Ehrliche Arbeit
In seinem neuen Buch lässt Norbert Blüm die Blasse der Finanzwirtschaft platzen. Der CDU-Politiker und frühere Arbeitsminister legt hier eine kluge Analyse unserer modernen Wirtschaftswelt vor und wagt mutige Prognosen darüber, wie ein...
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Produktinformationen zu „Ehrliche Arbeit “
In seinem neuen Buch lässt Norbert Blüm die Blasse der Finanzwirtschaft platzen. Der CDU-Politiker und frühere Arbeitsminister legt hier eine kluge Analyse unserer modernen Wirtschaftswelt vor und wagt mutige Prognosen darüber, wie ein tragfähiges Zukunftskonzept aussehen muss.
"EHRLICHE ARBEIT: Ein radikaler Gesellschaftsentwurf einer menschlicheren Arbeitswelt: systemkritisch, philosophisch-analytisch und brillant geschrieben. Das Buch wird hoffentlich dazu beitragen, die Diskussion über eine Neudefinition Sinn stiftender Arbeit voranzubringen." -- Günter Wallraff
"Das Buch des ambitionierten Autors bleibt ein Lesevergnügen, weil nicht nur abgerechnet, sondern um plausible Antworten gerungen wird. Gerade das Fiasko des Turbokapitalismus ist für Blüm die Negativfolie, auf der er sein Modell einer christlichen Sozialethik wieder auferstehen lässt." -- Volker Mauersberger, Deutschlandfunk
"Das Buch des ambitionierten Autors bleibt ein Lesevergnügen, weil nicht nur abgerechnet, sondern um plausible Antworten gerungen wird. Gerade das Fiasko des Turbokapitalismus ist für Blüm die Negativfolie, auf der er sein Modell einer christlichen Sozialethik wieder auferstehen lässt." -- Volker Mauersberger, Deutschlandfunk
Lese-Probe zu „Ehrliche Arbeit “
Ehrliche Arbeit von Norbert BlümBiografisches:
Mein Opel. Mein erster Arbeitsplatz
Mit 14 Jahren kam ich zu Opel. 1949. Das war wie ein Lottogewinn. Von 1.000 Bewerbern wurden 21 genommen. Ich war einer der Glücklichen. Es war ein kalter, nasser, trüber Oktobermorgen, als ich mit den 20 neuen Stiften um 6.30 Uhr am Opel-Hauptportal abgeholt und in die Lehrwerkstatt verfrachtet wurde. Mir kam es vor wie ein Gefangenentransport. Schnell wurde jedem von uns ein Spind im Waschraum zugeteilt. Nur eine kurze Zeit wurde uns eingeräumt zum Wechsel von der Bubenkleidung zum Blaumann, einem von meiner Mutter zusammengeflickten Arbeitsuniform. Dann stand ich vor einem Schraubstock, der viel zu hoch für mich war. Eine kleine Kiste schaffte Abhilfe und war fortan mein Standplatz in des Wortes wahrster Bedeutung. Auslauf: 60 cm nach links, 60 cm nach rechts, 60 cm nach hinten, 10 cm nach vorne. So stand ich mit einer großen Feile in beiden Händen vor einem U-Eisen, das zwischen den Backen des Schraubstocks eingeklemmt war. Es ist mir schwer gefallen. Feilen, wie die Väter feilten. 9 Stunden am Tag, 5 Tage in der Woche und jeden zweiten Samstag noch einmal 6 Stunden obendrauf. So war das mit der 48-Stunden-Woche damals. Blasen bildeten sich bald in meiner rechten Hand, die den Feilgriff umklammerte. Die Linke drückte auf das Feilblatt, welches ich schier unendlich und gleichmäßig stur gerade vorwärts schieben und rückwärts ziehen musste. Von Sisyphos wusste ich noch nichts, aber seine Gefühle habe ich damals allesamt durchgemacht. Ein »verhaltensauffälliges Kind« mit großem Bewegungsdrang, das ich war - meine Mutter nannte das »Flegel« -, in die Disziplin des Schraubstocks zu bringen, gleicht dem Zwang, den einstmals die Ruderer auf der Galeere erdulden mussten.
Kilian Lauck, der Gute.
... mehr
Kilian Lauck, mein guter alter Lehrgeselle, immer einen großen Hut auf dem Kopf und mit einem kalten Zigarrenstummel im Mund bewaffnet, brachte mir den fachgerechten Umgang mit Feile, Hammer, Meißel, Bohrer etc. bei. Es war auch für ihn mühsam. »Herrgott«, höre ich ihn heute noch neben mir flüstern, »gib mir doch einen Fingerhut Geduld, bis der Bub endlich kapiert, was er kapieren muss.« Und so machte er mir zum zehnten Mal vor, was ich schon neunmal nicht nachzumachen gekonnt hatte. Und wenn es dann beim elften Mal immer noch nicht klappte, gerieten seine Ratschläge immer mehr in die Nähe von Flüchen. Kilian Lauck bleibt mir in Erinnerung als ein herzensguter Mensch, von dem ich viel, viel gelernt habe, was ich im Leben gut gebrauchen konnte, auch wenn es später nicht mehr um's Feilen ging. Ich habe nämlich bei Lauck Ausdauer trainiert und Hartnäckigkeit gelernt: »Nur nicht aufgeben.« Dieses Studium hat mir im Leben mehr genutzt als die Universität. Ich hätte die Politik als Beruf nie überlebt, hätte ich nicht bei Opel in der Lehrwerkstatt Ausdauer geübt. Die freilich ist eine politische Tugend, die vom Aussterben bedroht ist. Denn wer nicht jeden Tag in Deutschland eine neue Idee verkündet, auch wenn er die von gestern noch nicht einmal versucht hat umzusetzen, gilt als einfallslos und verkalkt.
Karl Kirsch, der Unerschrockene.
Ich hatte Glück. Ich habe nicht nur zu meinem Lehrgesellen Kilian »hochgeguckt«, sondern später nach der Lehrzeit im Werkzeugbau auch zu meinem »Kolonnenführer« Karl Kirsch. Der »Kirsche Karl« war mein erster Vorarbeiter: Ein »Schwarzer«, also in der CDU wie ich, nebenbei noch Kirchenvorstandsmitglied in Heidesheim, seinem Heimatort, aus dem er jeden Morgen mit der Eisenbahn angereist kam. Ein »Schwarzer« im »Roten« Werkzeugbau. Das war wie ein Eskimo in der Sahara. Ganz so war es dann doch nicht. Die Roten Genossen wählten nämlich den Schwarzen Karl in den Betriebsrat, in dem seinerzeit noch zehn Kommunisten saßen. Der Betriebsrat war kein Gesangverein, aber Karl hatte auch dort Autorität. Denn er war unbeirrbar gradlinig.
Eines frühen Morgens war Hallodria im Werkzeugbau. Die Nachtschicht hatte eine Ratte gefangen und in einen Kugelkäfig gesperrt. Mit dem Schweißbrenner jagten die Brutalinskis das arme schreiende Tier durch den Käfig. Zirkuslaune ringsum. Da erschien mein »Karl Kirsch« an der Hallentür des Werkzeugbaus. Ein Blick genügte ihm. Wie Zorro aus dem Nichts stand er plötzlich in der Mitte der Meute, schlug dem nächststehenden Tierquäler seine mit Butterbroten und Henkelmann gefüllte Aktentasche um die Ohren, drehte den Schweißbrenner ab, sprach kein Wort, drehte sich um und sah allen wutentbrannt in die Augen. Es wurde mucksmäuschenstill. Sie schämten sich und trottelten von dannen. Ich war stolz auf meinen »schwarzen Kirsche Karl«. Sein Mut vor geiler Meute ist tief in meine Erinnerung eingebrannt.
Die »Opel-Familie«
Wir Opelianer schimpften auf die Bosse an der Spitze der Firma. Das gehörte sich so. Ich habe dieses Spiel schon früh geübt, nämlich als Jugendvertreter. Aber wenn jemand draußen auf Opel und seine Chefs schimpfte, dann schlossen wir die Reihen und verteidigten alles, was mit Opel zu tun hatte. Wir waren Opelianer und wollten dazu gehören. Und selbst die, die als alte, aufmüpfige Rädelsführer im ganzen Werkzeugbau bekannt waren, überkam der Stolz, wenn ihnen zu ihrem Arbeitsjubiläum ein Fresskorb geschenkt wurde und eine Urkunde dazu, auf der ihre Betriebstreue gelobt wurde. Die Urkunde hing fortan über der Kommode im Wohnzimmer und neben der Urkunde das Bild, auf dem der Chef dem Jubiliar die Hand schüttelt.
Ja, wir Opelianer waren stolz auf unsere Firma. Ein Opel als Auto, das war das Ziel aller Kinder des Wirtschaftswunders in Rüsselsheim. Denn das Auto, das war die Erfüllung aller Wünsche, die in der Nachkriegszeit nach der Fresswelle die Reisewelle ausgelöst hatte. Wir jedenfalls, die Familie Blüm, reiste in jedem Sommer stolz über die wildesten Alpenpässe - vollgeladen mit Utensilien, vor allen Dingen Fressalien, denn meine arme, zarte Mutter Gretel glaubte anscheinend noch immer, es könnte unverhofft - vielleicht sogar im Urlaub - eine Hungersnot ausbrechen. Das Auto war der Nachkriegskinder liebstes Spielzeug, und für die Rüsselsheimer hieß dieses Transportmittel »Opel«. Selbst mein Onkel Adolf, Kommunist von Kindesbeinen bis an sein seliges Ende, aktiver Genosse in der Kommunistischen Betriebsgruppe der Firma Adam Opel AG, deren härtester Konkurrent die Christliche Betriebsgruppe war, der ich angehörte, selbst dieser antikapitalistische Kämpfer verehrte sein Auto mehr, als wir Katholiken die Knochen von Heiligen anbeten. Er pflegte sein Schmuckstück nahezu zärtlich. Samstags badete er sein Auto in Schaum wie eine Mutter ihr Kind, massierte und polierte es sanft mit einem weichen Lederlappen. Im Winter bockte er es sogar auf, damit es sich nicht auf seinen Reifen müde stehen musste. Nach dem Zentralkomitee der Kommunistischen Partei, kurz vor oder nach seiner Frau - ich weiß es nicht genau -, war der Opel für Onkel Adolf das Schönste, was er im Leben besaß.
Als der erste »Olympia« vom Band lief, war an diesem Tag ganz Rüsselsheim gleichsam in einem großen Festzelt seliger Seelen vereint. Der Männergesangverein sang »Die Himmel rühmen«, der Bürgermeister sprach, der Opel-Chef auch, und wir Opelianer, Erbauer des Olympia Rekord, fühlten uns wie Olympia-Sieger.
Es war einmal ... Die Zeiten sind vorbei.
I. Geld regiert die Welt
1. Des Kaisers neue Kleider.
Oder: Die Heuchelei der Finanzwelt
Von allen Märchen, die meine Mutter mir erzählte, hat mir das Märchen von des Kaisers neuen Kleidern immer am meisten Spaß gemacht. Andere Geschichten beeindruckten mich zwar stärker. So hatte ich bei »Hänsel und Gretel« große Angst. Beim wechselvollen Schicksal des »Aschenputtel« zitterte ich buchstäblich mit. Und »Tischlein deck dich« befriedigte meine frühkindlichen Rachegelüste. Über die Blamage des eitlen Kaisers jedoch, der für schöne Kleider sein ganzes Geld ausgab und schließlich von zwei Betrügern reingelegt wurde, habe ich so laut gelacht wie bei keinem anderen Märchen. Schadenfreude über die Dummheit der Obrigkeit und Bewunderung für kecke Kinder, die unverhohlen die Wahrheit sagen, sind für mich bis heute die Quintessenz meines Lieblingsmärchens geblieben. Die Heuchelei der Diener, so lehrt es uns, ist das missratene Pendant einer bürgerlichen Selbstgefälligkeit, von der wir ab und zu in die Irre geführt werden. Auch die leichte Verführbarkeit des Volkes ist eine zeitlose Erfahrung - nicht nur im Märchen.
Schwankend zwischen Schein und Sein, entscheiden sich der Kaiser und sein Hofstaat für den Schein. Weil alle ihn für wirklich halten. Dabei ist der Trick der Betrüger im Grunde leicht zu durchschauen: Sie behaupten, ihre Kleider seien aus einem Stoff gefertigt, der »die wunderbare Eigenschaft besitzt, dass sie für jeden Menschen unsichtbar sind, der nicht für sein Amt taugt oder der unverzeihlich dumm« ist. Heute nennen sich diese Betrüger »Experten« oder »Lobbyisten«. Und wer ihrem Rat nicht folgen will, den erklären sie ohne Umstände für unfähig oder nicht hinreichend sachkundig. Nur dass sie das meist vornehm »Beratungsresistenz« nennen.
Auch im Märchen fällt das Volk auf derlei Propaganda herein und bejubelt die Pracht der nicht vorhandenen Gewänder. Mehr noch: Es ist sozusagen das demokratische Plebiszit, das die Täuschung erst in eine vermeintliche Realität verwandelt. Wenn alle der Unwahrheit huldigen, verwandelt sie sich scheinbar in Wahrheit. Das ist das Betriebsgeheimnis der Meinungsforschung.
Die Betrüger hatten Kaiser und Volk richtig eingeschätzt. Keiner wollte als dumm, niemand als untauglich gelten. Vor die Wahl gestellt, zu lügen oder sich eine derartige Blöße zu geben, entschieden sich fast alle für das erstere. Auch das Volk, dem die Betrüger selbst ihren Bären gar nicht aufgebunden hatten, will nicht glauben, dass die Obrigkeit derart töricht sein kann. Obwohl der Kaiser unzweifelhaft im Adamskostüm über die Straße schreitet, murmeln die Leute am Straßenrand: »Wie unvergleichlich sind des Kaisers neue Kleider! Welche Schleppe er am Kleide hat! Wie schön sie sitzt!« Ja, ihre untertänige Bewunderung scheint mit der Dreistigkeit des Betrugs sogar noch zu wachsen. Und wäre »BILD« dabei gewesen, das Blatt hätte wahrscheinlich am lautesten die Kunst der Weber gefeiert - und dazu noch ein Exklusivinterview mit dem begeisterten Meister der Weberinnung veröffentlicht.
Alles klappt wie am Schnürchen und wie von den Betrügern geplant. Bis, ja bis zu dem Augenblick, in dem ein kleines Kind, das einfach seinen Augen traut, laut ausruft: »Aber er hat ja gar nichts an!«. Und also bald gehen auch dem Volk buchstäblich die Augen auf, und es erkennt, dass der Kaiser nackt ist. »BILD« würde nunmehr mit einer neuen Schlagzeile aufmachen: »Unfähiger Kaiser reingelegt!« Das Exklusivinterview würde der Reporter mit den Eltern des klugen Kindes führen.
Und der arme Kaiser und sein Hofstaat? Sie wissen natürlich sofort, dass das Kind recht hat. Aber was sollen sie machen? Sie müssen ihre seltsame Parade bis zum bitteren Ende durchstehen ...
Die große Blamage
»Des Kaisers neuer Kleider« ist die märchenhafte Antizipation der Finanzkrise 2008. Stellen wir uns vor, der Kaiser hätte Börsenanalysten, Bankexperten, Vertreter der Rating-Agenturen und seine klügsten Wirtschaftsprofessoren an die Börsen der Welt geschickt, um die allgemeine Wirtschaftslage und die globalen Konjunkturaussichten einzuschätzen. »Die Aussichten sind prima«, hätten sie allesamt gemeldet, »die Wirtschaft prosperiert.« Professor Hans-Werner Sinn, Krone der deutschen Nationalökonomie, hätte vermutlich sogar vor einer »Überhitzung der Konjunktur« gewarnt. Zu einem Zeitpunkt, als gar kein Feuer mehr im Ofen war.
Die globalen Wirtschaftshelden, die »Masters of the Universe«, sie haben die Weltöffentlichkeit, ihre Kunden und die Politik an der Nase herumgeführt: Noch am 12. März 2008 erklärte der Chef der Investmentbank Bear Stearns, Alan D. Schwartz, das Institut habe genügend Liquidität und man sei mit den Gewinnschätzungen der Analysten für das erste Quartal zufrieden. Gerüchte über Zahlungsschwierigkeiten seien »absolut lächerlich«. Acht Tage später musste die Bank mit Hilfe von Staatsgeldern gerettet und an den Konkurrenten JP Morgan verkauft werden.
Selbst Kanzlerinnen-Berater Josef Ackermann von der Deutschen Bank, der Mann mit den Super-Renditen, wusste es nicht besser. Er behauptete noch kurz vor der Pleite der Investment-Bank Lehman Brothers, es gäbe keine systemischen Risiken in der Weltfinanzordnung. Inzwischen haben die angeblich gar nicht vorhandenen Risiken einen weltweiten Wohlstandsverlust von mindestens 15 Billionen Dollar verursacht. Das ist ungefähr das 35-fache des deutschen Bundeshaushaltes. Island, Irland, Griechenland standen am Abgrund. In Portugal, Spanien, Italien proben die Spekulanten die Macht.
Die Staatenlenker der G7-Gruppe lobten noch zu Beginn des Jahres 2008 die robuste Weltkonjunktur. Mitte Juli 2008 erklärte das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung: »Der Aufschwung geht in die Verlängerung.« Das Hamburgische Weltwirtschaftsinstitut gab noch nach dem Zusammenbruch von Lehmann Brothers Entwarnung. Führende Mitarbeiter der IKB Deutsche Industriebank AG, in deren Aufsichtsrat Spitzenleute aus Politik und Wirtschaft saßen, überwiesen noch Geld an Lehman Brothers, als die Bank schon dichtgemacht hatte. Die internationale Finanzelite war derart unvorbereitet auf eine drohende »Kernschmelze« der Geld- und Kreditmärkte, dass sie sie nicht einmal bemerkte, als diese in vollem Gange war. Was aber soll man von Leuten halten, die in hohepriesterlichem Ton blumige »Prognosen« verkünden - und nicht einmal gegenwärtige und zurückliegende Entwicklungen richtig einschätzen können? Niemand von diesen gescheiten Leuten hat das Desaster kommen sehen. Alle verließen sich darauf, was die anderen gesagt hatten, um selber nicht als dumm zu gelten - ganz so wie am Hofe des Kaisers.
Nie hat sich eine Zunft, die beansprucht, eine strenge Wissenschaft zu vertreten, mehr blamiert als die Ökonomen. Ihre Auskünfte entpuppten sich als ähnlich seriös wie die von As trologen. Eine alte Spekulantenweisheit besagt, dass man dann besser ist als die anderen, wenn sich 51 Prozent der eigenen Entscheidungen als richtig erweisen. Was diese Weisheit unterschlägt: Auf dieselbe Quote kann man auch kommen, wenn man einen Gorilla mit Pfeilen auf eine Zielscheibe werfen lässt. Oder wenn man seine »Prognosen« mit Hilfe einer Glaskugel ermittelt. Es gibt auch sonst viel Ähnlichkeit zwischen modernen Wirtschaftsexperten und mittelalterlichen Hofschranzen. So erfüllen sie weitgehend jene Funktion, welche einst die Hof astrologen für einen Fürsten hatten. Deren Platz in der höfischen Hierarchie befand sich allerdings üblicherweise in der Nähe der Hofnarren.
Die Koryphäen der Wirtschaftswissenschaft und die journalistischen Deuter der Weltwirtschaft hatten vor dem Sommer 2007 keinen blassen Dunst von dem, was sich zum größten finanzwirtschaftlichen GAU aller Zeiten entwickeln sollte. Als der GAU dann eintrat, waren die Marktideologen am Ende ihres Lateins und riefen entgegen all ihren Glaubenssätzen nach dem Staat. Nicht die Selbstheilungskräfte des Marktes, sondern »eine ganze Reihe von hoheitlichen Gewaltakten«, so der SZ-Journalist Thomas Steinfeld, verhinderte das Schlimmste.
Was tun mit diesen Wirtschaftswissenschaftlern? Dass sie »nicht wissen, was sie nicht wissen können«, wie der Ökonom John Gray (1724-1811) einmal über seine Zunft bemerkte, kann man ihnen nicht vorwerfen. Dass sie aber nicht wissen, dass sie nicht alles wissen können, ist schuldhafte Arroganz. Es war die Anmaßung der Volkswirtschaftslehre, sich als exakte Wissenschaft zu gebärden, welche das Desaster der Wissenschaft von der Wirtschaft auslöste. Wirtschaft ist Menschengeschäft. Und Menschen bleiben nun einmal ihrem Wesen nach weitgehend unberechenbar.
Der Grundirrtum der neoliberalen Wortführer vom Typ des Nobelpreisträgers Gary Stanley Becker ist, dass sie einem imperialistischen Rationalismus frönen, »der alles menschliche Handeln nach Maßstäben bewusster Entscheidungen zu beschreiben versucht - Kategorien, die nicht einmal dann gelten, wenn man sie nur auf das Verhalten am Markt bezieht« (John Gray). Der Mensch, so diese Denkweise, ist immer ein rationaler Nutzenmaximierer. Dass er sich meist aufgrund eher dünner Informationen oder gar aufgrund rein emotionaler Antriebe für oder gegen etwas entscheidet, wird weitgehend ausgeblendet. Eine solche Wirtschaftswissenschaft bleibt deshalb auf Distanz zu gesellschaftlichem und politischem Denken. Beides könnte ja die Reinheit des Rechnens beschmutzen. »Vernunft ist Rechnen«, hatte der Philosoph Thomas Hobbes behauptet. Gleichzeitig hatte er die Behauptung aufgestellt, der Mensch sei des Menschen Wolf (homo homini lupus). So gesehen wäre der Mensch das Tier, das ständig kalkuliert, wie es seinem Nächsten so schaden kann, dass für ihn das Meiste dabei herausspringt. Ein trostloses, zudem auch noch wissenschaftlich völlig überholtes Menschenbild.
Nicht minder versagt haben die Orakel der Hochfinanz: Die drei großen Rating-Agenturen Moody's, Standard & Poor und Fitch sind so etwas wie globale Platzanweiser der Finanzmärkte. Sie entscheiden über die Kreditwürdigkeit von Banken, Unternehmen und Staaten. Und sie bewerten achtzig Prozent der weltweiten Kapitalflüsse. Dabei versahen sie faule Kredite noch mit Auszeichnungen, als der erste Gestank bereits aus den Luftblasen der Börsenspekulation entwichen war.
Der Kalifornische Pensionsfonds Calpers zum Beispiel verlor mit Papieren, denen die Rating-Agenturen höchste Bonität attestiert hatten, eine Milliarde Dollar. Jochen Sanio, Präsident der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin), nannte die privaten Rating-Agenturen zu Recht »eine der größten unkontrollierten Machtstrukturen im Weltfinanzsystem«.
Ludwig Erhard besaß - Gott sei Dank - eine ausgeprägte Abneigung gegen die mathematisierte Volkswirtschaftslehre. Mit ihrer Hilfe hätte er weder die Währungsreform zum Erfolg geführt noch soziale Marktwirtschaft in der Bundesrepublik durchgesetzt. Erhard stützte sich stattdessen lieber auf Alfred Müller-Armack, der den Begriff »soziale Marktwirtschaft« als erster geprägt hat. Der Nationalökonom war von Haus aus Religionssoziologe.
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Kilian Lauck, mein guter alter Lehrgeselle, immer einen großen Hut auf dem Kopf und mit einem kalten Zigarrenstummel im Mund bewaffnet, brachte mir den fachgerechten Umgang mit Feile, Hammer, Meißel, Bohrer etc. bei. Es war auch für ihn mühsam. »Herrgott«, höre ich ihn heute noch neben mir flüstern, »gib mir doch einen Fingerhut Geduld, bis der Bub endlich kapiert, was er kapieren muss.« Und so machte er mir zum zehnten Mal vor, was ich schon neunmal nicht nachzumachen gekonnt hatte. Und wenn es dann beim elften Mal immer noch nicht klappte, gerieten seine Ratschläge immer mehr in die Nähe von Flüchen. Kilian Lauck bleibt mir in Erinnerung als ein herzensguter Mensch, von dem ich viel, viel gelernt habe, was ich im Leben gut gebrauchen konnte, auch wenn es später nicht mehr um's Feilen ging. Ich habe nämlich bei Lauck Ausdauer trainiert und Hartnäckigkeit gelernt: »Nur nicht aufgeben.« Dieses Studium hat mir im Leben mehr genutzt als die Universität. Ich hätte die Politik als Beruf nie überlebt, hätte ich nicht bei Opel in der Lehrwerkstatt Ausdauer geübt. Die freilich ist eine politische Tugend, die vom Aussterben bedroht ist. Denn wer nicht jeden Tag in Deutschland eine neue Idee verkündet, auch wenn er die von gestern noch nicht einmal versucht hat umzusetzen, gilt als einfallslos und verkalkt.
Karl Kirsch, der Unerschrockene.
Ich hatte Glück. Ich habe nicht nur zu meinem Lehrgesellen Kilian »hochgeguckt«, sondern später nach der Lehrzeit im Werkzeugbau auch zu meinem »Kolonnenführer« Karl Kirsch. Der »Kirsche Karl« war mein erster Vorarbeiter: Ein »Schwarzer«, also in der CDU wie ich, nebenbei noch Kirchenvorstandsmitglied in Heidesheim, seinem Heimatort, aus dem er jeden Morgen mit der Eisenbahn angereist kam. Ein »Schwarzer« im »Roten« Werkzeugbau. Das war wie ein Eskimo in der Sahara. Ganz so war es dann doch nicht. Die Roten Genossen wählten nämlich den Schwarzen Karl in den Betriebsrat, in dem seinerzeit noch zehn Kommunisten saßen. Der Betriebsrat war kein Gesangverein, aber Karl hatte auch dort Autorität. Denn er war unbeirrbar gradlinig.
Eines frühen Morgens war Hallodria im Werkzeugbau. Die Nachtschicht hatte eine Ratte gefangen und in einen Kugelkäfig gesperrt. Mit dem Schweißbrenner jagten die Brutalinskis das arme schreiende Tier durch den Käfig. Zirkuslaune ringsum. Da erschien mein »Karl Kirsch« an der Hallentür des Werkzeugbaus. Ein Blick genügte ihm. Wie Zorro aus dem Nichts stand er plötzlich in der Mitte der Meute, schlug dem nächststehenden Tierquäler seine mit Butterbroten und Henkelmann gefüllte Aktentasche um die Ohren, drehte den Schweißbrenner ab, sprach kein Wort, drehte sich um und sah allen wutentbrannt in die Augen. Es wurde mucksmäuschenstill. Sie schämten sich und trottelten von dannen. Ich war stolz auf meinen »schwarzen Kirsche Karl«. Sein Mut vor geiler Meute ist tief in meine Erinnerung eingebrannt.
Die »Opel-Familie«
Wir Opelianer schimpften auf die Bosse an der Spitze der Firma. Das gehörte sich so. Ich habe dieses Spiel schon früh geübt, nämlich als Jugendvertreter. Aber wenn jemand draußen auf Opel und seine Chefs schimpfte, dann schlossen wir die Reihen und verteidigten alles, was mit Opel zu tun hatte. Wir waren Opelianer und wollten dazu gehören. Und selbst die, die als alte, aufmüpfige Rädelsführer im ganzen Werkzeugbau bekannt waren, überkam der Stolz, wenn ihnen zu ihrem Arbeitsjubiläum ein Fresskorb geschenkt wurde und eine Urkunde dazu, auf der ihre Betriebstreue gelobt wurde. Die Urkunde hing fortan über der Kommode im Wohnzimmer und neben der Urkunde das Bild, auf dem der Chef dem Jubiliar die Hand schüttelt.
Ja, wir Opelianer waren stolz auf unsere Firma. Ein Opel als Auto, das war das Ziel aller Kinder des Wirtschaftswunders in Rüsselsheim. Denn das Auto, das war die Erfüllung aller Wünsche, die in der Nachkriegszeit nach der Fresswelle die Reisewelle ausgelöst hatte. Wir jedenfalls, die Familie Blüm, reiste in jedem Sommer stolz über die wildesten Alpenpässe - vollgeladen mit Utensilien, vor allen Dingen Fressalien, denn meine arme, zarte Mutter Gretel glaubte anscheinend noch immer, es könnte unverhofft - vielleicht sogar im Urlaub - eine Hungersnot ausbrechen. Das Auto war der Nachkriegskinder liebstes Spielzeug, und für die Rüsselsheimer hieß dieses Transportmittel »Opel«. Selbst mein Onkel Adolf, Kommunist von Kindesbeinen bis an sein seliges Ende, aktiver Genosse in der Kommunistischen Betriebsgruppe der Firma Adam Opel AG, deren härtester Konkurrent die Christliche Betriebsgruppe war, der ich angehörte, selbst dieser antikapitalistische Kämpfer verehrte sein Auto mehr, als wir Katholiken die Knochen von Heiligen anbeten. Er pflegte sein Schmuckstück nahezu zärtlich. Samstags badete er sein Auto in Schaum wie eine Mutter ihr Kind, massierte und polierte es sanft mit einem weichen Lederlappen. Im Winter bockte er es sogar auf, damit es sich nicht auf seinen Reifen müde stehen musste. Nach dem Zentralkomitee der Kommunistischen Partei, kurz vor oder nach seiner Frau - ich weiß es nicht genau -, war der Opel für Onkel Adolf das Schönste, was er im Leben besaß.
Als der erste »Olympia« vom Band lief, war an diesem Tag ganz Rüsselsheim gleichsam in einem großen Festzelt seliger Seelen vereint. Der Männergesangverein sang »Die Himmel rühmen«, der Bürgermeister sprach, der Opel-Chef auch, und wir Opelianer, Erbauer des Olympia Rekord, fühlten uns wie Olympia-Sieger.
Es war einmal ... Die Zeiten sind vorbei.
I. Geld regiert die Welt
1. Des Kaisers neue Kleider.
Oder: Die Heuchelei der Finanzwelt
Von allen Märchen, die meine Mutter mir erzählte, hat mir das Märchen von des Kaisers neuen Kleidern immer am meisten Spaß gemacht. Andere Geschichten beeindruckten mich zwar stärker. So hatte ich bei »Hänsel und Gretel« große Angst. Beim wechselvollen Schicksal des »Aschenputtel« zitterte ich buchstäblich mit. Und »Tischlein deck dich« befriedigte meine frühkindlichen Rachegelüste. Über die Blamage des eitlen Kaisers jedoch, der für schöne Kleider sein ganzes Geld ausgab und schließlich von zwei Betrügern reingelegt wurde, habe ich so laut gelacht wie bei keinem anderen Märchen. Schadenfreude über die Dummheit der Obrigkeit und Bewunderung für kecke Kinder, die unverhohlen die Wahrheit sagen, sind für mich bis heute die Quintessenz meines Lieblingsmärchens geblieben. Die Heuchelei der Diener, so lehrt es uns, ist das missratene Pendant einer bürgerlichen Selbstgefälligkeit, von der wir ab und zu in die Irre geführt werden. Auch die leichte Verführbarkeit des Volkes ist eine zeitlose Erfahrung - nicht nur im Märchen.
Schwankend zwischen Schein und Sein, entscheiden sich der Kaiser und sein Hofstaat für den Schein. Weil alle ihn für wirklich halten. Dabei ist der Trick der Betrüger im Grunde leicht zu durchschauen: Sie behaupten, ihre Kleider seien aus einem Stoff gefertigt, der »die wunderbare Eigenschaft besitzt, dass sie für jeden Menschen unsichtbar sind, der nicht für sein Amt taugt oder der unverzeihlich dumm« ist. Heute nennen sich diese Betrüger »Experten« oder »Lobbyisten«. Und wer ihrem Rat nicht folgen will, den erklären sie ohne Umstände für unfähig oder nicht hinreichend sachkundig. Nur dass sie das meist vornehm »Beratungsresistenz« nennen.
Auch im Märchen fällt das Volk auf derlei Propaganda herein und bejubelt die Pracht der nicht vorhandenen Gewänder. Mehr noch: Es ist sozusagen das demokratische Plebiszit, das die Täuschung erst in eine vermeintliche Realität verwandelt. Wenn alle der Unwahrheit huldigen, verwandelt sie sich scheinbar in Wahrheit. Das ist das Betriebsgeheimnis der Meinungsforschung.
Die Betrüger hatten Kaiser und Volk richtig eingeschätzt. Keiner wollte als dumm, niemand als untauglich gelten. Vor die Wahl gestellt, zu lügen oder sich eine derartige Blöße zu geben, entschieden sich fast alle für das erstere. Auch das Volk, dem die Betrüger selbst ihren Bären gar nicht aufgebunden hatten, will nicht glauben, dass die Obrigkeit derart töricht sein kann. Obwohl der Kaiser unzweifelhaft im Adamskostüm über die Straße schreitet, murmeln die Leute am Straßenrand: »Wie unvergleichlich sind des Kaisers neue Kleider! Welche Schleppe er am Kleide hat! Wie schön sie sitzt!« Ja, ihre untertänige Bewunderung scheint mit der Dreistigkeit des Betrugs sogar noch zu wachsen. Und wäre »BILD« dabei gewesen, das Blatt hätte wahrscheinlich am lautesten die Kunst der Weber gefeiert - und dazu noch ein Exklusivinterview mit dem begeisterten Meister der Weberinnung veröffentlicht.
Alles klappt wie am Schnürchen und wie von den Betrügern geplant. Bis, ja bis zu dem Augenblick, in dem ein kleines Kind, das einfach seinen Augen traut, laut ausruft: »Aber er hat ja gar nichts an!«. Und also bald gehen auch dem Volk buchstäblich die Augen auf, und es erkennt, dass der Kaiser nackt ist. »BILD« würde nunmehr mit einer neuen Schlagzeile aufmachen: »Unfähiger Kaiser reingelegt!« Das Exklusivinterview würde der Reporter mit den Eltern des klugen Kindes führen.
Und der arme Kaiser und sein Hofstaat? Sie wissen natürlich sofort, dass das Kind recht hat. Aber was sollen sie machen? Sie müssen ihre seltsame Parade bis zum bitteren Ende durchstehen ...
Die große Blamage
»Des Kaisers neuer Kleider« ist die märchenhafte Antizipation der Finanzkrise 2008. Stellen wir uns vor, der Kaiser hätte Börsenanalysten, Bankexperten, Vertreter der Rating-Agenturen und seine klügsten Wirtschaftsprofessoren an die Börsen der Welt geschickt, um die allgemeine Wirtschaftslage und die globalen Konjunkturaussichten einzuschätzen. »Die Aussichten sind prima«, hätten sie allesamt gemeldet, »die Wirtschaft prosperiert.« Professor Hans-Werner Sinn, Krone der deutschen Nationalökonomie, hätte vermutlich sogar vor einer »Überhitzung der Konjunktur« gewarnt. Zu einem Zeitpunkt, als gar kein Feuer mehr im Ofen war.
Die globalen Wirtschaftshelden, die »Masters of the Universe«, sie haben die Weltöffentlichkeit, ihre Kunden und die Politik an der Nase herumgeführt: Noch am 12. März 2008 erklärte der Chef der Investmentbank Bear Stearns, Alan D. Schwartz, das Institut habe genügend Liquidität und man sei mit den Gewinnschätzungen der Analysten für das erste Quartal zufrieden. Gerüchte über Zahlungsschwierigkeiten seien »absolut lächerlich«. Acht Tage später musste die Bank mit Hilfe von Staatsgeldern gerettet und an den Konkurrenten JP Morgan verkauft werden.
Selbst Kanzlerinnen-Berater Josef Ackermann von der Deutschen Bank, der Mann mit den Super-Renditen, wusste es nicht besser. Er behauptete noch kurz vor der Pleite der Investment-Bank Lehman Brothers, es gäbe keine systemischen Risiken in der Weltfinanzordnung. Inzwischen haben die angeblich gar nicht vorhandenen Risiken einen weltweiten Wohlstandsverlust von mindestens 15 Billionen Dollar verursacht. Das ist ungefähr das 35-fache des deutschen Bundeshaushaltes. Island, Irland, Griechenland standen am Abgrund. In Portugal, Spanien, Italien proben die Spekulanten die Macht.
Die Staatenlenker der G7-Gruppe lobten noch zu Beginn des Jahres 2008 die robuste Weltkonjunktur. Mitte Juli 2008 erklärte das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung: »Der Aufschwung geht in die Verlängerung.« Das Hamburgische Weltwirtschaftsinstitut gab noch nach dem Zusammenbruch von Lehmann Brothers Entwarnung. Führende Mitarbeiter der IKB Deutsche Industriebank AG, in deren Aufsichtsrat Spitzenleute aus Politik und Wirtschaft saßen, überwiesen noch Geld an Lehman Brothers, als die Bank schon dichtgemacht hatte. Die internationale Finanzelite war derart unvorbereitet auf eine drohende »Kernschmelze« der Geld- und Kreditmärkte, dass sie sie nicht einmal bemerkte, als diese in vollem Gange war. Was aber soll man von Leuten halten, die in hohepriesterlichem Ton blumige »Prognosen« verkünden - und nicht einmal gegenwärtige und zurückliegende Entwicklungen richtig einschätzen können? Niemand von diesen gescheiten Leuten hat das Desaster kommen sehen. Alle verließen sich darauf, was die anderen gesagt hatten, um selber nicht als dumm zu gelten - ganz so wie am Hofe des Kaisers.
Nie hat sich eine Zunft, die beansprucht, eine strenge Wissenschaft zu vertreten, mehr blamiert als die Ökonomen. Ihre Auskünfte entpuppten sich als ähnlich seriös wie die von As trologen. Eine alte Spekulantenweisheit besagt, dass man dann besser ist als die anderen, wenn sich 51 Prozent der eigenen Entscheidungen als richtig erweisen. Was diese Weisheit unterschlägt: Auf dieselbe Quote kann man auch kommen, wenn man einen Gorilla mit Pfeilen auf eine Zielscheibe werfen lässt. Oder wenn man seine »Prognosen« mit Hilfe einer Glaskugel ermittelt. Es gibt auch sonst viel Ähnlichkeit zwischen modernen Wirtschaftsexperten und mittelalterlichen Hofschranzen. So erfüllen sie weitgehend jene Funktion, welche einst die Hof astrologen für einen Fürsten hatten. Deren Platz in der höfischen Hierarchie befand sich allerdings üblicherweise in der Nähe der Hofnarren.
Die Koryphäen der Wirtschaftswissenschaft und die journalistischen Deuter der Weltwirtschaft hatten vor dem Sommer 2007 keinen blassen Dunst von dem, was sich zum größten finanzwirtschaftlichen GAU aller Zeiten entwickeln sollte. Als der GAU dann eintrat, waren die Marktideologen am Ende ihres Lateins und riefen entgegen all ihren Glaubenssätzen nach dem Staat. Nicht die Selbstheilungskräfte des Marktes, sondern »eine ganze Reihe von hoheitlichen Gewaltakten«, so der SZ-Journalist Thomas Steinfeld, verhinderte das Schlimmste.
Was tun mit diesen Wirtschaftswissenschaftlern? Dass sie »nicht wissen, was sie nicht wissen können«, wie der Ökonom John Gray (1724-1811) einmal über seine Zunft bemerkte, kann man ihnen nicht vorwerfen. Dass sie aber nicht wissen, dass sie nicht alles wissen können, ist schuldhafte Arroganz. Es war die Anmaßung der Volkswirtschaftslehre, sich als exakte Wissenschaft zu gebärden, welche das Desaster der Wissenschaft von der Wirtschaft auslöste. Wirtschaft ist Menschengeschäft. Und Menschen bleiben nun einmal ihrem Wesen nach weitgehend unberechenbar.
Der Grundirrtum der neoliberalen Wortführer vom Typ des Nobelpreisträgers Gary Stanley Becker ist, dass sie einem imperialistischen Rationalismus frönen, »der alles menschliche Handeln nach Maßstäben bewusster Entscheidungen zu beschreiben versucht - Kategorien, die nicht einmal dann gelten, wenn man sie nur auf das Verhalten am Markt bezieht« (John Gray). Der Mensch, so diese Denkweise, ist immer ein rationaler Nutzenmaximierer. Dass er sich meist aufgrund eher dünner Informationen oder gar aufgrund rein emotionaler Antriebe für oder gegen etwas entscheidet, wird weitgehend ausgeblendet. Eine solche Wirtschaftswissenschaft bleibt deshalb auf Distanz zu gesellschaftlichem und politischem Denken. Beides könnte ja die Reinheit des Rechnens beschmutzen. »Vernunft ist Rechnen«, hatte der Philosoph Thomas Hobbes behauptet. Gleichzeitig hatte er die Behauptung aufgestellt, der Mensch sei des Menschen Wolf (homo homini lupus). So gesehen wäre der Mensch das Tier, das ständig kalkuliert, wie es seinem Nächsten so schaden kann, dass für ihn das Meiste dabei herausspringt. Ein trostloses, zudem auch noch wissenschaftlich völlig überholtes Menschenbild.
Nicht minder versagt haben die Orakel der Hochfinanz: Die drei großen Rating-Agenturen Moody's, Standard & Poor und Fitch sind so etwas wie globale Platzanweiser der Finanzmärkte. Sie entscheiden über die Kreditwürdigkeit von Banken, Unternehmen und Staaten. Und sie bewerten achtzig Prozent der weltweiten Kapitalflüsse. Dabei versahen sie faule Kredite noch mit Auszeichnungen, als der erste Gestank bereits aus den Luftblasen der Börsenspekulation entwichen war.
Der Kalifornische Pensionsfonds Calpers zum Beispiel verlor mit Papieren, denen die Rating-Agenturen höchste Bonität attestiert hatten, eine Milliarde Dollar. Jochen Sanio, Präsident der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin), nannte die privaten Rating-Agenturen zu Recht »eine der größten unkontrollierten Machtstrukturen im Weltfinanzsystem«.
Ludwig Erhard besaß - Gott sei Dank - eine ausgeprägte Abneigung gegen die mathematisierte Volkswirtschaftslehre. Mit ihrer Hilfe hätte er weder die Währungsreform zum Erfolg geführt noch soziale Marktwirtschaft in der Bundesrepublik durchgesetzt. Erhard stützte sich stattdessen lieber auf Alfred Müller-Armack, der den Begriff »soziale Marktwirtschaft« als erster geprägt hat. Der Nationalökonom war von Haus aus Religionssoziologe.
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Autoren-Porträt von Norbert Blüm
Dr. Norbert Blüm, geboren 1935 in Rüsselsheim, katholisch, verheiratet, drei Kinder, Werkzeugmacherlehre, Studium der Germanistik, Geschichte, Theologie und Philosophie, Promotion in Philosophie. Von 1972 bis 1981 und von 1983 bis 2002 Mitglied des Deutschen Bundestages, 1977-1987 Bundesvorsitzender der Sozialausschüsse der Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft, seit 1981 Mitglied des Präsidiums der CDU, 1982-1998 Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, 1987-1999 Landesvorsitzender der CDU Nordrheinwestfalen. Mitglied der CDU, der IG Metall, der Kolpingsfamilie und von amnesty international.
Bibliographische Angaben
- Autor: Norbert Blüm
- 2011, 318 Seiten, Maße: 14,2 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Gütersloher Verlagshaus
- ISBN-10: 357906746X
- ISBN-13: 9783579067469
Rezension zu „Ehrliche Arbeit “
"Das Buch des ambitionierten Autors bleibt ein Lesevergnügen, weil nicht nur abgerechnet, sondern um plausible Antworten gerungen wird. Gerade das Fiasko des Turbokapitalismus ist für Blüm die Negativfolie, auf der er sein Modell einer christlichen Sozialethik wieder auferstehen lässt."
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