Eine Frage des Herzens
"Luanne Rice berührt die tiefsten und empfindlichsten Winkel des Herzens."
Tami Hoag
Bernie und Tom reisen nach Irland. Sie wollen dort ihren gemeinsamen Sohn finden, den sie vor 23 Jahren in einem Kinderheim zurückgelassen...
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Produktinformationen zu „Eine Frage des Herzens “
"Luanne Rice berührt die tiefsten und empfindlichsten Winkel des Herzens."
Tami Hoag
Bernie und Tom reisen nach Irland. Sie wollen dort ihren gemeinsamen Sohn finden, den sie vor 23 Jahren in einem Kinderheim zurückgelassen haben, da Bernie sich für ein Leben im Kloster entschieden hat. Dadurch musste auch Tom auf sein Lebens- und Liebesglück verzichten - aber er hat nie aufgehört, Bernadette zu lieben. Und auch ihr gemeinsamer, mitterweile erwachsener Sohn Seamus ist in Dublin auf der Suche nach dem Glück. Er träumt davon, mit seiner ersten und einzigen Liebe Kathleen wiedervereint zu sein. Wo wird das Schicksal sie alle hinführen?
Lese-Probe zu „Eine Frage des Herzens “
Eine Frage des Herzens von Luanne RiceProlog
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Alle dachten nur noch an das bevorstehende Picknick am Strand, das jeden Sommer stattfand, und in der Küche
des Kinderheims herrschte Hochbetrieb. Ein Schinken brutzelte im Backofen, der in dünne Scheiben geschnitten und kalt gegessen werden sollte, Garnelen aus der Dublin Bay, das Geschenk eines Wohltäters von St. Augustine's, lagen im großen Kühlschrank bereit, frisch gebackenes Brot kühlte auf dem Gitterrost ab, und die Kekse waren schon in den Körben verstaut.
Die dreizehnjährige Kathleen Murphy stand an dem langen Arbeitstisch aus Edelstahl und schälte Kartoffeln für den Kartoffelsalat. Ihre Finger gingen so flink zu Werke, dass ein Zuschauer die Bewegungen nur noch verschwommen wahrgenommen hätte. Die langen Haare zum Pferdeschwanz zusammengebunden, trug sie eine gestärkte grüne Schürze, um ihre Kleidung zu schützen. Mit einem Auge behielt sie ihre Arbeit und mit dem anderen die Seitentür im Blick. Schwester Anastasia würde in fünf Minuten zurückkehren, und wenn James Sullivan bis dahin nicht aufgetaucht war, würde die Hölle los sein.
Sie lenkte sich ab, indem sie sich die exquisiten Gerichte vorstellte, die sie viel lieber zubereitet hätte als die einfachen Speisen, mit denen sie nun beschäftigt war. Obwohl sie genau wie alle anderen Küchenlehrlinge von Schwester Theresa gelernt hatte, Kantinenessen für die Gemeinschaft zuzubereiten, träumte sie davon, Gourmetmahlzeiten zu kreieren, wie sie in den ausgefallenen Kochbüchern von Schwester Theresa beschrieben wurden: Artischocken-Rucola-Salat, Marseiller Bouillabaisse, Lammrippe, gebratener Thunfisch, Pilzrisotto ...
Als die Tür aufging und James hereinstürmte, als gälte es, ans andere Ende eines Footballfeldes zu gelangen, atmete Kathleen endlich auf und hielt ihm die Strafpredigt, die er dringend brauchte.
»Um Himmels willen, was hast du dir dabei gedacht? Willst du uns alle in Teufels Küche bringen? Und das Picknick ruinieren? Du weißt, wenn sie sauer wird, bläst sie die ganze Sache ab. Wir freuen uns auf das Sommerfest, und du versuchst uns den Spaß zu verderben. Das ist mal wieder typisch für dich, James. Ganz und gar ...«
»Jetzt hör schon auf, Kathleen.« Grinsend fing er das Geschirrtuch auf, das sie ihm zuwarf. »Du weißt, dass Schwester Anastasia das Picknick nicht absagen würde. Sie freut sich genauso darauf wie du.«
»Wo hast du überhaupt gesteckt?«, fragte Kathleen misstrauisch. James war für den Abwasch zuständig und in dieser Woche jeden Tag zu spät gekommen. Normalerweise erzählte er ihr alles. Sie wohnten in getrennten Unterkünften, er im Jungen- und sie im Mädchenflügel, aber sie hatten dafür gesorgt, dass sie dieselben Unterrichtsstunden besuchten, ihre Freizeit miteinander verbringen konnten und von den Schwestern Arbeiten in unmittelbarer Nähe zugewiesen bekamen.
»Hast du heute mehr Geschirr beim Kochen benutzt?« Er beäugte den Stapel im Spülbecken.
»Mach mir ja keinen Ärger«, warnte sie ihn. »Ich habe dich bei Schwester Theresa gedeckt. Sie wollte wissen, wo du steckst, und ich habe ihr erzählt, dass du hinten im Hof bist und den Lieferwagen des Großhändlers auslädst. Wenn sie deinen Sonnenbrand und die vielen neuen Sommersprossen sieht, weiß sie, dass es eine Lüge war und du dich irgendwo in der Sonne herumgetrieben hast. Wo warst du? Jetzt sag schon, James.«
»Mach ich.« Er nahm das Geschirr in Angriff. »Versprochen. Aber lass mich zuerst diesen Berg hier wegschaffen.« Er sah sie an und warf ihr ein übermütiges Lächeln zu, das sie dahinschmelzen ließ. Das gelang ihm jedes Mal aufs Neue. Seine Haare waren feuerrot, er hatte jede Menge Sommersprossen und abstehende Ohren, doch sein Anblick ließ Kathleens Herz höherschlagen - er war herzensgut, zuverlässig wie ein Fels in der Brandung und immer guter Dinge.
In seinem Beisein arbeitete sie doppelt so schnell, schnitt die Kartoffeln zu perfekten Würfeln und mischte sie in der großen Edelstahlschüssel unter den Salat. Sie kannte James von Geburt an. Sie waren im selben Krankenhaus zur Welt gekommen, und ihre Mütter hatten beschlossen - aus welchen Gründen, wussten nur Gott, die Nonnen und ihre Mütter selbst -, sie unverzüglich in die Obhut des Kinderheims St. Augustine's zu geben, einer kirchlichen Institution, die sich in einem roten Backsteingebäude in einer ruhigen Seitenstraße eines Dubliner Wohnviertels befand. Auf Nimmerwiedersehen, Kinder.
Kathleen sah noch heute die Säuglingsabteilung von St. Augustine's vor sich, in der sie zusammen mit James gelandet war. Sie konnte sich genau daran erinnern, ungelogen, und wenn jemand behauptete, das sei unmöglich, das sei viel zu lange her, pflegte sie auf die Barrikaden zu gehen. Es war ihre älteste und nachhaltigste Erinnerung, die sie mit aller Macht verteidigte. Ihre Kinderbetten hatten nebeneinander-gestanden. Wenn sie nachts weinte und sich zu ihm umdrehte, hatte er sie mit seinen großen, blauen Augen angeschaut. Ungeachtet, wie spät es war, er war hellwach, wachte über sie. Er war immer da, an ihrer Seite.
Säuglinge und Kinder waren bis zum vierten Lebensjahr in denselben Schlafsälen untergebracht, unabhängig von der Geschlechtszugehörigkeit. Je hübscher ein Baby, desto schneller die Adoption. Vielleicht war es der Ruf der Schlaflosigkeit, der James anhaftete und eine Vermittlung während des ersten Lebensjahres verhinderte; und vermutlich war es Kathleens Neigung, sich Tag und Nacht die Augen auszuweinen, die ihre Chance auf ein neues Leben zunichtemachte. Beide wurden jedenfalls nicht adoptiert, aus welchen Gründen auch immer, und verbrachten das erste Lebensjahr zusammen.
Noch bevor sie sprechen lernten, flüsterten und lachten sie miteinander in ihrem eigenen Kauderwelsch. Sie spielten Fangen im Kleinkindertrakt, zunächst kriechend, dann mit den ersten unsicheren Schritten. James' Lieblingsspielzeug war ein Lamm aus Kordsamt und Kathleens eine Baby puppe mit roten Haaren.
Im Alter von zwei Jahren nahm eine Familie James zur Probe auf. Kathleen erinnerte sich so deutlich daran, als wäre es gestern gewesen, an das Gefühl, als hätte man ihr den rechten Arm abgehackt. Statt zu weinen, hörte sie schlagartig auf, auch nur eine Träne zu vergießen - aber sie weigerte sich auch, zu reden, zu lachen und zu essen, und litt unter Schlafstörungen. Und wenn sie schlief, hatte sie die rothaarige Puppe an sich gepresst.
Eines Nachts hatte sie durch die Gitterstäbe des Kinderbetts gegriffen, um James' Bett näher heranzuziehen, auch wenn er nicht mehr darin lag, sondern ein plumper, kahlköpfiger kleiner Junge namens Bartholomew seinen Platz eingenommen hatte. Sie wollte nur die Matratze berühren, auf der James geschlafen hatte, oder einen Zipfel seines Kopfkissens. Doch der arme Bartholomew war zu Tode erschrocken, da er nicht wusste, was sie im Sinn hatte, und hatte sich bei dem Versuch, über das Gitter zu klettern und die Flucht zu ergreifen, den Arm gebrochen.
Die Adoption auf Probe war für James nicht gut verlaufen. Er kehrte nach St. Augustine's zurück. Obwohl die offizielle Begründung lautete, er habe nachts alle Bewohner des Hauses mit einer verblüffenden Imitation der Dubliner Krähen wach gehalten, wusste Kathleen es besser. Er hatte »Kah, Kah, Kah!« gerufen. Für einige glichen die Laute denjenigen der großen Vögel, die in den Bäumen an der Serpentinenstraße nach St. Stephen's Green nisteten. Doch in Wirklichkeit bedeutete »Kah« Kathleen. Es war das erste Wort, das er gesprochen hatte.
Mit drei kam Kathleen zu einem Ehepaar, das in einem Haus in Dun Laoghaire unweit des Hafens lebte. Die beiden waren schon älter, vom Leben und ihrer Unfähigkeit enttäuscht, ein eigenes Kind zu empfangen. Im Zuge des administrativen Prozesses hatten sie gestanden, dass ihnen der Priester ihres Sprengels zu der Adoption geraten hatte, um die Ehe zu retten. Sie rochen nach Kohl und Zigaret tenrauch. Das Haus war im Gegensatz zu den weitläufigen, zugigen Räumlichkeiten des Kinderheims klein und beengt.
Kathleens Herz war schwer, sie vermisste James. Nachts weinte sie leise vor sich hin, die rothaarige Puppe dicht an ihrem Gesicht. Wenn sie sich mit aller Kraft konzentrierte, konnte sie seine Gegenwart spüren, sah seine blauen Augen durch die Gitterstäbe ihres Kinderbetts. Ihr Kummer war so groß, dass sie Fieber bekam und die Laken mit Schweiß und Tränen tränkte.
»Sie steckt voller Bakterien«, befand das Ehepaar und riss ihr die abgenutzte kleine Puppe aus den Armen. »Im Heim gibt es Krankheiten, und dieses grässliche Ding muss weg.« Sie warfen sie in den Mülleimer.
In jener Nacht kletterte Kathleen, nachdem das Ehepaar schlafen gegangen war, aus ihrem Gitterbett, tappte durch den dunklen engen Korridor und kroch rückwärts die steile Treppe hinunter. Ihr Herz war gebrochen, und obwohl sie erst drei Jahre alt war, wusste sie, dass sie nichts zu verlieren hatte. Sie öffnete den Schrank unter dem Spülbecken, wo sich der randvolle Mülleimer mit den Küchenabfällen befand. Ein Schluchzen unterdrückend, streckte sie die Arme nach oben und versuchte, mit ihren kleinen Händen hineinzugreifen, um ihre Puppe herauszuholen.
Plötzlich kippte der Mülleimer um, und Nudeln, die vor Butter trieften, Kohlblätter, Teebeutel und Zigarettenkippen regneten auf sie herab. Doch sie hatte ihre Puppe wieder und drückte sie an ihr klopfendes Herz. Vom Lärm aufgeweckt, kam das Ehepaar die Treppe heruntergelaufen. Sie schrien empört auf und versuchten, ihr die Puppe aus den Händen zu reißen. Sie war sich nicht sicher, wen von beiden sie biss - sie grub ihre Zähne mit voller Wucht in die nächstbeste Hand -, und es war ihr ehrlich gestanden egal. »James!«, schluchzte sie. »James.«
Sie war mit Abfall bedeckt, aber die beiden machten sich nicht einmal die Mühe, sie zu baden, bevor sie ins Kinderheim zurückgebracht wurde.
Mit vier wurde James in den Jungen- und Kathleen in den Mädchenflügel verlegt. Die Eingewöhnungsphase war schwierig, aber sie fanden zahlreiche Möglichkeiten, in jeder freien Minute zusammen zu sein. Das Kinderheim war ein weitläufiger, U-förmiger Bau, und jeden Abend vor dem Zubettgehen winkten sie sich vom Fenster ihres jeweiligen Schlaftrakts aus zu. Wenn Kathleen nicht schlafen konnte, eilte sie ans Fenster, und oft stand James auf der anderen Seite des Innenhofs und wachte über sie.
Jahre vergingen. Da sie Mathematik und Naturwissenschaften hasste, erledigte er die Hausaufgaben für sie. Als sie ein Weihnachtsspiel aufführten, studierte er mit ihr die Rolle der Maria ein. Als sie Läuse bekam und die Nonnen darauf bestanden, ihr die langen, dunklen Haare abzuschneiden, nahm er sie in die Arme, während sie herzergreifend schluchzte, und tröstete sie mit den Worten, sie sei das hübscheste Mädchen der Welt. Als Schwester Anastasia ihr den heißbegehrten Ausbildungsplatz als Küchenlehrling gab, übernahm er freiwillig die gleichermaßen verhasste, bis dahin tunlichst gemiedene Arbeit des Geschirrspülers.
Manchmal, wenn der Ostwind wehte und der Geruch des Meeres über die Dächer von Dublin driftete, standen sie im geteerten Innenhof und unterhielten sich über den Ausflug an den Strand, den die Nonnen mit den Kindern unternahmen. Er fand einmal im Jahr statt, im Sommer, und stellte für Kathleen und James die schönste Zeit des Lebens dar. Die Füße im Sand, durften sie nach Herzenslust schwimmen, den ganzen Tag spielen und sich so glücklich wie nur irgendein Mensch auf der Welt fühlen.
Auch wenn alle, die im Kinderheim arbeiteten, sagten, sie seien wie Bruder und Schwester, wusste Kathleen, dass sie sich täuschten. Was sie für James empfand, ging erheblich tiefer. Zugegeben, er war ihre Familie, aber ihr fehlten die unbedarften, naiven Gefühle, die Kinder und Heranwachsende ihren Geschwistern entgegenbrachten. Sie hatte freien Minute zusammen zu sein. Das Kinderheim war ein weitläufiger, U-förmiger Bau, und jeden Abend vor dem Zubettgehen winkten sie sich vom Fenster ihres jeweiligen Schlaftrakts aus zu. Wenn Kathleen nicht schlafen konnte, eilte sie ans Fenster, und oft stand James auf der anderen Seite des Innenhofs und wachte über sie.
Jahre vergingen. Da sie Mathematik und Naturwissenschaften hasste, erledigte er die Hausaufgaben für sie. Als sie ein Weihnachtsspiel aufführten, studierte er mit ihr die Rolle der Maria ein. Als sie Läuse bekam und die Nonnen darauf bestanden, ihr die langen, dunklen Haare abzuschneiden, nahm er sie in die Arme, während sie herzergreifend schluchzte, und tröstete sie mit den Worten, sie sei das hübscheste Mädchen der Welt. Als Schwester Anastasia ihr den heißbegehrten Ausbildungsplatz als Küchenlehrling gab, übernahm er freiwillig die gleichermaßen verhasste, bis dahin tunlichst gemiedene Arbeit des Geschirrspülers.
Manchmal, wenn der Ostwind wehte und der Geruch des Meeres über die Dächer von Dublin driftete, standen sie im geteerten Innenhof und unterhielten sich über den Ausflug an den Strand, den die Nonnen mit den Kindern unternahmen. Er fand einmal im Jahr statt, im Sommer, und stellte für Kathleen und James die schönste Zeit des Lebens dar. Die Füße im Sand, durften sie nach Herzenslust schwimmen, den ganzen Tag spielen und sich so glücklich wie nur irgendein Mensch auf der Welt fühlen.
Auch wenn alle, die im Kinderheim arbeiteten, sagten, sie seien wie Bruder und Schwester, wusste Kathleen, dass sie sich täuschten. Was sie für James empfand, ging erheblich tiefer. Zugegeben, er war ihre Familie, aber ihr fehlten die unbedarften, naiven Gefühle, die Kinder und Heranwachsende ihren Geschwistern entgegenbrachten. Sie hatte »Bis wir volljährig sind, nehme ich an«, erwiderte er. »Wie lange bleiben andere Jugendliche im Elternhaus?«
Zu diesem Zeitpunkt hatten beide aufgehört, zu hoffen und zu fürchten, adoptiert zu werden. Sie waren ein Teil des Kinder heims. Die Nonnen behandelten sie liebevoll und gewährten den Schützlingen, die am längsten da waren - Kathleen, James und fünf oder sechs weitere Jugendliche -, zahlreiche Vergünstigungen. Bei einer Nonne genoss James gleichwohl besondere Aufmerksamkeit.
Sie lebte nicht in St. Augustine's, gehörte aber demselben Orden an wie die Schwestern, die das Heim leiteten. Manchmal kam sie allein, manchmal in Begleitung einer sehr beleibten Nonne. Streng und unnahbar, stellte sie James Fragen, legte ihm Intelligenztests vor oder fühlte ihm in ähnlicher Weise auf den Zahn. Jedes Mal, wenn sie auftauchte, geriet Kathleen in Panik und befürchtete, die Schwester würde ihm mitteilen, dass sie ein Zuhause für ihn gefunden habe. Doch das geschah nie.
»Denkst du jemals darüber nach, woher wir kommen?«, fragte Kathleen, zerrupfte ein Weidenblatt und starrte ins Wasser. »Was meinst du damit?«
»Ich rede von deinem Vater und deiner Mutter. Deinen Eltern. Denkst du jemals an sie?«
Er schüttelte den Kopf. Sie betrachtete ihn, und sein Blick jagte ihr Angst ein. »Nie. Sie wollten mich nicht. Haben mich weggegeben. Warum sollte ich auch nur einen Gedanken an sie verschwenden?«
»Ich weiß nicht. Es kommt mir einfach natürlich vor. Du könntest die Schwester nach ihnen fragen. Die immer kommt, um dich auszuquetschen.«
»Schwester Nemesis? Oder Schwester Butterfass? Was sollten die mir schon erzählen können?«
»Nun, aus irgendeinem Grund interessieren sie sich für dich. Vielleicht wissen sie etwas über deine Herkunft und würden es dir sagen, wenn du fragst - dir den Namen deiner Eltern verraten.«
»Warum? Damit ich mich persönlich dafür bedanken kann, dass sie mich ins Heim abgeschoben haben?«
»Du denkst also doch manchmal an deine Eltern.«
»An diese lausigen Typen, die keinen Wert darauf gelegt haben, ihren eigenen Sohn kennenzulernen? Ha! Vergiss es, Kat. Und sag mir nicht, dass du an deine Eltern denkst.« Kathleen zuckte mit den Schultern. Sie wollte nicht zugeben, dass sie sogar oft an sie dachte und sich bisweilen ausmalte, dass sie gemeinsam im Heim auftauchen würden, in einer Luxuslimousine mit auffallenden silbernen Rädern. Sie würden die Treppe emporsteigen, ihre Mutter in einem kostbaren Pelzmantel, ihr Vater im Nadelstreifenanzug - wie die Adoptionsanwälte, die manchmal auf der Bildfläche erschienen und Ärger wegen des Papierkrams machten -, und erklären, dass sie zu Kathleen Murphy wollten.
Sie würden sie natürlich auf den ersten Blick ins Herz schließen. Sie würde sich in ihre Arme stürzen und aus ihrem Mund erfahren, dass alles ein schreckliches Missverständnis war. Sie hatten nie vorgehabt, sie in ein Heim zu geben ... An dieser Stelle geriet ihre Phantasie ins Stocken, doch sie konnte sich vorstellen, dass ein Gedächtnisverlust, eine finanzielle Notlage oder eine beinahe tödlich verlaufende Krankheit die Ursache war. Ihre Eltern würden ihr eröffnen, dass sie gekommen waren, um sie nach Hause zu holen, und sie würde darum bitten, James mitnehmen zu dürfen. Da ihre Eltern sie über alles liebten und ihr nichts abschlagen konnten, würden sie sofort einverstanden sein.
»Nein, ich denke nie an sie«, sagte sie nun zu James, unfähig, die Wahrheit einzugestehen, weil sie wusste, dass er es als Verrat auffassen würde.
»Gut.« Er nahm ihre Hand. »Wir sind in dieser Welt ganz auf uns alleine gestellt, Kat, vergiss das nicht.«
»Aber was ...«, begann sie bedächtig. Sie wünschte, sie könnte ihn für den Gedanken erwärmen, dass ihre Eltern möglicherweise wunderbare Menschen waren, so dass er vielleicht eher bereit sein würde, mitzukommen, wenn sie endlich erschienen, um sie abzuholen. »Was ist, wenn sie nett sind? Wenn sie uns wirklich geliebt haben, uns aber nicht behalten konnten?«
»Kathleen.« Sein Gesicht war ganz nahe, und er sah ihr so eindringlich in die Augen wie damals, als sie klein waren und ihre Betten nebeneinanderstanden. Und nun, seit jenem Kuss im Heizungsraum, ergriff ein sehnsuchtsvoller, alles andere als kindlicher Schauer ihren Körper. »Wir sind ihnen völlig egal«, fuhr er fort. »Sie haben uns weggegeben. Wir waren unerwünscht. Sie wollten uns nicht.«
»Ich will dich.« Sie drückte seine Hand, ohne genau zu wissen, was sie damit gemeint hatte oder warum ihre Kehle bei diesen Worten wie zugeschnürt war.
»Und ich will dich.« Er erwiderte den Druck. »Du gehörst zu mir und ich zu dir. So ist es nun mal, und so wird es immer sein. Deshalb wurden wir nie adoptiert - weil es uns bestimmt ist, zusammenzubleiben.«
»Und was ist, wenn wir erwachsen sind und das Heim verlassen?«
Er schüttelte den Kopf. »Mach dir darüber keine Gedanken. Ich werde für dich da sein, Kathleen. War ich das nicht immer?«
»Ja, das stimmt.«
»Du gehörst zu mir und ich zu dir«, wiederholte James, und die Art, wie sich seine Hand über ihr Handgelenk und den nackten Arm hinauf bewegte, löste ein Prickeln im ganzen Körper aus. Sein Blick erinnerte sie an die Liebesszenen aus den Videofilmen und den Kuss in besagter Dezembernacht, von dem sie geträumt hatte; bei dem Gedanken daran verging sie beinahe vor Sehnsucht.
Doch dann war es Zeit, zurückzukehren. Schwester Lucia hatte alle zum Einsteigen aufgefordert, und der Augenblick war vorüber. Kathleen hatte oft an jenen Kuss im Winter gedacht und sich seither mehr gewünscht, mehr und mehr. James hatte zahlreiche Gelegenheiten gehabt, sie im Heim zu küssen, aber er hatte sie nie ergriffen. Nicht, weil er damit gegen die Regeln verstoßen hätte - die waren ihm egal -, sondern weil es in seinen Augen unromantisch gewesen wäre. Er wünschte sich, dass der erste Kuss des Sommers von einem romantischen Zauber umgeben sein sollte.
Sie wusste, dass er auf den Strandausflug wartete. Dann würde er sie küssen. Ihre Träume würden sich an dem weißen Gestade und dem blauen Meer, das ringsum glitzerte, erfüllen. Während sie hellwach im Mädchenflügel lag, wichen die Phantasien von den leiblichen Eltern, die sie abholen kamen, ihrer Vorstellung von dem Augenblick, in dem James sie in die Arme nahm.
Dieser Traum verlieh ihr die Kraft, durchzuhalten. Sie befand sich gerade in einer schwierigen Phase. Es war nicht leicht, dreizehn zu sein. Vor allem, wenn man mit »normalen« Jugendlichen zur Schule ging, die eine richtige Familie hatten, Eltern, die ihnen schöne Kleider kauften und sie herumkutschierten, zu Footballspielen, ins Kino und zu Partys. Nicht, dass Kathleen, James und die anderen Bewohner des Heims ausgegrenzt wurden oder die Nonnen sich nicht zu vergewissern suchten, dass sie alles hatten, was sie brauchten - aber es war trotzdem schwierig. Kathleen trug die abgelegte Garderobe von Schwester Clare Joseph, einer Novizin, die letzten Herbst in den Orden eingetreten war und keine Verwendung mehr für Jeans, Pullover und die grässlichsten T-Shirts hatte, die Kathleen jemals zu sehen bekam. Am Tag des Picknicks waren alle in Hochstimmung. Schwester Anastasia eilte in die Küche, lobte Kathleens Kochkünste und half ihr, alles in Kühlboxen und Körben zu verstauen, wobei sie James' Sonnenbrand und seine Abwesenheit in der letzten Stunde geflissentlich ignorierte.
»Kathleen, du bist ein Geschenk des Himmels«, erklärte sie und nahm eine Kostprobe von dem Schinken, den Kathleen nach einem Rezept der berühmten Köchin und Kochbuchautorin Julia Child zubereitet und gewürzt hatte. »Was für ein Segen, dass wir eine derart talentierte Küchenchefin haben, stimmt's, James?«
»Finde ich auch«, erwiderte er und schrubbte die Pfannen. »Vielleicht wirst du eines Tages eine Meisterschule für Köche besuchen. Und ein eigenes Restaurant eröffnen. Du kannst sicher sein, dass wir dann alle Stammgäste werden.« »Danke, Schwester.« Kathleen glühte vor Stolz.
»Ein Restaurant«, meinte James, als Schwester Anastasia mit einer Ladung Proviant für das Picknick zu einem der beiden Vans hinauseilte, die vor der Tür parkten.
»Vielleicht koche ich aber auch nur für meine Familie.« Sie blickten sich über das Seifenwasser hinweg an, und ihr lief ein Schauer über den Rücken. Ob James den Wink mit dem Zaunpfahl verstanden hatte?
»Ja.« Seine glänzenden Augen verrieten, dass er begriffen hatte.
»Alle herkommen, auf zum Strand!«, rief Schwester Anastasia und läutete die Glocke. Die Kinder stürmten aus den Zimmern, wobei die älteren die jüngsten trugen. Einige hatten bereits ihre Badesachen angezogen. Sie hatten es offenbar nicht mehr erwarten können, dass der heißersehnte Tag begann, ungeachtet der Ermahnungen der Nonnen, sich erst nach der Ankunft umzuziehen.
Die Fahrt nach Courtown in der Grafschaft Wexford war lang und schien ewig zu dauern. Die Mädchen saßen in dem einen Kleintransporter, die Jungen in dem anderen. Schwester Lucia fuhr den Wagen mit den Mädchen, hatte einen Musik sender im Radio eingeschaltet, und alle sangen mit. Kathleen saß in der letzten Reihe. Sie drehte sich fortwährend um und spähte aus dem Rückfenster, nach James Ausschau haltend.
Am North Beach angekommen, stiegen alle in Reih und Glied aus. Decken wurden auf dem heißen Sand ausgebreitet, Wasserbälle aufgeblasen, und einige Kinder rannten unverzüglich ins Wasser. Als Kathleen T-Shirt und Shorts auszog, sah sie, wie James ihren blauen Badeanzug verstohlen musterte. Sie errötete und hoffte, dass er nichts merkte, sondern glaubte, die Hitze sei die Ursache.
Übersetzung: Ursula Bischoff
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Alle dachten nur noch an das bevorstehende Picknick am Strand, das jeden Sommer stattfand, und in der Küche
des Kinderheims herrschte Hochbetrieb. Ein Schinken brutzelte im Backofen, der in dünne Scheiben geschnitten und kalt gegessen werden sollte, Garnelen aus der Dublin Bay, das Geschenk eines Wohltäters von St. Augustine's, lagen im großen Kühlschrank bereit, frisch gebackenes Brot kühlte auf dem Gitterrost ab, und die Kekse waren schon in den Körben verstaut.
Die dreizehnjährige Kathleen Murphy stand an dem langen Arbeitstisch aus Edelstahl und schälte Kartoffeln für den Kartoffelsalat. Ihre Finger gingen so flink zu Werke, dass ein Zuschauer die Bewegungen nur noch verschwommen wahrgenommen hätte. Die langen Haare zum Pferdeschwanz zusammengebunden, trug sie eine gestärkte grüne Schürze, um ihre Kleidung zu schützen. Mit einem Auge behielt sie ihre Arbeit und mit dem anderen die Seitentür im Blick. Schwester Anastasia würde in fünf Minuten zurückkehren, und wenn James Sullivan bis dahin nicht aufgetaucht war, würde die Hölle los sein.
Sie lenkte sich ab, indem sie sich die exquisiten Gerichte vorstellte, die sie viel lieber zubereitet hätte als die einfachen Speisen, mit denen sie nun beschäftigt war. Obwohl sie genau wie alle anderen Küchenlehrlinge von Schwester Theresa gelernt hatte, Kantinenessen für die Gemeinschaft zuzubereiten, träumte sie davon, Gourmetmahlzeiten zu kreieren, wie sie in den ausgefallenen Kochbüchern von Schwester Theresa beschrieben wurden: Artischocken-Rucola-Salat, Marseiller Bouillabaisse, Lammrippe, gebratener Thunfisch, Pilzrisotto ...
Als die Tür aufging und James hereinstürmte, als gälte es, ans andere Ende eines Footballfeldes zu gelangen, atmete Kathleen endlich auf und hielt ihm die Strafpredigt, die er dringend brauchte.
»Um Himmels willen, was hast du dir dabei gedacht? Willst du uns alle in Teufels Küche bringen? Und das Picknick ruinieren? Du weißt, wenn sie sauer wird, bläst sie die ganze Sache ab. Wir freuen uns auf das Sommerfest, und du versuchst uns den Spaß zu verderben. Das ist mal wieder typisch für dich, James. Ganz und gar ...«
»Jetzt hör schon auf, Kathleen.« Grinsend fing er das Geschirrtuch auf, das sie ihm zuwarf. »Du weißt, dass Schwester Anastasia das Picknick nicht absagen würde. Sie freut sich genauso darauf wie du.«
»Wo hast du überhaupt gesteckt?«, fragte Kathleen misstrauisch. James war für den Abwasch zuständig und in dieser Woche jeden Tag zu spät gekommen. Normalerweise erzählte er ihr alles. Sie wohnten in getrennten Unterkünften, er im Jungen- und sie im Mädchenflügel, aber sie hatten dafür gesorgt, dass sie dieselben Unterrichtsstunden besuchten, ihre Freizeit miteinander verbringen konnten und von den Schwestern Arbeiten in unmittelbarer Nähe zugewiesen bekamen.
»Hast du heute mehr Geschirr beim Kochen benutzt?« Er beäugte den Stapel im Spülbecken.
»Mach mir ja keinen Ärger«, warnte sie ihn. »Ich habe dich bei Schwester Theresa gedeckt. Sie wollte wissen, wo du steckst, und ich habe ihr erzählt, dass du hinten im Hof bist und den Lieferwagen des Großhändlers auslädst. Wenn sie deinen Sonnenbrand und die vielen neuen Sommersprossen sieht, weiß sie, dass es eine Lüge war und du dich irgendwo in der Sonne herumgetrieben hast. Wo warst du? Jetzt sag schon, James.«
»Mach ich.« Er nahm das Geschirr in Angriff. »Versprochen. Aber lass mich zuerst diesen Berg hier wegschaffen.« Er sah sie an und warf ihr ein übermütiges Lächeln zu, das sie dahinschmelzen ließ. Das gelang ihm jedes Mal aufs Neue. Seine Haare waren feuerrot, er hatte jede Menge Sommersprossen und abstehende Ohren, doch sein Anblick ließ Kathleens Herz höherschlagen - er war herzensgut, zuverlässig wie ein Fels in der Brandung und immer guter Dinge.
In seinem Beisein arbeitete sie doppelt so schnell, schnitt die Kartoffeln zu perfekten Würfeln und mischte sie in der großen Edelstahlschüssel unter den Salat. Sie kannte James von Geburt an. Sie waren im selben Krankenhaus zur Welt gekommen, und ihre Mütter hatten beschlossen - aus welchen Gründen, wussten nur Gott, die Nonnen und ihre Mütter selbst -, sie unverzüglich in die Obhut des Kinderheims St. Augustine's zu geben, einer kirchlichen Institution, die sich in einem roten Backsteingebäude in einer ruhigen Seitenstraße eines Dubliner Wohnviertels befand. Auf Nimmerwiedersehen, Kinder.
Kathleen sah noch heute die Säuglingsabteilung von St. Augustine's vor sich, in der sie zusammen mit James gelandet war. Sie konnte sich genau daran erinnern, ungelogen, und wenn jemand behauptete, das sei unmöglich, das sei viel zu lange her, pflegte sie auf die Barrikaden zu gehen. Es war ihre älteste und nachhaltigste Erinnerung, die sie mit aller Macht verteidigte. Ihre Kinderbetten hatten nebeneinander-gestanden. Wenn sie nachts weinte und sich zu ihm umdrehte, hatte er sie mit seinen großen, blauen Augen angeschaut. Ungeachtet, wie spät es war, er war hellwach, wachte über sie. Er war immer da, an ihrer Seite.
Säuglinge und Kinder waren bis zum vierten Lebensjahr in denselben Schlafsälen untergebracht, unabhängig von der Geschlechtszugehörigkeit. Je hübscher ein Baby, desto schneller die Adoption. Vielleicht war es der Ruf der Schlaflosigkeit, der James anhaftete und eine Vermittlung während des ersten Lebensjahres verhinderte; und vermutlich war es Kathleens Neigung, sich Tag und Nacht die Augen auszuweinen, die ihre Chance auf ein neues Leben zunichtemachte. Beide wurden jedenfalls nicht adoptiert, aus welchen Gründen auch immer, und verbrachten das erste Lebensjahr zusammen.
Noch bevor sie sprechen lernten, flüsterten und lachten sie miteinander in ihrem eigenen Kauderwelsch. Sie spielten Fangen im Kleinkindertrakt, zunächst kriechend, dann mit den ersten unsicheren Schritten. James' Lieblingsspielzeug war ein Lamm aus Kordsamt und Kathleens eine Baby puppe mit roten Haaren.
Im Alter von zwei Jahren nahm eine Familie James zur Probe auf. Kathleen erinnerte sich so deutlich daran, als wäre es gestern gewesen, an das Gefühl, als hätte man ihr den rechten Arm abgehackt. Statt zu weinen, hörte sie schlagartig auf, auch nur eine Träne zu vergießen - aber sie weigerte sich auch, zu reden, zu lachen und zu essen, und litt unter Schlafstörungen. Und wenn sie schlief, hatte sie die rothaarige Puppe an sich gepresst.
Eines Nachts hatte sie durch die Gitterstäbe des Kinderbetts gegriffen, um James' Bett näher heranzuziehen, auch wenn er nicht mehr darin lag, sondern ein plumper, kahlköpfiger kleiner Junge namens Bartholomew seinen Platz eingenommen hatte. Sie wollte nur die Matratze berühren, auf der James geschlafen hatte, oder einen Zipfel seines Kopfkissens. Doch der arme Bartholomew war zu Tode erschrocken, da er nicht wusste, was sie im Sinn hatte, und hatte sich bei dem Versuch, über das Gitter zu klettern und die Flucht zu ergreifen, den Arm gebrochen.
Die Adoption auf Probe war für James nicht gut verlaufen. Er kehrte nach St. Augustine's zurück. Obwohl die offizielle Begründung lautete, er habe nachts alle Bewohner des Hauses mit einer verblüffenden Imitation der Dubliner Krähen wach gehalten, wusste Kathleen es besser. Er hatte »Kah, Kah, Kah!« gerufen. Für einige glichen die Laute denjenigen der großen Vögel, die in den Bäumen an der Serpentinenstraße nach St. Stephen's Green nisteten. Doch in Wirklichkeit bedeutete »Kah« Kathleen. Es war das erste Wort, das er gesprochen hatte.
Mit drei kam Kathleen zu einem Ehepaar, das in einem Haus in Dun Laoghaire unweit des Hafens lebte. Die beiden waren schon älter, vom Leben und ihrer Unfähigkeit enttäuscht, ein eigenes Kind zu empfangen. Im Zuge des administrativen Prozesses hatten sie gestanden, dass ihnen der Priester ihres Sprengels zu der Adoption geraten hatte, um die Ehe zu retten. Sie rochen nach Kohl und Zigaret tenrauch. Das Haus war im Gegensatz zu den weitläufigen, zugigen Räumlichkeiten des Kinderheims klein und beengt.
Kathleens Herz war schwer, sie vermisste James. Nachts weinte sie leise vor sich hin, die rothaarige Puppe dicht an ihrem Gesicht. Wenn sie sich mit aller Kraft konzentrierte, konnte sie seine Gegenwart spüren, sah seine blauen Augen durch die Gitterstäbe ihres Kinderbetts. Ihr Kummer war so groß, dass sie Fieber bekam und die Laken mit Schweiß und Tränen tränkte.
»Sie steckt voller Bakterien«, befand das Ehepaar und riss ihr die abgenutzte kleine Puppe aus den Armen. »Im Heim gibt es Krankheiten, und dieses grässliche Ding muss weg.« Sie warfen sie in den Mülleimer.
In jener Nacht kletterte Kathleen, nachdem das Ehepaar schlafen gegangen war, aus ihrem Gitterbett, tappte durch den dunklen engen Korridor und kroch rückwärts die steile Treppe hinunter. Ihr Herz war gebrochen, und obwohl sie erst drei Jahre alt war, wusste sie, dass sie nichts zu verlieren hatte. Sie öffnete den Schrank unter dem Spülbecken, wo sich der randvolle Mülleimer mit den Küchenabfällen befand. Ein Schluchzen unterdrückend, streckte sie die Arme nach oben und versuchte, mit ihren kleinen Händen hineinzugreifen, um ihre Puppe herauszuholen.
Plötzlich kippte der Mülleimer um, und Nudeln, die vor Butter trieften, Kohlblätter, Teebeutel und Zigarettenkippen regneten auf sie herab. Doch sie hatte ihre Puppe wieder und drückte sie an ihr klopfendes Herz. Vom Lärm aufgeweckt, kam das Ehepaar die Treppe heruntergelaufen. Sie schrien empört auf und versuchten, ihr die Puppe aus den Händen zu reißen. Sie war sich nicht sicher, wen von beiden sie biss - sie grub ihre Zähne mit voller Wucht in die nächstbeste Hand -, und es war ihr ehrlich gestanden egal. »James!«, schluchzte sie. »James.«
Sie war mit Abfall bedeckt, aber die beiden machten sich nicht einmal die Mühe, sie zu baden, bevor sie ins Kinderheim zurückgebracht wurde.
Mit vier wurde James in den Jungen- und Kathleen in den Mädchenflügel verlegt. Die Eingewöhnungsphase war schwierig, aber sie fanden zahlreiche Möglichkeiten, in jeder freien Minute zusammen zu sein. Das Kinderheim war ein weitläufiger, U-förmiger Bau, und jeden Abend vor dem Zubettgehen winkten sie sich vom Fenster ihres jeweiligen Schlaftrakts aus zu. Wenn Kathleen nicht schlafen konnte, eilte sie ans Fenster, und oft stand James auf der anderen Seite des Innenhofs und wachte über sie.
Jahre vergingen. Da sie Mathematik und Naturwissenschaften hasste, erledigte er die Hausaufgaben für sie. Als sie ein Weihnachtsspiel aufführten, studierte er mit ihr die Rolle der Maria ein. Als sie Läuse bekam und die Nonnen darauf bestanden, ihr die langen, dunklen Haare abzuschneiden, nahm er sie in die Arme, während sie herzergreifend schluchzte, und tröstete sie mit den Worten, sie sei das hübscheste Mädchen der Welt. Als Schwester Anastasia ihr den heißbegehrten Ausbildungsplatz als Küchenlehrling gab, übernahm er freiwillig die gleichermaßen verhasste, bis dahin tunlichst gemiedene Arbeit des Geschirrspülers.
Manchmal, wenn der Ostwind wehte und der Geruch des Meeres über die Dächer von Dublin driftete, standen sie im geteerten Innenhof und unterhielten sich über den Ausflug an den Strand, den die Nonnen mit den Kindern unternahmen. Er fand einmal im Jahr statt, im Sommer, und stellte für Kathleen und James die schönste Zeit des Lebens dar. Die Füße im Sand, durften sie nach Herzenslust schwimmen, den ganzen Tag spielen und sich so glücklich wie nur irgendein Mensch auf der Welt fühlen.
Auch wenn alle, die im Kinderheim arbeiteten, sagten, sie seien wie Bruder und Schwester, wusste Kathleen, dass sie sich täuschten. Was sie für James empfand, ging erheblich tiefer. Zugegeben, er war ihre Familie, aber ihr fehlten die unbedarften, naiven Gefühle, die Kinder und Heranwachsende ihren Geschwistern entgegenbrachten. Sie hatte freien Minute zusammen zu sein. Das Kinderheim war ein weitläufiger, U-förmiger Bau, und jeden Abend vor dem Zubettgehen winkten sie sich vom Fenster ihres jeweiligen Schlaftrakts aus zu. Wenn Kathleen nicht schlafen konnte, eilte sie ans Fenster, und oft stand James auf der anderen Seite des Innenhofs und wachte über sie.
Jahre vergingen. Da sie Mathematik und Naturwissenschaften hasste, erledigte er die Hausaufgaben für sie. Als sie ein Weihnachtsspiel aufführten, studierte er mit ihr die Rolle der Maria ein. Als sie Läuse bekam und die Nonnen darauf bestanden, ihr die langen, dunklen Haare abzuschneiden, nahm er sie in die Arme, während sie herzergreifend schluchzte, und tröstete sie mit den Worten, sie sei das hübscheste Mädchen der Welt. Als Schwester Anastasia ihr den heißbegehrten Ausbildungsplatz als Küchenlehrling gab, übernahm er freiwillig die gleichermaßen verhasste, bis dahin tunlichst gemiedene Arbeit des Geschirrspülers.
Manchmal, wenn der Ostwind wehte und der Geruch des Meeres über die Dächer von Dublin driftete, standen sie im geteerten Innenhof und unterhielten sich über den Ausflug an den Strand, den die Nonnen mit den Kindern unternahmen. Er fand einmal im Jahr statt, im Sommer, und stellte für Kathleen und James die schönste Zeit des Lebens dar. Die Füße im Sand, durften sie nach Herzenslust schwimmen, den ganzen Tag spielen und sich so glücklich wie nur irgendein Mensch auf der Welt fühlen.
Auch wenn alle, die im Kinderheim arbeiteten, sagten, sie seien wie Bruder und Schwester, wusste Kathleen, dass sie sich täuschten. Was sie für James empfand, ging erheblich tiefer. Zugegeben, er war ihre Familie, aber ihr fehlten die unbedarften, naiven Gefühle, die Kinder und Heranwachsende ihren Geschwistern entgegenbrachten. Sie hatte »Bis wir volljährig sind, nehme ich an«, erwiderte er. »Wie lange bleiben andere Jugendliche im Elternhaus?«
Zu diesem Zeitpunkt hatten beide aufgehört, zu hoffen und zu fürchten, adoptiert zu werden. Sie waren ein Teil des Kinder heims. Die Nonnen behandelten sie liebevoll und gewährten den Schützlingen, die am längsten da waren - Kathleen, James und fünf oder sechs weitere Jugendliche -, zahlreiche Vergünstigungen. Bei einer Nonne genoss James gleichwohl besondere Aufmerksamkeit.
Sie lebte nicht in St. Augustine's, gehörte aber demselben Orden an wie die Schwestern, die das Heim leiteten. Manchmal kam sie allein, manchmal in Begleitung einer sehr beleibten Nonne. Streng und unnahbar, stellte sie James Fragen, legte ihm Intelligenztests vor oder fühlte ihm in ähnlicher Weise auf den Zahn. Jedes Mal, wenn sie auftauchte, geriet Kathleen in Panik und befürchtete, die Schwester würde ihm mitteilen, dass sie ein Zuhause für ihn gefunden habe. Doch das geschah nie.
»Denkst du jemals darüber nach, woher wir kommen?«, fragte Kathleen, zerrupfte ein Weidenblatt und starrte ins Wasser. »Was meinst du damit?«
»Ich rede von deinem Vater und deiner Mutter. Deinen Eltern. Denkst du jemals an sie?«
Er schüttelte den Kopf. Sie betrachtete ihn, und sein Blick jagte ihr Angst ein. »Nie. Sie wollten mich nicht. Haben mich weggegeben. Warum sollte ich auch nur einen Gedanken an sie verschwenden?«
»Ich weiß nicht. Es kommt mir einfach natürlich vor. Du könntest die Schwester nach ihnen fragen. Die immer kommt, um dich auszuquetschen.«
»Schwester Nemesis? Oder Schwester Butterfass? Was sollten die mir schon erzählen können?«
»Nun, aus irgendeinem Grund interessieren sie sich für dich. Vielleicht wissen sie etwas über deine Herkunft und würden es dir sagen, wenn du fragst - dir den Namen deiner Eltern verraten.«
»Warum? Damit ich mich persönlich dafür bedanken kann, dass sie mich ins Heim abgeschoben haben?«
»Du denkst also doch manchmal an deine Eltern.«
»An diese lausigen Typen, die keinen Wert darauf gelegt haben, ihren eigenen Sohn kennenzulernen? Ha! Vergiss es, Kat. Und sag mir nicht, dass du an deine Eltern denkst.« Kathleen zuckte mit den Schultern. Sie wollte nicht zugeben, dass sie sogar oft an sie dachte und sich bisweilen ausmalte, dass sie gemeinsam im Heim auftauchen würden, in einer Luxuslimousine mit auffallenden silbernen Rädern. Sie würden die Treppe emporsteigen, ihre Mutter in einem kostbaren Pelzmantel, ihr Vater im Nadelstreifenanzug - wie die Adoptionsanwälte, die manchmal auf der Bildfläche erschienen und Ärger wegen des Papierkrams machten -, und erklären, dass sie zu Kathleen Murphy wollten.
Sie würden sie natürlich auf den ersten Blick ins Herz schließen. Sie würde sich in ihre Arme stürzen und aus ihrem Mund erfahren, dass alles ein schreckliches Missverständnis war. Sie hatten nie vorgehabt, sie in ein Heim zu geben ... An dieser Stelle geriet ihre Phantasie ins Stocken, doch sie konnte sich vorstellen, dass ein Gedächtnisverlust, eine finanzielle Notlage oder eine beinahe tödlich verlaufende Krankheit die Ursache war. Ihre Eltern würden ihr eröffnen, dass sie gekommen waren, um sie nach Hause zu holen, und sie würde darum bitten, James mitnehmen zu dürfen. Da ihre Eltern sie über alles liebten und ihr nichts abschlagen konnten, würden sie sofort einverstanden sein.
»Nein, ich denke nie an sie«, sagte sie nun zu James, unfähig, die Wahrheit einzugestehen, weil sie wusste, dass er es als Verrat auffassen würde.
»Gut.« Er nahm ihre Hand. »Wir sind in dieser Welt ganz auf uns alleine gestellt, Kat, vergiss das nicht.«
»Aber was ...«, begann sie bedächtig. Sie wünschte, sie könnte ihn für den Gedanken erwärmen, dass ihre Eltern möglicherweise wunderbare Menschen waren, so dass er vielleicht eher bereit sein würde, mitzukommen, wenn sie endlich erschienen, um sie abzuholen. »Was ist, wenn sie nett sind? Wenn sie uns wirklich geliebt haben, uns aber nicht behalten konnten?«
»Kathleen.« Sein Gesicht war ganz nahe, und er sah ihr so eindringlich in die Augen wie damals, als sie klein waren und ihre Betten nebeneinanderstanden. Und nun, seit jenem Kuss im Heizungsraum, ergriff ein sehnsuchtsvoller, alles andere als kindlicher Schauer ihren Körper. »Wir sind ihnen völlig egal«, fuhr er fort. »Sie haben uns weggegeben. Wir waren unerwünscht. Sie wollten uns nicht.«
»Ich will dich.« Sie drückte seine Hand, ohne genau zu wissen, was sie damit gemeint hatte oder warum ihre Kehle bei diesen Worten wie zugeschnürt war.
»Und ich will dich.« Er erwiderte den Druck. »Du gehörst zu mir und ich zu dir. So ist es nun mal, und so wird es immer sein. Deshalb wurden wir nie adoptiert - weil es uns bestimmt ist, zusammenzubleiben.«
»Und was ist, wenn wir erwachsen sind und das Heim verlassen?«
Er schüttelte den Kopf. »Mach dir darüber keine Gedanken. Ich werde für dich da sein, Kathleen. War ich das nicht immer?«
»Ja, das stimmt.«
»Du gehörst zu mir und ich zu dir«, wiederholte James, und die Art, wie sich seine Hand über ihr Handgelenk und den nackten Arm hinauf bewegte, löste ein Prickeln im ganzen Körper aus. Sein Blick erinnerte sie an die Liebesszenen aus den Videofilmen und den Kuss in besagter Dezembernacht, von dem sie geträumt hatte; bei dem Gedanken daran verging sie beinahe vor Sehnsucht.
Doch dann war es Zeit, zurückzukehren. Schwester Lucia hatte alle zum Einsteigen aufgefordert, und der Augenblick war vorüber. Kathleen hatte oft an jenen Kuss im Winter gedacht und sich seither mehr gewünscht, mehr und mehr. James hatte zahlreiche Gelegenheiten gehabt, sie im Heim zu küssen, aber er hatte sie nie ergriffen. Nicht, weil er damit gegen die Regeln verstoßen hätte - die waren ihm egal -, sondern weil es in seinen Augen unromantisch gewesen wäre. Er wünschte sich, dass der erste Kuss des Sommers von einem romantischen Zauber umgeben sein sollte.
Sie wusste, dass er auf den Strandausflug wartete. Dann würde er sie küssen. Ihre Träume würden sich an dem weißen Gestade und dem blauen Meer, das ringsum glitzerte, erfüllen. Während sie hellwach im Mädchenflügel lag, wichen die Phantasien von den leiblichen Eltern, die sie abholen kamen, ihrer Vorstellung von dem Augenblick, in dem James sie in die Arme nahm.
Dieser Traum verlieh ihr die Kraft, durchzuhalten. Sie befand sich gerade in einer schwierigen Phase. Es war nicht leicht, dreizehn zu sein. Vor allem, wenn man mit »normalen« Jugendlichen zur Schule ging, die eine richtige Familie hatten, Eltern, die ihnen schöne Kleider kauften und sie herumkutschierten, zu Footballspielen, ins Kino und zu Partys. Nicht, dass Kathleen, James und die anderen Bewohner des Heims ausgegrenzt wurden oder die Nonnen sich nicht zu vergewissern suchten, dass sie alles hatten, was sie brauchten - aber es war trotzdem schwierig. Kathleen trug die abgelegte Garderobe von Schwester Clare Joseph, einer Novizin, die letzten Herbst in den Orden eingetreten war und keine Verwendung mehr für Jeans, Pullover und die grässlichsten T-Shirts hatte, die Kathleen jemals zu sehen bekam. Am Tag des Picknicks waren alle in Hochstimmung. Schwester Anastasia eilte in die Küche, lobte Kathleens Kochkünste und half ihr, alles in Kühlboxen und Körben zu verstauen, wobei sie James' Sonnenbrand und seine Abwesenheit in der letzten Stunde geflissentlich ignorierte.
»Kathleen, du bist ein Geschenk des Himmels«, erklärte sie und nahm eine Kostprobe von dem Schinken, den Kathleen nach einem Rezept der berühmten Köchin und Kochbuchautorin Julia Child zubereitet und gewürzt hatte. »Was für ein Segen, dass wir eine derart talentierte Küchenchefin haben, stimmt's, James?«
»Finde ich auch«, erwiderte er und schrubbte die Pfannen. »Vielleicht wirst du eines Tages eine Meisterschule für Köche besuchen. Und ein eigenes Restaurant eröffnen. Du kannst sicher sein, dass wir dann alle Stammgäste werden.« »Danke, Schwester.« Kathleen glühte vor Stolz.
»Ein Restaurant«, meinte James, als Schwester Anastasia mit einer Ladung Proviant für das Picknick zu einem der beiden Vans hinauseilte, die vor der Tür parkten.
»Vielleicht koche ich aber auch nur für meine Familie.« Sie blickten sich über das Seifenwasser hinweg an, und ihr lief ein Schauer über den Rücken. Ob James den Wink mit dem Zaunpfahl verstanden hatte?
»Ja.« Seine glänzenden Augen verrieten, dass er begriffen hatte.
»Alle herkommen, auf zum Strand!«, rief Schwester Anastasia und läutete die Glocke. Die Kinder stürmten aus den Zimmern, wobei die älteren die jüngsten trugen. Einige hatten bereits ihre Badesachen angezogen. Sie hatten es offenbar nicht mehr erwarten können, dass der heißersehnte Tag begann, ungeachtet der Ermahnungen der Nonnen, sich erst nach der Ankunft umzuziehen.
Die Fahrt nach Courtown in der Grafschaft Wexford war lang und schien ewig zu dauern. Die Mädchen saßen in dem einen Kleintransporter, die Jungen in dem anderen. Schwester Lucia fuhr den Wagen mit den Mädchen, hatte einen Musik sender im Radio eingeschaltet, und alle sangen mit. Kathleen saß in der letzten Reihe. Sie drehte sich fortwährend um und spähte aus dem Rückfenster, nach James Ausschau haltend.
Am North Beach angekommen, stiegen alle in Reih und Glied aus. Decken wurden auf dem heißen Sand ausgebreitet, Wasserbälle aufgeblasen, und einige Kinder rannten unverzüglich ins Wasser. Als Kathleen T-Shirt und Shorts auszog, sah sie, wie James ihren blauen Badeanzug verstohlen musterte. Sie errötete und hoffte, dass er nichts merkte, sondern glaubte, die Hitze sei die Ursache.
Übersetzung: Ursula Bischoff
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
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Bibliographische Angaben
- Autor: Luanne Rice
- 471 Seiten, Maße: 14,5 x 22 cm, Geb. mit Su.
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3868008616
- ISBN-13: 9783868008616
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