Eine ganz andere Geschichte / Inspektor Gunnar Barbarotti Bd.2
Ein Fall für Inspektor Barbarotti. Roman. Ausgezeichnet mit dem Schwedischen Krimipreis 2007
Inspektor Barbarotti bekommt anonyme Briefe, in denen ihm Morde angekündigt werden. Vier sind schon passiert. Die Spur führt in die Bretagne, wo die Opfer zusammen ihren Urlaub verbrachten. Für Barbarotti beginnt ein gnadenloser Wettlauf mit der Zeit.
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Produktinformationen zu „Eine ganz andere Geschichte / Inspektor Gunnar Barbarotti Bd.2 “
Inspektor Barbarotti bekommt anonyme Briefe, in denen ihm Morde angekündigt werden. Vier sind schon passiert. Die Spur führt in die Bretagne, wo die Opfer zusammen ihren Urlaub verbrachten. Für Barbarotti beginnt ein gnadenloser Wettlauf mit der Zeit.
Klappentext zu „Eine ganz andere Geschichte / Inspektor Gunnar Barbarotti Bd.2 “
Ein toter Jogger und ein brutaler Mörder, der Barbarotti anonyme Briefe schreibt.Die Bretagne im Sommer: Ein paar schwedische Touristen verbringen im Finistère ein paar vergnügte Urlaubswochen. Es ist eine zusammengewürfelte Gesellschaft: zwei Paare und zwei Einzelkämpfer, alles in allem sechs Leute, die freizeitbedingt miteinander Freundschaft schließen. Sie baden, sie essen, sie machen Ausflüge und flirten ein wenig über die Ehegrenzen hinweg. Und als die Ferien vorbei sind, trennen sich ihre Wege, wie das ja oft der Fall ist. Übrig bleiben ein paar vereinzelte Fotos, womöglich ein Gruppenbild, das ein oder andere Aquarell - und ein anonymes Tagebuch, das ihre Eskapaden schildert, wie sich später herausstellen wird, als die Tragödie bereits ihren Lauf genommen hat. Denn fünf Jahre später beginnt jemand, sie zu töten, einen nach dem anderen, wobei die Morde Gunnar Barbarotti, Inspektor in Kymlinge, jeweils zuvor brieflich angekündigt werden. Der Fall erregt große Aufmerksamkeit in den Medien, die Polizei steht naturgemäß unter Druck. Der Mörder indes spielt Katz und Maus mit den Ermittlern - und erscheint unbegreiflicher und unberechenbarer als je zuvor. Was ist damals in der Bretagne wirklich passiert? Und warum bekommt ausgerechnet Inspektor Barbarotti die Briefe? Im zweiten Buch um Gunnar Barbarotti, "Eine ganz andere Geschichte", begegnen wir erneut dem geläuterten Zweifler und Gott herausfordernden Mann, den wir bereits im Kriminalroman "Mensch ohne Hund" kennengelernt haben. Seine Berufskarriere erscheint ihm immer dubioser, während sein Privatleben plötzlich völlig neue Perspektiven aufweist.
"Håkan Nesser hat in diesem Buch eine interessante Konstruktion entwickelt, die das bietet, was ein Kriminalroman haben sollte: Spannung, Suspense, eine interessante Geschichte, besondere Figuren und immer wieder überraschende Wendepunkte." -- Focus online
"Ein faszinierender Krimi, intelligent konstruiert, gut geschrieben und mit hervorragenden Charakteren besetzt. Nesser in bester Form." -- Münchner Merkur
"... Fortsetzung dringend erwünscht." -- NDR
"Ein faszinierender Krimi, intelligent konstruiert, gut geschrieben und mit hervorragenden Charakteren besetzt. Nesser in bester Form." -- Münchner Merkur
"... Fortsetzung dringend erwünscht." -- NDR
Lese-Probe zu „Eine ganz andere Geschichte / Inspektor Gunnar Barbarotti Bd.2 “
Eine ganz andere Geschichte von Hakan NesserAufzeichnungen aus Mousterlin 29. Juni 2002
Ich bin nicht wie andere Menschen. Und ich will es auch gar nicht sein. Sollte ich jemals eine Gruppe finden, in der ich mich heimisch fühle, dann bedeutet das nur, dass ich abgestumpft bin. Dass auch ich zum Urgebirge der Gewohnheiten und Dummheiten abgeschliffen wurde. Es ist, wie es ist, nichts vermag diese grundlegenden Voraussetzungen zu ändern.
Ich weiß, dass ich auserwählt bin. Vielleicht war es ein Fehler, hierzubleiben. Vielleicht hätte ich meinem ersten Impuls folgen und nein sagen sollen. Aber das Gesetz des geringsten Widerstands ist stark, und Erik hat mich in den ersten Tagen interessiert, er ist zumindest kein Durchschnittsmensch. Außerdem hatte ich keine festen Pläne, keine Strategie für mein Reisen.
In den Süden, das einzig Wichtige war, in den Süden zu kommen. Aber heute Abend bin ich unsicherer. Es gibt nichts, was mich hier hält, ich kann jeden Moment meinen Rucksack packen und weiterziehen, und wenn sonst nichts, so empfinde ich zumindest diese Tatsache als eine gute Versicherung für die Zukunft. Mir kommt in den Sinn, dass ich sogar jetzt gehen könnte, in diesem Moment, es ist zwei Uhr, die monotone Stimme des Meeres ist nur ein paar hundert Meter entfernt in der Dunkelheit auf der Terrasse zu hören, auf der ich sitze und schreibe.
Ich weiß, dass die Flut kommt, ich könnte hinunter zum Strand gehen und ostwärts wandern, nichts wäre leichter als das. Eine gewisse Trägheit, zusammen mit Müdigkeit und Alkohol im Blut, hält mich jedoch zurück. Zumindest bis morgen. Vermutlich noch einige Tage mehr. Ich habe überhaupt keine Eile, und vielleicht lasse ich mich ja von der Rolle des Beobachters verlocken.
Vielleicht gibt es Dinge, über die ich schreiben kann. Als ich Doktor L von meinen
... mehr
Plänen erzählt habe, eine längere Reise zu unternehmen, sah er zunächst nicht besonders begeistert aus, aber als ich ihm erklärt habe, dass ich Zeit in einer fremden Umgebung bräuchte, um nachzudenken und um das schriftlich festzuhalten, was passiert ist und dass das der eigentliche Zweck der Reise war , da nickte er zustimmend; und schließlich wünschte er mir sogar Glück, und ich hatte das Gefühl, dass diese Wünsche wirklich von Herzen kamen.
Ich war ja mehr als ein Jahr in seiner Obhut gewesen, dann muss es wohl wie ein Triumph sein, wenn man tatsächlich einmal einen Klienten in die Freiheit entlassen kann. Was Erik betrifft, so ist es natürlich sehr großzügig von ihm, mich hier kostenlos wohnen zu lassen. Er hat behauptet, dass er das Haus zusammen mit einer Freundin gemietet hat, die Beziehung aber beendet wurde, als es schon zu spät war, um zu stornieren. Ich habe zunächst geglaubt, dass er lügt, nahm an, er wäre schwul und wollte mich als sein Spielzeug haben, aber so ist es offensichtlich nicht. Ich glaube nicht, dass er homosexuell ist, bin mir aber keineswegs sicher.
Möglicherweise ist er ja bi, er ist nicht gerade unkompliziert, der Erik. Und wahrscheinlich halte ich es deshalb mit ihm aus, es gibt da dunkle Ecken, die mir zusagen, jedenfalls solange sie noch unerforscht sind. Und er hat reichlich Geld, das Haus ist groß genug, dass wir nicht aufeinanderhocken müssen. Wir sind übereingekommen, dass wir das Haushaltsgeld teilen, aber wir teilen noch etwas anderes. Eine Art Respekt vielleicht.
Es sind jetzt vier Tage vergangen, seit er mich vor Lille aufgesammelt hat, drei, seit wir hier sind. Normalerweise werde ich Menschen bereits nach einem Bruchteil dieser Zeit überdrüssig.
Aber heute Nacht während ich schreibe werde ich wie gesagt zum ersten Mal von ernsthaften Zweifeln befallen. Es begann mit einem sich lang dahinziehenden Lunch im Hafen von Bénodet heute Nachmittag, mir war schnell klar, dass es sich um den Eröffnungszug für einen anstrengenden Abend handelte. So etwas merkt man. Ein Gedanke schwebte mir im Kopf herum nachdem wir endlich Platz in dem chaotischen Restaurant gefunden hatten und es uns schließlich gelungen war, dem Kellner unsere Bestellung klarzumachen: Bring die ganze Bagage um und hau ab.
Das wäre das Einfachste für alle Beteiligten gewesen, und es hätte mich nicht die Bohne berührt. Wenn ich nur eine Methode gehabt hätte. Oder zumindest eine Waffe und einen Fluchtweg. Vielleicht war es auch nur eine Idee, die aus der Tatsache geboren wurde, dass es so heiß war. Der Weg zwischen starker Hitze und Wahnsinn ist kurz. Wir hatten den Tisch zur Seite geschoben, den Sonnenschirm hin und her gezogen, um Schatten zu bekommen, aber ich landete immer wieder in der Sonne besonders, wenn ich mich auf meinem Stuhl zurücklehnte , und das war alles andere als bequem.
Das ganze Dasein fühlte sich wie ein einziger Juckreiz an. Eine vibrierende Irritation, die auf eine Art unerbittlichen Punkt zutickte. Überhaupt war die ganze Aktion eine infame Dummheit. Vielleicht geschah sie gar nicht auf direkte Initiative eines Einzelnen hin, vielleicht war es nur eine Frage von allgemeiner, falsch geleiteter Rücksicht. Eine Gruppe von Landsleuten, die auf einem samstäglichen Markt in einem kleinen bretonischen Ort aufeinanderstoßen.
Gut möglich, dass die guten Sitten in so einer Lage ein bestimmtes Verhalten erfordern. Gewisse Riten. Ich verabscheue die guten Sitten genauso sehr, wie ich Leute verabscheue, die nach ihnen leben. Es ist auch möglich, dass ich eine Gruppe von Ungarn an einem Restauranttisch in Stockholm oder Malmö auf andere Weise betrachtet hätte, es ist das Innenleben der Gruppe, das ich nur schwer ertrage, das äußere Bild interessiert mich nicht.
Etwas zu wissen und zu durchschauen, ist oft schlimmer, als ignorant zu sein. Oder so zu tun, als wäre man ignorant. Es ist einfacher, in einem Land zu leben, in dem man die Sprache nicht voll und ganz versteht. Von Französisch, der Sprache, die uns momentan umgibt, wird beispielsweise behauptet, dass sie am ausdrucksvollsten ist, wenn man nicht ganz begreift, was eigentlich gesagt wird. Aber man sieht mir nie an, was ich denke, ich bin da auf der Hut.
Ich fluche innerlich, während ich lache und schmunzle, lache und schmunzle. Ich habe gelernt, mein Leben so zu meistern. Navigare necesse est. Es kann sogar sein, dass die anderen mich sympathisch finden. Die Gedanken sind nicht gefährlich, solange sie nur Gedanken bleiben, das ist natürlich eine Weisheit, die stimmt wie viele andere auch.
Es handelte sich also um zwei Paare. Anfangs war ich davon ausgegangen, dass sie sich kannten, vielleicht zusammen Urlaub machten aber dem war nicht so. Wir stießen ganz einfach alle sechs zufällig zwischen den Ständen auf dem Wochenmarkt zusammen, selbst gemachter Käse, selbst gemachte Marmeladen, selbst gemachter Muscadet, Cidre und gestrickte Tücher; vielleicht war es ja eine der beiden Frauen, auf die Erik scharf war. Sie sind beide jung und verhältnismäßig schön, vielleicht war er sogar auf beide scharf, er entwickelte tatsächlich so einigen Charme, während wir dasaßen, in unseren Schalentieren stocherten und eine Weinflasche nach der anderen leerten.
Ich ja vielleicht auch. Und dann diese sonderbare Verbindung zu Kymlinge. Erik hat offensichtlich sein ganzes Leben lang in dieser Stadt gelebt, die Frau des einen Paares ist dort aufgewachsen, aber nach Göteborg gezogen, die andere Frau lebt seit ihrem zehnten Lebensjahr in Kymlinge.
Keiner der drei kannte einen der anderen in irgendeiner Art und Weise, aber diese geografische Merkwürdigkeit fanden alle interessant. Unwiderstehlich. Sogar Erik.
Was mich selbst betraf, fand ich sie äußerst ekelhaft. Als hätten sie einen Charterbus hierher genommen und könnten jetzt in der kleinen französischen Stadt sitzen und sich an den Sitten und Besonderheiten der Eingeborenen weiden und sie mit denen der Leute daheim vergleichen. In Kymlinge und anderswo.
Ich trank drei Glas kalten Weißwein vor dem Hauptgericht, während eine Art äußerst vertrauter Verzweiflung von mir Besitz nahm, wie ich so dasaß und in der Sonne schwitzte. Ein Juckreiz, wie gesagt. Was meine eigene Beziehung zu Kymlinge betraf, zog ich es vor zu schweigen. Ich bin mir sicher, dass niemand der anderen weiß, wer ich bin, sonst könnte ich hier unmöglich weiter dabeisitzen. Henrik und Katarina Malmgren hieß das eine Paar.
Sie ist diejenige, die in Kymlinge aufgewachsen ist, aber inzwischen wohnen sie in Mölndal. Sie sind beide in den Dreißigern, sie arbeitet im Sahlgrenschen Krankenhaus, er ist irgendeine Art von Akademiker. Sie sind offenbar verheiratet, haben aber keine Kinder. Sie sieht ansonsten aus wie eine Frau, die schwanger werden kann und will, wenn es also irgendwelche medizinischen Probleme gibt, sind sie sicher bei ihm zu suchen. Trocken und angespannt, rötliche Haut, vermutlich bekommt er schnell Sonnenbrand, vielleicht fühlte er sich beim Mittagessen genauso unwohl wie ich, zumindest hatte ich fast den Eindruck.
Wahrscheinlich sitzt er lieber vor einem Computerbildschirm oder zwischen verstaubten Büchern als unter Menschen, man kann sich fragen, wie die beiden überhaupt zusammengekommen sind. Das andere Paar heißt Gunnar und Anna. Sie sind nicht verheiratet, wohnen offenbar nicht einmal zusammen. Eine Weile haderten sie wohl mit ihrer natürlichen Oberflächlichkeit, versuchten sich den Anschein zu geben, sie hätten Dinge durchdacht und wären zu einer Art Lebenseinstellung gekommen. Was natürlich ziemlich schnell in sich zusammenfiel, beiden wäre am besten damit gedient, wenn sie eine konsequent schweigende Haltung annähmen, ganz besonders ihr.
Er ist irgendsoein Lehrer, die Details sind mir nicht ganz klar geworden, sie arbeitet in einem Werbebüro. Wahrscheinlich in irgendeiner Art kundennaher Funktion, ihr Gesicht und ihre obere Körperhälfte sind zweifellos ihr größtes Kapital.
Es kam auch heraus, dass sie sich gerade gemeinsam einen Traber angeschafft hatten oder zumindest im Begriff standen, das zu tun. Aus irgendeiner unergründlichen Ursache spricht Katarina Malmgren fast fließend französisch, eine Fähigkeit, die keiner von uns anderen auch nur annähernd erreichen kann, und während des Essens erhielt sie dadurch den unverdienten Status einer Art von Orakel. Wir aßen mindestens acht verschiedene Sorten von Schalentieren, und sie unterhielt sich mit dem Kellner über jedes einzelne.
Korken mit Nadeln drin, um die widerspenstigen Bewohner aus der Schale zu ziehen wenn man zum Schluss die kleinen Muskeln im Mund hat, weiß man nie, ob sie noch leben oder tot sind. Soweit ich verstanden habe, geht es darum, sie totzubeißen, bevor man sie hinunterschluckt.
Erik kümmerte sich um die Getränkefrage, wir begannen mit normalem, trockenem Weißen, gingen aber nach drei Flaschen zum Cidre der Gegend über, einem starken, süßen Rattengift, das uns zu zwei Stunden Mittagsschlaf nach dem Essen zwang.
Dann verbrachten wir den Abend bei Gunnar und Anna. Sie wohnen nur ein paar hundert Meter von hier entfernt, den Strand hinunter Richtung Beg-Meil, ein weiteres kleines, pittoreskes Haus, versteckt in den Dünen.
Wir saßen alle sechs auf ihrer Terrasse, aßen weitere Schalentiere, schütteten Wein und Calvados in uns hinein. Gunnar sang auch noch zur Gitarre. Evert Taube, Beatles und Olle Adolphson. Wir übrigen sprangen ein, wenn wir an der Reihe waren. Es war nicht schwer zu behaupten, dass es ein fast verzauberter Abend war. Irgendwann gegen Mitternacht waren wir so betrunken, dass die Rede auf ein Nacktbad im Meer kam.
Ein begeistertes Quartett, bestehend aus den beiden Damen sowie Erik und Gunnar, begab sich mit einer Flasche moussierendem Wein auf den Weg, die Arme umeinander verschränkt. Ich selbst blieb mit Henrik auf dem Trockenen, hätte natürlich nachfragen können, womit er sich eigentlich beschäftigte, welcher Forschung genau er seine Zeit widmete, aber ich hatte keine Lust mit ihm zu reden.
Es war schöner, nur dazusitzen und am Calva zu schnuppern, zu rauchen und in die Dunkelheit zu starren. Er machte ein paar zögerliche Versuche, ein Gespräch über irgendwelche Besonderheiten der Leute hier im Finistère in Gang zu bringen, aber ich ermunterte ihn nicht. Also verstummte er ziemlich schnell, wahrscheinlich ist er genauso wenig an meinen Ansichten über dies oder jenes interessiert wie ich an seinen.
Er scheint trotz allem eine Art verhüllte Integrität in seiner trockenen Art zu haben. Es schien, als säßen wir beide da und horchten auf unsere badenden Freunde dort draußen in der Dunkelheit, er hatte natürlich bessere Gründe als ich, hellhörig zu sein, schließlich war es seine Ehefrau und nicht meine, die sich zusammen mit drei fremden Menschen nackt ausgezogen hatte.
Es ist mehr als fünf Jahre her, dass ich eine Ehefrau gehabt habe, manchmal vermisse ich sie, aber meistens nicht. Als die Gesellschaft zurückkehrte, waren sie jedenfalls sittsam in Badelaken gehüllt, sie erschienen insgesamt gedämpfter als bei ihrem Aufbruch, und mir kam unbewusst der Gedanke, dass sie ein Geheimnis teilten.
Dass etwas passiert sein könnte und sie etwas verbargen. Aber vielleicht waren sie auch nur betrunken und müde. Und abgekühlt. Der Atlantik im Juni liegt weit unter der ZwanzigGrad-Marke. Nachdem sie zurückgekommen waren, blieben wir höchstens noch eine halbe Stunde.
Als Erik und ich den Strand entlang zu unserem Haus gingen, hatte er offensichtlich Schwierigkeiten, sich auf den Beinen zu halten, und er fiel sofort in Tiefschlaf, sobald wir im Haus angekommen waren, ohne auch nur die Sandalen auszuziehen. Was mich selbst betrifft, bin ich überraschend klar im Kopf. Fast analytisch. Worte und Gedanken haben eine Deutlichkeit, wie sie sie nur des Nachts bekommen können. In gewissen Nächten.
Das Meer ist dort draußen in der Dunkelheit zu spüren, sicher sind es immer noch fünfundzwanzig Grad Lufttemperatur. Insekten fliegen gegen die Lampe, ich zünde mir eine Gauloise an und trinke das letzte Glas für diesen Tag. Erik schläft bei offenem Fenster, ich kann sein Schnarchen hören, er hat gut und gern zwei Liter Wein im Blut.
Es ist ein paar Minuten nach zwei, es ist schön, endlich allein zu sein. Das Paar Malmgren hat sein Haus in der anderen Richtung, auf der anderen Seite der Mousterlinbucht. Insgesamt, die ganze Küste entlang, gibt es bestimmt an die fünfzig Hütten zu mieten, die meisten natürlich ein paar Kilometer landeinwärts, und vielleicht ist es gar nichts Besonderes, dass drei von ihnen an Schweden vermietet sind. Nach allem, was ich von Erik gehört habe, sind sie nicht über die gleiche Agentur gegangen, aber die anderen sind im Großen und Ganzen seit genauso kurzer Zeit da wie wir.
Drei Wochen mögliches Zusammensein liegen vor uns. Plötzlich stelle ich fest, dass ich dasitze und an Anna denke. Ganz gegen meinen Willen, aber da war etwas an ihrem nackten Gesicht und ihrem nassen Haar, als sie vom Baden zurückkam.
Und dieses schlechte Gewissen, wie gesagt. In Katarinas Augen war es etwas anderes, eine Art Sehnsucht. Ich hätte natürlich auch Henriks Gesicht mustern müssen, um einen Kontrapunkt zu haben, aber dem war nun einmal nicht so.
Die Rolle des Beobachters ist nicht immer einfach einzuhalten. Leben oder sterben, das spielt keine Rolle, denke ich. Ich weiß nicht, warum ich gerade das denke. Eine Hülle, wir sind nur eine Hülle in der Ewigkeit.
Kommentar, Juli 2007
Es sind fünf Jahre vergangen.
Es könnten genauso gut fünfzehn Jahre oder fünf Monate gewesen sein.
Die Elastizität der Zeit ist auffallend, alles beruht darauf, welchen Ausgangspunkt ich wähle, von dem aus ich meine Betrachtungen anstelle. Manchmal kann ich Annas Gesicht ganz deutlich vor mir sehen, als säße sie mir im Zimmer gegenüber, und im nächsten Moment kann ich diese sechs Menschen sehen, mit mir selbst dabei, aus hoher Höhe Ameisen am Strand, die in vergeblichen, sinnlosen Pirouetten herumirren. Im kalten Licht der Ewigkeit und in der Dreieinigkeit von Meer, Erde und Himmel erscheint unsere Unachtsamkeit fast lächerlich. Als hätten sie eigentlich weiterleben können. Als hätte nicht einmal ihr Tod genügend Gewicht und Bedeutung.
Aber ich habe einen Entschluss gefasst und werde durchführen, was ich entschieden habe. Die Ereignisse müssen Konsequenzen haben, sonst entgleist die Schöpfung. Einem Entschluss muss gefolgt werden; wenn er erst einmal gefasst wurde, darf er nicht länger in Frage gestellt werden. Diesen dünnen Strich der Ordnung ins Chaos zu zeichnen, das ist alles, was wir vermögen, unsere gesamte Pflicht als moralische Individuen beruht darauf.
Und sie verdienen es. Die Götter mögen wissen, dass sie es verdienen.
Das Erste, was mich verblüfft, ist ihre Ahnungslosigkeit. Wie wenig sie an diesem ersten Abend verstanden haben. Diese sechs Menschen in ihren Häusern am Strand; ich hätte meinen Rucksack packen und diesen flachen Küstenstreifen bereits am folgenden Tag verlassen können; hätte ich es getan, wäre alles anders gekommen. Aber vielleicht hatte ich gar keine andere Wahl.
Es ist ja interessant, dass ich diesen Gedanken dort im Restaurant in Bénodet tatsächlich bereits dachte. Bring die ganze Bagage um und hau ab.
Es war bereits da, bereits in diesem Augenblick gab es etwas in mir, das begriff, was so viele Jahre später kommen würde. Ich habe mich entschieden, wer der Erste werden soll. Die Reihenfolge an sich ist nicht unwesentlich.
24. Juli 1. August 2007
1
Kriminalinspektor Gunnar Barbarotti zögerte kurz. Dann verriegelte er das Sicherheitsschloss. Es gehörte nicht zu seinen Gewohnheiten. Manchmal machte er sich nicht einmal die Mühe, die Tür überhaupt abzuschließen.
Wenn jemand einbrechen will, dann schafft er es so oder so, wie er zu denken pflegte, dann ist es doch nicht nötig, dass auch noch alles Mögliche beschädigt werden muss. Möglicherweise zeugten derartige Gedanken von einer Art Defaitismus, möglicherweise zeugten sie von einem mangelnden Vertrauen in die Berufsgruppe, die er doch selbst repräsentierte; er bildete sich ein, dass keins von beidem wirklich unvereinbar war mit seinem Weltbild.
Lieber Realist als Fundamentalist, das stand auf jeden Fall fest, wobei ein paar Indizien eindeutig in die eine oder andere Richtung gingen. Sagte er sich und wunderte sich gleichzeitig darüber, wie die Frage, ob eine Tür verschlossen werden sollte oder nicht, so viel graue Theorie gebären konnte. Aber es schadete ja nicht, das Gehirn schon am frühen Morgen in Gang zu setzen, oder?
Seit er in seine armselige Dreizimmerwohnung in der Baldersgatan in Kymlinge gezogen war, vor fünfeinhalb Jahren und in Zusammenhang mit seiner Scheidung, hatte er jedenfalls noch nie ungebetenen Besuch gehabt bis auf den einen oder anderen zweifelhaften Schulkameraden seiner Tochter Sara, den sie angeschleppt hatte. Man soll an das Gute in seinen Mitmenschen glauben, bis einem das Gegenteil bewiesen wird, dieses Prinzip hatte ihm seine optimistische Mutter versucht einzuprägen, seit er in der Lage war, dass ihm etwas eingetrichtert werden konnte, und es war natürlich ein Lebensmotto, das ebenso gut war wie jedes andere.
Ansonsten musste es sich um einen besonders blöden Einbrecher handeln, der sich einbildete, hinter einer trivialen Mahagonilaminattür wie dieser hier könnten sich diebstahls- und verkaufswürdige Dinge befinden. Das war auch eine Art von Realismus. Aber jetzt schloss er wie gesagt beide Schlösser ab. Was seinen Grund hatte. Die Wohnung sollte zehn Tage leer stehen. Weder er noch seine Tochter sollten einen Fuß hineinsetzen.
Sara hatte das übrigens bereits seit mehr als einem Monat nicht mehr getan; direkt nach dem Abitur Anfang Juni hatte sie sich nach London begeben und dort angefangen, in einer Boutique zu arbeiten vielleicht auch in einem Pub, was sie dann allerdings verschwieg, um ihren Vater nicht unnötig zu beunruhigen so war jetzt also die Lage.
Sie war neunzehn Jahre alt, und das Gefühl, amputiert zu werden, als sie abgefahren war, begann ihn langsam zu verlassen. Sehr langsam. Der Gedanke, dass sie nie wieder unter einem Dach leben würden, bohrte sich ungefähr im gleichen Rhythmus in sein Vaterherz. Aber alles hat seine Zeit, dachte Gunnar Barbarotti stoisch und schob den Schlüsselbund in die Jeanstasche.
Und jedes Vorhaben unterm Himmel hat seine Zeit. Zusammenleben, sich trennen und sterben. Er hatte vor ungefähr einem halben Jahr angefangen, in der Bibel zu lesen, und zwar auf Anraten von Gott Vater selbst, und es war schon sonderbar, wie oft Worte und Verse daraus in seinem Kopf auftauchten.
Auch wenn du wirklich nicht existierst, lieber Herr, dachte er oft, so muss ich doch zugeben, dass die Heilige Schrift ein verblüffend gutes Buch ist. Zumindest teilweise.
Dem konnte Unser Herr nur zustimmen. Er nahm seine Reisetasche in die eine Hand, den vollgestopften Müllbeutel in die andere und ging die Treppe hinunter. Spürte plötzlich eine aufkeimende Freude im Körper.
Es hatte irgendwie damit zu tun, dass er die Treppen hinunterging; er hatte sich das schon oft vorgestellt, mit einer einigermaßen hohen Geschwindigkeit eine angenehm sich drehende Treppe hinunterzulaufen auf dem Weg in die brodelnde Vielfalt des Lebens.
Aber war nicht Bewegung der eigentliche Kern des Lebens? Gerade so eine schwingende Bewegung ohne jede Anstrengung? Das Abenteuer, das hinter der Ecke wartete? Ausgerechnet heute stand außerdem noch das Fenster im Treppenhaus sperrangelweit offen, der Hochsommer drängte sich herein, der Duft von frisch gemähtem Rasen reizte die Nasenflügel, und fröhliches Kinderlachen war unten vom Hof her zu hören.
Ein Mädchen, das wie ein abgestochenes Schwein schrie, auch, aber man musste ja nicht auf alles hören, was sich einem bot. Der Briefträger war offenbar Tangotänzer in seiner Freizeit, denn durch einen äußerst eleganten Schritt zurück vermied er es, von der Reisetasche niedergestreckt zu werden.
»Hoppla. Auf dem Weg in den Urlaub?«
»Oh, Entschuldigung«, sagte Gunnar Barbarotti. »Habe wohl ein bisschen zu viel Schwung drauf ... ja, genau.«
»Ins Ausland?«
»Nein, dieses Mal muss Gotland reichen.«
»Es gibt ja auch keinen Grund, Schweden zu dieser Jahreszeit zu verlassen«, erklärte der ungewohnt redselige Briefträger und zeigte dabei hinaus auf den Hof. »Wollen Sie die heutige Ausbeute mitnehmen, oder soll ich sie in den Kasten stecken, damit Sie noch eine Weile davon verschont bleiben?«
Gunnar Barbarotti dachte einen Moment lang nach.
»Her damit. Aber keine Reklame.«
Übersetzung: Christel Hildebrandt
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2008 by btb Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München
Ich war ja mehr als ein Jahr in seiner Obhut gewesen, dann muss es wohl wie ein Triumph sein, wenn man tatsächlich einmal einen Klienten in die Freiheit entlassen kann. Was Erik betrifft, so ist es natürlich sehr großzügig von ihm, mich hier kostenlos wohnen zu lassen. Er hat behauptet, dass er das Haus zusammen mit einer Freundin gemietet hat, die Beziehung aber beendet wurde, als es schon zu spät war, um zu stornieren. Ich habe zunächst geglaubt, dass er lügt, nahm an, er wäre schwul und wollte mich als sein Spielzeug haben, aber so ist es offensichtlich nicht. Ich glaube nicht, dass er homosexuell ist, bin mir aber keineswegs sicher.
Möglicherweise ist er ja bi, er ist nicht gerade unkompliziert, der Erik. Und wahrscheinlich halte ich es deshalb mit ihm aus, es gibt da dunkle Ecken, die mir zusagen, jedenfalls solange sie noch unerforscht sind. Und er hat reichlich Geld, das Haus ist groß genug, dass wir nicht aufeinanderhocken müssen. Wir sind übereingekommen, dass wir das Haushaltsgeld teilen, aber wir teilen noch etwas anderes. Eine Art Respekt vielleicht.
Es sind jetzt vier Tage vergangen, seit er mich vor Lille aufgesammelt hat, drei, seit wir hier sind. Normalerweise werde ich Menschen bereits nach einem Bruchteil dieser Zeit überdrüssig.
Aber heute Nacht während ich schreibe werde ich wie gesagt zum ersten Mal von ernsthaften Zweifeln befallen. Es begann mit einem sich lang dahinziehenden Lunch im Hafen von Bénodet heute Nachmittag, mir war schnell klar, dass es sich um den Eröffnungszug für einen anstrengenden Abend handelte. So etwas merkt man. Ein Gedanke schwebte mir im Kopf herum nachdem wir endlich Platz in dem chaotischen Restaurant gefunden hatten und es uns schließlich gelungen war, dem Kellner unsere Bestellung klarzumachen: Bring die ganze Bagage um und hau ab.
Das wäre das Einfachste für alle Beteiligten gewesen, und es hätte mich nicht die Bohne berührt. Wenn ich nur eine Methode gehabt hätte. Oder zumindest eine Waffe und einen Fluchtweg. Vielleicht war es auch nur eine Idee, die aus der Tatsache geboren wurde, dass es so heiß war. Der Weg zwischen starker Hitze und Wahnsinn ist kurz. Wir hatten den Tisch zur Seite geschoben, den Sonnenschirm hin und her gezogen, um Schatten zu bekommen, aber ich landete immer wieder in der Sonne besonders, wenn ich mich auf meinem Stuhl zurücklehnte , und das war alles andere als bequem.
Das ganze Dasein fühlte sich wie ein einziger Juckreiz an. Eine vibrierende Irritation, die auf eine Art unerbittlichen Punkt zutickte. Überhaupt war die ganze Aktion eine infame Dummheit. Vielleicht geschah sie gar nicht auf direkte Initiative eines Einzelnen hin, vielleicht war es nur eine Frage von allgemeiner, falsch geleiteter Rücksicht. Eine Gruppe von Landsleuten, die auf einem samstäglichen Markt in einem kleinen bretonischen Ort aufeinanderstoßen.
Gut möglich, dass die guten Sitten in so einer Lage ein bestimmtes Verhalten erfordern. Gewisse Riten. Ich verabscheue die guten Sitten genauso sehr, wie ich Leute verabscheue, die nach ihnen leben. Es ist auch möglich, dass ich eine Gruppe von Ungarn an einem Restauranttisch in Stockholm oder Malmö auf andere Weise betrachtet hätte, es ist das Innenleben der Gruppe, das ich nur schwer ertrage, das äußere Bild interessiert mich nicht.
Etwas zu wissen und zu durchschauen, ist oft schlimmer, als ignorant zu sein. Oder so zu tun, als wäre man ignorant. Es ist einfacher, in einem Land zu leben, in dem man die Sprache nicht voll und ganz versteht. Von Französisch, der Sprache, die uns momentan umgibt, wird beispielsweise behauptet, dass sie am ausdrucksvollsten ist, wenn man nicht ganz begreift, was eigentlich gesagt wird. Aber man sieht mir nie an, was ich denke, ich bin da auf der Hut.
Ich fluche innerlich, während ich lache und schmunzle, lache und schmunzle. Ich habe gelernt, mein Leben so zu meistern. Navigare necesse est. Es kann sogar sein, dass die anderen mich sympathisch finden. Die Gedanken sind nicht gefährlich, solange sie nur Gedanken bleiben, das ist natürlich eine Weisheit, die stimmt wie viele andere auch.
Es handelte sich also um zwei Paare. Anfangs war ich davon ausgegangen, dass sie sich kannten, vielleicht zusammen Urlaub machten aber dem war nicht so. Wir stießen ganz einfach alle sechs zufällig zwischen den Ständen auf dem Wochenmarkt zusammen, selbst gemachter Käse, selbst gemachte Marmeladen, selbst gemachter Muscadet, Cidre und gestrickte Tücher; vielleicht war es ja eine der beiden Frauen, auf die Erik scharf war. Sie sind beide jung und verhältnismäßig schön, vielleicht war er sogar auf beide scharf, er entwickelte tatsächlich so einigen Charme, während wir dasaßen, in unseren Schalentieren stocherten und eine Weinflasche nach der anderen leerten.
Ich ja vielleicht auch. Und dann diese sonderbare Verbindung zu Kymlinge. Erik hat offensichtlich sein ganzes Leben lang in dieser Stadt gelebt, die Frau des einen Paares ist dort aufgewachsen, aber nach Göteborg gezogen, die andere Frau lebt seit ihrem zehnten Lebensjahr in Kymlinge.
Keiner der drei kannte einen der anderen in irgendeiner Art und Weise, aber diese geografische Merkwürdigkeit fanden alle interessant. Unwiderstehlich. Sogar Erik.
Was mich selbst betraf, fand ich sie äußerst ekelhaft. Als hätten sie einen Charterbus hierher genommen und könnten jetzt in der kleinen französischen Stadt sitzen und sich an den Sitten und Besonderheiten der Eingeborenen weiden und sie mit denen der Leute daheim vergleichen. In Kymlinge und anderswo.
Ich trank drei Glas kalten Weißwein vor dem Hauptgericht, während eine Art äußerst vertrauter Verzweiflung von mir Besitz nahm, wie ich so dasaß und in der Sonne schwitzte. Ein Juckreiz, wie gesagt. Was meine eigene Beziehung zu Kymlinge betraf, zog ich es vor zu schweigen. Ich bin mir sicher, dass niemand der anderen weiß, wer ich bin, sonst könnte ich hier unmöglich weiter dabeisitzen. Henrik und Katarina Malmgren hieß das eine Paar.
Sie ist diejenige, die in Kymlinge aufgewachsen ist, aber inzwischen wohnen sie in Mölndal. Sie sind beide in den Dreißigern, sie arbeitet im Sahlgrenschen Krankenhaus, er ist irgendeine Art von Akademiker. Sie sind offenbar verheiratet, haben aber keine Kinder. Sie sieht ansonsten aus wie eine Frau, die schwanger werden kann und will, wenn es also irgendwelche medizinischen Probleme gibt, sind sie sicher bei ihm zu suchen. Trocken und angespannt, rötliche Haut, vermutlich bekommt er schnell Sonnenbrand, vielleicht fühlte er sich beim Mittagessen genauso unwohl wie ich, zumindest hatte ich fast den Eindruck.
Wahrscheinlich sitzt er lieber vor einem Computerbildschirm oder zwischen verstaubten Büchern als unter Menschen, man kann sich fragen, wie die beiden überhaupt zusammengekommen sind. Das andere Paar heißt Gunnar und Anna. Sie sind nicht verheiratet, wohnen offenbar nicht einmal zusammen. Eine Weile haderten sie wohl mit ihrer natürlichen Oberflächlichkeit, versuchten sich den Anschein zu geben, sie hätten Dinge durchdacht und wären zu einer Art Lebenseinstellung gekommen. Was natürlich ziemlich schnell in sich zusammenfiel, beiden wäre am besten damit gedient, wenn sie eine konsequent schweigende Haltung annähmen, ganz besonders ihr.
Er ist irgendsoein Lehrer, die Details sind mir nicht ganz klar geworden, sie arbeitet in einem Werbebüro. Wahrscheinlich in irgendeiner Art kundennaher Funktion, ihr Gesicht und ihre obere Körperhälfte sind zweifellos ihr größtes Kapital.
Es kam auch heraus, dass sie sich gerade gemeinsam einen Traber angeschafft hatten oder zumindest im Begriff standen, das zu tun. Aus irgendeiner unergründlichen Ursache spricht Katarina Malmgren fast fließend französisch, eine Fähigkeit, die keiner von uns anderen auch nur annähernd erreichen kann, und während des Essens erhielt sie dadurch den unverdienten Status einer Art von Orakel. Wir aßen mindestens acht verschiedene Sorten von Schalentieren, und sie unterhielt sich mit dem Kellner über jedes einzelne.
Korken mit Nadeln drin, um die widerspenstigen Bewohner aus der Schale zu ziehen wenn man zum Schluss die kleinen Muskeln im Mund hat, weiß man nie, ob sie noch leben oder tot sind. Soweit ich verstanden habe, geht es darum, sie totzubeißen, bevor man sie hinunterschluckt.
Erik kümmerte sich um die Getränkefrage, wir begannen mit normalem, trockenem Weißen, gingen aber nach drei Flaschen zum Cidre der Gegend über, einem starken, süßen Rattengift, das uns zu zwei Stunden Mittagsschlaf nach dem Essen zwang.
Dann verbrachten wir den Abend bei Gunnar und Anna. Sie wohnen nur ein paar hundert Meter von hier entfernt, den Strand hinunter Richtung Beg-Meil, ein weiteres kleines, pittoreskes Haus, versteckt in den Dünen.
Wir saßen alle sechs auf ihrer Terrasse, aßen weitere Schalentiere, schütteten Wein und Calvados in uns hinein. Gunnar sang auch noch zur Gitarre. Evert Taube, Beatles und Olle Adolphson. Wir übrigen sprangen ein, wenn wir an der Reihe waren. Es war nicht schwer zu behaupten, dass es ein fast verzauberter Abend war. Irgendwann gegen Mitternacht waren wir so betrunken, dass die Rede auf ein Nacktbad im Meer kam.
Ein begeistertes Quartett, bestehend aus den beiden Damen sowie Erik und Gunnar, begab sich mit einer Flasche moussierendem Wein auf den Weg, die Arme umeinander verschränkt. Ich selbst blieb mit Henrik auf dem Trockenen, hätte natürlich nachfragen können, womit er sich eigentlich beschäftigte, welcher Forschung genau er seine Zeit widmete, aber ich hatte keine Lust mit ihm zu reden.
Es war schöner, nur dazusitzen und am Calva zu schnuppern, zu rauchen und in die Dunkelheit zu starren. Er machte ein paar zögerliche Versuche, ein Gespräch über irgendwelche Besonderheiten der Leute hier im Finistère in Gang zu bringen, aber ich ermunterte ihn nicht. Also verstummte er ziemlich schnell, wahrscheinlich ist er genauso wenig an meinen Ansichten über dies oder jenes interessiert wie ich an seinen.
Er scheint trotz allem eine Art verhüllte Integrität in seiner trockenen Art zu haben. Es schien, als säßen wir beide da und horchten auf unsere badenden Freunde dort draußen in der Dunkelheit, er hatte natürlich bessere Gründe als ich, hellhörig zu sein, schließlich war es seine Ehefrau und nicht meine, die sich zusammen mit drei fremden Menschen nackt ausgezogen hatte.
Es ist mehr als fünf Jahre her, dass ich eine Ehefrau gehabt habe, manchmal vermisse ich sie, aber meistens nicht. Als die Gesellschaft zurückkehrte, waren sie jedenfalls sittsam in Badelaken gehüllt, sie erschienen insgesamt gedämpfter als bei ihrem Aufbruch, und mir kam unbewusst der Gedanke, dass sie ein Geheimnis teilten.
Dass etwas passiert sein könnte und sie etwas verbargen. Aber vielleicht waren sie auch nur betrunken und müde. Und abgekühlt. Der Atlantik im Juni liegt weit unter der ZwanzigGrad-Marke. Nachdem sie zurückgekommen waren, blieben wir höchstens noch eine halbe Stunde.
Als Erik und ich den Strand entlang zu unserem Haus gingen, hatte er offensichtlich Schwierigkeiten, sich auf den Beinen zu halten, und er fiel sofort in Tiefschlaf, sobald wir im Haus angekommen waren, ohne auch nur die Sandalen auszuziehen. Was mich selbst betrifft, bin ich überraschend klar im Kopf. Fast analytisch. Worte und Gedanken haben eine Deutlichkeit, wie sie sie nur des Nachts bekommen können. In gewissen Nächten.
Das Meer ist dort draußen in der Dunkelheit zu spüren, sicher sind es immer noch fünfundzwanzig Grad Lufttemperatur. Insekten fliegen gegen die Lampe, ich zünde mir eine Gauloise an und trinke das letzte Glas für diesen Tag. Erik schläft bei offenem Fenster, ich kann sein Schnarchen hören, er hat gut und gern zwei Liter Wein im Blut.
Es ist ein paar Minuten nach zwei, es ist schön, endlich allein zu sein. Das Paar Malmgren hat sein Haus in der anderen Richtung, auf der anderen Seite der Mousterlinbucht. Insgesamt, die ganze Küste entlang, gibt es bestimmt an die fünfzig Hütten zu mieten, die meisten natürlich ein paar Kilometer landeinwärts, und vielleicht ist es gar nichts Besonderes, dass drei von ihnen an Schweden vermietet sind. Nach allem, was ich von Erik gehört habe, sind sie nicht über die gleiche Agentur gegangen, aber die anderen sind im Großen und Ganzen seit genauso kurzer Zeit da wie wir.
Drei Wochen mögliches Zusammensein liegen vor uns. Plötzlich stelle ich fest, dass ich dasitze und an Anna denke. Ganz gegen meinen Willen, aber da war etwas an ihrem nackten Gesicht und ihrem nassen Haar, als sie vom Baden zurückkam.
Und dieses schlechte Gewissen, wie gesagt. In Katarinas Augen war es etwas anderes, eine Art Sehnsucht. Ich hätte natürlich auch Henriks Gesicht mustern müssen, um einen Kontrapunkt zu haben, aber dem war nun einmal nicht so.
Die Rolle des Beobachters ist nicht immer einfach einzuhalten. Leben oder sterben, das spielt keine Rolle, denke ich. Ich weiß nicht, warum ich gerade das denke. Eine Hülle, wir sind nur eine Hülle in der Ewigkeit.
Kommentar, Juli 2007
Es sind fünf Jahre vergangen.
Es könnten genauso gut fünfzehn Jahre oder fünf Monate gewesen sein.
Die Elastizität der Zeit ist auffallend, alles beruht darauf, welchen Ausgangspunkt ich wähle, von dem aus ich meine Betrachtungen anstelle. Manchmal kann ich Annas Gesicht ganz deutlich vor mir sehen, als säße sie mir im Zimmer gegenüber, und im nächsten Moment kann ich diese sechs Menschen sehen, mit mir selbst dabei, aus hoher Höhe Ameisen am Strand, die in vergeblichen, sinnlosen Pirouetten herumirren. Im kalten Licht der Ewigkeit und in der Dreieinigkeit von Meer, Erde und Himmel erscheint unsere Unachtsamkeit fast lächerlich. Als hätten sie eigentlich weiterleben können. Als hätte nicht einmal ihr Tod genügend Gewicht und Bedeutung.
Aber ich habe einen Entschluss gefasst und werde durchführen, was ich entschieden habe. Die Ereignisse müssen Konsequenzen haben, sonst entgleist die Schöpfung. Einem Entschluss muss gefolgt werden; wenn er erst einmal gefasst wurde, darf er nicht länger in Frage gestellt werden. Diesen dünnen Strich der Ordnung ins Chaos zu zeichnen, das ist alles, was wir vermögen, unsere gesamte Pflicht als moralische Individuen beruht darauf.
Und sie verdienen es. Die Götter mögen wissen, dass sie es verdienen.
Das Erste, was mich verblüfft, ist ihre Ahnungslosigkeit. Wie wenig sie an diesem ersten Abend verstanden haben. Diese sechs Menschen in ihren Häusern am Strand; ich hätte meinen Rucksack packen und diesen flachen Küstenstreifen bereits am folgenden Tag verlassen können; hätte ich es getan, wäre alles anders gekommen. Aber vielleicht hatte ich gar keine andere Wahl.
Es ist ja interessant, dass ich diesen Gedanken dort im Restaurant in Bénodet tatsächlich bereits dachte. Bring die ganze Bagage um und hau ab.
Es war bereits da, bereits in diesem Augenblick gab es etwas in mir, das begriff, was so viele Jahre später kommen würde. Ich habe mich entschieden, wer der Erste werden soll. Die Reihenfolge an sich ist nicht unwesentlich.
24. Juli 1. August 2007
1
Kriminalinspektor Gunnar Barbarotti zögerte kurz. Dann verriegelte er das Sicherheitsschloss. Es gehörte nicht zu seinen Gewohnheiten. Manchmal machte er sich nicht einmal die Mühe, die Tür überhaupt abzuschließen.
Wenn jemand einbrechen will, dann schafft er es so oder so, wie er zu denken pflegte, dann ist es doch nicht nötig, dass auch noch alles Mögliche beschädigt werden muss. Möglicherweise zeugten derartige Gedanken von einer Art Defaitismus, möglicherweise zeugten sie von einem mangelnden Vertrauen in die Berufsgruppe, die er doch selbst repräsentierte; er bildete sich ein, dass keins von beidem wirklich unvereinbar war mit seinem Weltbild.
Lieber Realist als Fundamentalist, das stand auf jeden Fall fest, wobei ein paar Indizien eindeutig in die eine oder andere Richtung gingen. Sagte er sich und wunderte sich gleichzeitig darüber, wie die Frage, ob eine Tür verschlossen werden sollte oder nicht, so viel graue Theorie gebären konnte. Aber es schadete ja nicht, das Gehirn schon am frühen Morgen in Gang zu setzen, oder?
Seit er in seine armselige Dreizimmerwohnung in der Baldersgatan in Kymlinge gezogen war, vor fünfeinhalb Jahren und in Zusammenhang mit seiner Scheidung, hatte er jedenfalls noch nie ungebetenen Besuch gehabt bis auf den einen oder anderen zweifelhaften Schulkameraden seiner Tochter Sara, den sie angeschleppt hatte. Man soll an das Gute in seinen Mitmenschen glauben, bis einem das Gegenteil bewiesen wird, dieses Prinzip hatte ihm seine optimistische Mutter versucht einzuprägen, seit er in der Lage war, dass ihm etwas eingetrichtert werden konnte, und es war natürlich ein Lebensmotto, das ebenso gut war wie jedes andere.
Ansonsten musste es sich um einen besonders blöden Einbrecher handeln, der sich einbildete, hinter einer trivialen Mahagonilaminattür wie dieser hier könnten sich diebstahls- und verkaufswürdige Dinge befinden. Das war auch eine Art von Realismus. Aber jetzt schloss er wie gesagt beide Schlösser ab. Was seinen Grund hatte. Die Wohnung sollte zehn Tage leer stehen. Weder er noch seine Tochter sollten einen Fuß hineinsetzen.
Sara hatte das übrigens bereits seit mehr als einem Monat nicht mehr getan; direkt nach dem Abitur Anfang Juni hatte sie sich nach London begeben und dort angefangen, in einer Boutique zu arbeiten vielleicht auch in einem Pub, was sie dann allerdings verschwieg, um ihren Vater nicht unnötig zu beunruhigen so war jetzt also die Lage.
Sie war neunzehn Jahre alt, und das Gefühl, amputiert zu werden, als sie abgefahren war, begann ihn langsam zu verlassen. Sehr langsam. Der Gedanke, dass sie nie wieder unter einem Dach leben würden, bohrte sich ungefähr im gleichen Rhythmus in sein Vaterherz. Aber alles hat seine Zeit, dachte Gunnar Barbarotti stoisch und schob den Schlüsselbund in die Jeanstasche.
Und jedes Vorhaben unterm Himmel hat seine Zeit. Zusammenleben, sich trennen und sterben. Er hatte vor ungefähr einem halben Jahr angefangen, in der Bibel zu lesen, und zwar auf Anraten von Gott Vater selbst, und es war schon sonderbar, wie oft Worte und Verse daraus in seinem Kopf auftauchten.
Auch wenn du wirklich nicht existierst, lieber Herr, dachte er oft, so muss ich doch zugeben, dass die Heilige Schrift ein verblüffend gutes Buch ist. Zumindest teilweise.
Dem konnte Unser Herr nur zustimmen. Er nahm seine Reisetasche in die eine Hand, den vollgestopften Müllbeutel in die andere und ging die Treppe hinunter. Spürte plötzlich eine aufkeimende Freude im Körper.
Es hatte irgendwie damit zu tun, dass er die Treppen hinunterging; er hatte sich das schon oft vorgestellt, mit einer einigermaßen hohen Geschwindigkeit eine angenehm sich drehende Treppe hinunterzulaufen auf dem Weg in die brodelnde Vielfalt des Lebens.
Aber war nicht Bewegung der eigentliche Kern des Lebens? Gerade so eine schwingende Bewegung ohne jede Anstrengung? Das Abenteuer, das hinter der Ecke wartete? Ausgerechnet heute stand außerdem noch das Fenster im Treppenhaus sperrangelweit offen, der Hochsommer drängte sich herein, der Duft von frisch gemähtem Rasen reizte die Nasenflügel, und fröhliches Kinderlachen war unten vom Hof her zu hören.
Ein Mädchen, das wie ein abgestochenes Schwein schrie, auch, aber man musste ja nicht auf alles hören, was sich einem bot. Der Briefträger war offenbar Tangotänzer in seiner Freizeit, denn durch einen äußerst eleganten Schritt zurück vermied er es, von der Reisetasche niedergestreckt zu werden.
»Hoppla. Auf dem Weg in den Urlaub?«
»Oh, Entschuldigung«, sagte Gunnar Barbarotti. »Habe wohl ein bisschen zu viel Schwung drauf ... ja, genau.«
»Ins Ausland?«
»Nein, dieses Mal muss Gotland reichen.«
»Es gibt ja auch keinen Grund, Schweden zu dieser Jahreszeit zu verlassen«, erklärte der ungewohnt redselige Briefträger und zeigte dabei hinaus auf den Hof. »Wollen Sie die heutige Ausbeute mitnehmen, oder soll ich sie in den Kasten stecken, damit Sie noch eine Weile davon verschont bleiben?«
Gunnar Barbarotti dachte einen Moment lang nach.
»Her damit. Aber keine Reklame.«
Übersetzung: Christel Hildebrandt
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2008 by btb Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München
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Autoren-Porträt von Hakan Nesser
Håkan Nesser, geboren 1950, hat mehr als zwanzig Romane geschrieben und ist in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt. Seine letzten drei Bücher - Mensch ohne Hund, Eine ganz andere Geschichte sowie Das zweite Leben des Herrn Roos - sind Teil der sogenannten Inspektor-Barbarotti-Serie. Die Perspektive des Gärtners ist ein unabhängiger Roman, genau wie die mit viel Aufmerksamkeit bedachten Romane Kim Novak badetete nie im See von Genezareth, Und Picadilly Circus liegt nicht in Kumla oder Die Schatten und der Regen. Nach zwei Jahren in New York lebt Håkan Nesser gegenwärtig in London und auf Gotland.
Bibliographische Angaben
- Autor: Hakan Nesser
- 2010, 602 Seiten, Maße: 11,8 x 18,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Christel Hildebrandt
- Verlag: BTB
- ISBN-10: 3442740916
- ISBN-13: 9783442740918
- Erscheinungsdatum: 05.05.2010
Rezension zu „Eine ganz andere Geschichte / Inspektor Gunnar Barbarotti Bd.2 “
"... Fortsetzung dringend erwünscht."
Pressezitat
"Ein faszinierender Krimi, intelligent konstruiert, gut geschrieben und mit hervorragenden Charakteren besetzt. Nesser in bester Form." Münchner Merkur
Kommentar zu "Eine ganz andere Geschichte / Inspektor Gunnar Barbarotti Bd.2"
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