Eanna - "Wildes Herz" und "Stürmische See"
Band 1 und 2
"Atmosphärisch dicht und frei von falschem Pathos. Éannas berührendes Schicksal geht unter die Haut."
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Wildes Herz: Irland, 1845: In der bitteren Hungersnot verliert die junge Éanna...
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Produktinformationen zu „Eanna - "Wildes Herz" und "Stürmische See" “
"Atmosphärisch dicht und frei von falschem Pathos. Éannas berührendes Schicksal geht unter die Haut."
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Wildes Herz: Irland, 1845: In der bitteren Hungersnot verliert die junge Éanna ihre gesamte Familie. Bettelarm ringt sie ums Überleben. Dann trifft sie auf Brendan Flynn, der einen Ausweg weiß: Wenn sie genügend Geld für eine Schiffspassage nach Amerika aufbringen, haben sie noch eine Chance. Doch dann passiert ein schreckliches Unglück.
Stürmische See: Nur mühsam finden Éanna und Brendan in Dublin Arbeit. Heimlich bittet Éanna den Schriftsteller O'Brien um Hilfe. Doch Brendan wird rasend eifersüchtig.
Lese-Probe zu „Eanna - "Wildes Herz" und "Stürmische See" “
Eanna - Wildes Herz und Stürmische See von Leonie Britt HarperAuszug aus: Wildes Herz
Prolog
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Nie sollte Éanna Sullivan jene verhängnisvolle Sommernacht vergessen, in der alles begann und das entsetzliche Unheil lautlos wie ein Dieb in der Nacht seinen Anfang nahm. Bis ans Ende ihrer Tage verfolgte sie der heimtückische Nebel und die Prophezeiung von Granny Kate.
In jener Nacht erwachte Éanna Sullivan aus den wirren Träumen ihres Schlafs, weil etwas über ihr Gesicht strich. Es fühlte sich wie eine schwielig raue Hand an, die im Vorübergehen ihre Wange streifte. Sie schlug die Augen auf. Das letzte Stück Torf glimmte noch im Feuer. Der schwache Schein vermochte nicht viel gegen die nächtliche Dunkelheit in dem einzigen Raum der Bauernkate auszurichten. Er reichte gerade noch aus, um die Umrisse ihrer Eltern und vier Geschwister erkennen zu können. Wie schutzsuchend lagen sie dicht gedrängt auf dem harten, festgestampften Erdboden. Doch zwischen ihrer Mutter und ihrer Schwester Mary klaffte ein Spalt, die dünne Strohmatte war leer. Dort hatte Granny Kate Donnegan, die Großmutter, ihren angestammten Schlafplatz auf dem Lehmboden.
Ein leises Knarren kam von der Tür. Éanna drehte ihren Kopf zur anderen Seite und erhaschte einen Blick auf ihre Großmutter, die in diesem Moment durch den Türspalt hinaus in die Nacht schlüpfte. Jetzt wusste sie, was sie aufgeweckt hatte. Es musste ein Zipfel von Granny Kates Umhang gewesen sein, als die Großmutter an ihr vorbei zur Tür geschlichen war. Doch was trieb Kate bloß zu dieser nächtlichen Stunde aus dem Haus? Nach den vielen Regentagen der vergangenen Wochen saß ein hartnäckiger Husten in ihrer Brust und wollte einfach nicht weichen.
Éanna überlegte nicht lange. Da sie nun schon mal wach war, konnte sie auch ebenso gut aufstehen und ihrer Granny nach draußen folgen. Zu groß war ihre Neugier, was Kate bewogen haben mochte, sich der feuchten Nachtkühle auszusetzen.
Éanna fand ihre Großmutter hinter der Lehmhütte. Ihre hagere, nach vorn gekrümmte Gestalt stand vor ihrem Kartoffelfeld, das sich über den sanft ansteigenden Hang eines Hügels erstreckte. Oben auf der Kuppe hoben sich Bäume und Strauchwerk als schwarze Silhouetten vor dem bewölkten Nachthimmel ab. Nur wenig Mondlicht fiel durch einige Löcher in der Wolkendecke und warf hier und da helle Flecken auf das Land.
Reglos stand Kate am Rand des Kartoffelackers, der bald reif zur ersten Ernte sein würde, und wandte nicht den Blick vom Hügel. Sie schaute sich nicht einmal um, als Éanna sich in ihrem Rücken mit einem herzhaften Gähnen bemerkbar machte.
Éanna trat neben sie, um zu sehen, was ihre Großmutter so aufmerksam zur Anhöhe blicken ließ. Sie konnte jedoch nichts Bemerkenswertes entdecken. Nur einige zerfranste Nebelschleier trieben dort oben heran und wogten wie milchiger Schaum über die niedrigen Ginsterbüsche zwischen den beiden Weißdornbäumen.
»Warum bist du aufgestanden, Granny? Konntest du nicht schlafen, oder hat dich hier irgendetwas geweckt? Treibt sich jemand da oben herum?« Éanna wusste nicht genau, weshalb sie ihre Stimme senkte, aber sie hatte das Gefühl, dass es besser sei, leise zu sprechen.
Granny Kate gab ein trockenes Husten von sich und zog den alten, verschlissenen Umhang fester um ihre hageren Schultern.
»Da, sieh nur!«, raunte sie heiser, und ihre knochige Hand deutete den Hügel hinauf. »Da kommt er! Er hat den Streit für sich entschieden.«
Éanna war beklommen zumute. Granny Kate sah manchmal Gesichter und Dinge, die anderen verborgen blieben. Sie wusste Geschichten über Geisterwesen zu erzählen, die einem eisige Schauer durch den Körper jagten und Gänsehaut auf die Arme trieben.
Die Leute in ihrem Bezirk von Galway sagten, Kate Donnegan habe das dritte Auge. So mancher mied sie deshalb und schlug lieber einen großen Bogen, als ihr über den Weg zu laufen. Sogar in der Dorfkirche blieb der Platz neben ihr häufig leer.
»Meinst du den Nebel?«, wisperte Éanna und wünschte sich plötzlich, sie wäre im Haus beim Feuer liegen geblieben. Denn nun hegte sie keinen Zweifel mehr, dass ihre Großmutter etwas sah, das ihr, Éanna, sicherlich Angst machen würde, wenn sie davon erfuhr.
Auf einmal erschienen ihr die Nebelschleier unheimlich. Hatten sie nicht einen beunruhigend ungewöhnlichen Stich ins Blauschwarze? Und konnten das nicht Geisterarme mit spinnenlangen Fingern an ihren Enden sein, die da links und rechts lautlos hinter dem Dickicht hervorglitten und sich ihrem Kartoffelfeld entgegenstreckten? Ja, so sah es aus! Als würden sich dort milchig blaue Klauenhände auf die oberen Reihen der kräftigen Kartoffelpflanzen legen, Klauenhände, die lang und immer länger wurden! Aber zum Weglaufen war es nun zu spät. Das würde die Großmutter nicht dulden. Dem Unabänderlichen im Leben müsse man immer mutig ins Auge blicken und ihm nie den Rücken zukehren, war einer ihrer gestrengen Regeln. Wer sich nicht daran hielt, dem sitze das Unheil noch viel boshafter im Nacken als demjenigen, der sich ihm furchtlos stelle.
»Es ist nicht nur Nebel, Kind«, raunte Granny Kate. «Das, was du da siehst, ist Fear Liath, der Graue Mann!«
Éanna stellten sich die Nackenhaare auf. Sofort schob sie ihre Hände in die weiten Ärmel ihres Kleides und verschränkte die Arme vor der Brust, als könnte sie das schützen. Fear Liath, der Graue Mann, war das gefürchteteste aller Geisterwesen, die in den irischen Mooren, Seen und Bergen hausten und sich nächtens am Himmel bekämpften. Nicht wenige Iren stellten an den Orten, die sie für von Geistern bewohnt glaubten, sogar Holzschalen mit Milch und anderer Nahrung als Opfergaben auf, um sie freundlich zu stimmen.
»Er hat die anderen Geister vertrieben, weil er sie für sich allein will«, fuhr Granny Kate mit unheilvoller Stimme fort. »Und jetzt kommt er, um sie sich zu holen!«
Éanna brauchte nicht zu fragen, was Kate mit »sie« meinte. Es waren immer die Kartoffeln, um die sich Geisterwesen wie der Graue Mann mit anderen Fairies stritten. Sie wollten den Iren die Erdfrucht rauben und sie dadurch ins Elend stürzen. Dabei waren die Kartoffeln für die bitterarme Landbevölkerung Irlands das Einzige, was sie vor dem Verhungern bewahrte. Die Sommerzeit hieß nicht nur bei den Sullivans, sondern auch bei fast allen anderen Bauern nur »Sommerhunger«. Denn der knappe Vorrat an Haferflocken, den sie spätestens im Mai bei den Kaufleuten für sündhaft viel Geld kaufen mussten, reichte nie bis zur ersten Kartoffelernte im späten August. Er musste arg gestreckt werden. Dann gab es tagaus, tagein nur wässrigen Porridge und dünne Kohlsuppen, selten einmal einen Hering. An Eierspeisen oder gar Fleisch war nicht zu denken. Und so wartete jeder voller Ungeduld darauf, dass die Felder endlich reifwurden und ihren Segen freigaben. Und nur wenn diese und die zweite Ernte im Oktober gut ausfielen, konnte eine Familie ohne allzu große Angst dem langen Winter entgegensehen. Es waren diese Kartoffeln, die ihr Überleben sicherten, nach denen der unersättliche Graue Mann jetzt seine Hände ausstreckte!
»Vielleicht irrst du dich diesmal, Granny«, sagte Éanna und hatte Mühe, das Zittern in ihrer Stimme zu unterdrücken. »Vielleicht ist das dort wirklich nur gewöhnlicher Nebel!«
Kate Donnegan schüttelte den Kopf. »Oh nein, es ist der Graue Mann! Sieh nur, wie er über das Feld fährt. Er will alles. Jede Pflanze, die er berührt, gehört ihm. Und er wird nicht eine auslassen.«
»Du machst mir Angst«, flüsterte Éanna. Der Nebel wurde dichter und wallte nun von allen Seiten den Hang hinunter. Immer mehr Kartoffelreihen verschwanden unter seiner Decke. Dabei wogte das milchige Weiß auf und ab, als würde Fear Liath alle Kartoffeln aus dem Boden reißen und sie mit maßloser Gefräßigkeit verschlingen. Nicht mehr lange, und die ersten Schlieren würden sie erreicht haben.
»Lass uns zurück ins Haus gehen.«
Granny Kate verharrte noch einen langen Moment am Fuß des Kartoffelfeldes. Sie schien den wabernden Nebelschwaden - nein, dem Grauen Mann die Stirn bieten zu wollen. Erst als der Husten sie wieder überfiel, drehte sie sich um. »Er nimmt uns alles. Der Winter wird bitter, Kind«, prophezeite sie. Ihre Stimme klang dabei so ruhig, als hätte sie eine so gewöhnliche und unumstößliche Tatsache wie das Fallen der Blätter im Herbst ausgesprochen. »Du wirst tapfer sein müssen, Éanna. Du bist jetzt schon dreizehn und die Älteste. Du wirst deinen Geschwistern ein Vorbild sein müssen. Denn wir werden hungern, Éanna. Hungern wie nie zuvor.«
Am nächsten Morgen bedeckte ein dicker bläulicher Nebel das Land, so weit das Auge reichte. Gegen Mittag verdunkelte sich auch noch die Sonne. Sie schien ihr Antlitz verhüllen zu wollen, um das Unheil nicht länger anschauen zu müssen. Der Himmel trug eine bedrohliche Farbe, wie sie selbst die Ältesten nie zuvor gesehen hatten.
Drei schrecklich lange Tage hielt sich der Nebel. Seltsamerweise konnte man in der beklemmenden Stille dennoch eine Stimme auf eine Meile Entfernung hören. Es war, als hielte das Land entsetzt den Atem an. Dann endlich löste sich der Nebel auf und gab den Blick frei auf die Katastrophe.
Auf allen Feldern waren die Kartoffelpflanzen wie kraftlos zusammengefallen. Blätter und Stiele hatten sich schwarz verfärbt. Ein entsetzlicher Gestank von Fäulnis trieb mit dem weichenden Nebel über das Land. Er verkündete auch noch dem Ahnungslosesten, welch entsetzliches Unglück Irland heimgesucht hatte.
Granny Kate erlebte den grauenvollen Winter und den großen Hunger nicht mehr. Als die erste und auch die zweite Ernte des Jahres 1845 überall nur schwarze, verfaulte Kartoffeln zutage brachte, lag sie schon in ihrem Grab auf dem Friedhof hinter der Dorfkirche. Ihr Tod bewahrte sie auch davor, die verfaulten Kartoffeln und kläglichen Ernten der nächsten beiden Jahre zu durchleiden. Und er ersparte ihr die Tragödie, mit ansehen zu müssen, wie ihr Schwiegersohn und vier ihrer Enkelkinder nacheinander der bitteren Hungersnot zum Opfer fielen und neben ihr an der Steinmauer zu ihrer letzten Ruhe gebettet wurden.
Auszug aus: Stürmische See
Erstes Kapitel
Als die Morgensonne über der Irischen See aufstieg, traf sie auf einen wolkenlosen Himmel. Ihre ersten Strahlen ließen das Blau des Firmaments wie frostig klares Gletschereis aufleuchten. Die Sonne vertrieb die rußgetränkten Schatten der Nacht aus Dublin und suchte sich ihren Weg bis in die Thomas Street. Hier schickte sie einen ihrer Strahlen durch ein kleines Glasfenster im ersten Stock eines Wohnhauses nahe des St. -James-Tors.
Er fiel in eine winzige Kammer, die einfach, aber behaglich eingerichtet war, und wanderte langsam über den blank gescheuerten Dielenboden bis zu einem schmalen Bettgestell.
Éanna Sullivan spürte die Wärme auf ihrem Haar und vergrub ihren roten Lockenschopf tiefer in die Kissen. Doch das helle Licht, das ihre Kammer erfüllte, machte es ihr unmöglich, sich noch einmal umzudrehen und weiterzuträumen. Obwohl sie ihre Lider entschlossen zusammenpresste, blendete es sie.
Verschlafen setzte sie sich auf und gähnte.
Nach Tagen, an denen die fahle, kraftlose Wintersonne es nicht vermocht hatte, die tief hängende und schmutzig graue Wolkendecke über Dublin aufzureißen, erschien ihr dieser strahlende Sonntagmorgen wie ein Wunder.
Und genau das war er - ein Wunder, dachte sie und dabei durchzuckte sie ein jähes Glücksgefühl, als ihr wieder bewusst wurde, was gestern Abend geschehen war.
Zwei lange Wochen hatte sie in Dublin Tag für Tag nach ihrem Liebsten Brendan Flynn gesucht, nachdem das Schicksal sie erbarmungslos auseinandergerissen hatte. Und jeden Abend war sie ernüchtert und verzweifelt in die Pension zurückgekehrt. Irgendwann hatte sie die Hoffnung beinahe aufgegeben, unter den unzähligen Hungerleidern, die aus allen Teilen des Landes nach Dublin geströmt waren, diesen einen zu finden.
Und doch war ihr gestern das Unmögliche gelungen! Brendan Flynn, der siebzehnjährige kraushaarige Rotschopf aus der Gegend südlich von Loughrea.
Der Mann, an den sie ihr Herz verloren hatte - und der endlich in ihr Leben zurückgekehrt war!
Rasch schwang sie die Beine aus dem Bett und schlich in ihrem Unterhemd in Richtung Kammertür. Sie bemühte sich darum, möglichst leise aufzutreten, da sie sich denken konnte, was die gestrenge Pensionswirtin Elizabeth Skeffington sagen würde, wenn sie mitbekäme, dass Éanna im Begriff war, im Unterhemd über den Flur zu huschen, um ihre Freundin Emily in der gegenüberliegenden Kammer zu wecken. Aber was sie ihrer besten Freundin und Weggefährtin zu sagen hatte, duldete keinen Aufschub!
Emily wach zu bekommen war gar nicht so einfach. Murrend zog die Freundin sich die Bettdecke über den Kopf, als Éanna leise ihren Namen rief und sie an der Schulter rüttelte. »Emily, wach endlich auf!«, drängte sie.
Emily schlug die Augen auf und ließ die Bettdecke bis unter das Kinn sinken.
»Warum sollte ich?«, murrte sie schlecht gelaunt. »Hast du vergessen, was für ein Tag ist? Heute müssen wir die Pension verlassen.«
Eine kalte Hand griff nach Éannas Herz, doch sie ließ sich nicht entmutigen. Nicht jetzt. Nicht heute. Nachdem sie Brendan gefunden hatte, war alles möglich!
»Wir müssen dankbar sein, dass uns Patrick O'Brien die Pension so lange bezahlt hat«, erwiderte sie und dachte an ihren Wohltäter, dem sie alles zu verdanken hatte. »Außerdem habe ich Neuigkeiten!«
Emily blinzelte sie verschlafen an, bevor ihr aufging, was ihre Freundin meinen könnte. »Sag bloß, du hast -?« Éanna blickte geheimnisvoll lächelnd auf sie herunter. »Wenn du wissen willst, was passiert ist, wirst du schon aufstehen und mich zum Frühstück begleiten müssen!«, sagte sie triumphierend. »Wir sehen uns dann unten.« Sie blinzelte ihrer Freundin zu und eilte ohne ein weiteres Wort in ihre eigene Kammer zurück, wo sie sich schnell frisch machte und ihr schlichtes Wollkleid überzog. Dann fühlte sie sich bereit für den neuen Tag und stieg die Treppe ins Erdgeschoss des Hauses hinunter.
Éanna hatte damit gerechnet, dass die Pensionswirtin an diesem Morgen nicht gut auf sie zu sprechen sein würde. Schließlich war sie am vorherigen Abend erst sehr spät nach Hause zurückgekehrt. Und ihre Ahnung täuschte sie nicht.
»Wo hast du dich nur die ganze Nacht herumgetrieben? Dies ist eine ehrbare Pension und ich dulde keine Mädchen, die nachts auf der Straße herumlungern«, stellte Elizabeth Skeffington sie in dem ihr eigenen barschen Tonfall zur Rede, kaum dass Éanna den Frühstücksraum betreten hatte. Die Wirtin war eine stämmige Frau mit kräftigen Oberarmen und dunklem Bartflaum auf Oberlippe und Kinnpartie. Ihre schmucklos schwarze Witwenkleidung, die sie seit dem Tod ihres Mannes vor mehr als zehn Jahren trug, sowie ihr dicker, geflochtener Haarkranz auf dem Kopf unterstrichen die Strenge ihrer Gesichtszüge und ihrer Stimme. Éanna wollte gerade zu einer Erwiderung ansetzen, als Emilys dunkelbrauner Haarschopf hinter der Tür zum Esszimmer hervorlugte. Die Freundin schnitt im Rücken von Missis Skeffington eine Grimasse.
Angesichts von Missis Skeffingtons grimmiger Miene war Éanna jedoch alles andere als zum Lachen zumute. »Ich hätte dich längst auf die Straße setzen sollen«, fuhr die Wirtin sie an. »Du hast es nur Mister O'Briens Güte zu verdanken, dass ich dich und Emily überhaupt bei mir dulde.«
Schnell setzte Éanna eine zerknirschte, schuldbewusste Miene auf. Sie wusste, dass die Wirtin sich nur dann besänftigt zeigen würde, wenn sie das Gefühl hatte, dass Éanna ihr Fehlverhalten aufrichtig bereute. »Es tut mir schrecklich leid, dass ich Euch habe warten lassen, Missis Skeffington«, versicherte sie deshalb schnell und griff als Erklärung für ihr langes Wegbleiben zu einer Notlüge. »Aber nach der Messe habe ich in der Kirche gebetet und darüber die Zeitvergessen.« »Dafür wäre ja auch tagsüber Zeit genug gewesen!«, wies die Wirtin sie missmutig zurecht, um dann etwas nachsichtiger hinzuzufügen: »Aber wenn du für dein Seelenheil gebetet hast, ist es kein Wunder, dass es so lange gedauert hat!«
Éanna senkte schamhaft den Blick wie eine reuige Sünderin. Aber sie hatte ihr Ziel erreicht. Die Pensionswirtin ließ sie in Frieden.
Wenig später saß Éanna im Esszimmer der Pension und ließ sich den heißen, stark gesüßten Tee sowie das Porridge schmecken. Nur für einen kurzen Moment durchfuhr sie der Gedanke, dass dieser unerhörte Luxus, nämlich eine eigene Kammer mit einem richtigen Bett und warmen Decken sowie zwei sättigende Mahlzeiten am Tag zu haben, nun zu Ende war. Wie schnell hatte sie den Hunger und das Elend der letzten Monate vergessen! Wie ein schlimmer Traum erschienen ihr das Leid, der Hunger, die Verzweiflung, die sie seit dem Tod ihrer Mutter erlitten hatte. Doch sie wusste, dass ohne Mister O'Brien, den das Schicksal ihr in den letzten Monaten mehrfach als Retter in der Not geschickt hatte, all das undenkbar gewesen wäre. Ja, überhaupt, dass sie es bis nach Dublin geschafft hatten, war nur ihm zu verdanken.
Sie dachte kurz daran, was Brendan wohl sagen würde, wenn er davon erfuhr, wie ihr Wohltäter ihr, Emily und Caitlin geholfen hatte. Doch sie schob den Gedanken schnell zur Seite.
Emily griff nach ihrem Löffel und begann ihr Porridge zu essen. »Nun erzähl schon!«, drängte sie ungeduldig. »Sag bloß, du hast deinen Liebsten endlich wiedergefunden!« Éanna nickte und strahlte sie voller Glück an. »Er ist mir direkt in die Arme gelaufen, vor der St.-Patricks-Kathedrale!« »Ich will jede Einzelheit wissen! Lass bloß nichts aus!«, drängte ihre Freundin. »Habt ihr euch geküsst?«
»Nicht so laut!«, zischte Éanna erschrocken und warf einen schnellen Blick hinüber zur halb offen stehenden Küchentür. Doch von dort kam noch immer geschäftiges Klappern und Klirren von Besteck, Töpfen und Geschirr. »Wenn Missis Skeffington Wind von der Geschichte mit Brendan bekommt . . .«
Emily grinste. »Also ihr habt euch geküsst!«, raunte sie und hing wie gebannt an den Lippen ihrer Freundin. »Wie war es?«
Éanna wurde unter ihrem Blickverlegen und ihre Wangen röteten sich. »Mein Gott, du fragst Sachen!«, erwiderte sie ausweichend. Sie wollte das, was sie dabei empfunden hatte und noch immer in sich fühlte, mit keinem anderen teilen. Nicht einmal mit Emily. »Es war ... es war einfach wunderschön.«
Emily machte ein enttäuschtes Gesicht. »Nur ein einziger Kuss? War er denn wenigstens leidenschaftlich, dein Brendan?«
»Ja, und es waren mehrere«, sagte Éanna widerstrebend, aber irgendwie auch mit Stolz, und nun brannten ihre Wangen erst richtig.
»Hört, hört! Das klingt schon besser!«, sagte Emily und rückte ganz nahe an sie heran.
Éanna griff wieder zu ihrem Löffel. »Brendan und ich haben uns für die Frühmesse heute Morgen in St. Patricks verabredet, um uns endlich erzählen zu können, was uns in den Wochen seit unserer Trennung alles zugestoßen ist. Dazu war gestern Abend ja keine Zeit, weil ich in die Pension zurückmusste!« Erschrocken blickte Éanna auf. »Wie spät ist es eigentlich? Schaffe ich es noch bis zur Messe?« Emily nickte beruhigend. »Wenn du jetzt sofort auf brichst, wirst du rechtzeitig dort sein. Schade nur, dass wir unser Gespräch dann später fortsetzen müssen. Ich habe nämlich auch Neuigkeiten. Du wirst es kaum glauben, wenn ich es dir erzähle!«
»Was denn?«
Emily schenkte ihr ein verschmitztes Lächeln. »Nein, für dich ist es jetzt Zeit, Brendan zu treffen. Aber wenn du wiederkommst, möchte ich alles ganz genau wissen. Dann revanchiere ich mich auch, versprochen!«
Hin- und hergerissen sah Éanna ihre Freundin an. Sie hätte so gerne gewusst, was Emily ihr zu sagen hatte, aber sie konnte Brendan nicht warten lassen. Entschlossen sprang Éanna auf und umarmte ihre Freundin zum Abschied. »Bis später also. Und vergiss nicht, was du mir erzählen wolltest!«
Emily schüttelte lachend den Kopf. »Keine Sorge. So gute Nachrichten vergisst man nicht.«
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Nie sollte Éanna Sullivan jene verhängnisvolle Sommernacht vergessen, in der alles begann und das entsetzliche Unheil lautlos wie ein Dieb in der Nacht seinen Anfang nahm. Bis ans Ende ihrer Tage verfolgte sie der heimtückische Nebel und die Prophezeiung von Granny Kate.
In jener Nacht erwachte Éanna Sullivan aus den wirren Träumen ihres Schlafs, weil etwas über ihr Gesicht strich. Es fühlte sich wie eine schwielig raue Hand an, die im Vorübergehen ihre Wange streifte. Sie schlug die Augen auf. Das letzte Stück Torf glimmte noch im Feuer. Der schwache Schein vermochte nicht viel gegen die nächtliche Dunkelheit in dem einzigen Raum der Bauernkate auszurichten. Er reichte gerade noch aus, um die Umrisse ihrer Eltern und vier Geschwister erkennen zu können. Wie schutzsuchend lagen sie dicht gedrängt auf dem harten, festgestampften Erdboden. Doch zwischen ihrer Mutter und ihrer Schwester Mary klaffte ein Spalt, die dünne Strohmatte war leer. Dort hatte Granny Kate Donnegan, die Großmutter, ihren angestammten Schlafplatz auf dem Lehmboden.
Ein leises Knarren kam von der Tür. Éanna drehte ihren Kopf zur anderen Seite und erhaschte einen Blick auf ihre Großmutter, die in diesem Moment durch den Türspalt hinaus in die Nacht schlüpfte. Jetzt wusste sie, was sie aufgeweckt hatte. Es musste ein Zipfel von Granny Kates Umhang gewesen sein, als die Großmutter an ihr vorbei zur Tür geschlichen war. Doch was trieb Kate bloß zu dieser nächtlichen Stunde aus dem Haus? Nach den vielen Regentagen der vergangenen Wochen saß ein hartnäckiger Husten in ihrer Brust und wollte einfach nicht weichen.
Éanna überlegte nicht lange. Da sie nun schon mal wach war, konnte sie auch ebenso gut aufstehen und ihrer Granny nach draußen folgen. Zu groß war ihre Neugier, was Kate bewogen haben mochte, sich der feuchten Nachtkühle auszusetzen.
Éanna fand ihre Großmutter hinter der Lehmhütte. Ihre hagere, nach vorn gekrümmte Gestalt stand vor ihrem Kartoffelfeld, das sich über den sanft ansteigenden Hang eines Hügels erstreckte. Oben auf der Kuppe hoben sich Bäume und Strauchwerk als schwarze Silhouetten vor dem bewölkten Nachthimmel ab. Nur wenig Mondlicht fiel durch einige Löcher in der Wolkendecke und warf hier und da helle Flecken auf das Land.
Reglos stand Kate am Rand des Kartoffelackers, der bald reif zur ersten Ernte sein würde, und wandte nicht den Blick vom Hügel. Sie schaute sich nicht einmal um, als Éanna sich in ihrem Rücken mit einem herzhaften Gähnen bemerkbar machte.
Éanna trat neben sie, um zu sehen, was ihre Großmutter so aufmerksam zur Anhöhe blicken ließ. Sie konnte jedoch nichts Bemerkenswertes entdecken. Nur einige zerfranste Nebelschleier trieben dort oben heran und wogten wie milchiger Schaum über die niedrigen Ginsterbüsche zwischen den beiden Weißdornbäumen.
»Warum bist du aufgestanden, Granny? Konntest du nicht schlafen, oder hat dich hier irgendetwas geweckt? Treibt sich jemand da oben herum?« Éanna wusste nicht genau, weshalb sie ihre Stimme senkte, aber sie hatte das Gefühl, dass es besser sei, leise zu sprechen.
Granny Kate gab ein trockenes Husten von sich und zog den alten, verschlissenen Umhang fester um ihre hageren Schultern.
»Da, sieh nur!«, raunte sie heiser, und ihre knochige Hand deutete den Hügel hinauf. »Da kommt er! Er hat den Streit für sich entschieden.«
Éanna war beklommen zumute. Granny Kate sah manchmal Gesichter und Dinge, die anderen verborgen blieben. Sie wusste Geschichten über Geisterwesen zu erzählen, die einem eisige Schauer durch den Körper jagten und Gänsehaut auf die Arme trieben.
Die Leute in ihrem Bezirk von Galway sagten, Kate Donnegan habe das dritte Auge. So mancher mied sie deshalb und schlug lieber einen großen Bogen, als ihr über den Weg zu laufen. Sogar in der Dorfkirche blieb der Platz neben ihr häufig leer.
»Meinst du den Nebel?«, wisperte Éanna und wünschte sich plötzlich, sie wäre im Haus beim Feuer liegen geblieben. Denn nun hegte sie keinen Zweifel mehr, dass ihre Großmutter etwas sah, das ihr, Éanna, sicherlich Angst machen würde, wenn sie davon erfuhr.
Auf einmal erschienen ihr die Nebelschleier unheimlich. Hatten sie nicht einen beunruhigend ungewöhnlichen Stich ins Blauschwarze? Und konnten das nicht Geisterarme mit spinnenlangen Fingern an ihren Enden sein, die da links und rechts lautlos hinter dem Dickicht hervorglitten und sich ihrem Kartoffelfeld entgegenstreckten? Ja, so sah es aus! Als würden sich dort milchig blaue Klauenhände auf die oberen Reihen der kräftigen Kartoffelpflanzen legen, Klauenhände, die lang und immer länger wurden! Aber zum Weglaufen war es nun zu spät. Das würde die Großmutter nicht dulden. Dem Unabänderlichen im Leben müsse man immer mutig ins Auge blicken und ihm nie den Rücken zukehren, war einer ihrer gestrengen Regeln. Wer sich nicht daran hielt, dem sitze das Unheil noch viel boshafter im Nacken als demjenigen, der sich ihm furchtlos stelle.
»Es ist nicht nur Nebel, Kind«, raunte Granny Kate. «Das, was du da siehst, ist Fear Liath, der Graue Mann!«
Éanna stellten sich die Nackenhaare auf. Sofort schob sie ihre Hände in die weiten Ärmel ihres Kleides und verschränkte die Arme vor der Brust, als könnte sie das schützen. Fear Liath, der Graue Mann, war das gefürchteteste aller Geisterwesen, die in den irischen Mooren, Seen und Bergen hausten und sich nächtens am Himmel bekämpften. Nicht wenige Iren stellten an den Orten, die sie für von Geistern bewohnt glaubten, sogar Holzschalen mit Milch und anderer Nahrung als Opfergaben auf, um sie freundlich zu stimmen.
»Er hat die anderen Geister vertrieben, weil er sie für sich allein will«, fuhr Granny Kate mit unheilvoller Stimme fort. »Und jetzt kommt er, um sie sich zu holen!«
Éanna brauchte nicht zu fragen, was Kate mit »sie« meinte. Es waren immer die Kartoffeln, um die sich Geisterwesen wie der Graue Mann mit anderen Fairies stritten. Sie wollten den Iren die Erdfrucht rauben und sie dadurch ins Elend stürzen. Dabei waren die Kartoffeln für die bitterarme Landbevölkerung Irlands das Einzige, was sie vor dem Verhungern bewahrte. Die Sommerzeit hieß nicht nur bei den Sullivans, sondern auch bei fast allen anderen Bauern nur »Sommerhunger«. Denn der knappe Vorrat an Haferflocken, den sie spätestens im Mai bei den Kaufleuten für sündhaft viel Geld kaufen mussten, reichte nie bis zur ersten Kartoffelernte im späten August. Er musste arg gestreckt werden. Dann gab es tagaus, tagein nur wässrigen Porridge und dünne Kohlsuppen, selten einmal einen Hering. An Eierspeisen oder gar Fleisch war nicht zu denken. Und so wartete jeder voller Ungeduld darauf, dass die Felder endlich reifwurden und ihren Segen freigaben. Und nur wenn diese und die zweite Ernte im Oktober gut ausfielen, konnte eine Familie ohne allzu große Angst dem langen Winter entgegensehen. Es waren diese Kartoffeln, die ihr Überleben sicherten, nach denen der unersättliche Graue Mann jetzt seine Hände ausstreckte!
»Vielleicht irrst du dich diesmal, Granny«, sagte Éanna und hatte Mühe, das Zittern in ihrer Stimme zu unterdrücken. »Vielleicht ist das dort wirklich nur gewöhnlicher Nebel!«
Kate Donnegan schüttelte den Kopf. »Oh nein, es ist der Graue Mann! Sieh nur, wie er über das Feld fährt. Er will alles. Jede Pflanze, die er berührt, gehört ihm. Und er wird nicht eine auslassen.«
»Du machst mir Angst«, flüsterte Éanna. Der Nebel wurde dichter und wallte nun von allen Seiten den Hang hinunter. Immer mehr Kartoffelreihen verschwanden unter seiner Decke. Dabei wogte das milchige Weiß auf und ab, als würde Fear Liath alle Kartoffeln aus dem Boden reißen und sie mit maßloser Gefräßigkeit verschlingen. Nicht mehr lange, und die ersten Schlieren würden sie erreicht haben.
»Lass uns zurück ins Haus gehen.«
Granny Kate verharrte noch einen langen Moment am Fuß des Kartoffelfeldes. Sie schien den wabernden Nebelschwaden - nein, dem Grauen Mann die Stirn bieten zu wollen. Erst als der Husten sie wieder überfiel, drehte sie sich um. »Er nimmt uns alles. Der Winter wird bitter, Kind«, prophezeite sie. Ihre Stimme klang dabei so ruhig, als hätte sie eine so gewöhnliche und unumstößliche Tatsache wie das Fallen der Blätter im Herbst ausgesprochen. »Du wirst tapfer sein müssen, Éanna. Du bist jetzt schon dreizehn und die Älteste. Du wirst deinen Geschwistern ein Vorbild sein müssen. Denn wir werden hungern, Éanna. Hungern wie nie zuvor.«
Am nächsten Morgen bedeckte ein dicker bläulicher Nebel das Land, so weit das Auge reichte. Gegen Mittag verdunkelte sich auch noch die Sonne. Sie schien ihr Antlitz verhüllen zu wollen, um das Unheil nicht länger anschauen zu müssen. Der Himmel trug eine bedrohliche Farbe, wie sie selbst die Ältesten nie zuvor gesehen hatten.
Drei schrecklich lange Tage hielt sich der Nebel. Seltsamerweise konnte man in der beklemmenden Stille dennoch eine Stimme auf eine Meile Entfernung hören. Es war, als hielte das Land entsetzt den Atem an. Dann endlich löste sich der Nebel auf und gab den Blick frei auf die Katastrophe.
Auf allen Feldern waren die Kartoffelpflanzen wie kraftlos zusammengefallen. Blätter und Stiele hatten sich schwarz verfärbt. Ein entsetzlicher Gestank von Fäulnis trieb mit dem weichenden Nebel über das Land. Er verkündete auch noch dem Ahnungslosesten, welch entsetzliches Unglück Irland heimgesucht hatte.
Granny Kate erlebte den grauenvollen Winter und den großen Hunger nicht mehr. Als die erste und auch die zweite Ernte des Jahres 1845 überall nur schwarze, verfaulte Kartoffeln zutage brachte, lag sie schon in ihrem Grab auf dem Friedhof hinter der Dorfkirche. Ihr Tod bewahrte sie auch davor, die verfaulten Kartoffeln und kläglichen Ernten der nächsten beiden Jahre zu durchleiden. Und er ersparte ihr die Tragödie, mit ansehen zu müssen, wie ihr Schwiegersohn und vier ihrer Enkelkinder nacheinander der bitteren Hungersnot zum Opfer fielen und neben ihr an der Steinmauer zu ihrer letzten Ruhe gebettet wurden.
Auszug aus: Stürmische See
Erstes Kapitel
Als die Morgensonne über der Irischen See aufstieg, traf sie auf einen wolkenlosen Himmel. Ihre ersten Strahlen ließen das Blau des Firmaments wie frostig klares Gletschereis aufleuchten. Die Sonne vertrieb die rußgetränkten Schatten der Nacht aus Dublin und suchte sich ihren Weg bis in die Thomas Street. Hier schickte sie einen ihrer Strahlen durch ein kleines Glasfenster im ersten Stock eines Wohnhauses nahe des St. -James-Tors.
Er fiel in eine winzige Kammer, die einfach, aber behaglich eingerichtet war, und wanderte langsam über den blank gescheuerten Dielenboden bis zu einem schmalen Bettgestell.
Éanna Sullivan spürte die Wärme auf ihrem Haar und vergrub ihren roten Lockenschopf tiefer in die Kissen. Doch das helle Licht, das ihre Kammer erfüllte, machte es ihr unmöglich, sich noch einmal umzudrehen und weiterzuträumen. Obwohl sie ihre Lider entschlossen zusammenpresste, blendete es sie.
Verschlafen setzte sie sich auf und gähnte.
Nach Tagen, an denen die fahle, kraftlose Wintersonne es nicht vermocht hatte, die tief hängende und schmutzig graue Wolkendecke über Dublin aufzureißen, erschien ihr dieser strahlende Sonntagmorgen wie ein Wunder.
Und genau das war er - ein Wunder, dachte sie und dabei durchzuckte sie ein jähes Glücksgefühl, als ihr wieder bewusst wurde, was gestern Abend geschehen war.
Zwei lange Wochen hatte sie in Dublin Tag für Tag nach ihrem Liebsten Brendan Flynn gesucht, nachdem das Schicksal sie erbarmungslos auseinandergerissen hatte. Und jeden Abend war sie ernüchtert und verzweifelt in die Pension zurückgekehrt. Irgendwann hatte sie die Hoffnung beinahe aufgegeben, unter den unzähligen Hungerleidern, die aus allen Teilen des Landes nach Dublin geströmt waren, diesen einen zu finden.
Und doch war ihr gestern das Unmögliche gelungen! Brendan Flynn, der siebzehnjährige kraushaarige Rotschopf aus der Gegend südlich von Loughrea.
Der Mann, an den sie ihr Herz verloren hatte - und der endlich in ihr Leben zurückgekehrt war!
Rasch schwang sie die Beine aus dem Bett und schlich in ihrem Unterhemd in Richtung Kammertür. Sie bemühte sich darum, möglichst leise aufzutreten, da sie sich denken konnte, was die gestrenge Pensionswirtin Elizabeth Skeffington sagen würde, wenn sie mitbekäme, dass Éanna im Begriff war, im Unterhemd über den Flur zu huschen, um ihre Freundin Emily in der gegenüberliegenden Kammer zu wecken. Aber was sie ihrer besten Freundin und Weggefährtin zu sagen hatte, duldete keinen Aufschub!
Emily wach zu bekommen war gar nicht so einfach. Murrend zog die Freundin sich die Bettdecke über den Kopf, als Éanna leise ihren Namen rief und sie an der Schulter rüttelte. »Emily, wach endlich auf!«, drängte sie.
Emily schlug die Augen auf und ließ die Bettdecke bis unter das Kinn sinken.
»Warum sollte ich?«, murrte sie schlecht gelaunt. »Hast du vergessen, was für ein Tag ist? Heute müssen wir die Pension verlassen.«
Eine kalte Hand griff nach Éannas Herz, doch sie ließ sich nicht entmutigen. Nicht jetzt. Nicht heute. Nachdem sie Brendan gefunden hatte, war alles möglich!
»Wir müssen dankbar sein, dass uns Patrick O'Brien die Pension so lange bezahlt hat«, erwiderte sie und dachte an ihren Wohltäter, dem sie alles zu verdanken hatte. »Außerdem habe ich Neuigkeiten!«
Emily blinzelte sie verschlafen an, bevor ihr aufging, was ihre Freundin meinen könnte. »Sag bloß, du hast -?« Éanna blickte geheimnisvoll lächelnd auf sie herunter. »Wenn du wissen willst, was passiert ist, wirst du schon aufstehen und mich zum Frühstück begleiten müssen!«, sagte sie triumphierend. »Wir sehen uns dann unten.« Sie blinzelte ihrer Freundin zu und eilte ohne ein weiteres Wort in ihre eigene Kammer zurück, wo sie sich schnell frisch machte und ihr schlichtes Wollkleid überzog. Dann fühlte sie sich bereit für den neuen Tag und stieg die Treppe ins Erdgeschoss des Hauses hinunter.
Éanna hatte damit gerechnet, dass die Pensionswirtin an diesem Morgen nicht gut auf sie zu sprechen sein würde. Schließlich war sie am vorherigen Abend erst sehr spät nach Hause zurückgekehrt. Und ihre Ahnung täuschte sie nicht.
»Wo hast du dich nur die ganze Nacht herumgetrieben? Dies ist eine ehrbare Pension und ich dulde keine Mädchen, die nachts auf der Straße herumlungern«, stellte Elizabeth Skeffington sie in dem ihr eigenen barschen Tonfall zur Rede, kaum dass Éanna den Frühstücksraum betreten hatte. Die Wirtin war eine stämmige Frau mit kräftigen Oberarmen und dunklem Bartflaum auf Oberlippe und Kinnpartie. Ihre schmucklos schwarze Witwenkleidung, die sie seit dem Tod ihres Mannes vor mehr als zehn Jahren trug, sowie ihr dicker, geflochtener Haarkranz auf dem Kopf unterstrichen die Strenge ihrer Gesichtszüge und ihrer Stimme. Éanna wollte gerade zu einer Erwiderung ansetzen, als Emilys dunkelbrauner Haarschopf hinter der Tür zum Esszimmer hervorlugte. Die Freundin schnitt im Rücken von Missis Skeffington eine Grimasse.
Angesichts von Missis Skeffingtons grimmiger Miene war Éanna jedoch alles andere als zum Lachen zumute. »Ich hätte dich längst auf die Straße setzen sollen«, fuhr die Wirtin sie an. »Du hast es nur Mister O'Briens Güte zu verdanken, dass ich dich und Emily überhaupt bei mir dulde.«
Schnell setzte Éanna eine zerknirschte, schuldbewusste Miene auf. Sie wusste, dass die Wirtin sich nur dann besänftigt zeigen würde, wenn sie das Gefühl hatte, dass Éanna ihr Fehlverhalten aufrichtig bereute. »Es tut mir schrecklich leid, dass ich Euch habe warten lassen, Missis Skeffington«, versicherte sie deshalb schnell und griff als Erklärung für ihr langes Wegbleiben zu einer Notlüge. »Aber nach der Messe habe ich in der Kirche gebetet und darüber die Zeitvergessen.« »Dafür wäre ja auch tagsüber Zeit genug gewesen!«, wies die Wirtin sie missmutig zurecht, um dann etwas nachsichtiger hinzuzufügen: »Aber wenn du für dein Seelenheil gebetet hast, ist es kein Wunder, dass es so lange gedauert hat!«
Éanna senkte schamhaft den Blick wie eine reuige Sünderin. Aber sie hatte ihr Ziel erreicht. Die Pensionswirtin ließ sie in Frieden.
Wenig später saß Éanna im Esszimmer der Pension und ließ sich den heißen, stark gesüßten Tee sowie das Porridge schmecken. Nur für einen kurzen Moment durchfuhr sie der Gedanke, dass dieser unerhörte Luxus, nämlich eine eigene Kammer mit einem richtigen Bett und warmen Decken sowie zwei sättigende Mahlzeiten am Tag zu haben, nun zu Ende war. Wie schnell hatte sie den Hunger und das Elend der letzten Monate vergessen! Wie ein schlimmer Traum erschienen ihr das Leid, der Hunger, die Verzweiflung, die sie seit dem Tod ihrer Mutter erlitten hatte. Doch sie wusste, dass ohne Mister O'Brien, den das Schicksal ihr in den letzten Monaten mehrfach als Retter in der Not geschickt hatte, all das undenkbar gewesen wäre. Ja, überhaupt, dass sie es bis nach Dublin geschafft hatten, war nur ihm zu verdanken.
Sie dachte kurz daran, was Brendan wohl sagen würde, wenn er davon erfuhr, wie ihr Wohltäter ihr, Emily und Caitlin geholfen hatte. Doch sie schob den Gedanken schnell zur Seite.
Emily griff nach ihrem Löffel und begann ihr Porridge zu essen. »Nun erzähl schon!«, drängte sie ungeduldig. »Sag bloß, du hast deinen Liebsten endlich wiedergefunden!« Éanna nickte und strahlte sie voller Glück an. »Er ist mir direkt in die Arme gelaufen, vor der St.-Patricks-Kathedrale!« »Ich will jede Einzelheit wissen! Lass bloß nichts aus!«, drängte ihre Freundin. »Habt ihr euch geküsst?«
»Nicht so laut!«, zischte Éanna erschrocken und warf einen schnellen Blick hinüber zur halb offen stehenden Küchentür. Doch von dort kam noch immer geschäftiges Klappern und Klirren von Besteck, Töpfen und Geschirr. »Wenn Missis Skeffington Wind von der Geschichte mit Brendan bekommt . . .«
Emily grinste. »Also ihr habt euch geküsst!«, raunte sie und hing wie gebannt an den Lippen ihrer Freundin. »Wie war es?«
Éanna wurde unter ihrem Blickverlegen und ihre Wangen röteten sich. »Mein Gott, du fragst Sachen!«, erwiderte sie ausweichend. Sie wollte das, was sie dabei empfunden hatte und noch immer in sich fühlte, mit keinem anderen teilen. Nicht einmal mit Emily. »Es war ... es war einfach wunderschön.«
Emily machte ein enttäuschtes Gesicht. »Nur ein einziger Kuss? War er denn wenigstens leidenschaftlich, dein Brendan?«
»Ja, und es waren mehrere«, sagte Éanna widerstrebend, aber irgendwie auch mit Stolz, und nun brannten ihre Wangen erst richtig.
»Hört, hört! Das klingt schon besser!«, sagte Emily und rückte ganz nahe an sie heran.
Éanna griff wieder zu ihrem Löffel. »Brendan und ich haben uns für die Frühmesse heute Morgen in St. Patricks verabredet, um uns endlich erzählen zu können, was uns in den Wochen seit unserer Trennung alles zugestoßen ist. Dazu war gestern Abend ja keine Zeit, weil ich in die Pension zurückmusste!« Erschrocken blickte Éanna auf. »Wie spät ist es eigentlich? Schaffe ich es noch bis zur Messe?« Emily nickte beruhigend. »Wenn du jetzt sofort auf brichst, wirst du rechtzeitig dort sein. Schade nur, dass wir unser Gespräch dann später fortsetzen müssen. Ich habe nämlich auch Neuigkeiten. Du wirst es kaum glauben, wenn ich es dir erzähle!«
»Was denn?«
Emily schenkte ihr ein verschmitztes Lächeln. »Nein, für dich ist es jetzt Zeit, Brendan zu treffen. Aber wenn du wiederkommst, möchte ich alles ganz genau wissen. Dann revanchiere ich mich auch, versprochen!«
Hin- und hergerissen sah Éanna ihre Freundin an. Sie hätte so gerne gewusst, was Emily ihr zu sagen hatte, aber sie konnte Brendan nicht warten lassen. Entschlossen sprang Éanna auf und umarmte ihre Freundin zum Abschied. »Bis später also. Und vergiss nicht, was du mir erzählen wolltest!«
Emily schüttelte lachend den Kopf. »Keine Sorge. So gute Nachrichten vergisst man nicht.«
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
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Bibliographische Angaben
- Autor: LEONIE BRITT HARPER
- 2010, 620 Seiten, Maße: 13,5 x 19,2 cm, Geb. mit Su.
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3828997732
- ISBN-13: 9783828997738
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