Ein Turm am Meer
Ein altes Herrenhaus an der irischen Küste wird zum Schicksal für Claudine. Denn dort stößt sie auf eine tragische Liebesgeschichte.
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Ein altes Herrenhaus an der irischen Küste wird zum Schicksal für Claudine. Denn dort stößt sie auf eine tragische Liebesgeschichte.
"Purcell jongliert souverän mit mehreren Erzählstimmen und lässt so die Lektüre schwungvoll werden. Dabei entwickelt sich eine Geschichte mit stetig steigender Spannung!" -- Irish Independent
"Bewegend." -- MACH MAL PAUSE
Ein Turm am Meer von Deirdre Purcell
1
Das Turmzimmer
Die Tage vergehen. Was immer man auch tut, wie sehr man sich auch dagegen auflehnt, sie vergehen.
Am Anfang, während jener ersten schrecklichen Monate zwischen Ende 1944 und Anfang 1945, verwandelte sich das Unfass- bare in Wut und dann in Verzweiflung. Es dauerte einige Jahre, bis ich es hinnehmen konnte, dass sie mich nie wieder freilassen würden und ich sehr wahrscheinlich sterben würde, ohne jemals wieder einen Fuß aus dem Turmzimmer von Whitecliff gesetzt zu haben.
Irgendwann bevor unsere Familie hierher kam, hatte jemand einen Durchbruch zu dem fensterlosen Raum daneben gemacht, um eine behelfsmäßige Toilette einzurichten, und wir hielten dort oben große Wasserschlachten ab, die dadurch besonders aufregend wurden, weil wir um den Ärger wussten, den wir bekommen würden, sollten Mutter oder Vater uns dabei erwischen. Vor Nanny hatten wir nie Angst – na ja, jedenfalls nicht so sehr –, denn zu Nanny, dieser großen, herzensguten Frau aus Rathlinney, unserem Dorf, liefen wir, wenn wir wegen aufgeschürfter Knie oder sonstiger Kindheitskrisen Trost suchten. Sie versohlte uns wohl manchmal, aber nur halbherzig, und immer mit leichter Hand und – sollten unsere Eltern in Hörweite sein – einem verschwörerischen Augenzwinkern, das uns ermutigte, zu kreischen, als würden wir malträtiert. Für Nanny war die Anstellung bei uns ein Segen. Sie war unverheiratet, hatte einen ebenfalls ledigen Bruder und litt an einer angeborenen unglücklichen Verunstaltung ihres Gesichts (sie nannte es ein Muttermal, aber meiner Erinnerung nach leuchtete die faltige Haut der einen Gesichtshälfte vom Haaransatz bis zum Kinn purpurrot). Sie blieb bei uns, bis ich, die Jüngste der Familie, vierzehn war und unsere Eltern fanden, dass ihre Dienste nicht mehr erforderlich waren.
Ich denke oft an sie, selbst jetzt noch.
Es lagen nie irgendwelche ausrangierten Spielsachen in unserem Turmzimmer, denn alles, dem wir entwachsen waren, wurde an »arme Kinder« verteilt.
Die Unterscheidung zwischen »armen Kindern« und uns selbst war für uns nicht nachzuvollziehen. Unser Vater, Inhaber von Rathlinney General Stores, versorgte die Region mit Lebensmitteln und Gemüse, mit Brennstoff und Benzin, Wein, Kleidung, Kurz- und Eisenwaren, landwirtschaftlichen Geräten, feinen Schuhen und tausend anderen Dingen, das wussten wir. Wir hatten unsere Nanny, und Whitecliff war ein sehr großes Haus, auch das wussten wir. Aber unseren Lebensstil empfanden wir als sehr viel karger als den unserer Schulkameraden. Whitecliff war zugig und im Winter eisig kalt und feucht: Wir hatten alle Frostbeulen und waren ständig erkältet, wenn wir mit unseren doppelt besohlten Schuhen über die weitläufigen Steinfliesen oder nackten Holzböden trotteten. Eingerichtet war unser Haus nicht mit jenen bequemen Sofas, die wir sahen, wenn wir durch die Fenster der Häuschen von Rathlinney linsten, und auch deren Torffeuer wärmten uns nicht, wir hatten große klobige Stühle und Kanapees, riesige braune Tische, monumentale, fast leere Geschirrschränke und Vitrinen.
Unser Vater, ein gesunder, gottesfürchtiger Mann, der das Verlangen nach irdischen Annehmlichkeiten als Schwäche empfand, schränkte den Brennstoff für unsere Kamine mit der Warnung ein, dass zügellose Verschwendung zu betrüblichem Mangel führe, und drehte die Gaslampen ständig so weit herunter, dass Lesen unmöglich war.
Zu den Mahlzeiten mussten wir alles bis auf den letzten Bissen aufessen, »weil ihr Kinder womöglich nie wieder etwas so Gutes zu essen sehen werdet«, und fein machen war mir und meinen Schwestern auch nicht vergönnt: Mutter war nämlich eine geschickte Näherin und hielt ihre Kleidung und die unseres Vaters tipptopp in Ordnung und wendete die Krägen der Jungenhemden, bis der Stoff so abgetragen war, dass sie nur noch zu Staublappen taugten. Was uns Mädchen betraf, flickte und änderte sie unsere Kleider, wenn wir aus ihnen herauswuchsen, und ich als die Jüngste bekam nie ein neues Konfektionskleid oder einen Mantel.
Wir selbst empfanden uns deshalb als genauso arm wie alle anderen auch in der Gegend, und es blieb uns ein Rätsel, warum wir in der Schule wegen unserer Aussprache als vornehm gehänselt wurden, als »etwas Besseres«. Einmal kam ich auf Nanny zu sprechen, doch der Tumult, den dies auslöste, ließ mich diesen Fehler kein zweites Mal machen. Es kann sehr einsam sein, wenn man in einem irischen Dorf aus einem Großen Haus kommt.
Als meine Verbannung in das Turmzimmer bevorstand, wurden die Truhen, alten Garderobenständer und andere Gegenstände entfernt, und man begann den Raum mit merkwürdiger Sorgfalt einzurichten. Vater ließ die Toilette mit einem Waschbecken, einer Toilette mit Spülkasten und Spülkette und einer Sitzbadewanne ausstatten.
Unwissentlich nahm ich im Glauben, wir machten es möglicher Gäste wegen, an der Renovierung teil. Rückblickend konnte das nur Einbildung gewesen sein; wir Shines hatten nämlich kaum Gäste, abgesehen von den wenigen Geschäftspartnern meines Vaters, die gelegentlich zum Essen eingeladen wurden. Auch wir Kinder wurden nicht dazu ermuntert, unsere Schulkameraden mit nach Hause zu bringen. Als man mich jedoch aufforderte, eine Tapete aus dem Musterbuch auszusuchen, das Vater eines Abends mit nach Hause brachte, war ich glücklich, mit einbezogen zu werden. Ich war sogar mehr als glücklich; ich war ganz außer mir, weil dies nur bedeuten konnte, dass man mir vielleicht verziehen hatte.
Der Raum maß sechs mal vier Meter – ich habe ihn weiß Gott oft genug abgeschritten, um das ganz genau zu wissen – mit einem Fenster, das ab der halben Wandhöhe fast bis zur Decke reichte, aber so hoch lag, dass ich mich auf meinen Stuhl stellen musste, um hinausschauen zu können. Von außen war es aus bis heute unerfindlichen Gründen vergittert: Whitecliff erhebt sich drei Stockwerke über seinen Kellern, dazu kommt noch das sich über die ganze Fläche erstreckende Dachgeschoss. Jeder einigermaßen intelligente Einbrecher oder Eindringling, der tapfer Vaters Schrotflinte trotzte, hätte den leichten Zugang durch die schlecht schließende Vordertür oder die Fenster im Erdgeschoss gewählt, deren Holzrahmen, schon bevor ich eingesperrt wurde, vom salzigen Regen und Wind so mürb geworden waren, dass schon wenige Stöße mit einem kräftigen Schraubenzieher gereicht hätten, um sie auszuhebeln.
Was die Rückseite des Hauses, mein Blickfeld, betraf, hat nie jemand gewagt, unter meinem Fenster entlangzustreifen, weil unser von zwei Seiten mit Stacheldrahtzaun begrenztes Haus direkt am Rand der Klippe stand, die siebzig bis achtzig Fuß schroff in die Tiefe hinabfiel. (Ich glaube, heute sind das dreißig bis fünfunddreißig Meter – es fällt mir schwer, mich an diese Neuerungen zu gewöhnen.)
Whitecliff ist älter als zweihundert Jahre, und ich habe über vielen Theorien gebrütet, weshalb man es für nötig hielt, ausgerechnet dieses Fenster als einziges im ganzen Haus zu vergittern. Vielleicht hatte der Raum einst den Familienschatz geborgen. Vielleicht befürchtete man, dass trotz des schwierigen Zugangs von außen Bauernburschen aus dem Dorf es mittels eines Seils aus Laken schafften, durch das ungeschützte Fenster auf ein Schäferstündchen zu den Hausmädchen vorzudringen.
Vielleicht aber hatte man auch eine verrückte Tante (oder eine verrückte erste Ehefrau) hier eingeschlossen, um sie vor sich selbst zu schützen. Oder den Ruf der Familie, für den Fall, dass sie sich zu Tode stürzen würde.
Es mag zwar seltsam, wenn nicht unter den gegebenen Umständen sogar fragwürdig klingen, aber im Lauf der Zeit kam ich tatsächlich so weit, diesen Raum als einen ganz angenehmen Ort zum Leben zu empfinden, und als ich schließlich beschloss, meine Lage zu akzeptieren, entdeckte ich, dass ich mit einem Herz schlag – ja, so schnell ging das – frei war.
Ich erinnere mich dieses Moments, obgleich ich nicht sagen kann, an welchem Tag oder in welchem Jahr das war.
Lange Zeit, viele Jahre lang, hatte ich getreulich die Uhr aufgezogen, die Onkel Samuel mir zu meinem sechzehnten Geburtstag geschenkt hatte, aber nach und nach dämmerte mir, dass Zeit ihre Bedeutung verliert, wenn man keine Kontrolle mehr über sein Leben hat. Also legte ich die Uhr beiseite und lebte von da an nach den Zyklen von Licht und Dunkelheit, Wärme und Kälte, Stürmen und Ruhe – und dem prompten Eintreffen meines Essenstabletts.
Whitecliffs Gärten lagen vor dem Haus und seitlich davon.
Der schmale Streifen zwischen seiner Rückseite und dem Klippenrand war von Steinen bedeckt und von Flachsgras bewachsen und bot nur wenig Veränderung in Farbe oder Bewuchs. Deshalb blieb mir nichts anderes übrig, als mich von meinem Stuhl aus am Himmel, dem Meer und dem Stand der Sonne zu orientieren, um den Wechsel der Jahreszeiten wahrzunehmen. Die Erfahrung erlaubte es mir mit der Zeit, den Stand der Sonne selbst noch an den trübsten Tagen zu bestimmen. Durch Beobachtung des Sonnenstandes bei Sonnenaufgang und bei Sonnenuntergang in Relation zu meinem Fenster lernte ich auch, die Neigung der Erdachse zu verfolgen. Die Sonne und das Meer wurden meine Freunde.
Der tatsächliche Moment der Befreiung kam unerwartet.
Er fand mitten im Winter statt, um die Mittagszeit an einem Tag, als Seepferde die Wolkenfetzen am Himmel jagten. Ich hatte meine übliche Position auf meinem Stuhl am Fenster eingenommen und versuchte angestrengt, irgendwelche Bewegungen zwischen den Steinen am Rand der Klippen zu entdecken. Ich war mir sicher, etwas gesehen zu haben. Eine Ratte? Eine Feldmaus? Eine Wildkatze oder womöglich ein Kaninchen – wenngleich diese zu dieser Jahreszeit nicht oft zu sehen waren? Ich hielt die Luft an und verharrte reglos.
Aber ja – dort. Ich wurde ganz aufgeregt. Da war es wie- der – ein Kaninchen! Eindeutig ein Kaninchen ...
Während ich es beobachtete, saß das Geschöpf aufrecht auf seinen Hinterbeinen, die Ohren entspannt zurückgelegt, aber auf dem Rücken zuckend, die kleinen Pfoten dicht an der Brust ... Es blickte auf Whitecliff. Beobachtete unsere grauen Wände.
Ich konzentrierte mich darauf und bemühte mich, individuelle Züge auszumachen, Augen, das eifrig mümmelnde Maul.
Vielleicht war es auch gar kein Kaninchen. Vielleicht war es ein Hase, ein kleiner – dreh dich um, kleines Ding, damit ich deinen Stummelschwanz, die Länge deiner Beine sehen kann – dreh dich bitte um ...
© Blanvalet Verlag
Übersetzung: Elfriede Peschel
- Autor: Deirdre Purcell
- 2009, 476 Seiten, Maße: 11,5 x 18,1 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Deutsch von Elfriede Peschel
- Übersetzer: Elfriede Peschel
- Verlag: Blanvalet
- ISBN-10: 3442371392
- ISBN-13: 9783442371396
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