Ein Sommer und ein Tag
Roman
Nach einem Flugzeugabsturz verliert Nell ihr Gedächtnis - und weiß nicht, ob sie ihr Leben überhaupt zurück will.
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Ein Sommer und ein Tag “
Nach einem Flugzeugabsturz verliert Nell ihr Gedächtnis - und weiß nicht, ob sie ihr Leben überhaupt zurück will.
Klappentext zu „Ein Sommer und ein Tag “
Der Schlüssel zu deinem Leben.Nur knapp überlebt die junge Galeristin Nell einen Flugzeugabsturz. Als sie im Krankenhaus aufwacht, kann sie sich an nichts erinnern. Amnesie lautet die Diagnose. Wer ist sie also? Die Besucher an ihrem Krankenbett sind ihr fremd, selbst ihr Mann.
Bald interessiert sich auch die Presse für Nells Leben. Mehrere Versionen ihrer Geschichte kursieren. Nell weiß nicht, welche sie glauben soll.
Bei der Suche nach Antworten bekommt sie Hilfe von dem charmanten Journalisten Jamie. Aber je näher Nell ihrem alten Leben kommt, desto stärker wird der Zweifel. Möchte sie es wirklich zurück? Oder muss sie am Ende dieses Sommers einen neuen Weg gehen?
Das neuste Buch der New-York-Times-Bestsellerautorin - voller Gefühl und Dramatik!
Der Schlüssel zu deinem Leben.
Nur knapp überlebt die junge Galeristin Nell einen Flugzeugabsturz. Als sie im Krankenhaus aufwacht, kann sie sich an nichts erinnern. Amnesie lautet die Diagnose. Wer ist sie also? Die Besucher an ihrem Krankenbett sind ihr fremd, selbst ihr Mann.
Bald interessiert sich auch die Presse für Nells Leben. Mehrere Versionen ihrer Geschichte kursieren. Nell weiß nicht, welche sie glauben soll.
Bei der Suche nach Antworten bekommt sie Hilfe von dem charmanten Journalisten Jamie. Aber je näher Nell ihrem alten Leben kommt, desto stärker wird der Zweifel. Möchte sie es wirklich zurück? Oder muss sie am Ende dieses Sommers einen neuen Weg gehen?
Das neuste Buch der New-York-Times-Bestsellerautorin - voller Gefühl und Dramatik!
Nur knapp überlebt die junge Galeristin Nell einen Flugzeugabsturz. Als sie im Krankenhaus aufwacht, kann sie sich an nichts erinnern. Amnesie lautet die Diagnose. Wer ist sie also? Die Besucher an ihrem Krankenbett sind ihr fremd, selbst ihr Mann.
Bald interessiert sich auch die Presse für Nells Leben. Mehrere Versionen ihrer Geschichte kursieren. Nell weiß nicht, welche sie glauben soll.
Bei der Suche nach Antworten bekommt sie Hilfe von dem charmanten Journalisten Jamie. Aber je näher Nell ihrem alten Leben kommt, desto stärker wird der Zweifel. Möchte sie es wirklich zurück? Oder muss sie am Ende dieses Sommers einen neuen Weg gehen?
Das neuste Buch der New-York-Times-Bestsellerautorin - voller Gefühl und Dramatik!
Lese-Probe zu „Ein Sommer und ein Tag “
Ein Sommer und ein Tag von Allison Winn Scotch... mehr
Piep. Piep. Piep. Piep. Piep. Meine Lider sind schwer wie Blei. Ein dumpfes Pochen dröhnt in meinem Hinterkopf. Meine Lunge fühlt sich an, als hätte jemand einen Sandsack hineingekippt und den Betonmischer eingeschaltet. Ich hole Luft. Meine Rippen ächzen protestierend. Piep. Piep. Piep. Piep. Piep. Der Wecker klingelt. Was soll es sonst sein? Ich zwinge ein Auge auf. Es fügt sich widerwillig. Dann das zweite. Dazu muss ich die dicke, verkrustete Schicht, die meine Wimpern verklebt, durchbrechen. Ich versuche, den Kopf zu drehen - wo ist dieser Wecker und wie schaffe ich es, ihn auszuschalten? - , aber ich kann den Hals nicht bewegen. Er ist fest umwickelt, durch eine Art Kissen fixiert, das mich zusammenhält. Nein. Nein. Wo bin ich? Mein Blick schießt hin und her, mein Atem geht schwerer, und das Piepen wird mit jedem verzweifelten Ringen nach Luft lauter. In der Ecke steht ein großer Mann mit hängenden Schultern, wie bei einem ehemaligen Footballspieler, neben ihm eine Frau mit tiefen Falten um die Augen, die sich offensichtlich schon vor längerem dort eingegraben haben. Beide wirken ungepflegt, erschöpft. Seine braunen Haare stecken unter einer Baseballkappe, und auf dem Gesicht liegt ein mindestens drei Tage alter Bartschatten.
Auf seinem DICK'S DRIVETHRU- T-Shirt prangen zwei Kaffeeflecken, auf der Jeans ein Ketchupklecks. Sie sieht auch nicht besser aus in ihrem nicht mehr ganz frischen violetten Flatterkleid, das gut als Nachthemd durchgehen könnte. Mit dem unordentlichen Knoten aus grauen Haaren auf dem Kopf erinnert sie mich an einen Champignon. «Was willst du damit sagen, sie war schwanger?», flüstert der Mann. Ich möchte mich aufsetzen, damit ich besser verstehen kann, mich vorbeugen und mithören, aber entweder bin ich zu schwer verletzt, oder man hat mich festgebunden. Was von beidem, weiß ich noch nicht, jedenfalls kann ich mich nicht bewegen. «Hast du das nicht gewusst?», fragt sie zurück. «Nein!» Er lässt sich auf die Armlehne des Stuhls sinken, der neben ihm steht. «Wusste ich nicht.» Sie streicht ihm über den Rücken und sieht zum Fenster hinaus auf eine Landschaft aus schmutzig beigen Dächern. Es ist ein langer Blick, der ihren stoischen Gleichmut verrät und bei dem man sich fragt, ob sie sich womöglich jeden Moment in Luft auflöst. Ich will stöhnen, die beiden wissen lassen, dass ich da bin, dass ich sie sehe, doch mein Mund ist zu trocken und meine Zunge zu lange nicht benutzt worden. «Ich hole Kaffee», sagt der Mann und steht auf. Schau hier her! Schau mich an! Das Piepen wird hektischer. Piep piep piep piep piep! Endlich sieht er her. «O mein Gott! Nell, du bist wach!» Er eilt zu mir und greift nach meiner Hand. Ich nicke. Zumindest glaube ich, dass ich nicke. Die Frau ist augenblicklich an meiner Seite, dann dreht sie sich genauso schnell wieder weg und ruft zur geöffneten Tür hinaus: «Sie ist aufgewacht! Rufen Sie Dr. Stark!» Sofort ist sie wieder bei mir, weint, streichelt meine Stirn, drängt sich an mich. «O Gott, danke, lieber Gott, Nell, du bist wach!» Ehe ich begreifen kann, wer die Frau ist und was das alles zu bedeuten hat, erscheint ein ruhig und dennoch geschäftig wirkender Mann am Fußende des Bettes. Er betrachtet prüfend eine Tabelle, fummelt an den Apparaten herum, beobachtet die Anzeigen, das Piepen. Er schiebt die Brille über den Nasenrücken hoch, fährt sich mit der Rechten glättend über die Haare - sie sind an den Schläfen leicht grau, aber immer noch dicht und wellig. Dann scheucht er mit einer Bewegung, als würde er ein paar Fussel wegwischen wollen, den Mann und die Frau zur Seite und starrt mich an. «Nell? Ich bin Dr. Stark. Wir freuen uns sehr, Sie zu sehen. Wissen Sie, wo Sie sind?» Ich schaue auf die zahlreichen besorgten Gesichter hinter ihm. Krankenschwestern, der Mann, die Frau, weitere Fremde fluten das Zimmer. Der Strom ergießt sich bis hinaus auf den Gang. Ich antworte nicht, deshalb fragt er mich noch einmal. «Nell. Sie hatten einen Unfall. Ist Ihnen klar, wo Sie sind?» Er wedelt erneut mit der Hand und wendet abrupt den Kopf. «Wer nicht zum Kernteam gehört, verlässt bitte den Raum.» Niemand bewegt sich. «Sofort!» Langsam zieht sich der Strom der Zuschauer zurück. Übrig bleiben ein paar Schwestern, der Mann, die ältere Frau und Dr. Stark. «Nell», sagt er und setzt sich vorsichtig aufs Bett. «Nell, Sie sind mit dem Flugzeug abgestürzt. Können Sie mir sagen, woran Sie sich erinnern?» Mein Blick kreist, und ich nage an der Unterlippe, während ich mein Gedächtnis durchforste. Woran erinnere ich mich? Ein Flugzeug? Bin ich in ein Flugzeug gestiegen? Nein, nein. Das war nicht ich. Ich glaube nicht, dass ich ein Flugzeug bestiegen habe. Ein Absturz? Wieso sollte ich mich nicht an einen Absturz erinnern? Nein, unmöglich, dass mir das passiert sein soll. «An nichts», bringe ich flüsternd heraus. Die Luft brennt in meiner Kehle. «Ich erinnere mich an keinen Flugzeugabsturz. » Die ältere Frau mit der Champignonfrisur hält mir einen Becher mit Trinkhalm hin und nickt mir zu.
Ich schlinge meine Zunge um den Trinkhalm, bekomme ihn mit den Zähnen zu fassen und sauge. Ja! Wie Manna in der Wüste. Das Wasser bahnt sich einen Weg in mein Inneres - ich fühle, wie die kühle Flüssigkeit durch meine Kehle fließt und die dürre Steppe in meinem Bauch wässert. «In Ordnung. Das ist ganz normal», sagt Dr. Stark an den großen Mann und die Frau gewandt. «Das haben wir nicht anders erwartet. Sie dürfen nicht vergessen, dass sich das alles vollkommen im Rahmen bewegt.» Dann fragt er mich: «Woran können Sie sich denn erinnern? Lassen Sie uns einfach damit beginnen. Können Sie mir sagen, an welche Einzelheiten aus Ihrem Leben Sie sich erinnern?» Ich schüttle den Kopf, soweit es die Halskrause zulässt. Dr. Stark schiebt den Mann näher an mein Bett heran. Der Fremde lässt die Finger durch meine Haare gleiten und fängt an zu weinen. Stumm und heftig. «Ist gut, Peter», sagt die Frau. «Es wird alles wieder gut.» Er nickt, dann entfährt ihm ein seltsames Heulen - es klingt wie ein Delfinruf - , wahrscheinlich versucht er, sich zusammenzureißen. Die Tränen versiegen, doch seine tiefliegenden Augen sind rot umrandet. Sie verraten mir, dass er eigentlich nicht mehr weiß, was Zusammenreißen überhaupt bedeutet.
Dr. Stark zeigt auf den Mann namens Peter. «Wissen Sie, wer das ist?» Ich kneife die Augen zusammen, betrachte den Mann und versuche, mich zu erinnern. Ich starre die Muskeln an, die sich unter dem T-Shirt abzeichnen, mustere die widerspenstigen braunen Haare, die unter der Kappe hervorlugen, die Venen auf der Innenseite seiner Arme, die sich bis zu den Handflächen hinunterziehen. Er sieht auf eigenwillige Weise gut aus und weckt unbestimmte Erinnerungen in mir. Aber ich kann die Signale nicht deuten. Weder weiß ich, wer er ist, noch, warum er für mich wichtig sein sollte. Eine Schwester reicht Dr. Stark einen Handspiegel, und er hält ihn mir vors Gesicht. Ich sehe, wie meine Augen sich fragend weiten. Das bin ich? Das bin ich! Ich habe keine Erwartung an mein Aussehen, keinen Plan, wo die Sommersprossen zu sitzen haben oder wie der Schwung der Lippen verlaufen sollte.
Das Spiegelbild zeigt mir, dass sich eine tiefviolette Strieme von der linken Schläfe bis unter das Auge zieht. Die Oberlippe ist von einer tiefen Schnittwunde durchzogen. Instinktiv taste ich mit der Zunge danach. Die fettigen Haare werden von einem Scheitel geteilt, der den bleichen, wachsigen Teint der Wangen betont, und bei den Strähnchen kann von natürlichem Blond keine Rede sein. «Hilft Ihnen das?», möchte Dr. Stark wissen. Wobei denn helfen?, will ich fragen, aber ich starre nur weiter in den Spiegel, so lange, bis alles verschwimmt. Ich versuche, eine Verbindung zu der Frau im Spiegel herzustellen, doch das Gesicht, das ich angeblich schon mein Leben lang mit mir herumtrage, würde ich heute bei einer Gegenüberstellung nicht wiedererkennen. Krampfhaft versuche ich, mich zu erinnern, als sich das Piepen - dieses nervtötende Geräusch - wieder in meine Ohren bohrt. Diesmal noch lauter, fast verzweifelt. Pieppieppieppieppieppiiiiiep! Erinnere dich! Verdammt noch mal! Erinnere dich! Mir wird schwindlig. Ich spüre, dass ich ohnmächtig werde, das Blut pocht in meinen Schläfen, hinter den Augen, nimmt mir den Atem, pulsiert in meiner Brust. Und plötzlich durchfährt mich ein Kopfschmerz, der sich fast ein bisschen nach Sterben anfühlt. Der Mann namens Peter umfasst mit seinen riesigen Pranken mein Gesicht, zwingt mich, wach zu bleiben, mich zu konzentrieren. «Nein», antworte ich mit dem letzten Fünkchen Kraft, das mir geblieben ist. «Tut mir leid. Nein. Ich erinnere mich nicht.» «Ich bin dein Mann», höre ich ihn sagen, aber es klingt wie ein Echo, ein fernes Echo von ganz, ganz weit weg. Ein Echo, das mich erst erreicht, als ich bereits versinke. Dann wird alles wieder still. Als ich zum zweiten Mal aufwache, sitzt die Champignonfrau schlafend auf einem Stuhl an meinem Bett. Das Piepen ist langsamer geworden, eine Imitation meines Herzschlags, so leise, dass ich es kaum noch registriere. Es ist zwar da, natürlich ist es da, aber fast wie weißes Rauschen, wie die Stelle, wo einen der Bruder so oft gezwickt hat, dass man sie gar nicht mehr spürt.
In der Ecke läuft ein Fernseher, leise gestellt, um nicht zu stören, aber doch so laut, dass ich verstehe, was gesagt wird. Am unteren Bildschirmrand läuft grellrot der Nachrichtenticker. Im Bild ist ein Mann vor einem Krankenhaus zu sehen. Im Hintergrund heult die Sirene eines Krankenwagens auf, aber entweder, der Mann hört sie nicht, oder er ist zu sehr Profi, um sich davon irritieren zu lassen. Jedenfalls spricht er weiter, ohne mit der Wimper zu zucken. «Uns hat vor kurzem die Nachricht erreicht, dass Nell Slattery, eine der beiden Überlebenden von Flug 1715, aus dem Koma erwacht ist. Wie Sie sich bestimmt erinnern, wurde Mrs. Slattery auf ihren Sitz geschnallt knapp zweihundert Meter entfernt von der Absturzstelle gefunden, direkt neben dem Filmschauspieler Anderson Carroll - dessen Geschichte wir alle kennen - , dem einzigen anderen Überlebenden dieser Katastrophe. Die mit der Untersuchung der Absturzursache beauftragten Sachverständigen vermuten, dass die Sitze der beiden während des Aufpralls oder unmittelbar davor aus der Maschine hinausgeschleudert wurden. Mrs. Slattery ist äußerlich angeblich erstaunlich unversehrt geblieben. Sie erlitt jedoch eine schwere Gehirnerschütterung und ein Hirnödem. Bisher wagten die Ärzte keine Prognosen über ihren Zustand, bis Nell Slattery heute aus dem Koma erwachte. Dass sie überhaupt ihr Bewusstsein wiedererlangt hat, gilt hier als außerordentlich gute Nachricht.» Kurz darauf erscheint ein Arzt auf dem Bildschirm. Er steht an einem Rednerpult, das von Blitzlichtgewitter erleuchtet und hektisch drängelnden Armen mit Mikrophonen umringt wird. Ich erkenne die Stimme von Dr. Stark. «Nell Slattery ist heute für etwa sieben Minuten aufgewacht. Die ärztliche Schweigepflicht verbietet mir, Sie zu diesem Zeitpunkt umfassender über ihren Zustand zu informieren. Dennoch freue ich mich, bestätigen zu können, dass sie wieder bei Bewusstsein ist. Wir werden Sie selbstverständlich über ihre Fortschritte auf dem Laufenden halten.» Das bin ich. Die reden über mich. Nell Slattery. Ich lasse mir den Namen durch den Kopf gehen, betaste ihn innerlich. Ja. Das fühlt sich irgendwie richtig an.
Ich versuche noch einmal, mich an einen Absturz zu erinnern, daran, aus einem Feuerball heraus und von der Schwerkraft einem unausweichlichen Tod entgegengeschleudert zu werden. Doch da ist nur eine dumpfe Leere, ein großes, weites Nichts. Ich wende mich wieder dem Fernseher zu. «Das Schicksal von Mrs. Slattery und Mr. Carroll hält die Nation in Atem», sagt der Reporter gerade. «Die Tatsache, dass Nell Slattery das Bewusstsein wiedererlangt hat, gibt allen hier im Krankenhaus und im ganzen Land neue Hoffnung.» «Es ist unglaublich! Es ist, als hätte Gott uns ein Wunder geschickt!», schluchzt eine Frau in die Kamera. «Gott segne dieses Mädchen und Anderson Carroll! Sie haben uns neuen Grund zum Glauben gegeben!» «Und so», fährt der Reporter fort, «ist heute die Stimmung im ganzen Land. Ein Tag der Hoffnung und der Dankbarkeit. Nell Slattery, vor einer Woche nach dem verheerenden Absturz von Flug 1715, bei dem einhundertzweiundfünfzig Menschen ums Leben kamen, auf einem Feld mitten in Iowa lebend aufgefunden, hat das Bewusstsein wiedererlangt. Wir werden Sie weiterhin auf dem aktuellsten Stand halten. Ich bin Jamie Reardon, glücklich angesichts des Wunders, das uns heute zuteil wurde, und ich melde mich zurück, sobald es etwas Neues zu berichten gibt.» Er nickt als Zeichen für das Nachrichtenstudio, zurückzuschalten, und ich wünschte, er würde es nicht tun, würde nicht einfach so abschalten. Sein Gesicht hat etwas unglaublich Tröstliches an sich, genau wie seine Art, die Fakten zu verkünden, ohne dabei zu nüchtern zu klingen, oder über die wesentlichen Details meines Lebens zu sprechen, ohne mich dabei zu Tode zu erschrecken.
Jamie Reardon, Jamie, Jamie Reardon, Jamie, Jamie, sag mir, was soll aus mir werden? Eine Melodie schwirrt durch meinen Kopf, eine Ansammlung von Noten, ein frei erfundenes Lied, das den Weg auf meine Lippen findet und summend ertönt. Ich spüre die Töne in meinem Mund und Hals vibrieren und hätte vor Überraschung fast laut aufgelacht. Die Frau auf dem Stuhl bewegt sich und sieht mich unwillkürlich an, noch ehe sie sich den Schlaf aus den Augen reibt. «Nell!» Sie ist in Windeseile bei mir, umhüllt mich mit ihrem großen Busen, und ich erkenne diesen dezenten Duft von Honigseife, der an ihr haftet. Es ist nur ein Nebelfetzen, die Erinnerung an eine Erinnerung, nicht greifbar, flüchtig, aber wärmend und besänftigend. «Ich bin deine Mutter», sagt die Frau. Sie löst sich von mir, ihre goldenen Armreifen klimpern. Sanft umfasst sie mein Gesicht, lässt ihre weichen Hände auf meinen Wangen ruhen, und dann summt sie die Melodie, die ich eben erfunden habe. Wir lächeln uns an. «Das hast du schon als Kind immer gemacht», erzählt sie. «Ständig hast du kleine Lieder erfunden. Über alles Mögliche. Manchmal durfte ich mit einstimmen.» «Tut mir leid ... Ich wünschte, ich könnte mich daran ... erinnern.» Mein Lächeln versiegt, und meine Stimme bricht weg, aber sie tröstet mich: «Pschschscht! Weine nicht, mein Liebling. Du musst dich nicht entschuldigen. Du bist am Leben. Du bist hier. Und dafür bin ich unglaublich dankbar. Verschwende keine einzige Sekunde mehr daran, dich zu entschuldigen. » «Die Nachrichten. Ist das wahr?» Ich deute auf den Fernseher.
«Oh, den schalten wir wohl besser aus, Liebes. Das regt dich nur auf.» «Aber stimmt es? Ist das wahr? All die Menschen sind wirklich tot?» Seufzend nimmt sie meine Hände in ihre. «Ja. Du warst in einem Flugzeug, auf dem Weg von New York nach San Francisco. Zwei Stunden nach dem Start stürzte es ab.» Ihr Gesicht wird ganz blass, während sie mir das erzählt. «Die Ursache ist noch unklar.» Sie wedelt mit der Hand, und ihr Schmuck füllt klimpernd das Schweigen zwischen uns. «Mal sehen, ob ich dir dabei helfen kann, dich an irgendwas zu erinnern. Also, du arbeitest in einer Kunstgalerie. Du bist zweiunddreißig Jahre alt. Du lebst in New York.» Sie zögert. «Bringt ... bringt irgendwas davon deine Erinnerung zurück?» Ich schüttle den Kopf. «Und dieser Peter? Peter ist mein ... Mann?» Ich versuche mir eine Welt vorzustellen, in der ich ihm das Ja-Wort gab, ihm, diesem fremden Mann. Ich kann es mir nicht vorstellen. Wichtiger noch, ich kann es nicht spüren. «Genug für heute Abend», sagt meine Mutter, zieht die Decke bis zu meinem Kinn und steckt sie fest wie bei einem kleinen Kind. Sie beugt sich vor und küsst mich auf die Stirn. Dabei summt sie meine Melodie, als könnte sie mich dadurch beruhigen, als wäre dieses Lied das ersehnte Heilmittel, das mich gesund machen könnte. «Erst mal sorgen wir dafür, dass du wieder ganz die Alte wirst. Dann haben wir Zeit, all die ungeklärten Fragen zu beantworten.» Ja, denke ich, erst einmal überhaupt wieder so werden, wie ich war. Und dann ist immer noch Zeit für alles andere.
Als ich mühsam meine Augen öffne, macht sich gerade eine Krankenschwester an einem Schlauch in meinem Arm zu schaffen. Obwohl meine Mutter inzwischen gegangen ist, hat sie mich nicht allein gelassen. Die Wände sind mit Fotos bedeckt, auf dem Nachttisch türmen sich Alben, die wohl die Überreste meiner Vergangenheit beherbergen, Erinnerungen an die Person, die ich war, ehe ich völlig kaputt auf einem Maisfeld irgendwo in Iowa gelandet bin. «Hallo, Nell!», sagt die Schwester. «Wie fühlen Sie sich?» «Müde. Durstig. Randvoll mit einer Million Fragen.» Sie nickt lächelnd und hält mir eine Schnabeltasse hin. «Wir haben Ihre Mutter ins Hotel geschickt, damit sie etwas schlafen kann. Sie kommt bald wieder. Die hier hat sie Ihnen dagelassen. Der Doktor hatte darum gebeten. Ich werde ihn gleich rufen. Er kann bestimmt ein paar Ihrer Fragen beantworten. » Sie legt mir eines der Fotoalben auf den Schoß. Dann verlässt sie das Zimmer, und ich bin ganz allein. Allein mit mir, einer Fremden in meinem eigenen Leben. Ich schlage die erste Seite auf. Glänzende, strahlende Gesichter blicken zu mir hoch. Dieser fremde Mann, mein Mann - Peter - und ich. Aber wo? Mitten in einem glasklaren, blauen Ozean. Er mit hochgeschobener Taucherbrille, ich in einem lila Bikini und der Andeutung eines Sonnenbrandes auf der Nase. Ich blättere weiter, Seite um Seite. Die Fotos sehen alle ziemlich gleich aus: Gesichter, die ich nicht erkenne, um Schultern geschlungene Arme, Hände, die mit Bierkrügen oder Margaritagläsern in die Kamera prosten, an irgendwelchen Stränden, in Bars oder schicken Wohnungen, die mir alle nicht das Geringste sagen. Die Frauen sind in gewöhnlichem Sinne hübsch, tragen dunkle Jeans und harmlose Trägerhemdchen; die Männer haben noch nicht angefangen, kahl zu werden oder einen Bauch zu bekommen. Im Großen und Ganzen sieht dieses Leben, das angeblich meins sein soll, solide aus, zufrieden, man könnte es schlechter treffen. Wenn ich mich doch nur irgendwie daran erinnern könnte, mit Sicherheit sagen könnte, dass es mein Leben ist. Ich atme aus und versuche, an etwas anderes zu denken. Daran, dass ich ein lebendes Wunder bin, dass ich vom Himmel geschleudert wurde und dass allein die Tatsache, jetzt hier zu sein - mir Gedanken über diese Gesichter zu machen, überhaupt über dieses offensichtlich gelungene Leben nachgrübeln zu können - , mehr als genug ist, um dankbar zu sein. Ich lasse den Kopf leicht nach hinten sinken. Wer bin ich gewesen? Kunsthändlerin. Eine beneidete, wohlhabende Frau von Welt, bewundert und verehrt, Vorstandsmitglied diverser Wohltätigkeitsorganisationen, Mentorin von Kindern der Stadt mit künstlerischem Talent. Ja, das klingt richtig. Das klingt sogar fabelhaft. Von der Tür her ertönt ein Räuspern, und ich öffne die Augen. Ich lasse den Blick von der Decke nach unten schweifen und sehe einen Typen mit blondbraunen Haaren, die sich bestimmt mit etwas Gel zu einem hippen, angedeuteten Irokesen stylen ließen. Der Mann sitzt im Rollstuhl. Er wirkt blass und mitgenommen, doch besitzt er die perfekten Wangenknochen, ein Gesicht, nach dem man sich auf der Straße im Vorbeigehen noch mal umdreht. Ich spüre, wie ich bei seinem Anblick wider Willen erröte, weil er so gut aussieht und weil er mich so intensiv anstarrt.
«Entschuldigen Sie, Nell, kann ich kurz reinkommen?» Ich nicke verwirrt. Eine Schwester schiebt ihn an mein Bett. «Danke, Alicia, den Rest schaffe ich allein.» «Drücken Sie einfach den Rufknopf, wenn Sie mich brauchen », ruft sie ihm im Hinausgehen über die Schulter hinweg zu, fast, als würde sie mit ihm flirten. Ich runzle die Stirn. Warum sollte sie mit ihm flirten? «Ich habe gehört, dass du dich wahrscheinlich nicht an mich erinnerst», sagt er. «Tut mir leid. Das stimmt.» «Schon gut, das spielt keine Rolle.» Er winkt ab, und ich erhasche einen Blick auf die Tätowierung an seinem Handgelenk. Eine Überraschung angesichts dieser mageren Gestalt in dem spülwasserfarbenen Krankenhaushemd, die zusammengesunken vor mir im Rollstuhl sitzt. «Aber als ich gehört habe, dass du aufgewacht bist, habe ich sofort darum gebeten, dich besuchen zu dürfen. Es ist unglaublich, dass seit ... alldem ... eine Woche vergangen sein soll.» Seine Stimme wird brüchig, und er muss schlucken. Dann gibt er sich einen Ruck. «Ich heiße Anderson Carroll, und auch wenn du dich nicht daran erinnerst, hast du mir das Leben gerettet.» «Wie bitte? Tatsächlich?» Ich merke, wie sich meine Stirn in Falten legt, wie ich systematisch mein Hirn durchforste, aber es fühlt sich an wie ein zu lange nicht benutzter Muskel, erschlafft, kraftlos, unfähig. «Wir saßen auf dem Flug nebeneinander», erzählt er. «Ich ... na ja, wahrscheinlich hatte ich einen Wodka Tonic zu viel - das passiert mir beim Fliegen öfter - , und ich bin ein paar Minuten weggedöst. Als es losging, hast du mich geweckt. Du hast mir den Sicherheitsgurt angelegt und mir befohlen, den Kopf auf die Knie zu legen, mich möglichst klein zu machen und auf das Schlimmste gefasst zu sein.» Seine Worte geraten ins Stocken, ihn juckt es sichtlich in der Nase. «Hör zu, ich habe keine Ahnung, weshalb ausgerechnet wir beide überlebt haben. Aber ich weiß, dass ich dir mein Leben verdanke - ich wäre mindestens fünfzehn Kilometer von diesem Flugzeug entfernt aufgeschlagen, wenn du mich nicht angeschnallt und beruhigt hättest.» Ich starre ihn einen Augenblick lang an und wiederhole innerlich, was er da eben gesagt hat. Es fällt mir schwer, mich zu konzentrieren. Ich beschließe, dass ich ihn richtig verstanden habe - ich habe ihn gerettet, ich bin aus diesem Horrorszenario als Heldin hervorgegangen. «Gern geschehen.» An dem Schnitt auf meiner Oberlippe saugend, versuche ich, die Puzzleteile zusammenzufügen. «Wie habe ich das gemacht? Dich beruhigt?» In mir wallt etwas auf, ein Gefühl: Natürlich war ich es, ich, das tollste Mädel der Stadt, das die Leute beruhigt hat! Natürlich, was denn sonst! Ich erkenne mich wieder, auch wenn es eigentlich nichts wiederzuerkennen gibt. «Du hast einfach mit mir gesprochen, meine Hand gehalten und gesagt, ich soll an was anderes denken. Also haben wir uns unsere Lieblingslieder erzählt, unsere Lieblingstexte ... um uns herum herrschte das blanke Chaos, aber ...» Er hält inne. «Klar, selbstverständlich herrschte Chaos, überall schreiende Menschen, blinkende Lichter, aufziehender Rauch, und - keine Ahnung, wie du das genau gemacht hast, aber du hast dafür gesorgt, dass ich nicht den Verstand verloren habe.» «Und wen habe ich genannt?», will ich wissen. «Wie bitte?» «Meine Lieblingsband. Wen habe ich genannt?»
«Oh.» Er legt nachdenklich den Kopf schief. «Keine Ahnung, wir haben einfach durcheinander Namen genannt, irgendwelches Zeug geredet, um uns abzulenken. Ehrlich gesagt kann ich mich an die Einzelheiten gar nicht mehr erinnern.» «Ehrlich gesagt, ich auch nicht», witzle ich, obwohl ich mir nicht sicher bin, ob es wirklich witzig ist. «Falls es dich interessiert», sagt er, «du bist berühmt.» Er hält eine Ausgabe von People im Schoß und dreht sie um. Auf dem Titelbild prangen wir beide: er - strahlend, vital und gutaussehend, der Typ, nach dem man sich definitiv auf der Straße noch mal umdreht - , den Arm um die Taille eines gertenschlanken Mädchens Marke Supermodel geschlungen, beim Verlassen eines Nachtclubs; und ich, mit dunkelblauer Strickjacke und Perlensteckern in den Ohren, ganz so, als hätte ich überhaupt noch nie einen Nachtclub von innen gesehen. Weit und breit keine Spur von der Frau von Welt, von dem tollsten Mädel der Stadt. Nein, nein, nein. Das kann nicht sein! Ich bin die Heldin, die Frau mit Durchblick. «WIR HABEN ÜBERLEBT!», brüllt die fettgedruckte Schlagzeile. «Nicht das beste aller Fotos.» Er zuckt mit den Achseln, als wäre er persönlich für meine herabgezogenen Mundwinkel verantwortlich. Dafür, dass ich so aussehe, als hätte ich in eine Zitrone gebissen. «Ich hasse dieses Foto - das haben die bestimmt von irgendeiner Website heruntergeladen.» «Ich sehe aus, als hätte ich noch nie in meinem Leben auch nur eine Sekunde Spaß gehabt.» Anderson lacht, und ich lache mit. Warum auch nicht? Ich kapiere zwar den Witz nicht, aber was soll's. «Was?», lacht er. «Nein. Ich meinte mich. Ist ja auch egal.
Copyright © 2013 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
Piep. Piep. Piep. Piep. Piep. Meine Lider sind schwer wie Blei. Ein dumpfes Pochen dröhnt in meinem Hinterkopf. Meine Lunge fühlt sich an, als hätte jemand einen Sandsack hineingekippt und den Betonmischer eingeschaltet. Ich hole Luft. Meine Rippen ächzen protestierend. Piep. Piep. Piep. Piep. Piep. Der Wecker klingelt. Was soll es sonst sein? Ich zwinge ein Auge auf. Es fügt sich widerwillig. Dann das zweite. Dazu muss ich die dicke, verkrustete Schicht, die meine Wimpern verklebt, durchbrechen. Ich versuche, den Kopf zu drehen - wo ist dieser Wecker und wie schaffe ich es, ihn auszuschalten? - , aber ich kann den Hals nicht bewegen. Er ist fest umwickelt, durch eine Art Kissen fixiert, das mich zusammenhält. Nein. Nein. Wo bin ich? Mein Blick schießt hin und her, mein Atem geht schwerer, und das Piepen wird mit jedem verzweifelten Ringen nach Luft lauter. In der Ecke steht ein großer Mann mit hängenden Schultern, wie bei einem ehemaligen Footballspieler, neben ihm eine Frau mit tiefen Falten um die Augen, die sich offensichtlich schon vor längerem dort eingegraben haben. Beide wirken ungepflegt, erschöpft. Seine braunen Haare stecken unter einer Baseballkappe, und auf dem Gesicht liegt ein mindestens drei Tage alter Bartschatten.
Auf seinem DICK'S DRIVETHRU- T-Shirt prangen zwei Kaffeeflecken, auf der Jeans ein Ketchupklecks. Sie sieht auch nicht besser aus in ihrem nicht mehr ganz frischen violetten Flatterkleid, das gut als Nachthemd durchgehen könnte. Mit dem unordentlichen Knoten aus grauen Haaren auf dem Kopf erinnert sie mich an einen Champignon. «Was willst du damit sagen, sie war schwanger?», flüstert der Mann. Ich möchte mich aufsetzen, damit ich besser verstehen kann, mich vorbeugen und mithören, aber entweder bin ich zu schwer verletzt, oder man hat mich festgebunden. Was von beidem, weiß ich noch nicht, jedenfalls kann ich mich nicht bewegen. «Hast du das nicht gewusst?», fragt sie zurück. «Nein!» Er lässt sich auf die Armlehne des Stuhls sinken, der neben ihm steht. «Wusste ich nicht.» Sie streicht ihm über den Rücken und sieht zum Fenster hinaus auf eine Landschaft aus schmutzig beigen Dächern. Es ist ein langer Blick, der ihren stoischen Gleichmut verrät und bei dem man sich fragt, ob sie sich womöglich jeden Moment in Luft auflöst. Ich will stöhnen, die beiden wissen lassen, dass ich da bin, dass ich sie sehe, doch mein Mund ist zu trocken und meine Zunge zu lange nicht benutzt worden. «Ich hole Kaffee», sagt der Mann und steht auf. Schau hier her! Schau mich an! Das Piepen wird hektischer. Piep piep piep piep piep! Endlich sieht er her. «O mein Gott! Nell, du bist wach!» Er eilt zu mir und greift nach meiner Hand. Ich nicke. Zumindest glaube ich, dass ich nicke. Die Frau ist augenblicklich an meiner Seite, dann dreht sie sich genauso schnell wieder weg und ruft zur geöffneten Tür hinaus: «Sie ist aufgewacht! Rufen Sie Dr. Stark!» Sofort ist sie wieder bei mir, weint, streichelt meine Stirn, drängt sich an mich. «O Gott, danke, lieber Gott, Nell, du bist wach!» Ehe ich begreifen kann, wer die Frau ist und was das alles zu bedeuten hat, erscheint ein ruhig und dennoch geschäftig wirkender Mann am Fußende des Bettes. Er betrachtet prüfend eine Tabelle, fummelt an den Apparaten herum, beobachtet die Anzeigen, das Piepen. Er schiebt die Brille über den Nasenrücken hoch, fährt sich mit der Rechten glättend über die Haare - sie sind an den Schläfen leicht grau, aber immer noch dicht und wellig. Dann scheucht er mit einer Bewegung, als würde er ein paar Fussel wegwischen wollen, den Mann und die Frau zur Seite und starrt mich an. «Nell? Ich bin Dr. Stark. Wir freuen uns sehr, Sie zu sehen. Wissen Sie, wo Sie sind?» Ich schaue auf die zahlreichen besorgten Gesichter hinter ihm. Krankenschwestern, der Mann, die Frau, weitere Fremde fluten das Zimmer. Der Strom ergießt sich bis hinaus auf den Gang. Ich antworte nicht, deshalb fragt er mich noch einmal. «Nell. Sie hatten einen Unfall. Ist Ihnen klar, wo Sie sind?» Er wedelt erneut mit der Hand und wendet abrupt den Kopf. «Wer nicht zum Kernteam gehört, verlässt bitte den Raum.» Niemand bewegt sich. «Sofort!» Langsam zieht sich der Strom der Zuschauer zurück. Übrig bleiben ein paar Schwestern, der Mann, die ältere Frau und Dr. Stark. «Nell», sagt er und setzt sich vorsichtig aufs Bett. «Nell, Sie sind mit dem Flugzeug abgestürzt. Können Sie mir sagen, woran Sie sich erinnern?» Mein Blick kreist, und ich nage an der Unterlippe, während ich mein Gedächtnis durchforste. Woran erinnere ich mich? Ein Flugzeug? Bin ich in ein Flugzeug gestiegen? Nein, nein. Das war nicht ich. Ich glaube nicht, dass ich ein Flugzeug bestiegen habe. Ein Absturz? Wieso sollte ich mich nicht an einen Absturz erinnern? Nein, unmöglich, dass mir das passiert sein soll. «An nichts», bringe ich flüsternd heraus. Die Luft brennt in meiner Kehle. «Ich erinnere mich an keinen Flugzeugabsturz. » Die ältere Frau mit der Champignonfrisur hält mir einen Becher mit Trinkhalm hin und nickt mir zu.
Ich schlinge meine Zunge um den Trinkhalm, bekomme ihn mit den Zähnen zu fassen und sauge. Ja! Wie Manna in der Wüste. Das Wasser bahnt sich einen Weg in mein Inneres - ich fühle, wie die kühle Flüssigkeit durch meine Kehle fließt und die dürre Steppe in meinem Bauch wässert. «In Ordnung. Das ist ganz normal», sagt Dr. Stark an den großen Mann und die Frau gewandt. «Das haben wir nicht anders erwartet. Sie dürfen nicht vergessen, dass sich das alles vollkommen im Rahmen bewegt.» Dann fragt er mich: «Woran können Sie sich denn erinnern? Lassen Sie uns einfach damit beginnen. Können Sie mir sagen, an welche Einzelheiten aus Ihrem Leben Sie sich erinnern?» Ich schüttle den Kopf, soweit es die Halskrause zulässt. Dr. Stark schiebt den Mann näher an mein Bett heran. Der Fremde lässt die Finger durch meine Haare gleiten und fängt an zu weinen. Stumm und heftig. «Ist gut, Peter», sagt die Frau. «Es wird alles wieder gut.» Er nickt, dann entfährt ihm ein seltsames Heulen - es klingt wie ein Delfinruf - , wahrscheinlich versucht er, sich zusammenzureißen. Die Tränen versiegen, doch seine tiefliegenden Augen sind rot umrandet. Sie verraten mir, dass er eigentlich nicht mehr weiß, was Zusammenreißen überhaupt bedeutet.
Dr. Stark zeigt auf den Mann namens Peter. «Wissen Sie, wer das ist?» Ich kneife die Augen zusammen, betrachte den Mann und versuche, mich zu erinnern. Ich starre die Muskeln an, die sich unter dem T-Shirt abzeichnen, mustere die widerspenstigen braunen Haare, die unter der Kappe hervorlugen, die Venen auf der Innenseite seiner Arme, die sich bis zu den Handflächen hinunterziehen. Er sieht auf eigenwillige Weise gut aus und weckt unbestimmte Erinnerungen in mir. Aber ich kann die Signale nicht deuten. Weder weiß ich, wer er ist, noch, warum er für mich wichtig sein sollte. Eine Schwester reicht Dr. Stark einen Handspiegel, und er hält ihn mir vors Gesicht. Ich sehe, wie meine Augen sich fragend weiten. Das bin ich? Das bin ich! Ich habe keine Erwartung an mein Aussehen, keinen Plan, wo die Sommersprossen zu sitzen haben oder wie der Schwung der Lippen verlaufen sollte.
Das Spiegelbild zeigt mir, dass sich eine tiefviolette Strieme von der linken Schläfe bis unter das Auge zieht. Die Oberlippe ist von einer tiefen Schnittwunde durchzogen. Instinktiv taste ich mit der Zunge danach. Die fettigen Haare werden von einem Scheitel geteilt, der den bleichen, wachsigen Teint der Wangen betont, und bei den Strähnchen kann von natürlichem Blond keine Rede sein. «Hilft Ihnen das?», möchte Dr. Stark wissen. Wobei denn helfen?, will ich fragen, aber ich starre nur weiter in den Spiegel, so lange, bis alles verschwimmt. Ich versuche, eine Verbindung zu der Frau im Spiegel herzustellen, doch das Gesicht, das ich angeblich schon mein Leben lang mit mir herumtrage, würde ich heute bei einer Gegenüberstellung nicht wiedererkennen. Krampfhaft versuche ich, mich zu erinnern, als sich das Piepen - dieses nervtötende Geräusch - wieder in meine Ohren bohrt. Diesmal noch lauter, fast verzweifelt. Pieppieppieppieppieppiiiiiep! Erinnere dich! Verdammt noch mal! Erinnere dich! Mir wird schwindlig. Ich spüre, dass ich ohnmächtig werde, das Blut pocht in meinen Schläfen, hinter den Augen, nimmt mir den Atem, pulsiert in meiner Brust. Und plötzlich durchfährt mich ein Kopfschmerz, der sich fast ein bisschen nach Sterben anfühlt. Der Mann namens Peter umfasst mit seinen riesigen Pranken mein Gesicht, zwingt mich, wach zu bleiben, mich zu konzentrieren. «Nein», antworte ich mit dem letzten Fünkchen Kraft, das mir geblieben ist. «Tut mir leid. Nein. Ich erinnere mich nicht.» «Ich bin dein Mann», höre ich ihn sagen, aber es klingt wie ein Echo, ein fernes Echo von ganz, ganz weit weg. Ein Echo, das mich erst erreicht, als ich bereits versinke. Dann wird alles wieder still. Als ich zum zweiten Mal aufwache, sitzt die Champignonfrau schlafend auf einem Stuhl an meinem Bett. Das Piepen ist langsamer geworden, eine Imitation meines Herzschlags, so leise, dass ich es kaum noch registriere. Es ist zwar da, natürlich ist es da, aber fast wie weißes Rauschen, wie die Stelle, wo einen der Bruder so oft gezwickt hat, dass man sie gar nicht mehr spürt.
In der Ecke läuft ein Fernseher, leise gestellt, um nicht zu stören, aber doch so laut, dass ich verstehe, was gesagt wird. Am unteren Bildschirmrand läuft grellrot der Nachrichtenticker. Im Bild ist ein Mann vor einem Krankenhaus zu sehen. Im Hintergrund heult die Sirene eines Krankenwagens auf, aber entweder, der Mann hört sie nicht, oder er ist zu sehr Profi, um sich davon irritieren zu lassen. Jedenfalls spricht er weiter, ohne mit der Wimper zu zucken. «Uns hat vor kurzem die Nachricht erreicht, dass Nell Slattery, eine der beiden Überlebenden von Flug 1715, aus dem Koma erwacht ist. Wie Sie sich bestimmt erinnern, wurde Mrs. Slattery auf ihren Sitz geschnallt knapp zweihundert Meter entfernt von der Absturzstelle gefunden, direkt neben dem Filmschauspieler Anderson Carroll - dessen Geschichte wir alle kennen - , dem einzigen anderen Überlebenden dieser Katastrophe. Die mit der Untersuchung der Absturzursache beauftragten Sachverständigen vermuten, dass die Sitze der beiden während des Aufpralls oder unmittelbar davor aus der Maschine hinausgeschleudert wurden. Mrs. Slattery ist äußerlich angeblich erstaunlich unversehrt geblieben. Sie erlitt jedoch eine schwere Gehirnerschütterung und ein Hirnödem. Bisher wagten die Ärzte keine Prognosen über ihren Zustand, bis Nell Slattery heute aus dem Koma erwachte. Dass sie überhaupt ihr Bewusstsein wiedererlangt hat, gilt hier als außerordentlich gute Nachricht.» Kurz darauf erscheint ein Arzt auf dem Bildschirm. Er steht an einem Rednerpult, das von Blitzlichtgewitter erleuchtet und hektisch drängelnden Armen mit Mikrophonen umringt wird. Ich erkenne die Stimme von Dr. Stark. «Nell Slattery ist heute für etwa sieben Minuten aufgewacht. Die ärztliche Schweigepflicht verbietet mir, Sie zu diesem Zeitpunkt umfassender über ihren Zustand zu informieren. Dennoch freue ich mich, bestätigen zu können, dass sie wieder bei Bewusstsein ist. Wir werden Sie selbstverständlich über ihre Fortschritte auf dem Laufenden halten.» Das bin ich. Die reden über mich. Nell Slattery. Ich lasse mir den Namen durch den Kopf gehen, betaste ihn innerlich. Ja. Das fühlt sich irgendwie richtig an.
Ich versuche noch einmal, mich an einen Absturz zu erinnern, daran, aus einem Feuerball heraus und von der Schwerkraft einem unausweichlichen Tod entgegengeschleudert zu werden. Doch da ist nur eine dumpfe Leere, ein großes, weites Nichts. Ich wende mich wieder dem Fernseher zu. «Das Schicksal von Mrs. Slattery und Mr. Carroll hält die Nation in Atem», sagt der Reporter gerade. «Die Tatsache, dass Nell Slattery das Bewusstsein wiedererlangt hat, gibt allen hier im Krankenhaus und im ganzen Land neue Hoffnung.» «Es ist unglaublich! Es ist, als hätte Gott uns ein Wunder geschickt!», schluchzt eine Frau in die Kamera. «Gott segne dieses Mädchen und Anderson Carroll! Sie haben uns neuen Grund zum Glauben gegeben!» «Und so», fährt der Reporter fort, «ist heute die Stimmung im ganzen Land. Ein Tag der Hoffnung und der Dankbarkeit. Nell Slattery, vor einer Woche nach dem verheerenden Absturz von Flug 1715, bei dem einhundertzweiundfünfzig Menschen ums Leben kamen, auf einem Feld mitten in Iowa lebend aufgefunden, hat das Bewusstsein wiedererlangt. Wir werden Sie weiterhin auf dem aktuellsten Stand halten. Ich bin Jamie Reardon, glücklich angesichts des Wunders, das uns heute zuteil wurde, und ich melde mich zurück, sobald es etwas Neues zu berichten gibt.» Er nickt als Zeichen für das Nachrichtenstudio, zurückzuschalten, und ich wünschte, er würde es nicht tun, würde nicht einfach so abschalten. Sein Gesicht hat etwas unglaublich Tröstliches an sich, genau wie seine Art, die Fakten zu verkünden, ohne dabei zu nüchtern zu klingen, oder über die wesentlichen Details meines Lebens zu sprechen, ohne mich dabei zu Tode zu erschrecken.
Jamie Reardon, Jamie, Jamie Reardon, Jamie, Jamie, sag mir, was soll aus mir werden? Eine Melodie schwirrt durch meinen Kopf, eine Ansammlung von Noten, ein frei erfundenes Lied, das den Weg auf meine Lippen findet und summend ertönt. Ich spüre die Töne in meinem Mund und Hals vibrieren und hätte vor Überraschung fast laut aufgelacht. Die Frau auf dem Stuhl bewegt sich und sieht mich unwillkürlich an, noch ehe sie sich den Schlaf aus den Augen reibt. «Nell!» Sie ist in Windeseile bei mir, umhüllt mich mit ihrem großen Busen, und ich erkenne diesen dezenten Duft von Honigseife, der an ihr haftet. Es ist nur ein Nebelfetzen, die Erinnerung an eine Erinnerung, nicht greifbar, flüchtig, aber wärmend und besänftigend. «Ich bin deine Mutter», sagt die Frau. Sie löst sich von mir, ihre goldenen Armreifen klimpern. Sanft umfasst sie mein Gesicht, lässt ihre weichen Hände auf meinen Wangen ruhen, und dann summt sie die Melodie, die ich eben erfunden habe. Wir lächeln uns an. «Das hast du schon als Kind immer gemacht», erzählt sie. «Ständig hast du kleine Lieder erfunden. Über alles Mögliche. Manchmal durfte ich mit einstimmen.» «Tut mir leid ... Ich wünschte, ich könnte mich daran ... erinnern.» Mein Lächeln versiegt, und meine Stimme bricht weg, aber sie tröstet mich: «Pschschscht! Weine nicht, mein Liebling. Du musst dich nicht entschuldigen. Du bist am Leben. Du bist hier. Und dafür bin ich unglaublich dankbar. Verschwende keine einzige Sekunde mehr daran, dich zu entschuldigen. » «Die Nachrichten. Ist das wahr?» Ich deute auf den Fernseher.
«Oh, den schalten wir wohl besser aus, Liebes. Das regt dich nur auf.» «Aber stimmt es? Ist das wahr? All die Menschen sind wirklich tot?» Seufzend nimmt sie meine Hände in ihre. «Ja. Du warst in einem Flugzeug, auf dem Weg von New York nach San Francisco. Zwei Stunden nach dem Start stürzte es ab.» Ihr Gesicht wird ganz blass, während sie mir das erzählt. «Die Ursache ist noch unklar.» Sie wedelt mit der Hand, und ihr Schmuck füllt klimpernd das Schweigen zwischen uns. «Mal sehen, ob ich dir dabei helfen kann, dich an irgendwas zu erinnern. Also, du arbeitest in einer Kunstgalerie. Du bist zweiunddreißig Jahre alt. Du lebst in New York.» Sie zögert. «Bringt ... bringt irgendwas davon deine Erinnerung zurück?» Ich schüttle den Kopf. «Und dieser Peter? Peter ist mein ... Mann?» Ich versuche mir eine Welt vorzustellen, in der ich ihm das Ja-Wort gab, ihm, diesem fremden Mann. Ich kann es mir nicht vorstellen. Wichtiger noch, ich kann es nicht spüren. «Genug für heute Abend», sagt meine Mutter, zieht die Decke bis zu meinem Kinn und steckt sie fest wie bei einem kleinen Kind. Sie beugt sich vor und küsst mich auf die Stirn. Dabei summt sie meine Melodie, als könnte sie mich dadurch beruhigen, als wäre dieses Lied das ersehnte Heilmittel, das mich gesund machen könnte. «Erst mal sorgen wir dafür, dass du wieder ganz die Alte wirst. Dann haben wir Zeit, all die ungeklärten Fragen zu beantworten.» Ja, denke ich, erst einmal überhaupt wieder so werden, wie ich war. Und dann ist immer noch Zeit für alles andere.
Als ich mühsam meine Augen öffne, macht sich gerade eine Krankenschwester an einem Schlauch in meinem Arm zu schaffen. Obwohl meine Mutter inzwischen gegangen ist, hat sie mich nicht allein gelassen. Die Wände sind mit Fotos bedeckt, auf dem Nachttisch türmen sich Alben, die wohl die Überreste meiner Vergangenheit beherbergen, Erinnerungen an die Person, die ich war, ehe ich völlig kaputt auf einem Maisfeld irgendwo in Iowa gelandet bin. «Hallo, Nell!», sagt die Schwester. «Wie fühlen Sie sich?» «Müde. Durstig. Randvoll mit einer Million Fragen.» Sie nickt lächelnd und hält mir eine Schnabeltasse hin. «Wir haben Ihre Mutter ins Hotel geschickt, damit sie etwas schlafen kann. Sie kommt bald wieder. Die hier hat sie Ihnen dagelassen. Der Doktor hatte darum gebeten. Ich werde ihn gleich rufen. Er kann bestimmt ein paar Ihrer Fragen beantworten. » Sie legt mir eines der Fotoalben auf den Schoß. Dann verlässt sie das Zimmer, und ich bin ganz allein. Allein mit mir, einer Fremden in meinem eigenen Leben. Ich schlage die erste Seite auf. Glänzende, strahlende Gesichter blicken zu mir hoch. Dieser fremde Mann, mein Mann - Peter - und ich. Aber wo? Mitten in einem glasklaren, blauen Ozean. Er mit hochgeschobener Taucherbrille, ich in einem lila Bikini und der Andeutung eines Sonnenbrandes auf der Nase. Ich blättere weiter, Seite um Seite. Die Fotos sehen alle ziemlich gleich aus: Gesichter, die ich nicht erkenne, um Schultern geschlungene Arme, Hände, die mit Bierkrügen oder Margaritagläsern in die Kamera prosten, an irgendwelchen Stränden, in Bars oder schicken Wohnungen, die mir alle nicht das Geringste sagen. Die Frauen sind in gewöhnlichem Sinne hübsch, tragen dunkle Jeans und harmlose Trägerhemdchen; die Männer haben noch nicht angefangen, kahl zu werden oder einen Bauch zu bekommen. Im Großen und Ganzen sieht dieses Leben, das angeblich meins sein soll, solide aus, zufrieden, man könnte es schlechter treffen. Wenn ich mich doch nur irgendwie daran erinnern könnte, mit Sicherheit sagen könnte, dass es mein Leben ist. Ich atme aus und versuche, an etwas anderes zu denken. Daran, dass ich ein lebendes Wunder bin, dass ich vom Himmel geschleudert wurde und dass allein die Tatsache, jetzt hier zu sein - mir Gedanken über diese Gesichter zu machen, überhaupt über dieses offensichtlich gelungene Leben nachgrübeln zu können - , mehr als genug ist, um dankbar zu sein. Ich lasse den Kopf leicht nach hinten sinken. Wer bin ich gewesen? Kunsthändlerin. Eine beneidete, wohlhabende Frau von Welt, bewundert und verehrt, Vorstandsmitglied diverser Wohltätigkeitsorganisationen, Mentorin von Kindern der Stadt mit künstlerischem Talent. Ja, das klingt richtig. Das klingt sogar fabelhaft. Von der Tür her ertönt ein Räuspern, und ich öffne die Augen. Ich lasse den Blick von der Decke nach unten schweifen und sehe einen Typen mit blondbraunen Haaren, die sich bestimmt mit etwas Gel zu einem hippen, angedeuteten Irokesen stylen ließen. Der Mann sitzt im Rollstuhl. Er wirkt blass und mitgenommen, doch besitzt er die perfekten Wangenknochen, ein Gesicht, nach dem man sich auf der Straße im Vorbeigehen noch mal umdreht. Ich spüre, wie ich bei seinem Anblick wider Willen erröte, weil er so gut aussieht und weil er mich so intensiv anstarrt.
«Entschuldigen Sie, Nell, kann ich kurz reinkommen?» Ich nicke verwirrt. Eine Schwester schiebt ihn an mein Bett. «Danke, Alicia, den Rest schaffe ich allein.» «Drücken Sie einfach den Rufknopf, wenn Sie mich brauchen », ruft sie ihm im Hinausgehen über die Schulter hinweg zu, fast, als würde sie mit ihm flirten. Ich runzle die Stirn. Warum sollte sie mit ihm flirten? «Ich habe gehört, dass du dich wahrscheinlich nicht an mich erinnerst», sagt er. «Tut mir leid. Das stimmt.» «Schon gut, das spielt keine Rolle.» Er winkt ab, und ich erhasche einen Blick auf die Tätowierung an seinem Handgelenk. Eine Überraschung angesichts dieser mageren Gestalt in dem spülwasserfarbenen Krankenhaushemd, die zusammengesunken vor mir im Rollstuhl sitzt. «Aber als ich gehört habe, dass du aufgewacht bist, habe ich sofort darum gebeten, dich besuchen zu dürfen. Es ist unglaublich, dass seit ... alldem ... eine Woche vergangen sein soll.» Seine Stimme wird brüchig, und er muss schlucken. Dann gibt er sich einen Ruck. «Ich heiße Anderson Carroll, und auch wenn du dich nicht daran erinnerst, hast du mir das Leben gerettet.» «Wie bitte? Tatsächlich?» Ich merke, wie sich meine Stirn in Falten legt, wie ich systematisch mein Hirn durchforste, aber es fühlt sich an wie ein zu lange nicht benutzter Muskel, erschlafft, kraftlos, unfähig. «Wir saßen auf dem Flug nebeneinander», erzählt er. «Ich ... na ja, wahrscheinlich hatte ich einen Wodka Tonic zu viel - das passiert mir beim Fliegen öfter - , und ich bin ein paar Minuten weggedöst. Als es losging, hast du mich geweckt. Du hast mir den Sicherheitsgurt angelegt und mir befohlen, den Kopf auf die Knie zu legen, mich möglichst klein zu machen und auf das Schlimmste gefasst zu sein.» Seine Worte geraten ins Stocken, ihn juckt es sichtlich in der Nase. «Hör zu, ich habe keine Ahnung, weshalb ausgerechnet wir beide überlebt haben. Aber ich weiß, dass ich dir mein Leben verdanke - ich wäre mindestens fünfzehn Kilometer von diesem Flugzeug entfernt aufgeschlagen, wenn du mich nicht angeschnallt und beruhigt hättest.» Ich starre ihn einen Augenblick lang an und wiederhole innerlich, was er da eben gesagt hat. Es fällt mir schwer, mich zu konzentrieren. Ich beschließe, dass ich ihn richtig verstanden habe - ich habe ihn gerettet, ich bin aus diesem Horrorszenario als Heldin hervorgegangen. «Gern geschehen.» An dem Schnitt auf meiner Oberlippe saugend, versuche ich, die Puzzleteile zusammenzufügen. «Wie habe ich das gemacht? Dich beruhigt?» In mir wallt etwas auf, ein Gefühl: Natürlich war ich es, ich, das tollste Mädel der Stadt, das die Leute beruhigt hat! Natürlich, was denn sonst! Ich erkenne mich wieder, auch wenn es eigentlich nichts wiederzuerkennen gibt. «Du hast einfach mit mir gesprochen, meine Hand gehalten und gesagt, ich soll an was anderes denken. Also haben wir uns unsere Lieblingslieder erzählt, unsere Lieblingstexte ... um uns herum herrschte das blanke Chaos, aber ...» Er hält inne. «Klar, selbstverständlich herrschte Chaos, überall schreiende Menschen, blinkende Lichter, aufziehender Rauch, und - keine Ahnung, wie du das genau gemacht hast, aber du hast dafür gesorgt, dass ich nicht den Verstand verloren habe.» «Und wen habe ich genannt?», will ich wissen. «Wie bitte?» «Meine Lieblingsband. Wen habe ich genannt?»
«Oh.» Er legt nachdenklich den Kopf schief. «Keine Ahnung, wir haben einfach durcheinander Namen genannt, irgendwelches Zeug geredet, um uns abzulenken. Ehrlich gesagt kann ich mich an die Einzelheiten gar nicht mehr erinnern.» «Ehrlich gesagt, ich auch nicht», witzle ich, obwohl ich mir nicht sicher bin, ob es wirklich witzig ist. «Falls es dich interessiert», sagt er, «du bist berühmt.» Er hält eine Ausgabe von People im Schoß und dreht sie um. Auf dem Titelbild prangen wir beide: er - strahlend, vital und gutaussehend, der Typ, nach dem man sich definitiv auf der Straße noch mal umdreht - , den Arm um die Taille eines gertenschlanken Mädchens Marke Supermodel geschlungen, beim Verlassen eines Nachtclubs; und ich, mit dunkelblauer Strickjacke und Perlensteckern in den Ohren, ganz so, als hätte ich überhaupt noch nie einen Nachtclub von innen gesehen. Weit und breit keine Spur von der Frau von Welt, von dem tollsten Mädel der Stadt. Nein, nein, nein. Das kann nicht sein! Ich bin die Heldin, die Frau mit Durchblick. «WIR HABEN ÜBERLEBT!», brüllt die fettgedruckte Schlagzeile. «Nicht das beste aller Fotos.» Er zuckt mit den Achseln, als wäre er persönlich für meine herabgezogenen Mundwinkel verantwortlich. Dafür, dass ich so aussehe, als hätte ich in eine Zitrone gebissen. «Ich hasse dieses Foto - das haben die bestimmt von irgendeiner Website heruntergeladen.» «Ich sehe aus, als hätte ich noch nie in meinem Leben auch nur eine Sekunde Spaß gehabt.» Anderson lacht, und ich lache mit. Warum auch nicht? Ich kapiere zwar den Witz nicht, aber was soll's. «Was?», lacht er. «Nein. Ich meinte mich. Ist ja auch egal.
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Autoren-Porträt von Allison Winn Scotch
Scotch, Allison WinnAllison Winn Scotch wurde 1973 in Charlottesville, Virginia, geboren. Sie arbeitet als Journalistin für diverse Zeitungen, Magazine und Websites. Mit dem berührenden Roman «Heute und ein Leben lang» landete sie auf Anhieb einen Bestseller. Auch ihr zweiter Roman «Gestern fängt das Leben an» schaffte es auf die Bestsellerliste der New York Times. Allison Winn Scotch lebt mit ihrem Mann und den beiden Kindern in New York.
Bibliographische Angaben
- Autor: Allison Winn Scotch
- 2013, 2. Aufl., 384 Seiten, Maße: 12,5 x 19 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Übersetzung: Längsfeld, Sabine
- Übersetzer: Sabine Längsfeld
- Verlag: Rowohlt TB.
- ISBN-10: 3499259621
- ISBN-13: 9783499259623
- Erscheinungsdatum: 02.04.2013
Rezension zu „Ein Sommer und ein Tag “
"Fesselnd von der ersten Seite an" Lauren Weisberger
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