärme genießen.
Zurück in der Werkstatt warf er einen letzten Blick auf den Toten. Alfons war ein alter Mann. Wie er selbst, wie sie alle.
Die Benzindämpfe nahmen ihm den Atem. Besser, er hielt sich nicht zu lange hier drinnen auf. Vorsichtig trat er zurück in die frostige Luft. Er atmete ein paarmal durch. Kleine Wölkchen bildeten sich vor seinem Gesicht. Plötzlich spürte er ein Ziehen in seiner Brust. Was war das nur wieder?
Er zog ein Streichholzbriefchen aus seiner Jackentasche. Gleich das erste Zündholz setzte die Werkstatt in Brand. Der benzingetränkte Raum brannte lichterloh. Flammen züngelten gierig an den morschen Holzbalken, eine kleine Scheibe explodierte in der Hitze. Siegfried Wüllenhues trat einen Schritt zurück. Er wollte die Flammen nicht sehen. Er hasste das Feuer, es war schon immer so gewesen. Außerdem wäre es ratsam zu verschwinden, bevor ihn einer entdeckte. Doch das Ziehen in seiner Brust kehrte zurück. Es wurde stärker. Auf einmal konnte er sich kaum noch bewegen. Er krümmte sich, griff mit den Händen nach seiner Brust, rang nach Luft. Was passierte mit ihm? Was war nur los?
Er sackte auf dem Boden zusammen. Die Erde war von pelzigem Raureif überzogen. Er spürte die kalten Kristalle an seinem Gesicht. Das Herz. Es musste sein Herz sein. Was immer hier passierte, das war nicht das Rheuma.
Brandgeruch stieg ihm in die Nase. Die Schmerzen wurden übergroß. Er war jetzt im Keller. Natürlich. Alles kam zurück. Die lodernden Flammen, das Heulen der Sirenen, die Geräusche der Flugzeuge. Er war ein kleiner Junge, stumm und ängstlich, und um ihn herum brach die Hölle aus. Über ihm das Pfeifen der Bomben und der brechende Beton. Alles war erfüllt vom beißenden Qualm und dem Geruch von Feuer.
Er bekam keine Luft mehr. Die Schmerzen in der Brust raubten ihm den Atem. Die Angst war ihm so vertraut, immer noch, nach all den Jahren. Er hatte sie nie vergessen. Es war die nackte Todesangst.
Er versuchte, in der Gegenwart zu bleiben. Das war nur Alfons' Werkstatt, die dort brannte. Doch es war zu spät. Menschen schrien. Das Haus über dem Keller war plötzlich fort. Feuer und Rauch. Kinder mit grauen Gesichtern und leblosen Blicken. Eine Frau, die im glühenden Asphalt versank, eine lebende Fackel. Die stinkende Wanne mit schwarzem schlammigem Wasser, in das er wieder und wieder getaucht wurde. Der Lärm, die Schreie, der beißende Qualm.
Er hatte diesen Keller nie verlassen, natürlich nicht. Sein ganzes Leben war er dort unten gewesen. Er hatte die ganze Zeit über dort gehockt und ängstlich auf den Tod gewartet. Auf Erlösung. Und jetzt, endlich, war es so weit.
Er durfte sterben.
Am Rande der Wiese stand die rauchende Ruine. Das Feuer war gelöscht, doch viel war nicht übrig geblieben von dem kleinen Wirtschaftsgebäude. Der Notarztwagen versperrte den Weg. Auch die Spurensicherung war schon eingetroffen.
Bernhard Hambrock parkte seinen Dienstwagen unter den hohen Tannen am Wegesrand. Er sah zum Haupthaus hinüber. Ein prächtiger Barockbau, der über zwei Etagen reichte und aus roten Ziegeln und Sandstein erbaut war. Tiefgrüne Blendläden, uralte Sprossenfenster und eine herrschaftliche Freitreppe. Es war das Wohnhaus der Familie Schulte-Stein. Nichts bewegte sich dort. Die Fenster waren wie blinde Spiegel, die Türen alle samt verschlossen. Ein Glockenschlag ertönte. Die Turmuhr über der alten Scheune schlug zur Viertelstunde.
Hambrock öffnete die Tür und verließ den Wagen. Feuchte, diesige Luft schlug ihm entgegen. Am Morgen hatte er noch staunend am Fenster gestanden - der Raureif hatte alles weiß gefärbt und eine wunderschöne Winterlandschaft herbeigezaubert. Doch inzwischen waren die Temperaturen gestiegen, und es lag wieder Feuchtigkeit in der Luft. Der Himmel war wie eine milchige Wand.
Er beobachtete die Feuerwehrleute, die rund um den Löschzug mit Aufräumarbeiten begannen. Es herrschte Betriebsamkeit. Dann entdeckte er Henrik Keller, den Neuzugang im Präsidium, der seit ein paar Tagen in seiner Gruppe arbeitete. Er war an die Stelle von Heike Holthausen gerückt, die jetzt in Elternzeit war und anschließend in eine andere Abteilung wechseln würde. Hambrock hatte sich noch nicht näher mit Keller befasst, was wahrscheinlich unhöflich war, aber Heikes Abgang drückte schwer auf sein Gemüt, und deshalb interessierte ihn der Neue nicht sonderlich.
Keller war um die fünfzig. Sein genaues Alter hatte natürlich in den Unterlagen gestanden, aber Hambrock hatte es wieder vergessen. Er trug eine abgenutzte Jeansjacke, was ihm zusammen mit den gegelten Haaren, dem Goldkettchen und dem ungepflegten Dreitagebart das Aussehen eines drittklassigen Zuhälters verlieh. Zumindest im Kampf gegen die Pfunde war er wesentlich erfolgreicher als Hambrock.
Keller rauchte Kette, Marlboro. Als wolle er sich durch die Wahl der Marke jeden Tag selbst vor Augen führen, wie blödsinnig es ist, dieser Sucht nachzugehen. Jedenfalls lagen jetzt überall im Büro leere Marlboroschachteln herum, mit großen Warnhinweisen zur Gesundheitsgefährdung. Im Präsidium herrschte natürlich striktes Rauchverbot. Aber als Hambrock gestern den Waschraum betreten hatte, hätte er schwören können, dass Zigarettenqualm in der Luft lag.
Keller stand bei einem Kollegen der Spurensicherung und redete gut gelaunt auf ihn ein. Dabei hielt er mit der Linken die obligatorische brennende Zigarette, während er mit der Rechten seine Marlboroschachtel knetete. Hambrock sehnte sich Heike zurück.
In dem Moment entdeckte Keller ihn, schlug dem Spurentechniker freundschaftlich auf die Schulter und näherte sich mit großen Schritten.
»Bernhard!«, rief er. »Da bist du ja!«
»Nur meine Frau nennt mich so.«
Im Präsidium sprachen ihn alle mit Nachnamen an, egal, ob sie ihn duzten oder nicht. »Ach, wirklich?« Keller grinste breit. Das schien ihm zu gefallen. »Vergiss es, Henrik. Das habe ich nicht gemeint, als ich dir das Du angeboten habe.«
»Ist ja gut. Schon kapiert.«
Hambrock blickte sich um. »Was gibt es?«
»Zwei Tote.«
»Zwei?«
Bislang war nur von einem Toten die Rede gewesen. Ein kleines Wirtschaftsgebäude war in Brand gesteckt worden, und den mutmaßlichen Brandstifter hatte man vor dem Gebäude tot aufgefunden.
»Einer war noch im Innern. Wie's aussieht, der Hofbesitzer. Alfons Schulte-Stein. Er wird jedenfalls vermisst. Das Häuschen hier war seine Korbwerkstatt, und er hat immer sehr früh morgens mit der Arbeit angefangen.«
Keller nahm einen letzten Zug von der niedergebrannten Zigarette. Der Filter begann zu qualmen, und giftiger Rauch stieg auf. Er blickte sich um und ließ die Kippe einfach zu Boden fallen, wo sie keine Spuren hinterlassen würde. Dort trat er sie aus.
Hambrock blickte zum Herrenhaus hinüber. Hinter den Fenstern war nichts zu erkennen. Trotzdem hatte er den Eindruck, als würde das Haus sie beobachten. Keller folgte seinem Blick.
»Sein Sohn und dessen Familie sind im Wohnhaus. Sie warten auf uns. Natürlich sind sie alle ziemlich beunruhigt.«
»Was haben wir bislang?«
»Na ja. Viel kann man noch nicht sagen.« Keller fummelte eine weitere Zigarette aus der verbeulten Schachtel und zündete sie an. »Wie's aussieht, wurde Brandbeschleuniger verwendet. Wir haben jedenfalls einen leeren Benzinkanister bei der Leiche gefunden. Der Tote hier draußen wurde als Siegfried Wüllenhues identifiziert. Ein Bauer aus der Umgebung. Sein Hof liegt ein paar Hundert Meter in Richtung Ortskern. Bei ihm deutet nichts auf Fremdverschulden hin. Der Notarzt vermutet einen Herzinfarkt, aber da müssen wir die Obduktion abwarten.«
»Wo ist die Leiche?«
Keller deutete zum Krankenwagen. »Sie haben versucht zu reanimieren, aber es war wohl schon zu spät. Willst du ihn sehen?«
»Nein.«
Keine Leichen.
Nicht im Moment jedenfalls. Dafür fühlte er sich nicht stark genug. Der Tod war in seinem Leben gerade so allgegenwärtig, dass er sich in diesen Tagen wünschte, er hätte einen anderen Beruf. Nur für ein paar Wochen, bis alles vorüber war.
Gestern hatte er sich schon wieder davor gedrückt, ins Krankenhaus zu gehen. Deshalb würde er heute hinmüssen. Nur für eine Stunde, es ging nicht anders. Er würde sich am Nachmittag aus dem Präsidium schleichen. Er hatte keine andere Wahl.
»Und das Brandopfer?«, fragte er. »Liegt noch in den Ruinen. Die Spurenleute wollen gleich rein. Heute Nachmittag wissen wir mehr.«
Hambrock betrachtete die rauchenden Trümmer. Er fragte sich, was mit ihm los war. Er kannte sich aus mit dem Tod und dem Sterben. Das gehörte schließlich zu seinem Job. Doch wenn er an seine Eltern dachte, die im Aufenthaltsraum des Krankenhauses hockten, war alle Gewohnheit verflogen. Es war, als trennte sie eine unsichtbare Wand. Er konnte seinen Verwandten keinen Trost spenden. Sie waren viel zu weit entfernt.
Und bald war Weihnachten. Was würde dann sein? Würden sie feiern? Und wenn ja, alle zusammen?
Er schob den Gedanken zur Seite und wandte sich in Richtung Herrenhaus. »Also gut. Sprechen wir mit den Angehörigen. «
Ein paar Hundert Meter entfernt stand ein alter Bauer einsam an seinem Küchenfenster und blickte hinaus. Jenseits des brachliegenden Landes war das Anwesen von Schulte-Stein zu sehen. Auch die rauchende Ruine der alten Schmiede, in der Alfons seine Korbwerkstatt eingerichtet hatte, war zu erkennen. Feuerwehr und Notarztwagen waren bereits vor einiger Zeit dort vorgefahren. Nun kamen Streifenwagen hinzu und zivile Autos, die sicherlich zu den Leuten von der Kriminalpolizei gehörten.
Er fragte sich, wie lange es dauern würde, bis sie hier auftauchten und Fragen stellten.
Hinter ihm öffnete sich die Küchentür. Ein leises Stöhnen, dann die vertrauten Geräusche des Rollstuhls, der umständlich über die Schwelle bugsiert wurde. Seine Tochter verschaffte sich Zutritt.
Sie war also fertig. Noch schaffte sie es, sich morgens alleine anzukleiden, auch wenn das manchmal ewig zu dauern schien. Doch wie lange noch? Und was wäre, wenn ihre Kräfte weiter nachließen? Würde dann der Pflegedienst jeden Morgen kommen und sich um sie kümmern?
»Guten Morgen, Vater.« Sie rollte einen Meter auf ihn zu. »Ist etwas passiert? Ich habe ein Martinshorn gehört.« Er wandte sich unwillig vom Fenster ab. »Nein. Es ist alles in Ordnung.«
»Aber da war Brandgeruch in der Luft. Ich habe ...«
»Es ist alles in Ordnung«, herrschte er sie an.
Verwundert und wohl auch etwas verletzt blickte sie zu ihm auf. Dann nickte sie, als habe sie keine Einwände, wendete den Rollstuhl und verschwand wieder.
Kaum war sie fort, ging er in den Flur, nahm seinen Mantel vom Haken und warf ihn sich über. Draußen empfing ihn kühle feuchte Luft. Er nahm den Feldweg, obwohl der voller schlammiger Pfützen war. Auf der Landstraße wäre er ohne Zweifel ins Visier der Polizei geraten. Hinter einer Reihe von Nusssträuchern trat er schließlich auf den Nachbarhof. Er ging auf die Haustür zu und hämmerte dagegen.
Es dauerte, doch dann öffnete ihm sein Nachbar. Sorge verdunkelte sein Gesicht. Sie standen sich eine Weile schweigend gegenüber. Dann nannte der Besucher den Grund für sein Kommen: »Es ist so weit. Sie sind da.«
2
Es herrschte vollkommene Ruhe. Da waren nur sein Atem zu hören und das leise Knacken im Heizkörper. Sonst nichts. Frieden. Carl Beeke blickte hinaus auf die Winterlandschaft jenseits der Fensterfront. Sie lebten am Ortsrand, und das große Wohnzimmerfenster wies hinaus zu den Wiesen und Wäldern, die Düstermühle umgaben. Beinahe war es wie früher, als er noch auf seinem Kotten gelebt hatte. Aber natürlich nur beinahe.
Carl spürte die Kälte in seinen Knochen. Dagegen konnte weder die Heizung noch der warme Sessel etwas ausrichten. Es war eine Kälte, die nur wenig mit dem Winter zu tun hatte. Und da war noch etwas anderes: Er war müde, furchtbar müde, seit Langem schon. Er spürte die Nähe von Mia, seiner verstorbenen Frau. Es würde nicht mehr lange dauern, dann wären sie wieder vereint. Das war nur noch eine Frage der Zeit, und im Grunde sah er dem freudig entgegen.
Vor der Fensterfront verlief ein kleiner Bach, die Düster, die dem Ort seinen Namen gegeben hatte. Doch das Wasser schien sich heute gar nicht zu bewegen, es staute sich zwischen den Kopfweiden. Über dem Ufer hing immer noch der Dunst der frühen Morgenstunden.
Das Telefon riss Carl aus der Betrachtung. Es stand auf einem Hocker neben seinem Sessel, damit er sich nicht mühsam erheben und durch den Raum gehen musste. Er nahm das Gerät aus der Halterung und versuchte die Taste auszumachen, die er drücken musste, um ein Gespräch entgegenzunehmen. Seine Augen. Sie ließen ihn zunehmend im Stich. Schließlich gelang es ihm.
»Carl, hier ist Inge. Hast du schon gehört, was geschehen ist?«
Inge Moorkamp betrieb mit ihrem Mann die Gastwirtschaft am Ortsausgang. Wobei das nicht ganz stimmte, denn Inge und Heinz waren schon seit Jahren im Ruhestand. Inzwischen führte ihr ältester Sohn die Wirtschaft, gemeinsam mit seiner Frau. Er hatte ein modernes Ausflugslokal daraus gemacht mit einer exklusiveren Speisekarte, einem Biergarten mit bunten Sonnenschirmen und einer kleinen Brauerei, in der er sein eigenes Bier braute: Moorkamps dunkel. Carl, der anfangs den vielen Änderungen skeptisch gegenübergestanden hatte, war vor allem von dem neuen Bier überzeugt gewesen. Es schmeckte herzhaft und süffig, ganz anders als die im Geschmack vereinheitlichten Biere der Großbrauereien.
Die alten Männer aus Düstermühle trafen sich jeden Sonntag nach dem Hochamt in Moorkamps Kneipe zum Stammtisch. Für diesen Zweck wurde das Hinterzimmer frei gehalten, da es über einen eigenen Tresen verfügte und Heinz und Inge wieder am Zapfhahn stehen konnten, wie früher. Der Stammtisch wurde abgehalten, seit sie alle junge Leute gewesen waren, weshalb sie großen Wert auf diese Tradition legten.
Seit Carl nicht mehr auf seinem Kotten lebte, sondern im Haus seiner Tochter, war er abgeschnitten von den Gesprächen der Bauern. Inge hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, ihn ab und zu telefonisch auf dem Laufenden zu halten. Damit er sich nicht zu einsam fühlte im Neubaugebiet. Heute klang ihre Stimme jedoch aufgeregt. Es war etwas Schlimmes passiert, das hörte Carl sofort.
»Alfons Schulte-Stein ist tot, das sagt man jedenfalls.«
»Alfons?« Das war allerdings eine Überraschung. Alfons war noch ziemlich rüstig gewesen. Carl hätte geschworen, dass er mindestens hundert Jahre werden und noch ausreichend Zeit haben würde, um seinen Sohn und den Rest der Familie in den Wahnsinn zu treiben. Er war doch kerngesund gewesen. »Wer sagt denn das? Ist es vielleicht nur ein Gerücht?«
»Nein, du verstehst das falsch. Es hat einen Brand gegeben. In der alten Schmiede, in seiner Werkstatt. Man hat die Leiche noch nicht identifiziert, aber wer soll das sonst gewesen sein? Er hat an seinen Körben gearbeitet, als das Feuer ausgebrochen ist.«
»Er ist im Feuer umgekommen? In seiner Schmiede? Du liebe Güte. Der Himmel weiß, er war ein schwieriger Mann, aber solch einen Tod wünscht man keinem. Gott hab ihn selig.«
»Das ist nicht alles, Carl. Es ist ...« Sie stockte.
»Was ist noch passiert, Inge?«
»Siegfried. Der soll das gewesen sein. Der soll das Feuer gelegt haben.« »Siegfried? Unmöglich. Das muss ein Missverständnis sein. Hat er schon mit der Polizei gesprochen?«
»Nein. Er ... er ist tot. Er ... die Leute sagen, er hat einen Herzinfarkt bekommen, vor der Schmiede. Nachdem er das Feuer gelegt hat, in dem Alfons umgekommen ist.«
»Siegfried ist tot?« Carl blickte hinaus auf die erstarrte Winterlandschaft.
»Ja«, sagte Inge. »Unser Siegfried. Es ist so furchtbar.«
Ein weiterer Wegbegleiter. Ein weiterer Freund. Wie viele noch? Wäre nicht längst er selbst an der Reihe gewesen? »Kannst du das glauben?«, fuhr Inge fort. »Dass Siegfried Alfons getötet hat? Unser Siegfried?«
Sie war völlig verstört, und er konnte es ihr nachfühlen. Trotzdem musste er jetzt nachdenken. Alleine sein. Er beendete das Gespräch so behutsam, wie es ihm möglich war. Schließlich versprach er ihr, sich bald wieder zu melden, und legte auf.
Er ließ sich in einen Sessel sinken. Siegfried war erst zweiundsiebzig gewesen, siebzehn Jahre jünger als Carl. Du alter Knochen, hatte er zu Carl gesagt, wenn ihm etwas nicht gepasst hatte. Seit wann ging das so, dass auch die Jungen starben? Die, die seinen Sarg hätten tragen sollen.
Es war die Geschichte seines Lebens. Immer war er derjenige gewesen, der überlebte. Im Krieg, in der Gefangenschaft und auch danach. Selbst heute war es so. Er überlebte. Und er war allein. Ach, Siegfried, dachte er wehmütig. War das wirklich nötig gewesen? Diese alten Geschichten. Sie spielen doch längst keine Rolle mehr. Musstest du wirklich Rache üben, nach all den Jahren? Wem war damit Genüge getan?
Ein Schlüssel in der Haustür, dann Geräusche im Flur. Ein Mantel wurde auf die Garderobe geworfen, eine Tasche in die Ecke gepfeffert, eiliges Umherstöckeln auf viel zu hohen Schuhen. Seine Tochter Christa war heimgekehrt. Sie hatte irgendein Meeting gehabt bei einem Kunden. Oder vielleicht war es auch eine Schulung gewesen, Carl verstand nicht viel von ihrer Arbeit. Sie hatte etwas mit Computern zu tun. Wenn er gefragt wurde, was seine Tochter arbeite, wusste er nie, ob sie nun eine Vertreterin war oder eine Computerspezialistin. Sie verkaufte Buchhaltungssoftware für mittelständische Unternehmen. Eine Vertreterin also. Aber dann fiel immer wieder das Wort »Fernwartung«, und sie verschwand nächtelang im Keller, wo sie sich ihr Büro eingerichtet hatte. Und obwohl sie zu Hause war, musste er nach den Kindern sehen und sich um alles kümmern.
Christa arbeitete zu viel. Sie stand immer unter Strom, war ständig gehetzt. Seit ihr Exmann nach der Scheidung ins Ausland gegangen war, ernährte sie die Familie allein. Carl konnte damit seiner kleinen Rente nicht viel beisteuern. Daher versuchte er, sie zu unterstützen, so gut es ging, indem er ihr den Rücken freihielt.
»Hallo«, sagte sie und streckte den Kopf durch die Tür. »Hat Sandra Lütke schon angerufen? Ich sollte die Kinder vor über einer Stunde abholen, aber ich bin einfach nicht weggekommen. «
»Nein. Noch nicht.«
»Dann zieh ich mich schnell um und fahr los. Das war mal wieder typisch Chef: Von Buchhaltung keine Ahnung, aber muss sich in alles einmischen. Und ich sitz auf heißen Kohlen. «
Sie verschwand im Flur. Carl hörte, wie die hochhackigen Schuhe in die Ecke flogen und Christa auf Strümpfen die Treppe hochlief.
Siegfried. Er war sie offenbar nie losgeworden, die Geister der Vergangenheit. Davon hatte Carl nichts geahnt. Aber man konnte den Menschen eben nur bis vor den Kopf sehen. Das galt auch für Freunde. Wer wusste schon, was in dem anderen vorging? Carl sah hinaus zu den Feldern. Er spürte den Verlust. Die Welt löste sich zunehmend auf.
Er hörte Christa draußen auf dem Flur telefonieren. »Ich kann mir schon vorstellen, wo das Problem liegt. Lassen Sie alles so, wie es ist. Ich bringe das in Ordnung, versprochen. Aber jetzt habe ich einen dringenden Termin. Ich werde mich heute Abend darum kümmern. Morgen früh wird das Programm wieder reibungslos laufen.«
Also eine weitere Nacht im Keller, dachte Carl. Dann würde er heute wieder die Kinder ins Bett schicken und darauf achten müssen, dass sie nicht heimlich fernsahen.
Er schloss die Augen. Vielleicht war er für einen Moment weggenickt, denn als Christa plötzlich neben ihm stand, hatte er sie gar nicht kommen hören. Sie blickte ihn erschrocken an.
»Hast du das gehört? Das mit Siegfried Wüllenhues? Sandra Lütke hat es mir gerade am Telefon erzählt. Ich wollte ihr nur kurz Bescheid sagen, dass ich unterwegs bin.«
Er nickte. »Inge Moorkamp hat mich vorhin angerufen.«
»Ach, das tut mir so leid. Er war doch ein Freund von dir, oder?« Christa wirkte abgekämpft und blass. Das war die viele Arbeit. Und jetzt warteten auch noch die Kinder.
»Nein«, sagte er. »Kein Freund, nur ein Bekannter. Er ist jeden Sonntag zum Stammtisch bei Moorkamp gegangen, aber das tun viele. Besonders gut habe ich ihn nicht gekannt.«
Er sah ihre Erleichterung. Eine Katastrophe weniger, die sie zu stemmen hatte.
»Trotzdem«, sagte sie. »Es tut mir leid. Wir ... ich ...«
»Du kannst mich zur Beerdigung begleiten.«
»Das mache ich gerne.« Sie wirkte dankbar. »Sag mir nur früh genug Bescheid. Du weißt ja, wie das ist. Nicht, dass wieder was dazwischenkommt.«
Sie drehte sich zur Tür, doch dann zögerte sie. Offenbar fragte sie sich, ob es ihrem Vater wirklich so gut ging, wie er tat, und ob sie ihn hier allein zurücklassen konnte.
»Die Kinder«, sagte Carl. »Wir reden später.«
»Ja, natürlich. Mach's gut, Vater.«
Und dann war sie verschwunden. Carl lehnte sich wieder in seinen Sessel zurück.
Siegfried. Wie mochte es seiner Frau jetzt gehen? Renate und er hatten eine gute Ehe geführt, in all den Jahren. Jetzt blieb sie allein zurück. War es das wert gewesen? Für das bisschen Genugtuung, Dinge gerächt zu haben, die keinen Lebenden mehr betrafen? Ach, Siegfried.
Carl war so schrecklich erschöpft. Er wollte sich ausruhen, ein wenig schlafen. Danach wäre immer noch genügend Zeit, in Ruhe von Siegfried Abschied zu nehmen.
Hambrock ließ seinen Wagen bei Schulte-Stein in der Auffahrt stehen und stieg bei Henrik Keller ein. Er schlug die Beifahrertür zu und schnupperte.
»Hat dir keiner gesagt, dass man im Dienstwagen nicht rauchen darf?«
Keller startete den Motor. »Ich hab nicht geraucht. Nur am offenen Fenster.«
»Der Typ im Fuhrpark wird dich umbringen.«
»Meine Güte, der soll sich nicht so anstellen!« Keller wurde laut. »Dann ist eben ein bisschen Rauch reingezogen. Denkt der, er muss den Wagen jetzt verschrotten? Morgen riecht man eh nichts mehr davon.«
»Ganz wie du meinst, Henrik. Aber in meinem Wagen wird nicht geraucht, nur damit das klar ist.«
Keller grunzte missmutig und fuhr vom Hof. Sie machten sich auf den Weg zu Renate Wüllenhues, der Ehefrau des toten Brandstifters. Bei Schulte-Stein herrschte Entsetzen über die Tat. Keiner konnte sich erklären, weshalb Siegfried Wüllenhues den Hofherrn hätte umbringen wollen. Es hatte zwar immer wieder Streit gegeben zwischen den beiden Familien, sicher, aber das sei schon seit Generationen so. Und keine dieser Differenzen sei so schwerwiegend gewesen, dass sich damit ein Mord erklären ließ.
Eine Familienfehde also.
»Da vorne muss es sein«, sagte Hambrock. »Der kleine Hof auf der Anhöhe.«
Keller setzte den Blinker und fuhr auf den schmalen Weg, der am Feld entlang zu dem abgelegenen Hof führte.
Hambrocks Handy machte sich bemerkbar. Er zog es hervor und sah aufs Display. Es war seine Mutter. Sie meldete sich aus dem Krankenhaus. Er zögerte. War etwas passiert? Gab es vielleicht Neuigkeiten? Oder wollte sie nur ihre Ängste mit ihm teilen?
Das Klingeln wurde lauter. Hambrock sollte rangehen. Doch er konnte nicht. Nicht jetzt. Er drückte auf lautlos, und der Klingelton verstummte. Die Mailbox würde gleich anspringen. Seine Mutter wusste ja, dass er gerade arbeitete. Da konnte er oft Gespräche nicht entgegennehmen. Eine Besprechung. Oder eine Zeugenbefragung. Da war es ganz normal, keine Zeit zu haben.
Auf dem Hof empfing sie ein Hundebellen. Ein Schäferhundmischling kam aus der offenen Scheune gelaufen und sprang angriffslustig ums Auto herum. Keller parkte neben der Stallwand und wartete.
Keiner kam, um den Hund zurückzupfeifen. Im Haus blieb alles ruhig. Vorsichtig öffnete Keller die Fahrertür und redete auf den Hund ein. Und tatsächlich, schon bald ließ das Bellen nach, und ein Schwanzwedeln folgte. Keller trat hinaus auf den Hof.
»Sieh an, der Hundeflüsterer«, kommentierte Hambrock.
Sie gingen zum Wohnhaus und klingelten. Es dauerte, doch schließlich wurde ihnen geöffnet.
Originalausgabe Juli 2012 © 2012 Piper Verlag GmbH, München
Er biss die Zähne zusammen. Vorsichtig griff er nach dem Kanister und schraubte den Verschluss ab. Benzindämpfe stiegen auf. Seine Bewegungen waren langsam und qualvoll. Er goss Benzin über die Werkbank und den Teppich und schließlich auch über die Leiche am Boden. Dann spritzte er Flüssigkeit gegen die Wände und zog mit dem letzten Rest Benzin eine Spur hinaus auf den Hof. Mit einem Seufzer stellte er den leeren Kanister ab. Wenn dies alles vorüber war, wollte er sich in seinen weichen Sessel an die Heizung setzen. In der Zeitung lesen und dabei die Wärme genießen.
Zurück in der Werkstatt warf er einen letzten Blick auf den Toten. Alfons war ein alter Mann. Wie er selbst, wie sie alle.
Die Benzindämpfe nahmen ihm den Atem. Besser, er hielt sich nicht zu lange hier drinnen auf. Vorsichtig trat er zurück in die frostige Luft. Er atmete ein paarmal durch. Kleine Wölkchen bildeten sich vor seinem Gesicht. Plötzlich spürte er ein Ziehen in seiner Brust. Was war das nur wieder?
Er zog ein Streichholzbriefchen aus seiner Jackentasche. Gleich das erste Zündholz setzte die Werkstatt in Brand. Der benzingetränkte Raum brannte lichterloh. Flammen züngelten gierig an den morschen Holzbalken, eine kleine Scheibe explodierte in der Hitze. Siegfried Wüllenhues trat einen Schritt zurück. Er wollte die Flammen nicht sehen. Er hasste das Feuer, es war schon immer so gewesen. Außerdem wäre es ratsam zu verschwinden, bevor ihn einer entdeckte. Doch das Ziehen in seiner Brust kehrte zurück. Es wurde stärker. Auf einmal konnte er sich kaum noch bewegen. Er krümmte sich, griff mit den Händen nach seiner Brust, rang nach Luft. Was passierte mit ihm? Was war nur los?
Er sackte auf dem Boden zusammen. Die Erde war von pelzigem Raureif überzogen. Er spürte die kalten Kristalle an seinem Gesicht. Das Herz. Es musste sein Herz sein. Was immer hier passierte, das war nicht das Rheuma.
Brandgeruch stieg ihm in die Nase. Die Schmerzen wurden übergroß. Er war jetzt im Keller. Natürlich. Alles kam zurück. Die lodernden Flammen, das Heulen der Sirenen, die Geräusche der Flugzeuge. Er war ein kleiner Junge, stumm und ängstlich, und um ihn herum brach die Hölle aus. Über ihm das Pfeifen der Bomben und der brechende Beton. Alles war erfüllt vom beißenden Qualm und dem Geruch von Feuer.
Er bekam keine Luft mehr. Die Schmerzen in der Brust raubten ihm den Atem. Die Angst war ihm so vertraut, immer noch, nach all den Jahren. Er hatte sie nie vergessen. Es war die nackte Todesangst.
Er versuchte, in der Gegenwart zu bleiben. Das war nur Alfons' Werkstatt, die dort brannte. Doch es war zu spät. Menschen schrien. Das Haus über dem Keller war plötzlich fort. Feuer und Rauch. Kinder mit grauen Gesichtern und leblosen Blicken. Eine Frau, die im glühenden Asphalt versank, eine lebende Fackel. Die stinkende Wanne mit schwarzem schlammigem Wasser, in das er wieder und wieder getaucht wurde. Der Lärm, die Schreie, der beißende Qualm.
Er hatte diesen Keller nie verlassen, natürlich nicht. Sein ganzes Leben war er dort unten gewesen. Er hatte die ganze Zeit über dort gehockt und ängstlich auf den Tod gewartet. Auf Erlösung. Und jetzt, endlich, war es so weit.
Er durfte sterben.
Am Rande der Wiese stand die rauchende Ruine. Das Feuer war gelöscht, doch viel war nicht übrig geblieben von dem kleinen Wirtschaftsgebäude. Der Notarztwagen versperrte den Weg. Auch die Spurensicherung war schon eingetroffen.
Bernhard Hambrock parkte seinen Dienstwagen unter den hohen Tannen am Wegesrand. Er sah zum Haupthaus hinüber. Ein prächtiger Barockbau, der über zwei Etagen reichte und aus roten Ziegeln und Sandstein erbaut war. Tiefgrüne Blendläden, uralte Sprossenfenster und eine herrschaftliche Freitreppe. Es war das Wohnhaus der Familie Schulte-Stein. Nichts bewegte sich dort. Die Fenster waren wie blinde Spiegel, die Türen alle samt verschlossen. Ein Glockenschlag ertönte. Die Turmuhr über der alten Scheune schlug zur Viertelstunde.
Hambrock öffnete die Tür und verließ den Wagen. Feuchte, diesige Luft schlug ihm entgegen. Am Morgen hatte er noch staunend am Fenster gestanden - der Raureif hatte alles weiß gefärbt und eine wunderschöne Winterlandschaft herbeigezaubert. Doch inzwischen waren die Temperaturen gestiegen, und es lag wieder Feuchtigkeit in der Luft. Der Himmel war wie eine milchige Wand.
Er beobachtete die Feuerwehrleute, die rund um den Löschzug mit Aufräumarbeiten begannen. Es herrschte Betriebsamkeit. Dann entdeckte er Henrik Keller, den Neuzugang im Präsidium, der seit ein paar Tagen in seiner Gruppe arbeitete. Er war an die Stelle von Heike Holthausen gerückt, die jetzt in Elternzeit war und anschließend in eine andere Abteilung wechseln würde. Hambrock hatte sich noch nicht näher mit Keller befasst, was wahrscheinlich unhöflich war, aber Heikes Abgang drückte schwer auf sein Gemüt, und deshalb interessierte ihn der Neue nicht sonderlich.
Keller war um die fünfzig. Sein genaues Alter hatte natürlich in den Unterlagen gestanden, aber Hambrock hatte es wieder vergessen. Er trug eine abgenutzte Jeansjacke, was ihm zusammen mit den gegelten Haaren, dem Goldkettchen und dem ungepflegten Dreitagebart das Aussehen eines drittklassigen Zuhälters verlieh. Zumindest im Kampf gegen die Pfunde war er wesentlich erfolgreicher als Hambrock.
Keller rauchte Kette, Marlboro. Als wolle er sich durch die Wahl der Marke jeden Tag selbst vor Augen führen, wie blödsinnig es ist, dieser Sucht nachzugehen. Jedenfalls lagen jetzt überall im Büro leere Marlboroschachteln herum, mit großen Warnhinweisen zur Gesundheitsgefährdung. Im Präsidium herrschte natürlich striktes Rauchverbot. Aber als Hambrock gestern den Waschraum betreten hatte, hätte er schwören können, dass Zigarettenqualm in der Luft lag.
Keller stand bei einem Kollegen der Spurensicherung und redete gut gelaunt auf ihn ein. Dabei hielt er mit der Linken die obligatorische brennende Zigarette, während er mit der Rechten seine Marlboroschachtel knetete. Hambrock sehnte sich Heike zurück.
In dem Moment entdeckte Keller ihn, schlug dem Spurentechniker freundschaftlich auf die Schulter und näherte sich mit großen Schritten.
»Bernhard!«, rief er. »Da bist du ja!«
»Nur meine Frau nennt mich so.«
Im Präsidium sprachen ihn alle mit Nachnamen an, egal, ob sie ihn duzten oder nicht. »Ach, wirklich?« Keller grinste breit. Das schien ihm zu gefallen. »Vergiss es, Henrik. Das habe ich nicht gemeint, als ich dir das Du angeboten habe.«
»Ist ja gut. Schon kapiert.«
Hambrock blickte sich um. »Was gibt es?«
»Zwei Tote.«
»Zwei?«
Bislang war nur von einem Toten die Rede gewesen. Ein kleines Wirtschaftsgebäude war in Brand gesteckt worden, und den mutmaßlichen Brandstifter hatte man vor dem Gebäude tot aufgefunden.
»Einer war noch im Innern. Wie's aussieht, der Hofbesitzer. Alfons Schulte-Stein. Er wird jedenfalls vermisst. Das Häuschen hier war seine Korbwerkstatt, und er hat immer sehr früh morgens mit der Arbeit angefangen.«
Keller nahm einen letzten Zug von der niedergebrannten Zigarette. Der Filter begann zu qualmen, und giftiger Rauch stieg auf. Er blickte sich um und ließ die Kippe einfach zu Boden fallen, wo sie keine Spuren hinterlassen würde. Dort trat er sie aus.
Hambrock blickte zum Herrenhaus hinüber. Hinter den Fenstern war nichts zu erkennen. Trotzdem hatte er den Eindruck, als würde das Haus sie beobachten. Keller folgte seinem Blick.
»Sein Sohn und dessen Familie sind im Wohnhaus. Sie warten auf uns. Natürlich sind sie alle ziemlich beunruhigt.«
»Was haben wir bislang?«
»Na ja. Viel kann man noch nicht sagen.« Keller fummelte eine weitere Zigarette aus der verbeulten Schachtel und zündete sie an. »Wie's aussieht, wurde Brandbeschleuniger verwendet. Wir haben jedenfalls einen leeren Benzinkanister bei der Leiche gefunden. Der Tote hier draußen wurde als Siegfried Wüllenhues identifiziert. Ein Bauer aus der Umgebung. Sein Hof liegt ein paar Hundert Meter in Richtung Ortskern. Bei ihm deutet nichts auf Fremdverschulden hin. Der Notarzt vermutet einen Herzinfarkt, aber da müssen wir die Obduktion abwarten.«
»Wo ist die Leiche?«
Keller deutete zum Krankenwagen. »Sie haben versucht zu reanimieren, aber es war wohl schon zu spät. Willst du ihn sehen?«
»Nein.«
Keine Leichen.
Nicht im Moment jedenfalls. Dafür fühlte er sich nicht stark genug. Der Tod war in seinem Leben gerade so allgegenwärtig, dass er sich in diesen Tagen wünschte, er hätte einen anderen Beruf. Nur für ein paar Wochen, bis alles vorüber war.
Gestern hatte er sich schon wieder davor gedrückt, ins Krankenhaus zu gehen. Deshalb würde er heute hinmüssen. Nur für eine Stunde, es ging nicht anders. Er würde sich am Nachmittag aus dem Präsidium schleichen. Er hatte keine andere Wahl.
»Und das Brandopfer?«, fragte er. »Liegt noch in den Ruinen. Die Spurenleute wollen gleich rein. Heute Nachmittag wissen wir mehr.«
Hambrock betrachtete die rauchenden Trümmer. Er fragte sich, was mit ihm los war. Er kannte sich aus mit dem Tod und dem Sterben. Das gehörte schließlich zu seinem Job. Doch wenn er an seine Eltern dachte, die im Aufenthaltsraum des Krankenhauses hockten, war alle Gewohnheit verflogen. Es war, als trennte sie eine unsichtbare Wand. Er konnte seinen Verwandten keinen Trost spenden. Sie waren viel zu weit entfernt.
Und bald war Weihnachten. Was würde dann sein? Würden sie feiern? Und wenn ja, alle zusammen?
Er schob den Gedanken zur Seite und wandte sich in Richtung Herrenhaus. »Also gut. Sprechen wir mit den Angehörigen. «
Ein paar Hundert Meter entfernt stand ein alter Bauer einsam an seinem Küchenfenster und blickte hinaus. Jenseits des brachliegenden Landes war das Anwesen von Schulte-Stein zu sehen. Auch die rauchende Ruine der alten Schmiede, in der Alfons seine Korbwerkstatt eingerichtet hatte, war zu erkennen. Feuerwehr und Notarztwagen waren bereits vor einiger Zeit dort vorgefahren. Nun kamen Streifenwagen hinzu und zivile Autos, die sicherlich zu den Leuten von der Kriminalpolizei gehörten.
Er fragte sich, wie lange es dauern würde, bis sie hier auftauchten und Fragen stellten.
Hinter ihm öffnete sich die Küchentür. Ein leises Stöhnen, dann die vertrauten Geräusche des Rollstuhls, der umständlich über die Schwelle bugsiert wurde. Seine Tochter verschaffte sich Zutritt.
Sie war also fertig. Noch schaffte sie es, sich morgens alleine anzukleiden, auch wenn das manchmal ewig zu dauern schien. Doch wie lange noch? Und was wäre, wenn ihre Kräfte weiter nachließen? Würde dann der Pflegedienst jeden Morgen kommen und sich um sie kümmern?
»Guten Morgen, Vater.« Sie rollte einen Meter auf ihn zu. »Ist etwas passiert? Ich habe ein Martinshorn gehört.« Er wandte sich unwillig vom Fenster ab. »Nein. Es ist alles in Ordnung.«
»Aber da war Brandgeruch in der Luft. Ich habe ...«
»Es ist alles in Ordnung«, herrschte er sie an.
Verwundert und wohl auch etwas verletzt blickte sie zu ihm auf. Dann nickte sie, als habe sie keine Einwände, wendete den Rollstuhl und verschwand wieder.
Kaum war sie fort, ging er in den Flur, nahm seinen Mantel vom Haken und warf ihn sich über. Draußen empfing ihn kühle feuchte Luft. Er nahm den Feldweg, obwohl der voller schlammiger Pfützen war. Auf der Landstraße wäre er ohne Zweifel ins Visier der Polizei geraten. Hinter einer Reihe von Nusssträuchern trat er schließlich auf den Nachbarhof. Er ging auf die Haustür zu und hämmerte dagegen.
Es dauerte, doch dann öffnete ihm sein Nachbar. Sorge verdunkelte sein Gesicht. Sie standen sich eine Weile schweigend gegenüber. Dann nannte der Besucher den Grund für sein Kommen: »Es ist so weit. Sie sind da.«
2
Es herrschte vollkommene Ruhe. Da waren nur sein Atem zu hören und das leise Knacken im Heizkörper. Sonst nichts. Frieden. Carl Beeke blickte hinaus auf die Winterlandschaft jenseits der Fensterfront. Sie lebten am Ortsrand, und das große Wohnzimmerfenster wies hinaus zu den Wiesen und Wäldern, die Düstermühle umgaben. Beinahe war es wie früher, als er noch auf seinem Kotten gelebt hatte. Aber natürlich nur beinahe.
Carl spürte die Kälte in seinen Knochen. Dagegen konnte weder die Heizung noch der warme Sessel etwas ausrichten. Es war eine Kälte, die nur wenig mit dem Winter zu tun hatte. Und da war noch etwas anderes: Er war müde, furchtbar müde, seit Langem schon. Er spürte die Nähe von Mia, seiner verstorbenen Frau. Es würde nicht mehr lange dauern, dann wären sie wieder vereint. Das war nur noch eine Frage der Zeit, und im Grunde sah er dem freudig entgegen.
Vor der Fensterfront verlief ein kleiner Bach, die Düster, die dem Ort seinen Namen gegeben hatte. Doch das Wasser schien sich heute gar nicht zu bewegen, es staute sich zwischen den Kopfweiden. Über dem Ufer hing immer noch der Dunst der frühen Morgenstunden.
Das Telefon riss Carl aus der Betrachtung. Es stand auf einem Hocker neben seinem Sessel, damit er sich nicht mühsam erheben und durch den Raum gehen musste. Er nahm das Gerät aus der Halterung und versuchte die Taste auszumachen, die er drücken musste, um ein Gespräch entgegenzunehmen. Seine Augen. Sie ließen ihn zunehmend im Stich. Schließlich gelang es ihm.
»Carl, hier ist Inge. Hast du schon gehört, was geschehen ist?«
Inge Moorkamp betrieb mit ihrem Mann die Gastwirtschaft am Ortsausgang. Wobei das nicht ganz stimmte, denn Inge und Heinz waren schon seit Jahren im Ruhestand. Inzwischen führte ihr ältester Sohn die Wirtschaft, gemeinsam mit seiner Frau. Er hatte ein modernes Ausflugslokal daraus gemacht mit einer exklusiveren Speisekarte, einem Biergarten mit bunten Sonnenschirmen und einer kleinen Brauerei, in der er sein eigenes Bier braute: Moorkamps dunkel. Carl, der anfangs den vielen Änderungen skeptisch gegenübergestanden hatte, war vor allem von dem neuen Bier überzeugt gewesen. Es schmeckte herzhaft und süffig, ganz anders als die im Geschmack vereinheitlichten Biere der Großbrauereien.
Die alten Männer aus Düstermühle trafen sich jeden Sonntag nach dem Hochamt in Moorkamps Kneipe zum Stammtisch. Für diesen Zweck wurde das Hinterzimmer frei gehalten, da es über einen eigenen Tresen verfügte und Heinz und Inge wieder am Zapfhahn stehen konnten, wie früher. Der Stammtisch wurde abgehalten, seit sie alle junge Leute gewesen waren, weshalb sie großen Wert auf diese Tradition legten.
Seit Carl nicht mehr auf seinem Kotten lebte, sondern im Haus seiner Tochter, war er abgeschnitten von den Gesprächen der Bauern. Inge hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, ihn ab und zu telefonisch auf dem Laufenden zu halten. Damit er sich nicht zu einsam fühlte im Neubaugebiet. Heute klang ihre Stimme jedoch aufgeregt. Es war etwas Schlimmes passiert, das hörte Carl sofort.
»Alfons Schulte-Stein ist tot, das sagt man jedenfalls.«
»Alfons?« Das war allerdings eine Überraschung. Alfons war noch ziemlich rüstig gewesen. Carl hätte geschworen, dass er mindestens hundert Jahre werden und noch ausreichend Zeit haben würde, um seinen Sohn und den Rest der Familie in den Wahnsinn zu treiben. Er war doch kerngesund gewesen. »Wer sagt denn das? Ist es vielleicht nur ein Gerücht?«
»Nein, du verstehst das falsch. Es hat einen Brand gegeben. In der alten Schmiede, in seiner Werkstatt. Man hat die Leiche noch nicht identifiziert, aber wer soll das sonst gewesen sein? Er hat an seinen Körben gearbeitet, als das Feuer ausgebrochen ist.«
»Er ist im Feuer umgekommen? In seiner Schmiede? Du liebe Güte. Der Himmel weiß, er war ein schwieriger Mann, aber solch einen Tod wünscht man keinem. Gott hab ihn selig.«
»Das ist nicht alles, Carl. Es ist ...« Sie stockte.
»Was ist noch passiert, Inge?«
»Siegfried. Der soll das gewesen sein. Der soll das Feuer gelegt haben.« »Siegfried? Unmöglich. Das muss ein Missverständnis sein. Hat er schon mit der Polizei gesprochen?«
»Nein. Er ... er ist tot. Er ... die Leute sagen, er hat einen Herzinfarkt bekommen, vor der Schmiede. Nachdem er das Feuer gelegt hat, in dem Alfons umgekommen ist.«
»Siegfried ist tot?« Carl blickte hinaus auf die erstarrte Winterlandschaft.
»Ja«, sagte Inge. »Unser Siegfried. Es ist so furchtbar.«
Ein weiterer Wegbegleiter. Ein weiterer Freund. Wie viele noch? Wäre nicht längst er selbst an der Reihe gewesen? »Kannst du das glauben?«, fuhr Inge fort. »Dass Siegfried Alfons getötet hat? Unser Siegfried?«
Sie war völlig verstört, und er konnte es ihr nachfühlen. Trotzdem musste er jetzt nachdenken. Alleine sein. Er beendete das Gespräch so behutsam, wie es ihm möglich war. Schließlich versprach er ihr, sich bald wieder zu melden, und legte auf.
Er ließ sich in einen Sessel sinken. Siegfried war erst zweiundsiebzig gewesen, siebzehn Jahre jünger als Carl. Du alter Knochen, hatte er zu Carl gesagt, wenn ihm etwas nicht gepasst hatte. Seit wann ging das so, dass auch die Jungen starben? Die, die seinen Sarg hätten tragen sollen.
Es war die Geschichte seines Lebens. Immer war er derjenige gewesen, der überlebte. Im Krieg, in der Gefangenschaft und auch danach. Selbst heute war es so. Er überlebte. Und er war allein. Ach, Siegfried, dachte er wehmütig. War das wirklich nötig gewesen? Diese alten Geschichten. Sie spielen doch längst keine Rolle mehr. Musstest du wirklich Rache üben, nach all den Jahren? Wem war damit Genüge getan?
Ein Schlüssel in der Haustür, dann Geräusche im Flur. Ein Mantel wurde auf die Garderobe geworfen, eine Tasche in die Ecke gepfeffert, eiliges Umherstöckeln auf viel zu hohen Schuhen. Seine Tochter Christa war heimgekehrt. Sie hatte irgendein Meeting gehabt bei einem Kunden. Oder vielleicht war es auch eine Schulung gewesen, Carl verstand nicht viel von ihrer Arbeit. Sie hatte etwas mit Computern zu tun. Wenn er gefragt wurde, was seine Tochter arbeite, wusste er nie, ob sie nun eine Vertreterin war oder eine Computerspezialistin. Sie verkaufte Buchhaltungssoftware für mittelständische Unternehmen. Eine Vertreterin also. Aber dann fiel immer wieder das Wort »Fernwartung«, und sie verschwand nächtelang im Keller, wo sie sich ihr Büro eingerichtet hatte. Und obwohl sie zu Hause war, musste er nach den Kindern sehen und sich um alles kümmern.
Christa arbeitete zu viel. Sie stand immer unter Strom, war ständig gehetzt. Seit ihr Exmann nach der Scheidung ins Ausland gegangen war, ernährte sie die Familie allein. Carl konnte damit seiner kleinen Rente nicht viel beisteuern. Daher versuchte er, sie zu unterstützen, so gut es ging, indem er ihr den Rücken freihielt.
»Hallo«, sagte sie und streckte den Kopf durch die Tür. »Hat Sandra Lütke schon angerufen? Ich sollte die Kinder vor über einer Stunde abholen, aber ich bin einfach nicht weggekommen. «
»Nein. Noch nicht.«
»Dann zieh ich mich schnell um und fahr los. Das war mal wieder typisch Chef: Von Buchhaltung keine Ahnung, aber muss sich in alles einmischen. Und ich sitz auf heißen Kohlen. «
Sie verschwand im Flur. Carl hörte, wie die hochhackigen Schuhe in die Ecke flogen und Christa auf Strümpfen die Treppe hochlief.
Siegfried. Er war sie offenbar nie losgeworden, die Geister der Vergangenheit. Davon hatte Carl nichts geahnt. Aber man konnte den Menschen eben nur bis vor den Kopf sehen. Das galt auch für Freunde. Wer wusste schon, was in dem anderen vorging? Carl sah hinaus zu den Feldern. Er spürte den Verlust. Die Welt löste sich zunehmend auf.
Er hörte Christa draußen auf dem Flur telefonieren. »Ich kann mir schon vorstellen, wo das Problem liegt. Lassen Sie alles so, wie es ist. Ich bringe das in Ordnung, versprochen. Aber jetzt habe ich einen dringenden Termin. Ich werde mich heute Abend darum kümmern. Morgen früh wird das Programm wieder reibungslos laufen.«
Also eine weitere Nacht im Keller, dachte Carl. Dann würde er heute wieder die Kinder ins Bett schicken und darauf achten müssen, dass sie nicht heimlich fernsahen.
Er schloss die Augen. Vielleicht war er für einen Moment weggenickt, denn als Christa plötzlich neben ihm stand, hatte er sie gar nicht kommen hören. Sie blickte ihn erschrocken an.
»Hast du das gehört? Das mit Siegfried Wüllenhues? Sandra Lütke hat es mir gerade am Telefon erzählt. Ich wollte ihr nur kurz Bescheid sagen, dass ich unterwegs bin.«
Er nickte. »Inge Moorkamp hat mich vorhin angerufen.«
»Ach, das tut mir so leid. Er war doch ein Freund von dir, oder?« Christa wirkte abgekämpft und blass. Das war die viele Arbeit. Und jetzt warteten auch noch die Kinder.
»Nein«, sagte er. »Kein Freund, nur ein Bekannter. Er ist jeden Sonntag zum Stammtisch bei Moorkamp gegangen, aber das tun viele. Besonders gut habe ich ihn nicht gekannt.«
Er sah ihre Erleichterung. Eine Katastrophe weniger, die sie zu stemmen hatte.
»Trotzdem«, sagte sie. »Es tut mir leid. Wir ... ich ...«
»Du kannst mich zur Beerdigung begleiten.«
»Das mache ich gerne.« Sie wirkte dankbar. »Sag mir nur früh genug Bescheid. Du weißt ja, wie das ist. Nicht, dass wieder was dazwischenkommt.«
Sie drehte sich zur Tür, doch dann zögerte sie. Offenbar fragte sie sich, ob es ihrem Vater wirklich so gut ging, wie er tat, und ob sie ihn hier allein zurücklassen konnte.
»Die Kinder«, sagte Carl. »Wir reden später.«
»Ja, natürlich. Mach's gut, Vater.«
Und dann war sie verschwunden. Carl lehnte sich wieder in seinen Sessel zurück.
Siegfried. Wie mochte es seiner Frau jetzt gehen? Renate und er hatten eine gute Ehe geführt, in all den Jahren. Jetzt blieb sie allein zurück. War es das wert gewesen? Für das bisschen Genugtuung, Dinge gerächt zu haben, die keinen Lebenden mehr betrafen? Ach, Siegfried.
Carl war so schrecklich erschöpft. Er wollte sich ausruhen, ein wenig schlafen. Danach wäre immer noch genügend Zeit, in Ruhe von Siegfried Abschied zu nehmen.
Hambrock ließ seinen Wagen bei Schulte-Stein in der Auffahrt stehen und stieg bei Henrik Keller ein. Er schlug die Beifahrertür zu und schnupperte.
»Hat dir keiner gesagt, dass man im Dienstwagen nicht rauchen darf?«
Keller startete den Motor. »Ich hab nicht geraucht. Nur am offenen Fenster.«
»Der Typ im Fuhrpark wird dich umbringen.«
»Meine Güte, der soll sich nicht so anstellen!« Keller wurde laut. »Dann ist eben ein bisschen Rauch reingezogen. Denkt der, er muss den Wagen jetzt verschrotten? Morgen riecht man eh nichts mehr davon.«
»Ganz wie du meinst, Henrik. Aber in meinem Wagen wird nicht geraucht, nur damit das klar ist.«
Keller grunzte missmutig und fuhr vom Hof. Sie machten sich auf den Weg zu Renate Wüllenhues, der Ehefrau des toten Brandstifters. Bei Schulte-Stein herrschte Entsetzen über die Tat. Keiner konnte sich erklären, weshalb Siegfried Wüllenhues den Hofherrn hätte umbringen wollen. Es hatte zwar immer wieder Streit gegeben zwischen den beiden Familien, sicher, aber das sei schon seit Generationen so. Und keine dieser Differenzen sei so schwerwiegend gewesen, dass sich damit ein Mord erklären ließ.
Eine Familienfehde also.
»Da vorne muss es sein«, sagte Hambrock. »Der kleine Hof auf der Anhöhe.«
Keller setzte den Blinker und fuhr auf den schmalen Weg, der am Feld entlang zu dem abgelegenen Hof führte.
Hambrocks Handy machte sich bemerkbar. Er zog es hervor und sah aufs Display. Es war seine Mutter. Sie meldete sich aus dem Krankenhaus. Er zögerte. War etwas passiert? Gab es vielleicht Neuigkeiten? Oder wollte sie nur ihre Ängste mit ihm teilen?
Das Klingeln wurde lauter. Hambrock sollte rangehen. Doch er konnte nicht. Nicht jetzt. Er drückte auf lautlos, und der Klingelton verstummte. Die Mailbox würde gleich anspringen. Seine Mutter wusste ja, dass er gerade arbeitete. Da konnte er oft Gespräche nicht entgegennehmen. Eine Besprechung. Oder eine Zeugenbefragung. Da war es ganz normal, keine Zeit zu haben.
Auf dem Hof empfing sie ein Hundebellen. Ein Schäferhundmischling kam aus der offenen Scheune gelaufen und sprang angriffslustig ums Auto herum. Keller parkte neben der Stallwand und wartete.
Keiner kam, um den Hund zurückzupfeifen. Im Haus blieb alles ruhig. Vorsichtig öffnete Keller die Fahrertür und redete auf den Hund ein. Und tatsächlich, schon bald ließ das Bellen nach, und ein Schwanzwedeln folgte. Keller trat hinaus auf den Hof.
»Sieh an, der Hundeflüsterer«, kommentierte Hambrock.
Sie gingen zum Wohnhaus und klingelten. Es dauerte, doch schließlich wurde ihnen geöffnet.
Originalausgabe Juli 2012 © 2012 Piper Verlag GmbH, München
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Autoren-Porträt von Stefan Holtkötter
Stefan Holtkötter, geboren 1973 in Münster, wuchs auf einem Bauernhof in Westfalen auf. Er studierte Sozialpädagogik, war einige Jahre als Sozialarbeiter beim Jugendamt und in der Erwachsenenbildung tätig und lebt heute, neben seiner Tätigkeit als Motivationstrainer und Berater für Arbeitslose, als freier Autor in Berlin. Holtkötter hat schon zahlreiche Kriminalromane veröffentlicht, unter anderem die erfolgreiche Krimiserie um den Münsteraner Ermittler Bernhard Hambrock und die atmosphärische und temporeiche Reihe um den Berliner Kommissar Michael Schöne.
Bibliographische Angaben
- Autor: Stefan Holtkötter
- 6. Aufl., 320 Seiten, Maße: 12 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Piper
- ISBN-10: 3492272703
- ISBN-13: 9783492272704
- Erscheinungsdatum: 19.06.2012
Rezension zu „Düstermühle / Hauptkommissar Hambrock Bd.5 “
»Die Handlung ist vielschichtig, die Geschichte spannend und das Ende überraschend.« Wersekurier 20121121
Pressezitat
»Die Handlung ist vielschichtig, die Geschichte spannend und das Ende überraschend.« Wersekurier 20121121
Kommentar zu "Düstermühle / Hauptkommissar Hambrock Bd.5"
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