E-Mail ans Glück
Die alleinerziehende Mutter Charlie Simpson hat Chaos zuhause. Gerade eben ist ihr ältester Sohn ausgezogen, da zieht ihr Vater bei ihr ein. Und als würde das nicht reichen, zieht ihre beste Freundin weg. Prima. Um Kontakt zu halten, mailen sich...
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Produktinformationen zu „E-Mail ans Glück “
Die alleinerziehende Mutter Charlie Simpson hat Chaos zuhause. Gerade eben ist ihr ältester Sohn ausgezogen, da zieht ihr Vater bei ihr ein. Und als würde das nicht reichen, zieht ihre beste Freundin weg. Prima. Um Kontakt zu halten, mailen sich Charlie und ihre Freundin fleißig. Und so stößt Charlie im Internet auf einen interessanten Fremden - doch irgendwas ist seltsam.
Lese-Probe zu „E-Mail ans Glück “
E-Mail ans Glück von Lynne Barrett-Lee1
Viele Geschichten beginnen mit einem Trauma oder einer
Krise. Meine Geschichte fängt mit einem Modem an.
Ende September 2000. Donnerstagabend. So gegen acht.
Und noch dazu mit einem ausgesprochen hübschen Modem,
falls Sie zufällig eine Meinung über Modem-Ästhetik
haben. Dunkelgrau, niedliche, winzig kleine Lämpchen, der
übliche Verbindungskabelsalat, und ausgestattet mit solch
atemberaubender technologischer Hexerei, dass es mich,
wenn ich wollte, ganz zweifellos mit Alpha Centauri verbinden
könnte, und zwar mit der Schwindel erregenden Geschwindigkeit
von sechsundfünfzig KB. Ich nahm besagtes
Modem aus der Plastiktüte, aus dem Karton, aus der
Styropor-Umhüllung und aus einer weiteren (etwas kleineren
und optisch ansprechenderen) Plastiktüte und legte es
neben meine ältliche Yuccapalme auf den Schreibtisch.
»Endlich«, murmelte mein Sohn Ben und beäugte spöttisch
den leeren Karton. Er stieß das Wort zusammen mit
einem kleinen Seufzer aus, eine Äußerung, die, wie ich inzwischen
gelernt habe, bei einem Dreizehnjährigen einem
Begeisterungsausbruch Marke »Hey! Wow! Wahnsinn! Ich
freu mich ja so!« gleichkommt.
»Ja, endlich«, echote ich.
... mehr
Ich hatte mich schon die ganze Woche über ziemlich
mies und deprimiert gefühlt, und satte einhundertneunzehn
Pfund für einen Klumpen ebenso trister grauer Materie auszugeben,
entsprach nicht unbedingt meiner Vorstellung von
einer stimmungsaufhellenden Therapie. Eine Therapie wäre,
zum Beispiel, jene wadenlangen Stiefel bei Oasis gewesen.
Eine wirklich ernsthafte Therapie wären zwei Paar topmodischer
Stiefel gewesen. Aber - das sagte ich mir jedenfalls
zu dem Zeitpunkt - man sollte vielleicht auch noch diese
andere Art von Therapie berücksichtigen. Diejenige Therapie,
die einem hilft, sich besser zu fühlen, indem man nicht
an sich selbst denkt, sondern einem Menschen, den man
liebt, eine unerwartete Freude macht. Und so marschierte
ich an der Schuhabteilung vorbei und kaufte Ben stattdessen
sein Modem.
Er hatte mir ständig in den Ohren gelegen, dass er gerne
eines haben wollte, seit er alt genug gewesen war (drei?
noch im embryonalen Zustand?), um sich eines zu wünschen;
und nun, da sein älterer Bruder von zu Hause ausgezogen
war, hatte ich das Gefühl, dass Ben etwas Substanzielleres
brauchte als einhundertfünfzig alte Ausgaben von
Gamesmaster, um ebendiesen Bruder zu ersetzen. Kein Ersatz
von einer Art, die mit Brüllen, Kicken, Stoßen, Hektik
und gemeinschaftlicher Plackerei verbunden ist, sondern etwas,
womit er die Stunden ausfüllen konnte, die er und Dan
normalerweise mit einer Auswahl der oben genannten Aktivitäten
ausgefüllt hätten.
»Funktioniert es denn auch?«, fragte Ben, während er seinen
Rucksack ablegte und auf das Modem starrte. Er war
gerade vom Rugby-Training zurückgekehrt und roch wie
ein Komposthaufen.
»Natürlich funktioniert es«, erklärte ich und fühlte mich
plötzlich in die Defensive gedrängt, eine fast automatische
und wenig überraschende Reaktion. Aber das brachte die
Angelegenheit eben so mit sich.
Er blickte misstrauisch drein. »Heißt das, du hast einen
Server ausgesucht, eine E-Mail-Adresse registrieren lassen
und dich eingeloggt und so weiter?«
»Das heißt, dass ich es eingeschaltet habe - so, siehst
du? - und dass dabei eine Reihe von Lichtern aufleuchteten.«
Ben klatschte in die Hände, dann hockte er sich auf die
Armlehne meines Schreibtischstuhls. »Hervorragend!«,
sagte er und schaltete geschickt von unbeeindruckt zu gönnerhaft-
herablassend um.
»Und?«
»Und nichts. Ich habe das Ding ja gerade erst eingestöpselt.«
»Ja, ja«, erwiderte er und machte die Art von Bewegung
mit dem Hinterteil, die man nur seinem Nachwuchs ungestraft
durchgehen lässt, um mir zu verstehen zu geben, dass
es an diesem Punkt angebracht wäre, wenn ich den Drehstuhl
für ihn freimachte und mich bescheiden in den Hintergrund
verzog. »Dann bin ich ja gerade rechtzeitig nach
Hause gekommen. Hast du die CD reingeschoben?« Er
wühlte in dem Karton herum. »Ist sie hier drin?«
»Sie ist hier.«
»Okay, dann gib sie mir, Mum. Hast du Tee gemacht oder
so was?«
»Nein, noch nicht. Und, Ben, ich bin wirklich durchaus
in der Lage ...«
Woraufhin mein Sohn grinste. Auf seine frechste und
gönnerhafteste Art. »Na klar doch, Mum«, feixte er. »Klar
kannst du das, keine Frage. Aber es geht schneller, wenn
ich es mache. Wie wär's, wenn du jetzt Tee machen würdest?
«
Das ist natürlich immer ein Problem. Hin- und hergerissen,
wie ich war - und gewöhnlich bin -, in dem Kampf
zwischen den Forderungen des Mutterinstinkts (»Du meine
Güte! Was für ein ungeheuer cleverer Junge du doch bist! Es
ist wirklich unglaublich, als wie wundervoll und bahnbrechend
sich jeder deiner Gedanken entpuppt! Bitte beeindrucke
mich mit deinen überragenden geistigen Fähigkeiten,
mein Kind!«, usw.) und eines primitiveren Instinkts (»Hör
zu, du pubertierende Rotznase, was glaubst du eigentlich,
wer damals deinen blöden Baby-Monitor neu verkabelt hat,
als dein Vater das Ding kurzgeschlossen hatte, hä? Hä?«),
gewann Ersteres natürlich die Oberhand über Letzteres.
Das ist genau das, was wir Mütter tun, nicht wahr? Wir
fördern mit unserem Verhalten gerade die Art von toxischer
männlicher Arroganz, die wir bei Männern doch eigentlich
so verabscheuen. Oder tue nur ich das?
Natürlich würde es schneller gehen, wenn Ben es machte.
Außerdem könnte Ben dann stolz darauf sein, dass es
schneller ging, eben weil er die Dinge in die Hand nahm.
Und außerdem würde es Ben Spaß machen, sich damit zu
beschäftigen. Und mir nicht.
Obwohl es mir aber ganz sicherlich Spaß machen könnte.
Was hier der Kernpunkt ist.
Die Wahrheit ist nämlich, dass das abgegriffene Klischee
von der Technophobie von Frauen über dreißig genau das
ist - ein abgegriffenes Klischee. Ein zum Aussterben verurteiltes
Klischee. Tatsächlich ist es noch nicht einmal ein Klischee,
sondern eine gemeine Unwahrheit. Es stimmt ganz
einfach nicht, dass Frauen eine ausgeprägte Abneigung gegen
die Technologie haben. Frauen sind überhaupt nicht
technophobisch. (Man denke nur an Waschmaschinenprogramme.)
Die meisten Frauen sind nur nicht technologiebesessen,
das ist alles. Und auch noch völlig zu Recht. Ja, ja,
ja, ich weiß. Es gab das Raumfahrtprogramm und die Erfin-
dung von Teflon und so weiter. Aber hat sich die Antihaftbeschichtung
etwa als die revolutionäre Entwicklung erwiesen,
kochkunstmäßig gesehen? Haben wir seit Teflon nicht
stattdessen Le Creuset in die Arme geschlossen? Haben wir
seit Teflon nicht Sushi und Pommes entdeckt? Antihaftbeschichtete
Pfannen und Töpfe zu besitzen scheint wirklich
keine besonders großartige Sache zu sein. Mit Teflon bringt
man vielleicht luftig-lockere Spiegeleier zu Stande, aber
es macht einen ganz sicherlich nicht auf die Schnelle zum
Meisterkoch.
Mir scheint, dass man alles, was einem in der Werbung
so vollmundig und überschwänglich angepriesen wird und
was einen unablässig nervende Jugendliche zu kaufen drängen,
mit einer gehörigen Portion Skepsis betrachten sollte,
jedenfalls was das Versprechen der Verbesserung der Lebensqualität
angeht. Mit anderen Worten: Erwarten Sie
viel im Hinblick auf raffinierte Reklametricks, komplizierte
technische Anweisungen, finanziellen Schock-Horror, die
Anzahl der benötigten Steckdosen usw. Aber erwarten Sie
nicht, dass das Produkt entscheidend zur Verbesserung Ihrer
Lebensqualität beiträgt. Eher so wie Channel Five, so
scheint es mir.
Ich muss allerdings zugeben, dass ich die Vorteile des Internets,
nachwuchsmäßig betrachtet, durchaus erkennen
kann. Ich kann sehen, dass auch ich dadurch in der Lage
sein werde, mit Daniel zu kommunizieren, und zwar ohne
einen ermahnenden/bittenden Ton anschlagen und/oder
Pseudoentschuldigungen vorbringen zu müssen. Außerdem
werde ich die kleine, aber wichtige Chance haben, dass
mein Sohn auf meine Nachricht auch antwortet. Und ferner
könnte ich, falls mich am Wochenende die Langeweile
überkommt, Internet-Shopping betreiben und nach antiken
Wiegen oder was auch immer suchen. Wenn ich Lust dazu
haben sollte.
Wahrscheinlich werde ich die eher nicht haben, da bin
ich mir ziemlich sicher, aber ich bin auch so durchaus zufrieden.
2
Weil ich nämlich wirklich eine Menge habe, wofür ich dankbar
sein muss. Ich bin bei guter Gesundheit; ich habe noch
immer einen Sohn zu Hause, den ich mit sklavischer Ergebenheit
umsorgen kann; ich besitze eine ansehnliche Doppelhaushälfte
mit drei Schlafzimmern und sehr schönen,
sehr sauberen, sehr wünschenswerten neuen Kunststofffenstern
(der Beitrag meines Vaters, seit er bei uns eingezogen
ist - Gott segne ihn); ich habe einen fast unerschöpflichen
Vorrat an Marmelade und Chutney (ein weiterer Beitrag
meines Dads - das Urteil der Gourmet-Jury steht allerdings
noch aus); ich habe einen Job, der mir Geld einbringt (wenn
auch keine intellektuelle Befriedigung), und ich weiß, wie
man E-Mails verschickt. (Muss aber noch ein paar geeignete
Leute finden, denen ich E-Mails schicken kann.)
Und außerdem habe ich in der Zwischenzeit eine Nachricht
von Daniel bekommen. Allerdings nicht, wie es der
Zufall so will, als Antwort auf die E-Mail, die ich ihm geschickt
hatte, sondern in Form einer Postkarte. Vom Fischtresen
bei Harrods. Harrods? Fischtresen? Dan?
Hi, Mum,
hier ist alles in Ordnung. Hoffe, es geht euch allen
gut. Habe heute einen mörderischen Kater, weil wir
gestern Abend auf dem Erstsemesterball waren.
Übrigens, wenn und falls du online gehst, schick mir
deine E-Mails in Zukunft an jnecrosis@ub.ac.uk (was
eine andere Adresse ist als die, die ich dir zuerst gege-
ben hatte. Diese ist Jacks. Weniger umständlich).
Mach's gut. Dan.
Jetzt bin ich natürlich zu Tränen gerührt. Und ich fürchte,
dass den Tränen nahe zu sein meine Standardreaktion auf
jede Nachricht von meinem Erstgeborenen werden wird
(mit Ausnahme von Bitten um mehr Geld, was vollkommen
andere Synapsen auslösen wird). Und wer ist eigentlich
Jack? Und was für ein Ball? Wünschte, ich hätte nicht
so ein gründliches Wissen aus erster Hand über Bootsrennen,
Schampus-Orgien und anschließendes Erbrechen in
Abflussrohre.
Leide im Moment sowieso an meinem eigenen Megakater.
Deshalb kann ich Dan jetzt wirklich keine moralisierende
Cyber-Nachricht schicken, selbst wenn ich mich wieder
daran erinnern könnte, wie man das macht, und muss
stattdessen auf meine langjährigen, vielleicht etwas zweifelhaften,
aber gut gemeinten Erziehungsversuche vertrauen,
die ihn überhaupt erst so weit gebracht haben.
Obwohl Rose die beste Freundin ist, die ich auf der Welt
habe, war mir gestern Abend ganz und gar nicht danach
zu Mute, zu ihrer und Matts Abschiedsparty zu gehen. Es
war für mich schon schlimm genug, dass mein Sohn ausgezogen
war, ohne dass ich auch noch die gesamte Familie
Griffith verlieren musste. Ich würde entweder nüchtern
und verdrießlich sein oder betrunken und gefühlsduselig -
keines von beiden besonders wünschenswerte Eigenschaften
bei dem Partygast von Welt. Ich würde streng mit mir selbst
sein müssen und noch viel mehr.
Ich hatte beschlossen, den Wagen stehen zu lassen und
mich zu Fuß auf den Weg zu der Party zu machen, und mir
dabei eingeredet, dass ich laufen würde, weil ich mich fitnessmäßig
in den Griff bekommen und mir mehr körperliche
Bewegung verschaffen musste. Dass ich mit einer Literflasche
Rioja, einem halben Zentner Besteck und einem
großen Biskuitkuchen in einer Plätzchendose beladen war
und daher nichts sportlich Anspruchsvolleres bewältigen
konnte als ein vertikal eingeschränktes, leicht schlangenlinienförmiges
Schlendern, war für mich kein ausreichender
Hinderungsgrund, um meinen Vorwand energiegeladener
Fitnessbemühungen aufzugeben.
Aber in Wirklichkeit ging ich zu Fuß, weil ich die Absicht
hatte, mich zu betrinken.
Und ich hatte die Absicht, mich zu betrinken, weil ich
meinen Vater zu der Party mitnahm.
Was schrecklich klingt, aber vollkommen einleuchtend
ist, wie ich finde. Mein Vater lebte erst seit einem Monat
bei uns, aber ich musste bereits lernen, Strategien zu entwickeln,
um mit der Situation fertig zu werden; und angesichts
seiner langen und glanzvollen Geschichte, mich
in pein liche Situationen zu bringen, war es meiner Ansicht
nach nur sinnvoll, ihm zuvorzukommen, indem ich mich
gründlich besoff und mich so stattdessen einfach selbst blamierte.
»Was ist das?«, fragte Rose, als Dad ihr eine Blechdose
überreichte. Sie trug ihr Haar zu einer Frisur hochgesteckt,
die an ein glänzendes schwarzes Baiser erinnerte, und ihre
Brille hing an einer glitzernden Kette um den Hals. Sie hob
die Brille jetzt an ihre Augen, spähte hoffnungsvoll hindurch
und betrachtete blinzelnd das Triptychon auf dem
Deckel der Dose, das »Tesco's Festtagsauswahl« zierte.
Rose hatte um Spenden in Form von Fleischpasteten, Salaten
und Getränken gebeten, und ich konnte mir nicht vor-
stellen, dass der Kuchen genau das war, was sie im Sinn gehabt
hatte.
»Ein selbst gebackener Biskuitkuchen«, erklärte ich entschuldigend.
»Mit einer Beschriftung aus Zuckerguss«, fügte mein Vater
stolz hinzu.
»Oh, das ist aber wirklich reizend, Mr ...«
»Ach was!«, trompetete mein Vater. »Nennen Sie mich
Leonard! Und gefüllt mit meinen preisgekrönten Reineclauden
und Tia-Maria-Marmelade.«
Kein sonderlich viel versprechender Start.
Während Rose meinen Vater hinausbugsierte, um ihn mit
den Örtlichkeiten vertraut zu machen, schnappte ich mir
einen Drink und wanderte hinaus in den Garten, wo fast
augenblicklich eine vergnügte Stimme an mein Ohr drang.
»Wieder mal ganz allein hier? Kein Phil?«
In Anbetracht der seltsamen Welt des Zwielichts, in der
die Angestellten von Great Western Trains aufgrund ihres
Dienstplans zu leben schienen, rechnete ich damit, dass
mein Freund, wie so häufig, erst später auf der Bildfläche
erscheinen würde. In den Monaten, seit wir uns kennen
gelernt hatten, waren wir nur selten irgendwo gemeinsam
aufgekreuzt; im Allgemeinen erschienen wir an den meisten
Orten einzeln und in Abständen, ähnlich wie Bestellungen
aus dem Versandhauskatalog. Ich schüttelte den Kopf, als
Sheila Rawlins, Roses Nachbarin, zielstrebig auf mich zusteuerte.
Ich wurde auf Partys mit schöner Regelmäßigkeit
von Sheila in die Enge getrieben, weil sie, genau wie ich, geschieden
war und zwei Kinder im Teenageralter hatte. Und
an diesem Punkt endete unsere situationsbedingte Gemeinsamkeit
auch schon. Trotzdem schien Sheilas Hauptrolle in
meinem Leben darin zu bestehen, alles das zu tun, was ich
tat, nur ein kleines bisschen früher als ich - hauptsächlich
deshalb, so hatte ich manchmal das Gefühl, damit sie mir
während meiner eigenen Übergangsphase mit ihrer Weisheit
und Lebenserfahrung beistehen konnte. Sie hatte sich kurz
vor mir von ihrem Ehemann getrennt, hatte ihre (inkontinente)
Mutter bei sich wohnen, und ihre ältere Tochter war
im letzten Jahr zum Studium nach Cambridge gegangen.
Ich hatte den starken Verdacht, dass sie wieder einmal ein
paar Worte der Ermutigung und einige weise Ratschläge für
mich haben würde. Und genauso war es.
»Na, fühlst du dich im Moment ein bisschen aus der
Bahn geworfen, Charlie?«
Warum dagegen ankämpfen? Sie meinte es ja nur gut.
»Es geht so«, erklärte ich ihr. »Eher ein bisschen deprimiert,
schätze ich.«
»Aber natürlich bist du deprimiert, das ist doch unter
diesen Umständen ganz normal. Weinst du häufig? Ich habe
kübelweise geheult, als meine Tochter letztes Jahr ausgezogen
ist.«
Ich nickte. Sie lächelte. Wir nippten beide an unseren
Drinks.
»Mir geht's so weit ganz gut«, erklärte ich. »Es ist nur
schlechtes Timing, dass ich Rose und Matt genau zur gleichen
Zeit verliere wie Dan. Aber ich werde mich schon daran
gewöhnen.«
»Das wirst du ganz bestimmt, mit der Zeit. Und du
brauchst natürlich auch Ablenkung.«
»Die habe ich, jetzt wo Dad bei uns wohnt. Sogar mehr
als genug Ablenkung.«
»Hm! Die Kinder werden erwachsen und ziehen aus,
die alten Eltern ziehen ein. Tja, so ist das moderne Leben,
nicht? Ist dein Vater bei guter Gesundheit?«
Dads Gesundheit war noch die geringste meiner Sorgen.
Was mir große Sorge bereitete, waren seine kulinarischen
Eigenheiten. Selbst jetzt konnte ich seine Gestalt in der
Ferne erkennen, während er eine unmissverständliche Geste
des Umrührens machte.
»Bei ausgezeichneter Gesundheit«, erwiderte ich.
»Aber nichtsdestotrotz eine Belastung für die Familiendynamik.
Und natürlich auch ein Symbol für den Beginn einer
neuen Lebensphase. Und noch dazu eine, auf die die meisten
von uns so schlecht vorbereitet sind.« Sheila verdrehte
die Augen. »Tz! Midlifecrisis im Quadrat, was?«
Ich entdeckte Phil, der gerade gekommen war, und winkte
ihm zur Begrüßung, aber er war bereits von Matt mit Beschlag
belegt worden. Warum kam Matt nicht her, um auch
mich in Beschlag zu nehmen? Ich hatte wirklich keine Lust,
noch länger über mich zu reden. Ich trank meinen Drink
aus.
»Tja«, sagte ich, während ich die Eiswürfel in meinem
Glas ein bisschen herumschwenkte, »das hängt davon ab,
ob ich mit achtundsiebzig sterben werde, schätze ich. Ich
hoffe nicht. Wie geht es dir eigentlich?«
Sheila, die trotz ihrer umfangreichen Lebenserfahrung
eindeutig kein Gespür dafür hatte, wann jemand die Richtung
und den Ton einer Unterhaltung ändern wollte, fuhr
unbeirrt fort: »Ach, so einigermaßen. Aber ich bin jetzt natürlich
auch über das Schlimmste hinweg. Und du wirst
auch darüber wegkommen, bevor du dich versiehst. Das
weißt du doch, nicht wahr, Charlie?«
»Oh, natürlich weiß ich das, Sheila«, erklärte ich mit
Nachdruck und versuchte es mit einer anderen Taktik, um
das Thema zu wechseln. »Ich weiß, ich bin nur ein Produkt
meines Alters, meiner Zeit und meiner Konditionierung.
Ich habe gerade erkannt, dass meine ganze Existenzberechtigung
mit meiner Rolle als Mutter, Ernährerin, Förderin
und so weiter verknüpft ist und dass ich mich, nachdem ich
diese Rolle nun habe aufgeben müssen - na ja, jedenfalls zu
fünfzig Prozent -, im Morast meiner latenten Unsicherheiten
abstrampeln muss und daher höchstwahrscheinlich gezwungen
sein werde, mich für einen Kurs über die Einflüsse
der Frührenaissance auf Keksverpackungen des zwanzigsten
Jahrhunderts oder ein ähnlich erhebendes Thema einzuschreiben,
um mir zu beweisen, dass ich noch immer als
funktionierendes menschliches Wesen existierte. Zumindest
für den Moment. Weißt du, was ich meine?«
Sheila blinzelte und trank ihr Glas aus. Dann - so unbeirrbar
wie ein Weberknecht, der sich auch dann nicht entmutigen
lässt, wenn er halb platt geschlagen worden ist -
machte sie weiter. »Hm-hm«, sagte sie nickend. »Und du
tust gut daran, so positiv zu denken. Ich stelle fest, dass
meine Floristik-Kurse eine enorme Hilfe für mich sind. Außerdem
kann ich dadurch etwas Nützliches für die Gemeinde
tun. Auf jeden Fall für die Kirche. Sie haben eine
schreckliche Zeit durchgemacht, als sie sich mit den Seidenblumen
behelfen mussten und so ...«
»Seidenblumen?«, fragte ich beherrscht. Ich war drauf
und dran zu sagen: »Verschon mich, um Gottes willen, mit
deinen dämlichen Seidenblumen.« Ich konnte mir nämlich
keine einzige Anekdote über Blumen vorstellen, egal, ob
aus Seide, Plastik, organisch oder wie auch immer, für die
es sich lohnen würde, mit einem leeren Glas in der Hand
herumzustehen, doch dann entdeckte ich einen beunruhigenden
neuen Zug an mir. Ich war, wie mir plötzlich klar
wurde, in Gefahr, eine Zynikerin zu werden.
Aber zum Glück kam Sheila mir mit einem kleinen Auf-
schrei und einer Handbewegung zuvor. »Oh!«, rief sie.
»Schluss damit! Bitte bring mich nicht dazu, von diesen
Blumen anzufangen.«
Nicht klüger als zuvor, nickte ich ihr zum Abschied erleichtert
zu, als sie - ihre Pflicht erfüllt - Ausflüchte zu machen
begann und dann davonstrebte, auf der Suche nach
vernünftigerer Unterhaltung.
»Ach, übrigens ... Sheila!«, rief ich ihr nach.
Sie drehte sich wieder zu mir um. »Ist noch etwas, Charlie?
«
»Ja«, sagte ich, plötzlich bestürzt über meine Unfreundlichkeit
und Boshaftigkeit. »Hast du zu Hause einen Online-
Anschluss? Ich dachte, ich könnte dir noch eben meine
E-Mail-Adresse geben.«
»Was für eine Adresse?«
»E-Mail. Hast du einen Computer?«
»Ich nicht«, erklärte sie mit einem nachdrücklichen
Kopfschütteln. »Mit dieser Art von technologischem Firlefanz
hab ich nichts am Hut. Aber denk daran, wenn du
telefonieren möchtest - und du kannst mich wirklich jederzeit
anrufen, Charlie -, weißt du ja, wo du mich erreichen
kannst.«
Rose hatte Teelichter in Marmeladengläsern an die
Zweige der Bäume und Büsche gehängt. Selbst Matts Stangenbohnen
waren in mattes goldenes Licht getaucht. Es
erschien mir einfach undenkbar, dass ich nach der nächsten
Woche wahrscheinlich nie wieder einen Fuß in diesen
Garten setzen würde. All jene Plantschbecken-Sitzungen mit
den Kindern während der Schulferien; all jene weinseligen,
mit leidenschaftlichen Diskussionen verbrachten Nächte
auf dem Rasen. Am Rand der Terrasse traf ich auf Matts
Tante Jenny.
»Ich kann es immer noch nicht fassen, dass sie wegziehen«, sagte ich.
Sie drückte tröstend meinen Arm. »Ich auch nicht«, erwiderte
sie. »Aber wir können sie ja besuchen. Obwohl ...
was für eine schreckliche, knochendurchschüttelnde Bus-
reise das sein wird! Ich werde wahrscheinlich ohne mein
Gebiss reisen müssen. Ah«, fuhr sie fort, »und Sie müssen
Leonard sein. Was für eine Freude, Sie endlich einmal kennen
zu lernen.«
Mein Vater lächelte gewinnend. In einer plötzlichen Anwandlung
von Sentimentalität erklärte ich Jenny, dass er die
beste Marmelade in ganz Großbritannien machte.
»Ah!«, sagte sie. »Das nenne ich aber eine ziemlich pauschale
Behauptung! Aber wie auch immer, wenn Sie übers
Einmachen sprechen, dann habe ich genau das Richtige für
Sie: Marmeladen, Gelees und Quarkspeisen. Habe es erst
kürzlich gekauft. Das Buch ist bereits in der siebten Auflage
erschienen, wissen Sie.« Sie zwinkerte Dad zu. »Rose
hat es gerade ausgelesen. Möchten Sie es sich ausleihen?«,
fragte sie.
»Und ob!«, sagte mein Dad und ließ sich wieder zurück
ins Haus bugsieren.
Und ob? Und ob? Was hatte das nun wieder zu bedeuten?
Wieder allein, schöpfte ich eine großzügige Portion
Punsch (plus braune Apfelscheiben, diverse Zitrusschalen,
Bruchstücke irgendeines dünnen Zweigs, usw.) in mein Glas
und kippte mir das Gebräu im Kosakenstil hinter die Binde,
durch ein Sieb aus locker zusammengebissenen Zähnen. Ich
verschluckte mich prompt an dem dünnen Zweig (Rosmarin/
Rosenstrauch?), und als ich endlich mit Husten und Würgen
fertig war, hob ich mit einem Ruck den Kopf, um Adam
Jones neben mir stehen zu sehen. Den unglaublich perfekten,
unglaublich coolen, unglaublich tollen Dr. Adam Jones. Ein
Mann, so aufreizend nett und freundlich und funktionstüchtig,
dass es gesetzlich hätte verboten sein müssen, ihn ohne
Leine auf die Straße zu lassen. Ein Mann, der leider Gottes
auch mit Davina Jones verheiratet war, meiner Chefin. Deshalb
musste ich liebenswürdig zu ihm sein.
Nicht, dass man jemals etwas anderes als liebenswürdig
zu einem Typen sein würde, der so entwaffnend gut aussehend
und so anständig und rücksichtsvoll war, selbst wenn
er in puncto Ehefrauen einen eher fragwürdigen Geschmack
bewies. Davina sah ebenfalls gut aus, das ganz sicherlich,
und sie war unbestreitbar erfolgreich, aber in ihrem Fall fielen
einem die Worte »anständig« und »rücksichtsvoll« nicht
annähernd so schnell ein. Ich arbeitete nun schon seit mehreren
Jahren in ihrer Grundstücks- und Immobilienmaklerfirma,
und der einzige Bereich, in dem sie bisher meinen
uneingeschränkten Beifall gefunden hatte, war, dass sie den
Verstand besessen hatte, einen solchen Mann zu heiraten.
Er blickte mit leicht gerunzelter Stirn auf mich herunter.
»Alles okay mit dir?«, erkundigte er sich. »Möchtest du,
dass ich dir auf den Rücken klopfe oder so was?«
»Danke, es geht schon wieder«, stieß ich keuchend hervor.
»Ich hatte mich nur an einem Stiel verschluckt.«
»Hm«, sagte er, während er eine Braue hochzog und lächelte.
»So. Nun ja. Und wie gefällt es Daniel an der medizinischen
Fakultät? Er ist doch inzwischen abgereist, nicht
wahr?«
Verdammt. Wieder das D-Wort. Ich machte eine schwungvolle,
weit ausholende Bewegung mit dem Arm und hätte
zu meiner Verblüffung beinahe das Gleichgewicht verloren.
Adam Jones streckte rasch einen warmen, mit feinen Härchen
bedeckten Unterarm aus, um mich zu stützen.
»Er ist weg«, sagte ich. »Ausgeflogen aus dem elterlichen
Nest. Aus den heimischen Gefilden. Aus den ... äh ... was
auch immer. Jedenfalls ... ja. Er ist fort.« Ich starrte gedankenverloren
in den Bodensatz auf dem Grund meines Glases.
»Tja, so ist das mit den Kindern«, meinte er ermunternd
und tätschelte mir den Arm. »Er wird sich an der Uni wohl
fühlen.«
»Ich weiß.«
»Wahrscheinlich amüsiert er sich großartig.«
»Ich weiß.«
»Die schönsten Jahre seines Lebens. Für mich waren die
Jahre an der Uni ganz sicherlich die schönste Zeit, die ich
je erlebt habe.«
»Ich weiß. So heißt es allgemein.«
»Nein, wirklich.« Er breitete die Arme aus, um seiner Bemerkung
noch mehr Nachdruck zu verleihen. »Eine einzige
Folge von Partys und Besäufnissen und Spaß und, äh ...
Geht es dir nicht gut?«
Nein, nein, nein, nein, nein! Es geht mir überhaupt nicht
gut. O Gott. Jetzt fängt das schon wieder an. Was ist bloß
mit mir los? Warum breche ich dauernd urplötzlich in Tränen
aus?
»Doch, doch, alles ... äh ... in Ordnung. Muss nur mal
eben schnell ... du weißt schon. Bis später.« Und ich stürmte
davon, durch die Terrassentür und ins Haus hinein.
Wo ein Empfangskomitee, bestehend aus Rose, Tante
Jenny, Phil und meinem Vater, im Hinterhalt in der Küche
wartete, um mir den Weg zur Toilette zu versperren und
ernstliche Besorgnis zu bekunden.
»Ah! Da bist du ja! Ach je! Charlotte! Was ist denn?
Fehlt dir was?«
»Ach, Unsinn, Dad!«, rief ich. »Hab nur einen Kern ins
Auge bekommen, das ist alles.«
»Einen Kern?« Phil trat auf mich zu. »Wie ist denn ein
Kern in dein Auge gekommen?«
Ich rieb mein Auge, aber erfolglos. Kernlos. Auf allen
Gesichtern - außer auf Phils, natürlich: Seines hatte sich
zu einer Grimasse der Konzentration verzogen - erschien
dieser verräterische Ausdruck. Dieser Ausdruck, der besagt:
»Wir wissen, dass du nicht wirklich irgendetwas
ins Auge bekommen hast und dass du tatsächlich weinst,
aber wir sind viel zu höflich und taktvoll, um das zu erwähnen,
und werden ganz einfach weitere Hinweise abwarten.
«
»Ein Tomatenkern«, führte ich wütend aus. »Er muss an
meinem Handrücken geklebt haben, während ich versucht
habe, mit dem Zweig fertig zu werden.« Ich schlug Phils
forschende Finger weg. »Tomaten enthalten eine Menge
Säure, wisst ihr.«
Ein verlegenes Schweigen breitete sich in der Küche aus,
das Rose jedoch zum Glück rasch brach. »Es sind diese am
Strauch gereiften Tomaten«, erklärte sie. »Die Dinger sind
scharf wie eine Zitrone. Matt macht immer ein großes Getue
um ihr besonderes Aroma, aber in Wirklichkeit kauft er
sie nur, weil sie Stiele und Blätter haben und er sich einbildet,
er könnte den Leuten weismachen, dass er sie selbst gezüchtet
hat. Komm.« Sie umschloss meine Hand mit festen,
warmen Fingern. »Lass uns ins Badezimmer gehen und dein
Make-up retten.«
Als wir die Küche verließen, konnte ich die Stimme meines
Vaters aus dem allgemeinen Stimmengewirr heraushören.
»Es ist die Veränderung, die ihr zu schaffen macht«,
ließ er sich lautstark vernehmen. »Bei ihrer Mutter war es
genau das Gleiche. Aber zum Glück bin ich ja jetzt da, um
sie aufzumuntern.«
Gegen Mitternacht hatte sich die Partygesellschaft in zwei
säuberliche Hälften aufgeteilt: Die eine Hälfte war nüchtern
und vernünftig und saß Kaffee trinkend im Haus, und die
andere war mehr oder weniger stark angesäuselt, trank alles
Mögliche und hielt sich im Garten auf. Phil gehörte typischerweise
zu der Gruppe der Nüchternen und verteilte
Tassen mit Instantkaffee im Haus, während Rose und ich
ziemlich blau waren und draußen auf dem Rasen hockten.
Beziehungsweise lang ausgestreckt auf ihrer Picknickdecke
lagen.
»Sieh dir diesen Arsch an«, sagte sie unvermittelt und
setzte sich auf.
Ich stützte mich auf die Ellenbogen und konzentrierte
mich. Besagtes Hinterteil gehörte einem jungen Mann in
Jeans. Ich betrachtete es ausführlich. »Neun Komma fünf.
Wer ist der glückliche Besitzer?«
»Keiran.«
»Und wer ist Keiran?«
»Oh, du kennst ihn nicht. Er ist der neue Leiter der Abteilung
Informationstechnologie an der Schule. Ach, Gott, wie
ich diesen Arsch vermissen werde!«
»In Canterbury wird's garantiert noch andere geben.«
Sie legte sich wieder auf die Decke zurück und spielte mit
dem Stiel ihres Glases.
»Versteh mich nicht falsch. Dies ist ein toller Karriere-
schritt für Matt und alles, und der Gedanke, dass er auch
nur eine dunkle Ahnung davon haben könnte, wie mir zu
Mute ist, wäre schrecklich für mich - er ist ja so begeistert
darüber, dass es dort so ländlich ist, und er schwärmt
von der Größe des Gartens und davon, dass er dort gottverdammten
Kohl und Kartoffeln und Lauch anbauen will ...
Oh, und Hühner! Hühner will er auch halten! Hat er dir
davon schon erzählt? Den Kindern wird es natürlich super
gefallen, aber, Gott, im Moment wünschte ich wirklich, ich
müsste nicht von hier wegziehen.«
Roses und Matts zwei Kinder besuchten beide noch die
Grundschule. Und Rose hatte Recht, es würde ihnen an ihrem
neuen Wohnort großartig gefallen.
»Das meinst du doch nicht ernst.«
»Oh, doch, das tue ich, Charlie! Nichts ist so wirksam,
wie alle seine besten Freunde auf einem Haufen versammelt
zu haben, um einen daran zu erinnern, wie sehr man sie vermissen
wird, wenn man fort ist.«
»So weit weg ist es ja nun auch wieder nicht.«
»Doch, das ist es. Wir hätten auch ebenso gut nach Brüssel
ziehen können.«
»Ich weiß. Aber wir können euch besuchen, und -«
Rose setzte sich erneut auf und machte eine Handbewegung.
»Sieh dir, zum Beispiel, ihn an.«
»Wen? David Harris-Harper?« David Harris-Harper war
neu in der Gegend, hatte sich aber bereits als Notar in Cefn
Melin etabliert. Er war ausgesprochen sexy und schaffte es,
selbst durch dicke Kordhosen hindurch jede Menge Androgene
zu versprühen.
Sie nickte. »Wie könnte es in Thanet wohl irgendjemanden
geben, der ein solch heißes Gerät ist wie David?«
»Ich bin sicher, dass es auch dort knackige Typen geben
muss.«
»Ja, schon, aber du wirst sie nicht gesehen haben, nicht?«
»Na schön, dann wirst du sie mir eben beschreiben müssen,
nicht? Wir können unsere Scharfe-Typen-Listen ja in
Form von schlüpfrigen Briefen austauschen - oder auch per
E-Mail, was das betrifft. Du könntest heimlich Fotos von den
Typen machen und sie mir über den Computer schicken.«
Die Vorstellung, dass die Scharfe-Typen-Listen - unsere
geheime Top Ten der ortsansässigen Männerwelt - zu Papier
gebracht und wie eine dringende Meldung über Überlandleitungen
verschickt würden, kam mir nicht nur witzig
vor, sondern auch seltsam reizvoll.
Rose lachte. »Eine fantastische Idee! Was mich übrigens
an etwas erinnert ...« Sie verschwand im Haus.
Wenige Augenblicke später kam sie wieder zurück, leicht
schwankend und mit einem Geschenk in der Hand.
»Für wen ist das?«
»Für dich, du Dussel.« Sie reichte mir das schmale Päckchen.
Sie hatte es wie immer sehr hübsch in Seidenpapier
eingewickelt.
»Oh, das wäre aber nun wirklich nicht nötig gewesen.
Was ist es denn? Soll ich es gleich aufmachen?«
Sie nickte. »Wenn du möchtest. Du wirst es vielleicht
doch wieder umtauschen wollen. Als ich es kaufte, dachte
ich, es wäre ein Buch über den Mount Everest, aber als ich
anschließend wieder zu Hause war, habe ich gemerkt, dass
es tatsächlich ein Buch über einen Gipfel in den Anden ist.
Und dann dachte ich, egal, was soll's. Es ist ja trotzdem ein
Buch über Berge. Ich dachte, es könnte sich vielleicht als
eine Inspiration erweisen, während du deine Reise planst.
Aber dann habe ich es gelesen. Na ja, nicht richtig gelesen,
nur die Texte unter den Fotos. Und dann habe ich ein bisschen
in dem Buch herumgeblättert und ein paar Abschnitte
überflogen, und da dachte ich, dass es letztendlich doch
nicht das ist, was ich eigentlich haben wollte. Es sieht ein
bisschen qualvoll aus.«
Das Buch hatte den Titel Touching the Void - Begegnung
mit der Leere. »Na und?« Ich zuckte die Schultern. »Du
kennst mich doch.«
»Na ja, irgendwo im Waldland herumzustapfen ist eine
Sache, und ich weiß, du liebst all dieses Zeug, aber ich habe
mich doch gefragt, ob dich abzuquälen wirklich das ist, was
du im Moment brauchst. Tausch das Buch, um Gottes willen,
um, wenn du willst -«
»Ach, Unsinn, Rose! Wenn es ums Abquälen geht, kann
ich mich mit den Besten messen!«
»Hm, sei dir da mal nur nicht so sicher, Charlie«, sagte
sie.
Wir beobachteten, wie Phil über den Rasen auf uns zukam,
mit zwei Bechern und zwei Kissen beladen. »Das Gras
ist feucht«, sagte er.
»Und folglich sind unsere Ärsche feucht«, konterte Rose
und lehnte den angebotenen Kaffee ab.
Woraufhin Rose und ich in brüllendes Gelächter ausbrachen
und uns die Bäuche hielten, obwohl wir wussten, dass
das Leben, zumindest für den Moment, wirklich nicht sonderlich
erheiternd war.
Phil machte ein verächtliches Gesicht und nahm die verschmähten
Kaffeebecher wieder an sich.
»Was sollen wir mit Kaffee? Wir brauchen Wein, Phil!«,
erklärte Rose ihm energisch.
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Copyright der Originalausgabe © 2001 by Lynne Barrett-Lee
Published by Arrangement with Lynne Barrett-Lee.
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe
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Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Dieses Werk wurde vermittelt durch die
Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen
Das Werk erschien 2002 unter dem Titel Kusswechsel
im Blanvalet Verlag, München.
Übersetzung: Elke Bartels Wehrmann
Die Rechte an der deutschen Übersetzung von Elke Bartels Wehrmann liegen
beim Blanvalet Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Umschlaggestaltung: zeichenpool, München
Umschlagmotiv: Shutterstock (© monoo; © Blaz Kure; © Picsfi ve;
© Pablo H Caridad; © deedl; © Robyn Mackenzie)
Druck und Bindung: CPI Moravia Books s.r.o., Pohorelice
Printed in the EU
ISBN 978-3-86800-448-9
2014 2013 2012 2011
Die letzte Jahreszahl gibt die aktuelle Ausgabe an.
Ich hatte mich schon die ganze Woche über ziemlich
mies und deprimiert gefühlt, und satte einhundertneunzehn
Pfund für einen Klumpen ebenso trister grauer Materie auszugeben,
entsprach nicht unbedingt meiner Vorstellung von
einer stimmungsaufhellenden Therapie. Eine Therapie wäre,
zum Beispiel, jene wadenlangen Stiefel bei Oasis gewesen.
Eine wirklich ernsthafte Therapie wären zwei Paar topmodischer
Stiefel gewesen. Aber - das sagte ich mir jedenfalls
zu dem Zeitpunkt - man sollte vielleicht auch noch diese
andere Art von Therapie berücksichtigen. Diejenige Therapie,
die einem hilft, sich besser zu fühlen, indem man nicht
an sich selbst denkt, sondern einem Menschen, den man
liebt, eine unerwartete Freude macht. Und so marschierte
ich an der Schuhabteilung vorbei und kaufte Ben stattdessen
sein Modem.
Er hatte mir ständig in den Ohren gelegen, dass er gerne
eines haben wollte, seit er alt genug gewesen war (drei?
noch im embryonalen Zustand?), um sich eines zu wünschen;
und nun, da sein älterer Bruder von zu Hause ausgezogen
war, hatte ich das Gefühl, dass Ben etwas Substanzielleres
brauchte als einhundertfünfzig alte Ausgaben von
Gamesmaster, um ebendiesen Bruder zu ersetzen. Kein Ersatz
von einer Art, die mit Brüllen, Kicken, Stoßen, Hektik
und gemeinschaftlicher Plackerei verbunden ist, sondern etwas,
womit er die Stunden ausfüllen konnte, die er und Dan
normalerweise mit einer Auswahl der oben genannten Aktivitäten
ausgefüllt hätten.
»Funktioniert es denn auch?«, fragte Ben, während er seinen
Rucksack ablegte und auf das Modem starrte. Er war
gerade vom Rugby-Training zurückgekehrt und roch wie
ein Komposthaufen.
»Natürlich funktioniert es«, erklärte ich und fühlte mich
plötzlich in die Defensive gedrängt, eine fast automatische
und wenig überraschende Reaktion. Aber das brachte die
Angelegenheit eben so mit sich.
Er blickte misstrauisch drein. »Heißt das, du hast einen
Server ausgesucht, eine E-Mail-Adresse registrieren lassen
und dich eingeloggt und so weiter?«
»Das heißt, dass ich es eingeschaltet habe - so, siehst
du? - und dass dabei eine Reihe von Lichtern aufleuchteten.«
Ben klatschte in die Hände, dann hockte er sich auf die
Armlehne meines Schreibtischstuhls. »Hervorragend!«,
sagte er und schaltete geschickt von unbeeindruckt zu gönnerhaft-
herablassend um.
»Und?«
»Und nichts. Ich habe das Ding ja gerade erst eingestöpselt.«
»Ja, ja«, erwiderte er und machte die Art von Bewegung
mit dem Hinterteil, die man nur seinem Nachwuchs ungestraft
durchgehen lässt, um mir zu verstehen zu geben, dass
es an diesem Punkt angebracht wäre, wenn ich den Drehstuhl
für ihn freimachte und mich bescheiden in den Hintergrund
verzog. »Dann bin ich ja gerade rechtzeitig nach
Hause gekommen. Hast du die CD reingeschoben?« Er
wühlte in dem Karton herum. »Ist sie hier drin?«
»Sie ist hier.«
»Okay, dann gib sie mir, Mum. Hast du Tee gemacht oder
so was?«
»Nein, noch nicht. Und, Ben, ich bin wirklich durchaus
in der Lage ...«
Woraufhin mein Sohn grinste. Auf seine frechste und
gönnerhafteste Art. »Na klar doch, Mum«, feixte er. »Klar
kannst du das, keine Frage. Aber es geht schneller, wenn
ich es mache. Wie wär's, wenn du jetzt Tee machen würdest?
«
Das ist natürlich immer ein Problem. Hin- und hergerissen,
wie ich war - und gewöhnlich bin -, in dem Kampf
zwischen den Forderungen des Mutterinstinkts (»Du meine
Güte! Was für ein ungeheuer cleverer Junge du doch bist! Es
ist wirklich unglaublich, als wie wundervoll und bahnbrechend
sich jeder deiner Gedanken entpuppt! Bitte beeindrucke
mich mit deinen überragenden geistigen Fähigkeiten,
mein Kind!«, usw.) und eines primitiveren Instinkts (»Hör
zu, du pubertierende Rotznase, was glaubst du eigentlich,
wer damals deinen blöden Baby-Monitor neu verkabelt hat,
als dein Vater das Ding kurzgeschlossen hatte, hä? Hä?«),
gewann Ersteres natürlich die Oberhand über Letzteres.
Das ist genau das, was wir Mütter tun, nicht wahr? Wir
fördern mit unserem Verhalten gerade die Art von toxischer
männlicher Arroganz, die wir bei Männern doch eigentlich
so verabscheuen. Oder tue nur ich das?
Natürlich würde es schneller gehen, wenn Ben es machte.
Außerdem könnte Ben dann stolz darauf sein, dass es
schneller ging, eben weil er die Dinge in die Hand nahm.
Und außerdem würde es Ben Spaß machen, sich damit zu
beschäftigen. Und mir nicht.
Obwohl es mir aber ganz sicherlich Spaß machen könnte.
Was hier der Kernpunkt ist.
Die Wahrheit ist nämlich, dass das abgegriffene Klischee
von der Technophobie von Frauen über dreißig genau das
ist - ein abgegriffenes Klischee. Ein zum Aussterben verurteiltes
Klischee. Tatsächlich ist es noch nicht einmal ein Klischee,
sondern eine gemeine Unwahrheit. Es stimmt ganz
einfach nicht, dass Frauen eine ausgeprägte Abneigung gegen
die Technologie haben. Frauen sind überhaupt nicht
technophobisch. (Man denke nur an Waschmaschinenprogramme.)
Die meisten Frauen sind nur nicht technologiebesessen,
das ist alles. Und auch noch völlig zu Recht. Ja, ja,
ja, ich weiß. Es gab das Raumfahrtprogramm und die Erfin-
dung von Teflon und so weiter. Aber hat sich die Antihaftbeschichtung
etwa als die revolutionäre Entwicklung erwiesen,
kochkunstmäßig gesehen? Haben wir seit Teflon nicht
stattdessen Le Creuset in die Arme geschlossen? Haben wir
seit Teflon nicht Sushi und Pommes entdeckt? Antihaftbeschichtete
Pfannen und Töpfe zu besitzen scheint wirklich
keine besonders großartige Sache zu sein. Mit Teflon bringt
man vielleicht luftig-lockere Spiegeleier zu Stande, aber
es macht einen ganz sicherlich nicht auf die Schnelle zum
Meisterkoch.
Mir scheint, dass man alles, was einem in der Werbung
so vollmundig und überschwänglich angepriesen wird und
was einen unablässig nervende Jugendliche zu kaufen drängen,
mit einer gehörigen Portion Skepsis betrachten sollte,
jedenfalls was das Versprechen der Verbesserung der Lebensqualität
angeht. Mit anderen Worten: Erwarten Sie
viel im Hinblick auf raffinierte Reklametricks, komplizierte
technische Anweisungen, finanziellen Schock-Horror, die
Anzahl der benötigten Steckdosen usw. Aber erwarten Sie
nicht, dass das Produkt entscheidend zur Verbesserung Ihrer
Lebensqualität beiträgt. Eher so wie Channel Five, so
scheint es mir.
Ich muss allerdings zugeben, dass ich die Vorteile des Internets,
nachwuchsmäßig betrachtet, durchaus erkennen
kann. Ich kann sehen, dass auch ich dadurch in der Lage
sein werde, mit Daniel zu kommunizieren, und zwar ohne
einen ermahnenden/bittenden Ton anschlagen und/oder
Pseudoentschuldigungen vorbringen zu müssen. Außerdem
werde ich die kleine, aber wichtige Chance haben, dass
mein Sohn auf meine Nachricht auch antwortet. Und ferner
könnte ich, falls mich am Wochenende die Langeweile
überkommt, Internet-Shopping betreiben und nach antiken
Wiegen oder was auch immer suchen. Wenn ich Lust dazu
haben sollte.
Wahrscheinlich werde ich die eher nicht haben, da bin
ich mir ziemlich sicher, aber ich bin auch so durchaus zufrieden.
2
Weil ich nämlich wirklich eine Menge habe, wofür ich dankbar
sein muss. Ich bin bei guter Gesundheit; ich habe noch
immer einen Sohn zu Hause, den ich mit sklavischer Ergebenheit
umsorgen kann; ich besitze eine ansehnliche Doppelhaushälfte
mit drei Schlafzimmern und sehr schönen,
sehr sauberen, sehr wünschenswerten neuen Kunststofffenstern
(der Beitrag meines Vaters, seit er bei uns eingezogen
ist - Gott segne ihn); ich habe einen fast unerschöpflichen
Vorrat an Marmelade und Chutney (ein weiterer Beitrag
meines Dads - das Urteil der Gourmet-Jury steht allerdings
noch aus); ich habe einen Job, der mir Geld einbringt (wenn
auch keine intellektuelle Befriedigung), und ich weiß, wie
man E-Mails verschickt. (Muss aber noch ein paar geeignete
Leute finden, denen ich E-Mails schicken kann.)
Und außerdem habe ich in der Zwischenzeit eine Nachricht
von Daniel bekommen. Allerdings nicht, wie es der
Zufall so will, als Antwort auf die E-Mail, die ich ihm geschickt
hatte, sondern in Form einer Postkarte. Vom Fischtresen
bei Harrods. Harrods? Fischtresen? Dan?
Hi, Mum,
hier ist alles in Ordnung. Hoffe, es geht euch allen
gut. Habe heute einen mörderischen Kater, weil wir
gestern Abend auf dem Erstsemesterball waren.
Übrigens, wenn und falls du online gehst, schick mir
deine E-Mails in Zukunft an jnecrosis@ub.ac.uk (was
eine andere Adresse ist als die, die ich dir zuerst gege-
ben hatte. Diese ist Jacks. Weniger umständlich).
Mach's gut. Dan.
Jetzt bin ich natürlich zu Tränen gerührt. Und ich fürchte,
dass den Tränen nahe zu sein meine Standardreaktion auf
jede Nachricht von meinem Erstgeborenen werden wird
(mit Ausnahme von Bitten um mehr Geld, was vollkommen
andere Synapsen auslösen wird). Und wer ist eigentlich
Jack? Und was für ein Ball? Wünschte, ich hätte nicht
so ein gründliches Wissen aus erster Hand über Bootsrennen,
Schampus-Orgien und anschließendes Erbrechen in
Abflussrohre.
Leide im Moment sowieso an meinem eigenen Megakater.
Deshalb kann ich Dan jetzt wirklich keine moralisierende
Cyber-Nachricht schicken, selbst wenn ich mich wieder
daran erinnern könnte, wie man das macht, und muss
stattdessen auf meine langjährigen, vielleicht etwas zweifelhaften,
aber gut gemeinten Erziehungsversuche vertrauen,
die ihn überhaupt erst so weit gebracht haben.
Obwohl Rose die beste Freundin ist, die ich auf der Welt
habe, war mir gestern Abend ganz und gar nicht danach
zu Mute, zu ihrer und Matts Abschiedsparty zu gehen. Es
war für mich schon schlimm genug, dass mein Sohn ausgezogen
war, ohne dass ich auch noch die gesamte Familie
Griffith verlieren musste. Ich würde entweder nüchtern
und verdrießlich sein oder betrunken und gefühlsduselig -
keines von beiden besonders wünschenswerte Eigenschaften
bei dem Partygast von Welt. Ich würde streng mit mir selbst
sein müssen und noch viel mehr.
Ich hatte beschlossen, den Wagen stehen zu lassen und
mich zu Fuß auf den Weg zu der Party zu machen, und mir
dabei eingeredet, dass ich laufen würde, weil ich mich fitnessmäßig
in den Griff bekommen und mir mehr körperliche
Bewegung verschaffen musste. Dass ich mit einer Literflasche
Rioja, einem halben Zentner Besteck und einem
großen Biskuitkuchen in einer Plätzchendose beladen war
und daher nichts sportlich Anspruchsvolleres bewältigen
konnte als ein vertikal eingeschränktes, leicht schlangenlinienförmiges
Schlendern, war für mich kein ausreichender
Hinderungsgrund, um meinen Vorwand energiegeladener
Fitnessbemühungen aufzugeben.
Aber in Wirklichkeit ging ich zu Fuß, weil ich die Absicht
hatte, mich zu betrinken.
Und ich hatte die Absicht, mich zu betrinken, weil ich
meinen Vater zu der Party mitnahm.
Was schrecklich klingt, aber vollkommen einleuchtend
ist, wie ich finde. Mein Vater lebte erst seit einem Monat
bei uns, aber ich musste bereits lernen, Strategien zu entwickeln,
um mit der Situation fertig zu werden; und angesichts
seiner langen und glanzvollen Geschichte, mich
in pein liche Situationen zu bringen, war es meiner Ansicht
nach nur sinnvoll, ihm zuvorzukommen, indem ich mich
gründlich besoff und mich so stattdessen einfach selbst blamierte.
»Was ist das?«, fragte Rose, als Dad ihr eine Blechdose
überreichte. Sie trug ihr Haar zu einer Frisur hochgesteckt,
die an ein glänzendes schwarzes Baiser erinnerte, und ihre
Brille hing an einer glitzernden Kette um den Hals. Sie hob
die Brille jetzt an ihre Augen, spähte hoffnungsvoll hindurch
und betrachtete blinzelnd das Triptychon auf dem
Deckel der Dose, das »Tesco's Festtagsauswahl« zierte.
Rose hatte um Spenden in Form von Fleischpasteten, Salaten
und Getränken gebeten, und ich konnte mir nicht vor-
stellen, dass der Kuchen genau das war, was sie im Sinn gehabt
hatte.
»Ein selbst gebackener Biskuitkuchen«, erklärte ich entschuldigend.
»Mit einer Beschriftung aus Zuckerguss«, fügte mein Vater
stolz hinzu.
»Oh, das ist aber wirklich reizend, Mr ...«
»Ach was!«, trompetete mein Vater. »Nennen Sie mich
Leonard! Und gefüllt mit meinen preisgekrönten Reineclauden
und Tia-Maria-Marmelade.«
Kein sonderlich viel versprechender Start.
Während Rose meinen Vater hinausbugsierte, um ihn mit
den Örtlichkeiten vertraut zu machen, schnappte ich mir
einen Drink und wanderte hinaus in den Garten, wo fast
augenblicklich eine vergnügte Stimme an mein Ohr drang.
»Wieder mal ganz allein hier? Kein Phil?«
In Anbetracht der seltsamen Welt des Zwielichts, in der
die Angestellten von Great Western Trains aufgrund ihres
Dienstplans zu leben schienen, rechnete ich damit, dass
mein Freund, wie so häufig, erst später auf der Bildfläche
erscheinen würde. In den Monaten, seit wir uns kennen
gelernt hatten, waren wir nur selten irgendwo gemeinsam
aufgekreuzt; im Allgemeinen erschienen wir an den meisten
Orten einzeln und in Abständen, ähnlich wie Bestellungen
aus dem Versandhauskatalog. Ich schüttelte den Kopf, als
Sheila Rawlins, Roses Nachbarin, zielstrebig auf mich zusteuerte.
Ich wurde auf Partys mit schöner Regelmäßigkeit
von Sheila in die Enge getrieben, weil sie, genau wie ich, geschieden
war und zwei Kinder im Teenageralter hatte. Und
an diesem Punkt endete unsere situationsbedingte Gemeinsamkeit
auch schon. Trotzdem schien Sheilas Hauptrolle in
meinem Leben darin zu bestehen, alles das zu tun, was ich
tat, nur ein kleines bisschen früher als ich - hauptsächlich
deshalb, so hatte ich manchmal das Gefühl, damit sie mir
während meiner eigenen Übergangsphase mit ihrer Weisheit
und Lebenserfahrung beistehen konnte. Sie hatte sich kurz
vor mir von ihrem Ehemann getrennt, hatte ihre (inkontinente)
Mutter bei sich wohnen, und ihre ältere Tochter war
im letzten Jahr zum Studium nach Cambridge gegangen.
Ich hatte den starken Verdacht, dass sie wieder einmal ein
paar Worte der Ermutigung und einige weise Ratschläge für
mich haben würde. Und genauso war es.
»Na, fühlst du dich im Moment ein bisschen aus der
Bahn geworfen, Charlie?«
Warum dagegen ankämpfen? Sie meinte es ja nur gut.
»Es geht so«, erklärte ich ihr. »Eher ein bisschen deprimiert,
schätze ich.«
»Aber natürlich bist du deprimiert, das ist doch unter
diesen Umständen ganz normal. Weinst du häufig? Ich habe
kübelweise geheult, als meine Tochter letztes Jahr ausgezogen
ist.«
Ich nickte. Sie lächelte. Wir nippten beide an unseren
Drinks.
»Mir geht's so weit ganz gut«, erklärte ich. »Es ist nur
schlechtes Timing, dass ich Rose und Matt genau zur gleichen
Zeit verliere wie Dan. Aber ich werde mich schon daran
gewöhnen.«
»Das wirst du ganz bestimmt, mit der Zeit. Und du
brauchst natürlich auch Ablenkung.«
»Die habe ich, jetzt wo Dad bei uns wohnt. Sogar mehr
als genug Ablenkung.«
»Hm! Die Kinder werden erwachsen und ziehen aus,
die alten Eltern ziehen ein. Tja, so ist das moderne Leben,
nicht? Ist dein Vater bei guter Gesundheit?«
Dads Gesundheit war noch die geringste meiner Sorgen.
Was mir große Sorge bereitete, waren seine kulinarischen
Eigenheiten. Selbst jetzt konnte ich seine Gestalt in der
Ferne erkennen, während er eine unmissverständliche Geste
des Umrührens machte.
»Bei ausgezeichneter Gesundheit«, erwiderte ich.
»Aber nichtsdestotrotz eine Belastung für die Familiendynamik.
Und natürlich auch ein Symbol für den Beginn einer
neuen Lebensphase. Und noch dazu eine, auf die die meisten
von uns so schlecht vorbereitet sind.« Sheila verdrehte
die Augen. »Tz! Midlifecrisis im Quadrat, was?«
Ich entdeckte Phil, der gerade gekommen war, und winkte
ihm zur Begrüßung, aber er war bereits von Matt mit Beschlag
belegt worden. Warum kam Matt nicht her, um auch
mich in Beschlag zu nehmen? Ich hatte wirklich keine Lust,
noch länger über mich zu reden. Ich trank meinen Drink
aus.
»Tja«, sagte ich, während ich die Eiswürfel in meinem
Glas ein bisschen herumschwenkte, »das hängt davon ab,
ob ich mit achtundsiebzig sterben werde, schätze ich. Ich
hoffe nicht. Wie geht es dir eigentlich?«
Sheila, die trotz ihrer umfangreichen Lebenserfahrung
eindeutig kein Gespür dafür hatte, wann jemand die Richtung
und den Ton einer Unterhaltung ändern wollte, fuhr
unbeirrt fort: »Ach, so einigermaßen. Aber ich bin jetzt natürlich
auch über das Schlimmste hinweg. Und du wirst
auch darüber wegkommen, bevor du dich versiehst. Das
weißt du doch, nicht wahr, Charlie?«
»Oh, natürlich weiß ich das, Sheila«, erklärte ich mit
Nachdruck und versuchte es mit einer anderen Taktik, um
das Thema zu wechseln. »Ich weiß, ich bin nur ein Produkt
meines Alters, meiner Zeit und meiner Konditionierung.
Ich habe gerade erkannt, dass meine ganze Existenzberechtigung
mit meiner Rolle als Mutter, Ernährerin, Förderin
und so weiter verknüpft ist und dass ich mich, nachdem ich
diese Rolle nun habe aufgeben müssen - na ja, jedenfalls zu
fünfzig Prozent -, im Morast meiner latenten Unsicherheiten
abstrampeln muss und daher höchstwahrscheinlich gezwungen
sein werde, mich für einen Kurs über die Einflüsse
der Frührenaissance auf Keksverpackungen des zwanzigsten
Jahrhunderts oder ein ähnlich erhebendes Thema einzuschreiben,
um mir zu beweisen, dass ich noch immer als
funktionierendes menschliches Wesen existierte. Zumindest
für den Moment. Weißt du, was ich meine?«
Sheila blinzelte und trank ihr Glas aus. Dann - so unbeirrbar
wie ein Weberknecht, der sich auch dann nicht entmutigen
lässt, wenn er halb platt geschlagen worden ist -
machte sie weiter. »Hm-hm«, sagte sie nickend. »Und du
tust gut daran, so positiv zu denken. Ich stelle fest, dass
meine Floristik-Kurse eine enorme Hilfe für mich sind. Außerdem
kann ich dadurch etwas Nützliches für die Gemeinde
tun. Auf jeden Fall für die Kirche. Sie haben eine
schreckliche Zeit durchgemacht, als sie sich mit den Seidenblumen
behelfen mussten und so ...«
»Seidenblumen?«, fragte ich beherrscht. Ich war drauf
und dran zu sagen: »Verschon mich, um Gottes willen, mit
deinen dämlichen Seidenblumen.« Ich konnte mir nämlich
keine einzige Anekdote über Blumen vorstellen, egal, ob
aus Seide, Plastik, organisch oder wie auch immer, für die
es sich lohnen würde, mit einem leeren Glas in der Hand
herumzustehen, doch dann entdeckte ich einen beunruhigenden
neuen Zug an mir. Ich war, wie mir plötzlich klar
wurde, in Gefahr, eine Zynikerin zu werden.
Aber zum Glück kam Sheila mir mit einem kleinen Auf-
schrei und einer Handbewegung zuvor. »Oh!«, rief sie.
»Schluss damit! Bitte bring mich nicht dazu, von diesen
Blumen anzufangen.«
Nicht klüger als zuvor, nickte ich ihr zum Abschied erleichtert
zu, als sie - ihre Pflicht erfüllt - Ausflüchte zu machen
begann und dann davonstrebte, auf der Suche nach
vernünftigerer Unterhaltung.
»Ach, übrigens ... Sheila!«, rief ich ihr nach.
Sie drehte sich wieder zu mir um. »Ist noch etwas, Charlie?
«
»Ja«, sagte ich, plötzlich bestürzt über meine Unfreundlichkeit
und Boshaftigkeit. »Hast du zu Hause einen Online-
Anschluss? Ich dachte, ich könnte dir noch eben meine
E-Mail-Adresse geben.«
»Was für eine Adresse?«
»E-Mail. Hast du einen Computer?«
»Ich nicht«, erklärte sie mit einem nachdrücklichen
Kopfschütteln. »Mit dieser Art von technologischem Firlefanz
hab ich nichts am Hut. Aber denk daran, wenn du
telefonieren möchtest - und du kannst mich wirklich jederzeit
anrufen, Charlie -, weißt du ja, wo du mich erreichen
kannst.«
Rose hatte Teelichter in Marmeladengläsern an die
Zweige der Bäume und Büsche gehängt. Selbst Matts Stangenbohnen
waren in mattes goldenes Licht getaucht. Es
erschien mir einfach undenkbar, dass ich nach der nächsten
Woche wahrscheinlich nie wieder einen Fuß in diesen
Garten setzen würde. All jene Plantschbecken-Sitzungen mit
den Kindern während der Schulferien; all jene weinseligen,
mit leidenschaftlichen Diskussionen verbrachten Nächte
auf dem Rasen. Am Rand der Terrasse traf ich auf Matts
Tante Jenny.
»Ich kann es immer noch nicht fassen, dass sie wegziehen«, sagte ich.
Sie drückte tröstend meinen Arm. »Ich auch nicht«, erwiderte
sie. »Aber wir können sie ja besuchen. Obwohl ...
was für eine schreckliche, knochendurchschüttelnde Bus-
reise das sein wird! Ich werde wahrscheinlich ohne mein
Gebiss reisen müssen. Ah«, fuhr sie fort, »und Sie müssen
Leonard sein. Was für eine Freude, Sie endlich einmal kennen
zu lernen.«
Mein Vater lächelte gewinnend. In einer plötzlichen Anwandlung
von Sentimentalität erklärte ich Jenny, dass er die
beste Marmelade in ganz Großbritannien machte.
»Ah!«, sagte sie. »Das nenne ich aber eine ziemlich pauschale
Behauptung! Aber wie auch immer, wenn Sie übers
Einmachen sprechen, dann habe ich genau das Richtige für
Sie: Marmeladen, Gelees und Quarkspeisen. Habe es erst
kürzlich gekauft. Das Buch ist bereits in der siebten Auflage
erschienen, wissen Sie.« Sie zwinkerte Dad zu. »Rose
hat es gerade ausgelesen. Möchten Sie es sich ausleihen?«,
fragte sie.
»Und ob!«, sagte mein Dad und ließ sich wieder zurück
ins Haus bugsieren.
Und ob? Und ob? Was hatte das nun wieder zu bedeuten?
Wieder allein, schöpfte ich eine großzügige Portion
Punsch (plus braune Apfelscheiben, diverse Zitrusschalen,
Bruchstücke irgendeines dünnen Zweigs, usw.) in mein Glas
und kippte mir das Gebräu im Kosakenstil hinter die Binde,
durch ein Sieb aus locker zusammengebissenen Zähnen. Ich
verschluckte mich prompt an dem dünnen Zweig (Rosmarin/
Rosenstrauch?), und als ich endlich mit Husten und Würgen
fertig war, hob ich mit einem Ruck den Kopf, um Adam
Jones neben mir stehen zu sehen. Den unglaublich perfekten,
unglaublich coolen, unglaublich tollen Dr. Adam Jones. Ein
Mann, so aufreizend nett und freundlich und funktionstüchtig,
dass es gesetzlich hätte verboten sein müssen, ihn ohne
Leine auf die Straße zu lassen. Ein Mann, der leider Gottes
auch mit Davina Jones verheiratet war, meiner Chefin. Deshalb
musste ich liebenswürdig zu ihm sein.
Nicht, dass man jemals etwas anderes als liebenswürdig
zu einem Typen sein würde, der so entwaffnend gut aussehend
und so anständig und rücksichtsvoll war, selbst wenn
er in puncto Ehefrauen einen eher fragwürdigen Geschmack
bewies. Davina sah ebenfalls gut aus, das ganz sicherlich,
und sie war unbestreitbar erfolgreich, aber in ihrem Fall fielen
einem die Worte »anständig« und »rücksichtsvoll« nicht
annähernd so schnell ein. Ich arbeitete nun schon seit mehreren
Jahren in ihrer Grundstücks- und Immobilienmaklerfirma,
und der einzige Bereich, in dem sie bisher meinen
uneingeschränkten Beifall gefunden hatte, war, dass sie den
Verstand besessen hatte, einen solchen Mann zu heiraten.
Er blickte mit leicht gerunzelter Stirn auf mich herunter.
»Alles okay mit dir?«, erkundigte er sich. »Möchtest du,
dass ich dir auf den Rücken klopfe oder so was?«
»Danke, es geht schon wieder«, stieß ich keuchend hervor.
»Ich hatte mich nur an einem Stiel verschluckt.«
»Hm«, sagte er, während er eine Braue hochzog und lächelte.
»So. Nun ja. Und wie gefällt es Daniel an der medizinischen
Fakultät? Er ist doch inzwischen abgereist, nicht
wahr?«
Verdammt. Wieder das D-Wort. Ich machte eine schwungvolle,
weit ausholende Bewegung mit dem Arm und hätte
zu meiner Verblüffung beinahe das Gleichgewicht verloren.
Adam Jones streckte rasch einen warmen, mit feinen Härchen
bedeckten Unterarm aus, um mich zu stützen.
»Er ist weg«, sagte ich. »Ausgeflogen aus dem elterlichen
Nest. Aus den heimischen Gefilden. Aus den ... äh ... was
auch immer. Jedenfalls ... ja. Er ist fort.« Ich starrte gedankenverloren
in den Bodensatz auf dem Grund meines Glases.
»Tja, so ist das mit den Kindern«, meinte er ermunternd
und tätschelte mir den Arm. »Er wird sich an der Uni wohl
fühlen.«
»Ich weiß.«
»Wahrscheinlich amüsiert er sich großartig.«
»Ich weiß.«
»Die schönsten Jahre seines Lebens. Für mich waren die
Jahre an der Uni ganz sicherlich die schönste Zeit, die ich
je erlebt habe.«
»Ich weiß. So heißt es allgemein.«
»Nein, wirklich.« Er breitete die Arme aus, um seiner Bemerkung
noch mehr Nachdruck zu verleihen. »Eine einzige
Folge von Partys und Besäufnissen und Spaß und, äh ...
Geht es dir nicht gut?«
Nein, nein, nein, nein, nein! Es geht mir überhaupt nicht
gut. O Gott. Jetzt fängt das schon wieder an. Was ist bloß
mit mir los? Warum breche ich dauernd urplötzlich in Tränen
aus?
»Doch, doch, alles ... äh ... in Ordnung. Muss nur mal
eben schnell ... du weißt schon. Bis später.« Und ich stürmte
davon, durch die Terrassentür und ins Haus hinein.
Wo ein Empfangskomitee, bestehend aus Rose, Tante
Jenny, Phil und meinem Vater, im Hinterhalt in der Küche
wartete, um mir den Weg zur Toilette zu versperren und
ernstliche Besorgnis zu bekunden.
»Ah! Da bist du ja! Ach je! Charlotte! Was ist denn?
Fehlt dir was?«
»Ach, Unsinn, Dad!«, rief ich. »Hab nur einen Kern ins
Auge bekommen, das ist alles.«
»Einen Kern?« Phil trat auf mich zu. »Wie ist denn ein
Kern in dein Auge gekommen?«
Ich rieb mein Auge, aber erfolglos. Kernlos. Auf allen
Gesichtern - außer auf Phils, natürlich: Seines hatte sich
zu einer Grimasse der Konzentration verzogen - erschien
dieser verräterische Ausdruck. Dieser Ausdruck, der besagt:
»Wir wissen, dass du nicht wirklich irgendetwas
ins Auge bekommen hast und dass du tatsächlich weinst,
aber wir sind viel zu höflich und taktvoll, um das zu erwähnen,
und werden ganz einfach weitere Hinweise abwarten.
«
»Ein Tomatenkern«, führte ich wütend aus. »Er muss an
meinem Handrücken geklebt haben, während ich versucht
habe, mit dem Zweig fertig zu werden.« Ich schlug Phils
forschende Finger weg. »Tomaten enthalten eine Menge
Säure, wisst ihr.«
Ein verlegenes Schweigen breitete sich in der Küche aus,
das Rose jedoch zum Glück rasch brach. »Es sind diese am
Strauch gereiften Tomaten«, erklärte sie. »Die Dinger sind
scharf wie eine Zitrone. Matt macht immer ein großes Getue
um ihr besonderes Aroma, aber in Wirklichkeit kauft er
sie nur, weil sie Stiele und Blätter haben und er sich einbildet,
er könnte den Leuten weismachen, dass er sie selbst gezüchtet
hat. Komm.« Sie umschloss meine Hand mit festen,
warmen Fingern. »Lass uns ins Badezimmer gehen und dein
Make-up retten.«
Als wir die Küche verließen, konnte ich die Stimme meines
Vaters aus dem allgemeinen Stimmengewirr heraushören.
»Es ist die Veränderung, die ihr zu schaffen macht«,
ließ er sich lautstark vernehmen. »Bei ihrer Mutter war es
genau das Gleiche. Aber zum Glück bin ich ja jetzt da, um
sie aufzumuntern.«
Gegen Mitternacht hatte sich die Partygesellschaft in zwei
säuberliche Hälften aufgeteilt: Die eine Hälfte war nüchtern
und vernünftig und saß Kaffee trinkend im Haus, und die
andere war mehr oder weniger stark angesäuselt, trank alles
Mögliche und hielt sich im Garten auf. Phil gehörte typischerweise
zu der Gruppe der Nüchternen und verteilte
Tassen mit Instantkaffee im Haus, während Rose und ich
ziemlich blau waren und draußen auf dem Rasen hockten.
Beziehungsweise lang ausgestreckt auf ihrer Picknickdecke
lagen.
»Sieh dir diesen Arsch an«, sagte sie unvermittelt und
setzte sich auf.
Ich stützte mich auf die Ellenbogen und konzentrierte
mich. Besagtes Hinterteil gehörte einem jungen Mann in
Jeans. Ich betrachtete es ausführlich. »Neun Komma fünf.
Wer ist der glückliche Besitzer?«
»Keiran.«
»Und wer ist Keiran?«
»Oh, du kennst ihn nicht. Er ist der neue Leiter der Abteilung
Informationstechnologie an der Schule. Ach, Gott, wie
ich diesen Arsch vermissen werde!«
»In Canterbury wird's garantiert noch andere geben.«
Sie legte sich wieder auf die Decke zurück und spielte mit
dem Stiel ihres Glases.
»Versteh mich nicht falsch. Dies ist ein toller Karriere-
schritt für Matt und alles, und der Gedanke, dass er auch
nur eine dunkle Ahnung davon haben könnte, wie mir zu
Mute ist, wäre schrecklich für mich - er ist ja so begeistert
darüber, dass es dort so ländlich ist, und er schwärmt
von der Größe des Gartens und davon, dass er dort gottverdammten
Kohl und Kartoffeln und Lauch anbauen will ...
Oh, und Hühner! Hühner will er auch halten! Hat er dir
davon schon erzählt? Den Kindern wird es natürlich super
gefallen, aber, Gott, im Moment wünschte ich wirklich, ich
müsste nicht von hier wegziehen.«
Roses und Matts zwei Kinder besuchten beide noch die
Grundschule. Und Rose hatte Recht, es würde ihnen an ihrem
neuen Wohnort großartig gefallen.
»Das meinst du doch nicht ernst.«
»Oh, doch, das tue ich, Charlie! Nichts ist so wirksam,
wie alle seine besten Freunde auf einem Haufen versammelt
zu haben, um einen daran zu erinnern, wie sehr man sie vermissen
wird, wenn man fort ist.«
»So weit weg ist es ja nun auch wieder nicht.«
»Doch, das ist es. Wir hätten auch ebenso gut nach Brüssel
ziehen können.«
»Ich weiß. Aber wir können euch besuchen, und -«
Rose setzte sich erneut auf und machte eine Handbewegung.
»Sieh dir, zum Beispiel, ihn an.«
»Wen? David Harris-Harper?« David Harris-Harper war
neu in der Gegend, hatte sich aber bereits als Notar in Cefn
Melin etabliert. Er war ausgesprochen sexy und schaffte es,
selbst durch dicke Kordhosen hindurch jede Menge Androgene
zu versprühen.
Sie nickte. »Wie könnte es in Thanet wohl irgendjemanden
geben, der ein solch heißes Gerät ist wie David?«
»Ich bin sicher, dass es auch dort knackige Typen geben
muss.«
»Ja, schon, aber du wirst sie nicht gesehen haben, nicht?«
»Na schön, dann wirst du sie mir eben beschreiben müssen,
nicht? Wir können unsere Scharfe-Typen-Listen ja in
Form von schlüpfrigen Briefen austauschen - oder auch per
E-Mail, was das betrifft. Du könntest heimlich Fotos von den
Typen machen und sie mir über den Computer schicken.«
Die Vorstellung, dass die Scharfe-Typen-Listen - unsere
geheime Top Ten der ortsansässigen Männerwelt - zu Papier
gebracht und wie eine dringende Meldung über Überlandleitungen
verschickt würden, kam mir nicht nur witzig
vor, sondern auch seltsam reizvoll.
Rose lachte. »Eine fantastische Idee! Was mich übrigens
an etwas erinnert ...« Sie verschwand im Haus.
Wenige Augenblicke später kam sie wieder zurück, leicht
schwankend und mit einem Geschenk in der Hand.
»Für wen ist das?«
»Für dich, du Dussel.« Sie reichte mir das schmale Päckchen.
Sie hatte es wie immer sehr hübsch in Seidenpapier
eingewickelt.
»Oh, das wäre aber nun wirklich nicht nötig gewesen.
Was ist es denn? Soll ich es gleich aufmachen?«
Sie nickte. »Wenn du möchtest. Du wirst es vielleicht
doch wieder umtauschen wollen. Als ich es kaufte, dachte
ich, es wäre ein Buch über den Mount Everest, aber als ich
anschließend wieder zu Hause war, habe ich gemerkt, dass
es tatsächlich ein Buch über einen Gipfel in den Anden ist.
Und dann dachte ich, egal, was soll's. Es ist ja trotzdem ein
Buch über Berge. Ich dachte, es könnte sich vielleicht als
eine Inspiration erweisen, während du deine Reise planst.
Aber dann habe ich es gelesen. Na ja, nicht richtig gelesen,
nur die Texte unter den Fotos. Und dann habe ich ein bisschen
in dem Buch herumgeblättert und ein paar Abschnitte
überflogen, und da dachte ich, dass es letztendlich doch
nicht das ist, was ich eigentlich haben wollte. Es sieht ein
bisschen qualvoll aus.«
Das Buch hatte den Titel Touching the Void - Begegnung
mit der Leere. »Na und?« Ich zuckte die Schultern. »Du
kennst mich doch.«
»Na ja, irgendwo im Waldland herumzustapfen ist eine
Sache, und ich weiß, du liebst all dieses Zeug, aber ich habe
mich doch gefragt, ob dich abzuquälen wirklich das ist, was
du im Moment brauchst. Tausch das Buch, um Gottes willen,
um, wenn du willst -«
»Ach, Unsinn, Rose! Wenn es ums Abquälen geht, kann
ich mich mit den Besten messen!«
»Hm, sei dir da mal nur nicht so sicher, Charlie«, sagte
sie.
Wir beobachteten, wie Phil über den Rasen auf uns zukam,
mit zwei Bechern und zwei Kissen beladen. »Das Gras
ist feucht«, sagte er.
»Und folglich sind unsere Ärsche feucht«, konterte Rose
und lehnte den angebotenen Kaffee ab.
Woraufhin Rose und ich in brüllendes Gelächter ausbrachen
und uns die Bäuche hielten, obwohl wir wussten, dass
das Leben, zumindest für den Moment, wirklich nicht sonderlich
erheiternd war.
Phil machte ein verächtliches Gesicht und nahm die verschmähten
Kaffeebecher wieder an sich.
»Was sollen wir mit Kaffee? Wir brauchen Wein, Phil!«,
erklärte Rose ihm energisch.
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Copyright der Originalausgabe © 2001 by Lynne Barrett-Lee
Published by Arrangement with Lynne Barrett-Lee.
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe
© 2010 by Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Dieses Werk wurde vermittelt durch die
Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen
Das Werk erschien 2002 unter dem Titel Kusswechsel
im Blanvalet Verlag, München.
Übersetzung: Elke Bartels Wehrmann
Die Rechte an der deutschen Übersetzung von Elke Bartels Wehrmann liegen
beim Blanvalet Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Umschlaggestaltung: zeichenpool, München
Umschlagmotiv: Shutterstock (© monoo; © Blaz Kure; © Picsfi ve;
© Pablo H Caridad; © deedl; © Robyn Mackenzie)
Druck und Bindung: CPI Moravia Books s.r.o., Pohorelice
Printed in the EU
ISBN 978-3-86800-448-9
2014 2013 2012 2011
Die letzte Jahreszahl gibt die aktuelle Ausgabe an.
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Bibliographische Angaben
- Autor: Lynne Barrett-Lee
- 2011, 1, 480 Seiten, Maße: 12,5 x 18,7 cm, Taschenbuch
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3868004483
- ISBN-13: 9783868004489
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