Ein Sommer ohne dich
Nach dem Unfalltod ihrer vierjährigen Tochter Abby zieht sich Tessa mehr und mehr in sich zurück und droht an der Tragödie zu zerbrechen. Schließlich sucht sie professionelle Hilfe bei der Therapeutin Celia. Sie ahnt nicht, dass...
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Produktinformationen zu „Ein Sommer ohne dich “
Nach dem Unfalltod ihrer vierjährigen Tochter Abby zieht sich Tessa mehr und mehr in sich zurück und droht an der Tragödie zu zerbrechen. Schließlich sucht sie professionelle Hilfe bei der Therapeutin Celia. Sie ahnt nicht, dass beider Schicksal auf tragische Weise miteinander verknüpft ist.
Lese-Probe zu „Ein Sommer ohne dich “
Ein Sommer ohne dich von Lynne GriffinTag 18 ohne Abby
Es macht einen dumpfen Schlag, als ihr kleiner Körper und der Kotflügel zusammenprallen. Kein Schrei, nur ein leises Seufzen, ein überraschtes Luftholen, als sie in die Höhe geworfen wird, um gleich wieder auf dem Boden zu landen. Ich höre es. Ich sehe es. Dabei war ich nicht einmal dabei.
Wie die anderen zwölf Morgen hatte ich Abby zum Kindergarten gefahren, sie kam zum Wagen herausgehüpft. Der Ranzen hing ihr auf dem Rücken. Er war so breit, dass ihr kleiner Lockenkopf darüber vorragte wie der Kopf einer Schildkröte aus dem Panzer. Das einzige Geräusch, das ich an diesem sonnigen Morgen hörte, war ihre helle Stimme, mit der sie mich zur Eile antrieb. Es war zu früh im Herbst, um Laub unter ihren Füßen rascheln zu hören, obwohl ich es ohnehin nicht gehört hätte. Sie trug ihre neuen Ballerinas, wie jeden Tag, seit ich sie ihr zum Schulanfang gekauft hatte. Zur Bright Futures Preschool waren es mit dem Auto nur sieben Minuten und sie hatte die ganze Fahrt über geplaudert, hatte sich laut gefragt, ob sie wohl zuerst drinnen oder draußen spielen würden. Keine von uns konnte ahnen, dass der flüchtige Kuss und die kurze Umarmung, die sie mir vorm Schultor gab, unsere letzten Berührungen sein würden.
... mehr
Ich gehe den Morgen im Kopf immer und immer wieder durch, denke mir, hätte ich sie nur wegen ihrer laufenden Nase zu Hause behalten, hätte nur ich an dem Tag Begleitdienst gehabt. Hätte ich an dem Morgen nur eine Sache anders gemacht, sähe das Leben jetzt vielleicht anders aus.
Ich kann mir nicht vorstellen, dass es mir hilft, wenn ich darüber schreibe, aber Celia sagt, ich soll's einfach versuchen. Gestern hatte ich das erste Therapiegespräch. Als ich die Stufen vor der Haustür hinunterging, hielt ich mich gut am Geländer fest. Es war das erste Mal seit zwei Wochen, dass ich das Haus verließ. Nach ein paar Sekunden merkte ich, dass meine Caprihose und die Flipflops dem Wetter entsprachen, wie es vorher gewesen war, und nicht der frischen Herbstluft, die mir auf dem Weg zum Auto um die Schienbeine wehte. Aber mir fehlte die Energie, mich umzuziehen.
Ich hievte meine fünfzig Kilo in den Fahrersitz, der für mich zu weit nach hinten geschoben war. Der Wagen war innen sauberer als seit vielen Monaten. Ethan muss meinen Voyager, in dem kein Kindersitz mehr befestigt ist, als Letzter gefahren haben.
Ich griff mit der Hand unter den Sitz, um ihn zu verstellen, und spürte den steifen Plastikschuh, nach dem Abby vor Wochen gesucht hatte.
Ich drückte mir den kleinen Schuh an die Brust und fuhr in den nächsten Ort, um mit einer Fremden über mein Leben ohne Abby zu sprechen. Ethan will, dass ich zu Celia
gehe. Er sagt, es sei nicht normal, dass ich in Abbys schlafe, dass ich ihre Babydecke und ihren Kuschelh in meiner Nähe haben will. Es ist mir egal, was normal
Es ist nicht normal, das einzige Kind, das man je 11 wird, zu verlieren.
Es ist nicht normal, dass jemand eine Vierjährige vor dem Kindergarten überfährt und nicht einmal aussteigt ihr zu helfen oder ihrer Mutter zu sagen, warum das paaren musste.
Mein Leben wird nie mehr normal sein.
Tag 20 ohne Abby
Vergangene Nacht schlief ich über zwei Stunden. Ein neuer Rekord für mich: dreieinhalb Stunden. Ich wünschte, ich hätte nicht so lange geschlafen, denn als ich mit dem Kuschelhasen im Arm in Abbys Bett aufwachte, dauerte es ein paar Sekunden, bis ich mich erinnerte. Ich lag nicht in ihrem Bett, weil ich beim Vorlesen aus Wynken, Blynken und Nod eingeschlafen war oder weil ich sie nach einem bösen Traum getröstet hatte. Nein, das hier war mein Albtraum.
Ich hasse mich dafür, dass ich es eine Sekunde lang vergesse. Wenn ich es ein paar Sekunden lang vergesse, dann habe ich Angst, dass ich es eines Tages vielleicht ein paar Minuten lang oder sogar mehrere Stunden lang vergesse. Und ich will nicht vergessen.
Ich stieg aus ihrem Bett und strich das Laken glatt. Betttuch, Zudecke und Tagesdecke schlug ich unter die Matratze, anstatt alles herunterhängen zu lassen. Es sieht nicht richtig aus, das Bett so ordentlich zu machen. Aber ich bin bereit, in ihrem Zimmer eine kleine Veränderung vorzunehmen, wenn es mir dadurch nur gelingt, Abbys Geruch im Bett einzufangen.
Ich brauchte auf dem Treppenabsatz gar nicht in mein
Schlafzimmer zu schauen. Im Flur tanzten Staubflusen, und der Kaffeeduft sagte mir, dass Ethan schon aufgestanden war. Meine Möglichkeiten waren begrenzt. Ich konnte mich wieder in Abbys warmes Bett legen. Dort konnte ich mich auf den Schmerz in der Magengegend konzentrieren, der mich in Wellen überfiel, wenn ich die Wolken ansah, die ich während der Schwangerschaft auf die Wände gemalt hatte. Oder ich konnte mich der Kälte unten stellen. Ich beschloss, mich über die unebenen Stufen nach unten zu schleppen, und überlegte mir, was ich Ethan sagen könnte. Innerhalb weniger Wochen sind unsere früher so munteren Unterhaltungen trübsinnig geworden.
Er saß am Tisch und sah zum Küchenfenster hinaus. Sein Gesicht war ausdruckslos. Ohne das Lächeln in seinen Augen sieht er aus wie ein anderer Mensch. Ich goss mir einen Becher Kaffee ein und fuhr ihm kurz durch die dunklen Locken, um ihn wissen zu lassen, dass ich da war, dann setzte ich mich ihm gegenüber hin.
»Vergisst du's je, auch nur eine Minute lang?«, fragte ich.
Jetzt war sein Blick in die Tiefen seines Bechers gerichtet. »Noch nicht.« Er trank einen Schluck und stellte den Becher ab.
Ich fragte ihn nicht, ob er vergessen möchte. Ich glaube schon, dass es so ist. Ich werde nie vergessen. Eher soll mich beim Klang ihres Namens ein Schwert durchbohren, als dass ich sie vergesse. Abigail Anna Gray.
»Hast du geschlafen?«, fragte er und streckte eine Hand zu meiner Tischseite herüber. »Du hast mir im Bett gefehlt.«
Ich hob den Becher an die Lippen. Alles, um seiner Berührung auszuweichen. »Ein bisschen. Gehst du nicht in die Arbeit?« Er trug einen dunkelblauen Nadelstreifenanzug, natürlich würde er gehen. Ich dachte, ich könnte von unserem neuen Schlafarrangement ablenken, wenn ich das Thema wechselte.
»Zuerst fahre ich zur Polizei«, sagte er. »Willst du mit kommen? Ich könnte dich zurückbringen, bevor ich zur Arbeit weiterfahre.« Seine unwiderstehlichen blauen Augen sahen mich flehentlich an.
Ich richtete mich auf. »Hat Caulfield angerufen? Ich habe das Telefon gar nicht gehört.« Ethan ließ sich schwer gegen die Rückenlehne fallen. Seine eingesunkenen Schultern sagten mir, was ich schon bis zum Überdruss gehört hatte.
»Nein, Detective Caulfield hat nicht angerufen«, sagte er und betonte das »Detective«. »Als ich das letzte Mal mit ihm sprach, sagte er, er würde mit allen Leuten in der Beach Rose und mit den Lehrern sprechen und sich dann bei uns melden. Das war vor vier Tagen.«
Es entging mir nicht, dass Ethan mich korrigierte: Ich hatte den »Detective» unterschlagen - als wäre in meinen Augen derjenige, der für uns ermitteln sollte, ein weiterer Schicksalsschlag.
Ich hatte Detective Hollis Caulfield nur ein Mal getroffen, aber dieses eine Mal genügte, um zu wissen, dass ich ihn nicht mochte. Seine Untergebenen eilten ihm voraus, um uns mitzuteilen, dass Ermittlungen über Abbys Tod durchgeführt würden. Caulfields Arroganz eilte ihm voraus, als er uns das eine, einzige Mal besuchte. Ein Besuch, der bestimmt zwingend vorgeschrieben war, denn Caulfield hatte dem, was wir sowieso schon wussten, nichts Neues hinzuzufügen.
Niemand hat gesehen, wie es passiert ist.
Drei Tage nach Abbys Tod zwängte sich Caulfield in einem Jackett, das nicht einmal ein Drittel seiner Leibesfülle bedeckte, in unser altes Haus. Das Haus, früher einmal ein Zuhause, das jetzt erfüllt war mit den Anblicken, Geräuschen und Gerüchen einer Tragödie. Verweinte Nachbarinnen mit Apfelkuchen und zerdrückten Taschentüchern in der Hand standen in unserem Wohnzimmer und unserer Küche herum. Caulfield warf über eine Lesebrille, die ihm fast auf der Nasenspitze saß, einen kurzen Blick nach rechts und links auf die Versammelten, als erwarte er, dass sie ihm Platz machten, auch ohne dass er »Entschuldigung» zu sagen brauchte. Die Geräusche verstummten, als alle merkten, dass er kein netter Mensch war. Caulfield ist ein Polizist. In dem Moment war mir klar, dass er ein Schwein ist.
Ethan schenkte mir Kaffee nach, er wartete noch auf meine Antwort, ob ich zur Polizei mitfahren würde.
»Nein, fahr ohne mich. Ich habe nicht genug geschlafen, mir fehlt die Energie, mich zu duschen und anzuziehen und mich mit ihm auseinanderzusetzen. Wenn es dir nichts ausmacht, bleibe ich hier. Dich macht er nicht so nieder wie mich und wahrscheinlich sagt er dir auch mehr. Ich glaube, er kann Frauen nicht leiden.«
»Ich kann es nicht leiden, wenn du das sagst.« Ethan kehrte mir den Rücken zu und stellte die Kanne wieder auf den Herd.
»Was?«, fragte ich. »Jetzt komm, das sieht man doch auf den ersten Blick, dass er nur Männer ernst nimmt. Wenn er redet, weicht er meinem Blick aus, und er richtet die Antworten auf meine Fragen immer nur an dich. Und er nennt mich >die Ehefrau<.«
»Also gut, er hat keine Umgangsformen. Aber deswegen brauchst du nicht gleich das Schlimmste von ihm anzunehmen. Du machst die Sache nicht besser, wenn du ihn gegen dich aufbringst.« Früher, als wir gegenseitig unsere Sätze beendeten, hätte einer von uns das Gespräch mit einer witzigen Bemerkung abgeschlossen, in der Art: »Du weißt doch, wie Tessa sein kann.« Jetzt beendete Ethan, der Diplomat, es mit »Weißt du?«.
Ich kann Caulfield nicht leiden. Ich wollte nicht versprechen, dass ich ihn nicht provozieren würde. Wenn es etwas nützen würde, würde ich es tun. Ich bin lediglich bereit, den Waffenstillstand mit Ethan zu halten. »Deswegen ist es besser, wenn ich hierbleibe. Du fährst zur Polizei. Und hinterher kannst du mir erzählen, was er gesagt hat - wenn du magst.« Mehr konnte ich Ethan nicht anbieten.
Unsere Augen wanderten zum Fenster; draußen hatte sich etwas bewegt. Ein Eichhörnchen turnte über einen langen Ast unseres Ahorns. Es erreichte das Seil, an dem Abbys Schaukel hing, und hüpfte über den Knoten hinweg.
Ethan gab mir einen Kuss auf die Wange. »Mach ich.«
Zwei Stunden später, als er wiederkam, saß ich immer noch an genau derselben Stelle. Ich trank kalten Kaffee.
»Du solltest wirklich etwas essen, sonst bekommst du noch ein Magengeschwür.« Er öffnete einen der vier Bäckerkartons, die auf der Arbeitsfläche standen, und reichte mir in einer über und über mit Smileys bedruckten Papierserviette einen Muffin vom Vortag.
»Caulfield hat mich wieder hingehalten. Ich kann gar nicht verstehen, warum das alles so lange dauert. Er sagt, die Gespräche seien noch nicht alle geführt worden. Außer- dem wartet er darauf, dass die Spuren am Unfallort untersucht werden.« Ethan schluckte. »Und er wartet auf den Autopsiebericht.«
Der Schlag in die Magengrube, den mir der Begriff »Spuren am Unfallort» versetzte, verebbte vor dem Schwinger »Autopsie«.
»Ich weiß. Wenonah ist nicht Boston.« Ich sagte etwas, weil es angenehmer war, an ein Monster in einer Limousine zu denken, als Abby auf einem kalten Stahltisch liegen zu sehen.
»Er hätte das in ein oder zwei Tagen klären müssen, ob nun jemand was gesehen hat oder nicht.« Ich zog an einem Faden aus Ethans viel zu großem Pyjamaoberteil, das ich trug.
»Gäbe es Abbys Lehrerin nicht, gäbe es nichts zu klären«, sagte er. »Es will mir immer noch nicht in den Kopf, dass sie die Kinder nicht durchgezählt hat, bevor sie vom Spiel-platz losgezogen sind.« Er versuchte, die Falten in seinem Jackett mit der Hand zu glätten.
Ich sah Miss Janie mit ihrer perfekten Haltung vor mir, die mir in ihrer leisen Stimme sagte, es seien nur wenige Minuten vergangen zwischen dem Moment, als sie in die Bright Futures zurückkam - dass der Kindergarten ausgerechnet so heißt, »Strahlende Zukunft« -, und dem Moment, als sie wieder nach draußen ging und Abby auf der Straße liegen sah.
Abby muss getrödelt und sich immer weiter von den anderen Kindern entfernt haben. Wahrscheinlich hat sie vor sich hingesummt und nicht gehört, als die Lehrerin sagte, sie müssten wieder in die Schule zurück. Sie muss eine
Blume gesehen haben, die sie pflücken wollte, oder vielleicht hatte sie auch die blaue Feder eines Eichelhähers gefunden. Sie sammelte alles und jedes ihrer Fundstücke war für sie ein Schatz. Es ist schwer zu glauben, dass es nur wenige Minuten dauerte, meine Familie zu zerstören. Abby hat keine strahlende Zukunft. Und ich auch nicht.
»Tessa, mein Schatz, alles in Ordnung?« Ethan bog mir die Finger einzeln von dem Muffin, den ich in immer kleinere Stückchen zerrissen hatte. Er holte mich in die Küche zurück, in der wir vier Jahre lang keinen einzigen Becher Kaffee in Ruhe getrunken hatten.
»Was hat Caulfield noch gesagt? Sag mir nicht, das wär's gewesen.«
»Er sagte, er würde sich bei uns melden, wenn alle Be-weismittel vorliegen und er würde allem nachgehen, was reinkommt, aber momentan gibt es nichts Neues. Er sagte, wir müssten Geduld haben. Wir müssen einfach warten.«
Selbst als ich los schrie, wusste ich, dass ich Ethan nicht anschreien sollte. Er hätte wissen müssen, dass die Wörter »Geduld« und »warten« in meinen Ohren so schrill klingen wie Kreide, die quietschend über eine Tafel fährt.
»Der hat gut reden, sie ist ja nicht sein Kind. Was soll das Warten schon bringen? Ich will, dass er jedes Auto im Ort überprüft. Ich will, dass er sich auf die Socken macht und den Menschen findet, der mit einem tonnenschweren Geschoss meine Tochter überfahren hat, die nicht mal fünf-zehn Kilo wog.«
Ethan stützte die Ellbogen auf den Tisch und legte den Kopf in die Hände.
Tag 22 ohne Abby
Heute waren Rosemary und Matthew zu Besuch da. Rosemary weiß, dass der Mittwoch der schlimmste Tag der Woche ist. Drei Wochen sind vergangen, seit Abby ihren letzten Atemzug getan hat.
Ich war in Abbys Zimmer und ging im Kopf verschiedene Szenarien durch. Ich versuche immer noch zu verstehen, wie der Unfall eigentlich abgelaufen ist. Ich sitze den Großteil des Tages im Schaukelstuhl bei ihr am Fenster. Von dort sieht praktisch alles genauso aus wie vorher. Wenn ich lange genug dort gesessen habe, stehe ich auf, gehe umher, berühre ihre Sachen, nehme hier und da etwas in die Hand. Ich rieche ihren süßen Kleine-Mädchen-Ge-ruch. Teils Shampoo, teils Apfel-Körperlotion. Ihre Kleider hängen anziehbereit im Schrank. Heute hätte ich ihr das blaue Jerseykleidchen mit den Gänseblümchen rausgesucht, weil die dreiviertellangen Ärmel sie an dem kühlen Tag warm halten würden. Ich stelle mir vor, wie ich es ihr über die Locken streife und dann weiter über die knochigen Schultern und die schmale Taille. Ich würde darauf bestehen, dass sie Strumpfhosen anzieht. Sie würde minutenlang die Nähte richten. Dann würden wir in die Küche hinuntergehen, wo sie ihre Reiscrispies mit ein paar Brombeeren isst, während ich meinen Kaffee trinke und ihr aus einem Buch vorlese.
Rosemary versuchte, mich mit ihrer Fröhlichkeit und ihrem frisch gebackenen Blaubeerbrot aus meiner Trance zu holen. Sie trug eine enge Hose, ohne jede Falte, und dazu einen leuchtend blauen Pullover mit V-Ausschnitt, von der Stange bei Lord & Taylor. Rosemary ist etwas größer als ich und so brünett, wie ich blond bin. Ihr adrettes Outfit stand im diametralen Gegensatz zu meiner dreckigen Trekkinghose und dem überdimensionalen Sweatshirt. Die Leute haben uns unser Leben lang wegen unseres unterschiedlichen Aussehens verglichen. Heute Vormittag wäre ein Vergleich grausam ausgefallen. Rosemary sah perfekt aus, wie immer, und ich sah aus, als wäre alles völlig daneben.
Früher hat es mich nie gestört, dass Rosemary einfach vorbeischaut. Jetzt kann ich es nicht ertragen, dass sie mich drängt, etwas zu essen und mich anzuziehen. Zwei von einer Million Sachen, zu denen ich keine Lust habe.
»Jetzt komm doch, Schnee. Wenn du gebadet und was Frisches angezogen hast, geht's dir bestimmt besser. Ich lass dir die Wanne einlaufen und such dir was Sauberes raus, ja?«
In ihrer Not greift sie auf den Kosenamen aus unserer Kindheit zurück. Das Einzige, das Daddy uns hinterlassen hat. Er nannte mich Schneeweißchen und sie Rosenrot. Das war seine Art, seine beiden Töchter zu unterscheiden, die im Abstand von zwei Jahren zur Welt gekommen waren.
Rosemary sah sich um, ihr Blick blieb an dem Puppenwagen hängen, in dem Dolly lag. »Ich finde, du solltest nicht so viel Zeit in diesem Zimmer verbringen.« Der An- blick des Zimmers meiner Tochter trieb ihr Tränen in die Augen. »Lass uns doch spazieren gehen.« Sie fuhr sich mit dem Zeigefinger über ein Auge. »Ein bisschen frische Luft würde dir guttun.«
»Hör auf«, sagte ich. »Durch ein Bad und einen Spaziergang wird nichts besser. Es ist egal, was ich esse und was ich trage.« Am liebsten hätte ich geschrien: »Sie ist tot!«, aber ich sah, dass Matthew mit einem von Abbys Pferden am Boden spielte.
Ich liebe Rosemary, aber wenn sie hier ist, bin ich immer kurz vorm Ausrasten. Sie behandelt mich wie ein kostbares Erbstück. Weiß sie denn nicht, dass ich die zerbrechliche Vase bin, die schon vom Kaminsims gefallen ist und in tausend Scherben am Boden liegt? Noch mehr kaputtgehen kann ich nicht. Ich verabscheue den Ausdruck auf ihrem Gesicht, der besagt: »Gott sei Dank, dass das nicht mir passiert ist.« Ihr ist nicht klar, dass ich das sehe. Sie verbirgt es ganz gut. Ich habe diesen unverhohlenen Ausdruck auf dem Gesicht so vieler anderer Mütter gesehen, dass ich ihn erkenne, trotz all der Masken, die sie aufsetzen.
Und wenn ich schon bei den Sachen bin, die ich verabscheue: Es ist unerträglich, wenn sie Matthew mitbringt, und es ist unerträglich, wenn sie ihn zu Hause lässt. Wenn er hier ist, bin ich wütend, weil ihr Kind am Leben ist. Wenn sie ihn nicht mitbringt, bin ich wütend, weil sie offenbar glaubt, ich könnte es nicht ertragen, eine Mutter mit ihrem Kind zu sehen. Die perfekte Rosemary mit ihrem perfekten Matthew.
Matthew hat nichts dagegen, mit mir in Abbys Zimmer zu sein. Er tätschelte einem ihrer Pferde die Mähne, dann setzte er sich zu mir auf den Schoß. »Tante Tessa, wo ist Abby? Ich will, dass sie nach Hause kommt.«
Rosemary setzte sich auf die Kante von Abbys Bett, in der Hand hatte sie noch ihr blödes Brot. Ich vergrub das Gesicht an Matthews Hals. Mir prickelte die Haut vom Druck, ein richtiges Kind im Arm zu halten. Ich war stolz auf Matthew, dass er nach seiner Cousine fragte, dass er sagte, wie es ihm ging, ganz unbefangen. Er redet nicht um den heißen Brei herum. Sie fehlt ihm, er will, dass sie wiederkommt.
Wie ich. Freitag, 28. Oktober, 16.30 Uhr
Ich fischte mein Tagebuch aus den Tiefen meiner Aktentasche und drehte meinen Sessel zum Fenster. Die Praxis müsste dringend renoviert werden, und der Blick auf den Park wird mich inspirieren. Es tut gut, wieder zu schreiben. Ich fühle so gern, wie der Stift über das Papier gleitet. Jetzt, wo der Aufruhr des vergangenen Jahres vorüber ist, bin ich zuversichtlich, dass ich wieder regelmäßiger schreiben werde.
Eine neue Klientin hat mich daran erinnert, wie sehr ein Tagebuch helfen kann. Nach der ersten Sitzung griff sie meinen Vorschlag auf, ihre Gedanken und Gefühle aufzu-schreiben. Ich muss gestehen, das hat mich überrascht. Sie ist zwar von Haus aus freie Journalistin, aber ich hatte nicht geglaubt, dass sie die Energie aufbringen würde, die es kos-tet, mit Herzblut zu schreiben.
Sie heißt Tessa, und ihre vierjährige Tochter ist vor dem Kindergarten überfahren worden; der Fahrer beging Unfallflucht. Gleich, als ich im Globe davon las und alle Welt über den Unfall sprach, vom Kassierer in der Bank bis zum Postboten, war mir klar, dass die Mutter der Kleinen eine Therapie brauchen würde. Wie ironisch, dass sie ausgerechnet zu mir gekommen ist.
Die amerikanische Originalausgabe erschien zoo9
unter dem Titel Lifr Without Summer
bei St. Martin's Press, New York.
Besuchen Sie uns im Internet:
www.weltbild. de
Copyright der Originalausgabe © 2009 by Lynne Griffin
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2009
by Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Übersetzung: Ursula Wulfekamp
Redaktion: Dr. Ulrike Strerath-Bolz
Umschlaggestaltung: zeichenpool, München
Umschlagmotiv: Shutterstock
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
Druck und Bindung: CPI Moravia Books s.r.o., Pohorelice
Printed in the EU
ISBN 978-3-86800-916-3
2014 2013 2012 2011
Ich gehe den Morgen im Kopf immer und immer wieder durch, denke mir, hätte ich sie nur wegen ihrer laufenden Nase zu Hause behalten, hätte nur ich an dem Tag Begleitdienst gehabt. Hätte ich an dem Morgen nur eine Sache anders gemacht, sähe das Leben jetzt vielleicht anders aus.
Ich kann mir nicht vorstellen, dass es mir hilft, wenn ich darüber schreibe, aber Celia sagt, ich soll's einfach versuchen. Gestern hatte ich das erste Therapiegespräch. Als ich die Stufen vor der Haustür hinunterging, hielt ich mich gut am Geländer fest. Es war das erste Mal seit zwei Wochen, dass ich das Haus verließ. Nach ein paar Sekunden merkte ich, dass meine Caprihose und die Flipflops dem Wetter entsprachen, wie es vorher gewesen war, und nicht der frischen Herbstluft, die mir auf dem Weg zum Auto um die Schienbeine wehte. Aber mir fehlte die Energie, mich umzuziehen.
Ich hievte meine fünfzig Kilo in den Fahrersitz, der für mich zu weit nach hinten geschoben war. Der Wagen war innen sauberer als seit vielen Monaten. Ethan muss meinen Voyager, in dem kein Kindersitz mehr befestigt ist, als Letzter gefahren haben.
Ich griff mit der Hand unter den Sitz, um ihn zu verstellen, und spürte den steifen Plastikschuh, nach dem Abby vor Wochen gesucht hatte.
Ich drückte mir den kleinen Schuh an die Brust und fuhr in den nächsten Ort, um mit einer Fremden über mein Leben ohne Abby zu sprechen. Ethan will, dass ich zu Celia
gehe. Er sagt, es sei nicht normal, dass ich in Abbys schlafe, dass ich ihre Babydecke und ihren Kuschelh in meiner Nähe haben will. Es ist mir egal, was normal
Es ist nicht normal, das einzige Kind, das man je 11 wird, zu verlieren.
Es ist nicht normal, dass jemand eine Vierjährige vor dem Kindergarten überfährt und nicht einmal aussteigt ihr zu helfen oder ihrer Mutter zu sagen, warum das paaren musste.
Mein Leben wird nie mehr normal sein.
Tag 20 ohne Abby
Vergangene Nacht schlief ich über zwei Stunden. Ein neuer Rekord für mich: dreieinhalb Stunden. Ich wünschte, ich hätte nicht so lange geschlafen, denn als ich mit dem Kuschelhasen im Arm in Abbys Bett aufwachte, dauerte es ein paar Sekunden, bis ich mich erinnerte. Ich lag nicht in ihrem Bett, weil ich beim Vorlesen aus Wynken, Blynken und Nod eingeschlafen war oder weil ich sie nach einem bösen Traum getröstet hatte. Nein, das hier war mein Albtraum.
Ich hasse mich dafür, dass ich es eine Sekunde lang vergesse. Wenn ich es ein paar Sekunden lang vergesse, dann habe ich Angst, dass ich es eines Tages vielleicht ein paar Minuten lang oder sogar mehrere Stunden lang vergesse. Und ich will nicht vergessen.
Ich stieg aus ihrem Bett und strich das Laken glatt. Betttuch, Zudecke und Tagesdecke schlug ich unter die Matratze, anstatt alles herunterhängen zu lassen. Es sieht nicht richtig aus, das Bett so ordentlich zu machen. Aber ich bin bereit, in ihrem Zimmer eine kleine Veränderung vorzunehmen, wenn es mir dadurch nur gelingt, Abbys Geruch im Bett einzufangen.
Ich brauchte auf dem Treppenabsatz gar nicht in mein
Schlafzimmer zu schauen. Im Flur tanzten Staubflusen, und der Kaffeeduft sagte mir, dass Ethan schon aufgestanden war. Meine Möglichkeiten waren begrenzt. Ich konnte mich wieder in Abbys warmes Bett legen. Dort konnte ich mich auf den Schmerz in der Magengegend konzentrieren, der mich in Wellen überfiel, wenn ich die Wolken ansah, die ich während der Schwangerschaft auf die Wände gemalt hatte. Oder ich konnte mich der Kälte unten stellen. Ich beschloss, mich über die unebenen Stufen nach unten zu schleppen, und überlegte mir, was ich Ethan sagen könnte. Innerhalb weniger Wochen sind unsere früher so munteren Unterhaltungen trübsinnig geworden.
Er saß am Tisch und sah zum Küchenfenster hinaus. Sein Gesicht war ausdruckslos. Ohne das Lächeln in seinen Augen sieht er aus wie ein anderer Mensch. Ich goss mir einen Becher Kaffee ein und fuhr ihm kurz durch die dunklen Locken, um ihn wissen zu lassen, dass ich da war, dann setzte ich mich ihm gegenüber hin.
»Vergisst du's je, auch nur eine Minute lang?«, fragte ich.
Jetzt war sein Blick in die Tiefen seines Bechers gerichtet. »Noch nicht.« Er trank einen Schluck und stellte den Becher ab.
Ich fragte ihn nicht, ob er vergessen möchte. Ich glaube schon, dass es so ist. Ich werde nie vergessen. Eher soll mich beim Klang ihres Namens ein Schwert durchbohren, als dass ich sie vergesse. Abigail Anna Gray.
»Hast du geschlafen?«, fragte er und streckte eine Hand zu meiner Tischseite herüber. »Du hast mir im Bett gefehlt.«
Ich hob den Becher an die Lippen. Alles, um seiner Berührung auszuweichen. »Ein bisschen. Gehst du nicht in die Arbeit?« Er trug einen dunkelblauen Nadelstreifenanzug, natürlich würde er gehen. Ich dachte, ich könnte von unserem neuen Schlafarrangement ablenken, wenn ich das Thema wechselte.
»Zuerst fahre ich zur Polizei«, sagte er. »Willst du mit kommen? Ich könnte dich zurückbringen, bevor ich zur Arbeit weiterfahre.« Seine unwiderstehlichen blauen Augen sahen mich flehentlich an.
Ich richtete mich auf. »Hat Caulfield angerufen? Ich habe das Telefon gar nicht gehört.« Ethan ließ sich schwer gegen die Rückenlehne fallen. Seine eingesunkenen Schultern sagten mir, was ich schon bis zum Überdruss gehört hatte.
»Nein, Detective Caulfield hat nicht angerufen«, sagte er und betonte das »Detective«. »Als ich das letzte Mal mit ihm sprach, sagte er, er würde mit allen Leuten in der Beach Rose und mit den Lehrern sprechen und sich dann bei uns melden. Das war vor vier Tagen.«
Es entging mir nicht, dass Ethan mich korrigierte: Ich hatte den »Detective» unterschlagen - als wäre in meinen Augen derjenige, der für uns ermitteln sollte, ein weiterer Schicksalsschlag.
Ich hatte Detective Hollis Caulfield nur ein Mal getroffen, aber dieses eine Mal genügte, um zu wissen, dass ich ihn nicht mochte. Seine Untergebenen eilten ihm voraus, um uns mitzuteilen, dass Ermittlungen über Abbys Tod durchgeführt würden. Caulfields Arroganz eilte ihm voraus, als er uns das eine, einzige Mal besuchte. Ein Besuch, der bestimmt zwingend vorgeschrieben war, denn Caulfield hatte dem, was wir sowieso schon wussten, nichts Neues hinzuzufügen.
Niemand hat gesehen, wie es passiert ist.
Drei Tage nach Abbys Tod zwängte sich Caulfield in einem Jackett, das nicht einmal ein Drittel seiner Leibesfülle bedeckte, in unser altes Haus. Das Haus, früher einmal ein Zuhause, das jetzt erfüllt war mit den Anblicken, Geräuschen und Gerüchen einer Tragödie. Verweinte Nachbarinnen mit Apfelkuchen und zerdrückten Taschentüchern in der Hand standen in unserem Wohnzimmer und unserer Küche herum. Caulfield warf über eine Lesebrille, die ihm fast auf der Nasenspitze saß, einen kurzen Blick nach rechts und links auf die Versammelten, als erwarte er, dass sie ihm Platz machten, auch ohne dass er »Entschuldigung» zu sagen brauchte. Die Geräusche verstummten, als alle merkten, dass er kein netter Mensch war. Caulfield ist ein Polizist. In dem Moment war mir klar, dass er ein Schwein ist.
Ethan schenkte mir Kaffee nach, er wartete noch auf meine Antwort, ob ich zur Polizei mitfahren würde.
»Nein, fahr ohne mich. Ich habe nicht genug geschlafen, mir fehlt die Energie, mich zu duschen und anzuziehen und mich mit ihm auseinanderzusetzen. Wenn es dir nichts ausmacht, bleibe ich hier. Dich macht er nicht so nieder wie mich und wahrscheinlich sagt er dir auch mehr. Ich glaube, er kann Frauen nicht leiden.«
»Ich kann es nicht leiden, wenn du das sagst.« Ethan kehrte mir den Rücken zu und stellte die Kanne wieder auf den Herd.
»Was?«, fragte ich. »Jetzt komm, das sieht man doch auf den ersten Blick, dass er nur Männer ernst nimmt. Wenn er redet, weicht er meinem Blick aus, und er richtet die Antworten auf meine Fragen immer nur an dich. Und er nennt mich >die Ehefrau<.«
»Also gut, er hat keine Umgangsformen. Aber deswegen brauchst du nicht gleich das Schlimmste von ihm anzunehmen. Du machst die Sache nicht besser, wenn du ihn gegen dich aufbringst.« Früher, als wir gegenseitig unsere Sätze beendeten, hätte einer von uns das Gespräch mit einer witzigen Bemerkung abgeschlossen, in der Art: »Du weißt doch, wie Tessa sein kann.« Jetzt beendete Ethan, der Diplomat, es mit »Weißt du?«.
Ich kann Caulfield nicht leiden. Ich wollte nicht versprechen, dass ich ihn nicht provozieren würde. Wenn es etwas nützen würde, würde ich es tun. Ich bin lediglich bereit, den Waffenstillstand mit Ethan zu halten. »Deswegen ist es besser, wenn ich hierbleibe. Du fährst zur Polizei. Und hinterher kannst du mir erzählen, was er gesagt hat - wenn du magst.« Mehr konnte ich Ethan nicht anbieten.
Unsere Augen wanderten zum Fenster; draußen hatte sich etwas bewegt. Ein Eichhörnchen turnte über einen langen Ast unseres Ahorns. Es erreichte das Seil, an dem Abbys Schaukel hing, und hüpfte über den Knoten hinweg.
Ethan gab mir einen Kuss auf die Wange. »Mach ich.«
Zwei Stunden später, als er wiederkam, saß ich immer noch an genau derselben Stelle. Ich trank kalten Kaffee.
»Du solltest wirklich etwas essen, sonst bekommst du noch ein Magengeschwür.« Er öffnete einen der vier Bäckerkartons, die auf der Arbeitsfläche standen, und reichte mir in einer über und über mit Smileys bedruckten Papierserviette einen Muffin vom Vortag.
»Caulfield hat mich wieder hingehalten. Ich kann gar nicht verstehen, warum das alles so lange dauert. Er sagt, die Gespräche seien noch nicht alle geführt worden. Außer- dem wartet er darauf, dass die Spuren am Unfallort untersucht werden.« Ethan schluckte. »Und er wartet auf den Autopsiebericht.«
Der Schlag in die Magengrube, den mir der Begriff »Spuren am Unfallort» versetzte, verebbte vor dem Schwinger »Autopsie«.
»Ich weiß. Wenonah ist nicht Boston.« Ich sagte etwas, weil es angenehmer war, an ein Monster in einer Limousine zu denken, als Abby auf einem kalten Stahltisch liegen zu sehen.
»Er hätte das in ein oder zwei Tagen klären müssen, ob nun jemand was gesehen hat oder nicht.« Ich zog an einem Faden aus Ethans viel zu großem Pyjamaoberteil, das ich trug.
»Gäbe es Abbys Lehrerin nicht, gäbe es nichts zu klären«, sagte er. »Es will mir immer noch nicht in den Kopf, dass sie die Kinder nicht durchgezählt hat, bevor sie vom Spiel-platz losgezogen sind.« Er versuchte, die Falten in seinem Jackett mit der Hand zu glätten.
Ich sah Miss Janie mit ihrer perfekten Haltung vor mir, die mir in ihrer leisen Stimme sagte, es seien nur wenige Minuten vergangen zwischen dem Moment, als sie in die Bright Futures zurückkam - dass der Kindergarten ausgerechnet so heißt, »Strahlende Zukunft« -, und dem Moment, als sie wieder nach draußen ging und Abby auf der Straße liegen sah.
Abby muss getrödelt und sich immer weiter von den anderen Kindern entfernt haben. Wahrscheinlich hat sie vor sich hingesummt und nicht gehört, als die Lehrerin sagte, sie müssten wieder in die Schule zurück. Sie muss eine
Blume gesehen haben, die sie pflücken wollte, oder vielleicht hatte sie auch die blaue Feder eines Eichelhähers gefunden. Sie sammelte alles und jedes ihrer Fundstücke war für sie ein Schatz. Es ist schwer zu glauben, dass es nur wenige Minuten dauerte, meine Familie zu zerstören. Abby hat keine strahlende Zukunft. Und ich auch nicht.
»Tessa, mein Schatz, alles in Ordnung?« Ethan bog mir die Finger einzeln von dem Muffin, den ich in immer kleinere Stückchen zerrissen hatte. Er holte mich in die Küche zurück, in der wir vier Jahre lang keinen einzigen Becher Kaffee in Ruhe getrunken hatten.
»Was hat Caulfield noch gesagt? Sag mir nicht, das wär's gewesen.«
»Er sagte, er würde sich bei uns melden, wenn alle Be-weismittel vorliegen und er würde allem nachgehen, was reinkommt, aber momentan gibt es nichts Neues. Er sagte, wir müssten Geduld haben. Wir müssen einfach warten.«
Selbst als ich los schrie, wusste ich, dass ich Ethan nicht anschreien sollte. Er hätte wissen müssen, dass die Wörter »Geduld« und »warten« in meinen Ohren so schrill klingen wie Kreide, die quietschend über eine Tafel fährt.
»Der hat gut reden, sie ist ja nicht sein Kind. Was soll das Warten schon bringen? Ich will, dass er jedes Auto im Ort überprüft. Ich will, dass er sich auf die Socken macht und den Menschen findet, der mit einem tonnenschweren Geschoss meine Tochter überfahren hat, die nicht mal fünf-zehn Kilo wog.«
Ethan stützte die Ellbogen auf den Tisch und legte den Kopf in die Hände.
Tag 22 ohne Abby
Heute waren Rosemary und Matthew zu Besuch da. Rosemary weiß, dass der Mittwoch der schlimmste Tag der Woche ist. Drei Wochen sind vergangen, seit Abby ihren letzten Atemzug getan hat.
Ich war in Abbys Zimmer und ging im Kopf verschiedene Szenarien durch. Ich versuche immer noch zu verstehen, wie der Unfall eigentlich abgelaufen ist. Ich sitze den Großteil des Tages im Schaukelstuhl bei ihr am Fenster. Von dort sieht praktisch alles genauso aus wie vorher. Wenn ich lange genug dort gesessen habe, stehe ich auf, gehe umher, berühre ihre Sachen, nehme hier und da etwas in die Hand. Ich rieche ihren süßen Kleine-Mädchen-Ge-ruch. Teils Shampoo, teils Apfel-Körperlotion. Ihre Kleider hängen anziehbereit im Schrank. Heute hätte ich ihr das blaue Jerseykleidchen mit den Gänseblümchen rausgesucht, weil die dreiviertellangen Ärmel sie an dem kühlen Tag warm halten würden. Ich stelle mir vor, wie ich es ihr über die Locken streife und dann weiter über die knochigen Schultern und die schmale Taille. Ich würde darauf bestehen, dass sie Strumpfhosen anzieht. Sie würde minutenlang die Nähte richten. Dann würden wir in die Küche hinuntergehen, wo sie ihre Reiscrispies mit ein paar Brombeeren isst, während ich meinen Kaffee trinke und ihr aus einem Buch vorlese.
Rosemary versuchte, mich mit ihrer Fröhlichkeit und ihrem frisch gebackenen Blaubeerbrot aus meiner Trance zu holen. Sie trug eine enge Hose, ohne jede Falte, und dazu einen leuchtend blauen Pullover mit V-Ausschnitt, von der Stange bei Lord & Taylor. Rosemary ist etwas größer als ich und so brünett, wie ich blond bin. Ihr adrettes Outfit stand im diametralen Gegensatz zu meiner dreckigen Trekkinghose und dem überdimensionalen Sweatshirt. Die Leute haben uns unser Leben lang wegen unseres unterschiedlichen Aussehens verglichen. Heute Vormittag wäre ein Vergleich grausam ausgefallen. Rosemary sah perfekt aus, wie immer, und ich sah aus, als wäre alles völlig daneben.
Früher hat es mich nie gestört, dass Rosemary einfach vorbeischaut. Jetzt kann ich es nicht ertragen, dass sie mich drängt, etwas zu essen und mich anzuziehen. Zwei von einer Million Sachen, zu denen ich keine Lust habe.
»Jetzt komm doch, Schnee. Wenn du gebadet und was Frisches angezogen hast, geht's dir bestimmt besser. Ich lass dir die Wanne einlaufen und such dir was Sauberes raus, ja?«
In ihrer Not greift sie auf den Kosenamen aus unserer Kindheit zurück. Das Einzige, das Daddy uns hinterlassen hat. Er nannte mich Schneeweißchen und sie Rosenrot. Das war seine Art, seine beiden Töchter zu unterscheiden, die im Abstand von zwei Jahren zur Welt gekommen waren.
Rosemary sah sich um, ihr Blick blieb an dem Puppenwagen hängen, in dem Dolly lag. »Ich finde, du solltest nicht so viel Zeit in diesem Zimmer verbringen.« Der An- blick des Zimmers meiner Tochter trieb ihr Tränen in die Augen. »Lass uns doch spazieren gehen.« Sie fuhr sich mit dem Zeigefinger über ein Auge. »Ein bisschen frische Luft würde dir guttun.«
»Hör auf«, sagte ich. »Durch ein Bad und einen Spaziergang wird nichts besser. Es ist egal, was ich esse und was ich trage.« Am liebsten hätte ich geschrien: »Sie ist tot!«, aber ich sah, dass Matthew mit einem von Abbys Pferden am Boden spielte.
Ich liebe Rosemary, aber wenn sie hier ist, bin ich immer kurz vorm Ausrasten. Sie behandelt mich wie ein kostbares Erbstück. Weiß sie denn nicht, dass ich die zerbrechliche Vase bin, die schon vom Kaminsims gefallen ist und in tausend Scherben am Boden liegt? Noch mehr kaputtgehen kann ich nicht. Ich verabscheue den Ausdruck auf ihrem Gesicht, der besagt: »Gott sei Dank, dass das nicht mir passiert ist.« Ihr ist nicht klar, dass ich das sehe. Sie verbirgt es ganz gut. Ich habe diesen unverhohlenen Ausdruck auf dem Gesicht so vieler anderer Mütter gesehen, dass ich ihn erkenne, trotz all der Masken, die sie aufsetzen.
Und wenn ich schon bei den Sachen bin, die ich verabscheue: Es ist unerträglich, wenn sie Matthew mitbringt, und es ist unerträglich, wenn sie ihn zu Hause lässt. Wenn er hier ist, bin ich wütend, weil ihr Kind am Leben ist. Wenn sie ihn nicht mitbringt, bin ich wütend, weil sie offenbar glaubt, ich könnte es nicht ertragen, eine Mutter mit ihrem Kind zu sehen. Die perfekte Rosemary mit ihrem perfekten Matthew.
Matthew hat nichts dagegen, mit mir in Abbys Zimmer zu sein. Er tätschelte einem ihrer Pferde die Mähne, dann setzte er sich zu mir auf den Schoß. »Tante Tessa, wo ist Abby? Ich will, dass sie nach Hause kommt.«
Rosemary setzte sich auf die Kante von Abbys Bett, in der Hand hatte sie noch ihr blödes Brot. Ich vergrub das Gesicht an Matthews Hals. Mir prickelte die Haut vom Druck, ein richtiges Kind im Arm zu halten. Ich war stolz auf Matthew, dass er nach seiner Cousine fragte, dass er sagte, wie es ihm ging, ganz unbefangen. Er redet nicht um den heißen Brei herum. Sie fehlt ihm, er will, dass sie wiederkommt.
Wie ich. Freitag, 28. Oktober, 16.30 Uhr
Ich fischte mein Tagebuch aus den Tiefen meiner Aktentasche und drehte meinen Sessel zum Fenster. Die Praxis müsste dringend renoviert werden, und der Blick auf den Park wird mich inspirieren. Es tut gut, wieder zu schreiben. Ich fühle so gern, wie der Stift über das Papier gleitet. Jetzt, wo der Aufruhr des vergangenen Jahres vorüber ist, bin ich zuversichtlich, dass ich wieder regelmäßiger schreiben werde.
Eine neue Klientin hat mich daran erinnert, wie sehr ein Tagebuch helfen kann. Nach der ersten Sitzung griff sie meinen Vorschlag auf, ihre Gedanken und Gefühle aufzu-schreiben. Ich muss gestehen, das hat mich überrascht. Sie ist zwar von Haus aus freie Journalistin, aber ich hatte nicht geglaubt, dass sie die Energie aufbringen würde, die es kos-tet, mit Herzblut zu schreiben.
Sie heißt Tessa, und ihre vierjährige Tochter ist vor dem Kindergarten überfahren worden; der Fahrer beging Unfallflucht. Gleich, als ich im Globe davon las und alle Welt über den Unfall sprach, vom Kassierer in der Bank bis zum Postboten, war mir klar, dass die Mutter der Kleinen eine Therapie brauchen würde. Wie ironisch, dass sie ausgerechnet zu mir gekommen ist.
Die amerikanische Originalausgabe erschien zoo9
unter dem Titel Lifr Without Summer
bei St. Martin's Press, New York.
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www.weltbild. de
Copyright der Originalausgabe © 2009 by Lynne Griffin
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2009
by Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Übersetzung: Ursula Wulfekamp
Redaktion: Dr. Ulrike Strerath-Bolz
Umschlaggestaltung: zeichenpool, München
Umschlagmotiv: Shutterstock
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
Druck und Bindung: CPI Moravia Books s.r.o., Pohorelice
Printed in the EU
ISBN 978-3-86800-916-3
2014 2013 2012 2011
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Bibliographische Angaben
- Autor: Lynne Griffin
- 2011, 1, 429 Seiten, Maße: 12,4 x 18,7 cm, Taschenbuch
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3868009167
- ISBN-13: 9783868009163
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