Eine Handbreit Hoffnung
Die Geschichte meiner wunderbaren Rettung vor den Nazis
Die bestürzende und zutiefst berührende Geschichte einer Holocaust-Überlebenden.
"Eine mitreißende Geschichte über Leid, Ängste und den Kampf ums Überleben."
JÜDISCHE ZEITUNG
Polen, 1942:...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Eine Handbreit Hoffnung “
Die bestürzende und zutiefst berührende Geschichte einer Holocaust-Überlebenden.
"Eine mitreißende Geschichte über Leid, Ängste und den Kampf ums Überleben."
JÜDISCHE ZEITUNG
Polen, 1942: Die Jüdin Clara und ihre Familie müssen vor den Nationalsozialisten fliehen. Ausgerechnet der Nazi Beck versteckt sie unter seinem Haus in einem Kellerloch. Unter fürchterlichen Bedingungen muss Clara dort jahrelang aushalten, in entsetzlicher Enge, mit ständiger Todesangst. Es gelingt ihr, Tagebuch zu führen und ihre schlimmen Erlebnisse aufzuschreiben. Sechzig Jahre danach erzählt Clara von ihrem Schicksal und ihrem Glück, zu überleben. Und wie trotz des Krieges die Hoffnung immer in ihr weiterlebte.
Lese-Probe zu „Eine Handbreit Hoffnung “
Eine Handbreit Hoffnung von Clara KramerProlog
1. September 1939
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Meine gesamte Familie kampierte auf Decken und Daunenbetten in der Apfelplantage hinter Tante Uchkas kleinem Haus. Von all meinen Tanten mochte ich Uchka am liebsten. Sie war nicht einmal zehn Jahre älter und kaum größer als ich und eher wie eine beste Freundin. Zygush, ihr dreijähriger Sohn, tollte auf der Plantage herum und hob her untergefallene grüne Äpfel auf. Sein Vater Hersch Leib war ihm auf den Fersen, kriegte ihn aber nicht zu fassen. Nach etwa zwanzig Minuten griff Uchka schließlich ein: Sie reichte Babcia, meiner Großmutter, die kleine Zosia und schnappte sich den lachenden Jungen, als er an ihr vorbeilief.
Zygush verstand nicht, dass er nicht lachen oder herumlaufen oder Spaß haben sollte, und ließ sich nur mit einem Keks, dem üblichen Bestechungsmittel, zur Ruhe bringen. Für ihn war das Ganze lediglich ein nächtliches Picknick wie diejenigen, die wir auf dem Paradieshügel veranstalteten. Er wusste nicht, dass die Nazis an diesem Morgen, während wir noch geschlafen hatten, in Polen einmarschiert waren. Das am Stadtrand gelegene und nur von reifenden Roggen- und Weizenfeldern umgebene Haus der Gorskis war bombardiert worden. Noch immer flogen Flugzeuge über unsere Köpfe hinweg, unterwegs zum fünfunddreißig Kilometer entfernten Lemberg. Obwohl die Motoren einen ohrenbetäubenden Lärm machten, sagte keiner von uns ein Wort. Nie zuvor in meinem zwölfjährigen Leben hatte meine Familie schweigend beisammengesessen. Aber wir hatten
alle Angst, dass die Piloten uns hören und dann angreifen würden. Als meine ruhelose kleine Schwester Mania ihren Platz unter dem Apfelbaum verließ, um besser sehen zu können, hatte Mama es nicht gewagt, die Stimme zu heben. Stattdessen hatte sie wild gestikuliert, um Mania dazu zu bringen, sich wieder hinzusetzen.
Ich wusste nicht, wer auf den Gedanken gekommen war, wir sollten alle draußen schlafen, doch die Idee hatte sich in Windeseile in unseren Straßen verbreitet. Nach dem, was den Gorskis passiert war, hatten wir Angst, in unseren Häusern zu bleiben. Wir hatten die Wandschränke nach den alten Federbetten durchwühlt, die, wie Mama und Babcia entschieden, ruhig dreckig werden konnten, und etwas Brot, Obst und Käse eingepackt. Und dann waren wir neun, die alle zusammen im selben Haus wohnten, einen Kilometer weiter zu Uchka gewandert. Zólkiew schien zweigeteilt zu sein. Die eine Hälfte zog, mit Decken und Lebensmitteln beladen, aus der Stadt, die andere Hälfte starrte uns wie gelähmt hinterher und fragte sich, ob sie uns nicht folgen sollte. Als wir fast beim Haus der Gorskis waren, erfasste mich eine makabere Neugier. Ich hatte noch nie ein ausgebombtes Haus gesehen und wollte hingehen und es mir anschauen, doch Mama ließ mich nicht. Sie wollte, dass wir alle zusammenblieben. Mania hatte Mama wie üblich ignoriert und war schon zu Uchka vorausgelaufen, während ich im Schneckentempo mit den anderen mitgehen musste. Babcia und Dzadzio, meine Großeltern, die beleibt waren und denen längeres Gehen beträchtliche Schmerzen bereitete, beteuerten immer wieder, dass wir uns um sie keine Sorgen machen und vorausgehen sollten. Doch Mama wollte nicht, dass ihre Eltern im Fall eines weiteren Bombenangriffs alleine waren.
Mamas Spitzname war Salka, die Kosakin, weil sie durchs Leben ging, als säße sie auf einem Pferd und stelle sich jedem Problem mit gezogenem Schwert. Sie regelte alles von ihrem
Küchentisch aus. Doch so viel wir diesmal auch redeten, redeten und redeten, um die neue Realität zu verstehen, dies war ein Tag, an dem es auf unsere Fragen keine Antworten gab.
Auf allen Feldern, Weiden und Bauernhöfen, die unsere kleine Stadt Zólkiew umgaben, schlugen Dutzende anderer Familien unter den Sternen ihr Nachtlager auf. Obwohl es eine warme Septembernacht war und es nach frisch gemähtem Heu duftete, konnte niemand schlafen. Schließlich hatte die Erschöpfung doch über die Angst gesiegt, und nach und nach erlagen alle außer mir der Müdigkeit. Ich war nie ein nervöses, ängstliches Mädchen gewesen, sondern die ruhige, fleißige Tochter. Aber als ich nach weiteren Flugzeugen Ausschau hielt und auf das Geräusch ihrer Motoren wartete, hatte ich das Gefühl, nie wieder schlafen zu können.
In der Ferne konnte ich die Silhouetten von Zólkiews barocken Kirchtürmen mit ihren Zwiebelhauben und goldenen Kuppeln erkennen. Kein einziges Licht brannte, und die mir vertraute Stadt sah auf unheimliche Weise verlassen aus, ja fast wie eine Geisterstadt. Es war, als habe der Schatten des Krieges unsere Stadt verdunkelt. Unsere Familie lebte seit eh und je in dieser Ecke Galiziens im Südosten Polens. Ich konnte mir nicht vorstellen, irgendwo anders zu leben. Wir waren hier schon länger verwurzelt als die meisten Weißbirken und russischen Kiefern, die die Waldinseln in der Steppe bildeten. Ich hatte Dzadzio und Babcia im Zusammenhang mit unserer Familiengeschichte noch nie von einem anderen Ort sprechen hören.
Solange ich zurückdenken konnte, lebte meine Familie immer auf engstem Raum zusammen. Man konnte sich in unserem kleinen Steinhaus nicht umdrehen, ohne mit jemandem zusammenzustoßen. Als wir nun auf den Federbetten zusammengedrängt unter den Apfelbäumen lagen und e inander als Kopfkissen benutzten, ähnelten wir mehr denn je einem Rudel. Die Einzige, die fehlte, war Tante Rosa, die in den dichten Wäldern Zentralpolens lebte. Als Tante Rosa sich mit Pinchas, ihrem zukünftigen Mann, verlobte, hatte Babcia getrauert. Rosa war die hübscheste der Schwestern, und Babcia hatte immer gesagt, sie hätte jeden Mann in der Stadt haben können. Nicht dass Pinchas, ein Holzhändler, keine gute Partie gewesen wäre, mit der jede Mutter gerne geprahlt hätte. Doch Pinchas lebte auf der anderen Seite Polens in Josefow, und Rosa würde Zólkiew verlassen müssen.
Neben mir lag meine kleine, von der Sommersonne gebräunte Schwester Mania. Sie war als Erste eingeschlafen, sogar noch vor den Kleinen. Nur im Schlaf war sie still. Mit zehn lief sie schneller als die meisten Jungen ihres Alters, und ihre dünnen Arme und Beine waren so stark wie die Litze, mit der die Bauern ihr Heu bündelten. Das Springseil, das sie immer wie eine Kette um den Hals trug, lag neben ihr. Neben Mania lag Tante Giza, Mamas zweitjüngste Schwester. Sie war Laienschauspielerin und sah aus wie ein Stummfilmstar. Wenn Giza auf der Bühne stand und eine tragische Figur spielte, umrandete sie ihre schwarzen Augen mit Khol und malte sich die Lippen rot. Doch die wahre Tragödie hatte sich abseits der Bühne ereignet. Giza war mit dreiunddreißig Jahren Witwe geworden. Zur Yahrzeit, dem Todestag ihres Mannes, besuchte sie dessen Geburtsstadt Wien und blieb dort schließlich ein ganzes Jahr.
Als sie endlich nach Zólkiew zurückkehrte und zu meinen Großeltern auf die andere Seite des Hauses zog, das wir mit ihnen teilten, wünschte meine Großmutter sich nur eins: dass Giza einen anderen Ehemann fand. Doch statt Enkelkinder zur Welt zu bringen, eröffnete Giza ein Geschäft für Unterbekleidung. »Was für eine verrückte Idee!«, hatte Babcia gesagt. »Das wird dir nur den Kopf verdrehen und ist für mich wie ein Schlag ins Gesicht! Wenn das neue Kleid dann nicht passt, werden sie dir die Schuld dafür geben!« Besonders entsetzt und peinlich berührt war Babcia, als Giza ein Schild in unser Vorderfenster hängte. Die Frauen kamen nicht nur, um einen Hüfthalter zu kaufen. Sie setzten sich. Sie tranken Tee. Sie aßen Gebäck. Sie redeten. Dann kauften sie. Und saßen noch ein Weilchen länger da. Unser Haus war zu Gizas Fabrik, zum Ausstellungsraum und Café geworden. Damals war im Schloss von Zólkiew ein großes Regiment polnischer Kavallerie stationiert, und schon bald füllte sich unser Wohnzimmer mit den Ehefrauen der Offiziere. Sobald sich herumgesprochen hatte, dass sogar der polnische Adel Gizas Produkte unter seinen Gewändern trug, konnte sie mit dem Nähen gar nicht mehr schnell genug nachkommen. Natürlich wurde Babcia trotz der Schimpferei Gizas beste Kundin, eng gefolgt von ihren Schwestern. Und schon bald prahlte sie damit, dass alles, was in Zólkiew Rang und Namen hatte, einen Hüfthalter von Jizela trug, wie Giza eigentlich hieß, ein viel vornehmerer Name als die Kurzform, die jeder verwendete.
Neben Babcia hatte sich Dzadzio breitgemacht und schnarchte laut. Obwohl ich wusste, dass mein Dzadzio sehr alt war, kam er mir gesund und kräftig vor. Ich bewunderte ihn. Wenn ich mein Zeugnis bekam, rannte ich nach Hause und zeigte es zuerst ihm. Er nahm mich dann auf den Schoß, schüttelte den Kopf und sagte: »Clarutschka, Clarutschka, was soll ich nur mit dir machen? Schon wieder lauter Sechsen?« Ich hatte nie etwas anderes als Einsen, und ich wusste, dass dies seine Art war, mich zu loben. Dzadzio ging noch immer Tag für Tag zum Gottesdienst in die Synagoge, saß jedoch die restliche Zeit in seinem großen Sessel am Fenster und ließ die Welt an sich vorbeiziehen.
Dzadzio hatte seinen Anteil am Besitz der Ölmühle, die uns zusammen mit den Melmans und den Patrontaschs, zwei Nachbarfamilien, gehörte, meinem Vater überantwortet. Die Frauen dieser Familien, Fanka Melman und Sabina Patrontasch, waren mit Mama befreundet. Die drei teilten sich alles, einschließlich einer Haushälterin namens Julia Beck, die so gut jüdisch kochen konnte wie Mama. Herrn Patrontaschs verwitwete jüngere Schwester Klara und Mama waren als Kinder sogar beide von Julias Mutter, ihrer gemeinsamen Amme und der Haushälterin unserer Großeltern, gestillt worden. Klara und Julia waren wie Schwestern aufgewachsen und beste Freundinnen.
Unter dem Baum neben Dzadzio lagen meine Onkel Manek und Josek, die auch bei uns lebten. Beide betete ich an. Mama sagte, mit seinen tiefblauen Augen und dem goldenen Haar, das im Lampenlicht seidig schimmerte, sei Josek der Don Juan der Familie. Dzadzio folgte Josek überallhin, als sei er dessen Gewissen. Herr Patrontasch hatte eine wunderschöne siebzehnjährige Tochter namens Pepka, mit der Josek stundenlang über den Zaun hinweg plauderte. In unserer kleinen Stadt brauchte ein Junge nur mehr als zweimal mit einem Mädchen zu sprechen, und schon liefen deren Eltern zum Shadkhyn, dem Ehestifter, um einen Ehevertrag auszuarbeiten. Wenn Dzadzio, der an seinem üblichen Platz vor dem Fenster saß, es nicht länger aushielt, ging er nach draußen, zog Josek vom Zaun weg und schrie ihn an: »Du wirst das Mädchen in Ruhe lassen oder heiraten!« Er wollte nicht, dass sein Sohn den Ruf der Tochter seines Nachbarn ruinierte.
Manek war genau das Gegenteil von Josek, ein begeisterter Zionist, der einen kleinen Kibbuz unterstützte, den ein paar junge Leute in Zólkiew gegründet hatten. Mania ging gerne überall mit ihm hin und begleitete ihn zu vielen Treffen der Kibbuzniks. Sie war so oft im Kibbuz, dass jemand sie einmal fragte, ob sie eine Kibbuznik werden wolle, wenn sie groß sei. Meine kleine Schwester lachte über die Absurdität der Frage: »Bist du verrückt? Es gibt eine weite Welt, die erforscht werden will!« Manek war es, der uns das Tanzen beigebracht hatte. Wann immer eine Hochzeit stattfand, konnten Mama, ihre Schwestern und all die Mädchen in Zólkiew von Glück reden, wenn Manek einmal mit ihnen tanzte, denn wir versuchten immer, ihn für uns zu behalten.
Uchkas Hochzeit war wunderschön gewesen. Da sie die jüngste der Reizfeld-Schwestern war, gab es traditionsgemäß ein großes Fest. Meine Großeltern knauserten nicht. Rosa kam mit ihrem Mann Pinchas Karp und ihren vier Kindern Wilek, Frieda, Klara und Mania. Es war Brauch, dass Eltern ihre Kinder nach verstorbenen Eltern und Großeltern benannten, was oft dazu führte, dass Cousinen oder Cousins dieselben Namen hatten. In unserer Familie hatten wir zwei Zygushs, zwei Wileks, zwei Gizas und sogar drei Manias. Doch das brachte niemanden in der Familie durcheinander, und wir Kinder hatten nie das Gefühl, abgelegte Kleider zu tragen. Wie alles andere in meinem Leben vor dem Krieg erschien mir auch das völlig richtig.
Uchka und Hersch Leib sahen kaum älter als sechzehn aus, als sie unter der Chuppah, dem Traubaldachin, standen. Wann immer eine jüdische Hochzeit stattfand, wussten die Armen in Zólkiew oder jeder anderen Stadt Polens, dass sie willkommen waren. Auf einer Seite des Saals stand ein langer Tisch, der für alle reserviert war, die eine gute Mahlzeit haben wollten. Mama hatte eine moderne Band aus Lemberg engagiert, die Tango und Walzer spielte. Ich tanzte mit all meinen Onkeln und Cousins. Doch den größten Teil des Abends nahmen Maria und ich Manek in Beschlag. Vielleicht ließen wir ihn ein- oder zweimal mit der Braut und mit seinen Schwestern tanzen.
Bevor der Abend zu Ende war, hoben Uchkas Brüder und einige der anderen jungen Männer die Braut, die auf einem aus Korb geflochtenen Thron saß, auf ihre Schultern und tanzten mit ihr. Dann verließ das frisch vermählte Paar lange vor den anderen Gästen das Fest. Uchka und Hersch verreisten nicht, sondern gingen nach Hause, um die Hochzeitsnacht in Dzadzios und Babcias Zimmer zu verbringen, in dem Mama und Papa und alle anderen Schwestern mit ihren Ehemännern die erste gemeinsame Nacht verbracht hatten. Meine Großeltern hatten ein riesiges Bett aus dunklem Mahagoni, in dem wir alle zur Welt gekommen waren - Mama, ihre Brüder und Schwestern, Mania und ich, und in jüngster Zeit Zygush und Zosia. Pünktlich neun Monate nach der Hochzeit kam Zygush zur Welt.
Das war erst drei Jahre her. Doch statt mich jetzt auf das kommende Schuljahr vorzubereiten und mit meinen Freundinnen zu klönen, bereiteten wir uns auf den Krieg vor.
Dieser Krieg hatte sich schon seit langem abgezeichnet. Seit Jahren hatten wir in Dzadzios Radio Hitlers pathetische Reden gehört. Aber Mama und Papa gingen davon aus, dass jemand, der so extrem war, nicht lange an der Macht bleiben könne. Sie waren davon überzeugt, dass die Deutschen sich erheben und Hitler stürzen würden. Entgegen ihren Erwartungen gewann Hitler jedoch weiterhin an Macht, und überall in Europa nahm der Antisemitismus zu. Dennoch glaubten meine Eltern nicht, dass die Tragödie, die sich in Nazideutschland abspielte, auch uns in Zólkiew erreichen würde. In unserer Stadt herrschte Toleranz, eine Tradition, die auf Johann III. Sobieski zurückging, den legendären König von Polen, den Retter Europas, der die Türken, die Wien belagerten, in der Schlacht am Kahlenberg besiegt hatte. Seine Familie hatte Zólkiew im 16. Jahrhundert zu ihrer offiziellen Residenz erkoren.
Ich war stolz, Teil der Sobieski-Tradition zu sein, und der Gedanke, seine Aufklärungsideale seien in unserer Stadt noch lebendig, gefiel mir. Es gab in Zólkiew Dutzende von politischen und religiösen Organisationen: zionistische, chassidische, orthodoxe, kommunistische, bundistische, sozialistische und andere. Das Leben der Juden von Zólkiew spielte sich im Schtetl ab mit vielen jüdischen Schulen, Synagogen, Wohltätigkeitsorganisationen, Clubs und Bruderschaften. Unsere Bräuche und Traditionen nährten uns, bereiteten uns aber auch Bauchschmerzen. Papa sagte immer, wir seien fünftausend Juden mit zehntausend Meinungen! Wir befanden uns stets wegen der ein oder anderen Sache im Kriegszustand, und dennoch glich unsere Stadt im antisemitischen Osteuropa einer Art Oase.
Kurz nach dem Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich vor über einem Jahr hatte der Zustrom von Flüchtlingen in unsere Stadt begonnen. Es gab kaum ein Zimmer oder eine Wohnung, die nicht belegt waren. Das Wohlfahrtskomitee unterstützte über zweihundert Flüchtlingsfamilien. Mehr als 640 Kinder bekamen zwei Mahlzeiten am Tag. Auch wir leisteten unseren Beitrag. Jeden Mittwoch kamen die Herzbergs, ein sehr nettes Flüchtlingspaar aus Wien, zu uns zum Mittagessen. Während wir Mamas Hühnersuppe aßen, die in unserem guten Porzellan serviert wurde, erzählten die Herzbergs von dem Alptraum, den sie hinter sich gelassen hatten. Davon, dass ihre Synagogen zerstört, dass Juden in den Straßen zusammengeschlagen und ihre Geschäfte und Unternehmen geplündert wurden. Sie machten nur allzu deutlich, was Hitler für die Juden bedeutete.
Im vergangenen Jahr hatte Onkel Manek vorgeschlagen, wir sollten alle nach Palästina auswandern. Die Welt brenne, sagte er. Als eine große ukrainische Firma die Fabrik kaufen wollte, hatte er Papa und Dzadzio gebeten, sie zu verkaufen. Dies sei unsere letzte Chance, sagte er, doch die beiden weigerten sich. Dzadzio war so böse, dass Manek sein Lebenswerk verkaufen wollte, dass mein Onkel für eine Weile auf unserer Seite des Hauses leben musste. Manek brachte das Thema nie wieder zur Sprache. Das brauchte er auch nicht.
Vor nicht einmal einer Woche hatten die Russen und die Nazis den Hitler-Stalin-Pakt, einen Nichtangriffspakt, unterzeichnet. Papa hatte mir erklärt, dass Nazideutschland nun in Polen einmarschieren und eine Ostfront eröffnen könne, ohne dass die Russen irgendetwas dagegen unternehmen würden. Dieser Pakt machte ganz Polen fassungslos. Niemand konnte verstehen, warum Russland die Ansprüche, die es im Verlauf der Geschichte immer wieder auf Polen gestellt hatte, nun aufgab. Stalin, so kam es uns vor, überreichte Hitler unser Land wie eine für den Ofen gestopfte Gans. Nachdem Polen beinahe zweihundert Jahre lang immer wieder von den Zaren und dem Russischen Reich auf brutale Weise besetzt worden war, hatten wir die Russen mehr gefürchtet als die Deutschen. Doch das änderte sich mit Hitler. Polens Verteidigungsmaßnahmen waren vor allem auf die Ostgrenze zu Russland gerichtet. Wir hatten weder die Zeit noch die Mittel, unsere Westgrenze zu verteidigen.
Irgendwann muss ich eingenickt sein. Als ich am nächsten Morgen aufwachte, dauerte es einen Moment, bis ich wieder wusste, warum wir dort waren. Wir packten unsere Decken zusammen und machten uns auf den langen Heimweg. Zu Hause scharten wir uns in der Hoffnung, von einem polnischen Gegenangriff zu hören, um Dzadzios Radio. Aber es gab nur schlechte Nachrichten. Die Deutschen rückten so schnell vor, wie ihre Panzer fahren konnten. Die polnische Kavallerie kämpfte tapfer um jeden Meter des polnischen Territoriums, war jedoch unterlegen. Polen besaß nicht viele Panzer oder Flugzeuge, und die meisten modernen Waffen, die wir produziert hatten, waren an andere Länder verkauft worden.
Jeder weitere Tag schien nur noch mehr schlechte Nachrichten zu bringen. Jeden Abend wanderten wir zur Obstplantage und beobachteten die Flugzeuge der Nazis, die über unsere Köpfe hinwegflogen und den Himmel wie Heuschrecken verdunkelten. Jeden Morgen gingen wir wieder nach Hause, um Radio zu hören. Am 4. September schlossen die Nazitruppen Warschau ein. Am 5. September überquerten sie die Weichsel und drangen nach Ostpolen vor. Und am 6. September kapitulierte Krakau. Mit neuen Flüchtlingen trafen auch neue Gerüchte ein. Die Nazis rückten vor. In einigen polnischen Städten begrüßten die Volksdeutschen, ethnische Deutsche, die im 17. und 18. Jahrhundert Polen besiedelt hatten, die Deutschen mit Fahnen und Blumen. Das taten auch viele Polen und die ukrainischen Nationalisten. Es gab keine Opposition mehr.
Am 18. September 1939 trafen die Nazis in Zólkiew ein. Es war jedoch nur die Wehrmacht, und es fiel nicht ein einziger Schuss. Die deutschen Soldaten waren höflich, während sie wie Touristen durch die Stadt schlenderten, die Holztreppen an den Schlossmauern erklommen, Fotos von den Kirchen machten, Birkenkästchen mit Einlegearbeiten sowie Tischtücher und Servietten aus Spitze kauften, um sie ihren Ehefrauen, Freundinnen und Müttern als Geschenk zu schicken. Sie führten neugierigen Jungen ihre Waffen vor und flirteten mit den Mädchen. Ich wusste davon nur aus zweiter Hand, aus Erzählungen von Manek, Josek und Papa. Mania und ich hatten schreckliche Angst und trauten uns nicht, die sicheren Hinterhöfe in unserer Straße zu verlassen.
Nur eine knappe Woche später hörten wir von einer geheimen Änderung des ursprünglichen Hitler-Stalin-Pakts. Hitler würde nun den Westen Polens kontrollieren, Stalin den Osten behalten. Zólkiew lag keine hundert Kilometer von der russischen Grenze entfernt. Alle jüdischen Familien in
Zólkiew knieten nieder und dankten Gott für sein Erbarmen. Schon wenige Tage später marschierten junge russische Soldaten aus der Krim mit Wangen wie Aprikosen in die Stadt und lösten die Deutschen ab. Jahrhundertelang hatten die Russen Dissidenten in die riesigen eisigen Gebiete am äußersten Ende ihres Landes deportiert, so dass man nie wieder von ihnen hörte. Der Zar hatte so viele Polen nach Sibirien deportieren lassen, dass es dort ganze Städte gab, die größer als Zólkiew waren, in denen nur Polnisch gesprochen wurde. Doch wenn wir unter uns blieben, die Sowjets nicht reizten und uns ihnen nicht widersetzten, würden sie uns in Ruhe lassen. Wir glaubten, das Leben unter den Kommunisten ertragen zu können. Wir müssten unsere Religion sicherlich im Privaten ausüben und vielleicht unser Unternehmen aufgeben, aber wir würden der Verfolgung durch die Nazis entgehen.
Nur Dzadzio schrie wie ein Prophet: »Ihr wisst nicht, wer hierherkommt! Ihr wisst es nicht!« Er verachtete die Russen. Er hatte die Zaristen gehasst, und nun hasste er die Kommunisten. 1914 war er als Offizier der polnischen Armee gefangen genommen worden und hatte sechs Jahre in einem russischen Konzentrationslager verbracht, vier Jahre unter dem Zaren und zwei unter den Kommunisten. Er hatte Stalins Hölle erlebt. Dzadzio wusste, dass die Russen Zauberer waren, die die Welt allein mit Worten ändern konnten - Einladungen in Drohungen verwandeln konnten, Überfluss in Hunger, Loyalität in Angst, Lächeln in Lügen. Er sprach nie darüber, was er im russischen Konzentrationslager durchgemacht hatte. Nicht einmal mit seiner Frau. Aber Mama erzählte mir, dass er noch immer Alpträume hatte. Er wachte schreiend auf und war so in Schweiß gebadet, dass Babcia die Bettlaken wechseln musste.
Wenige Tage nach Ankunft der Russen tauchten Tante Rosa, ihr Mann und ihre vier Kinder nur mit ihren Kleidungsstücken auf dem Rücken vor unserer Haustür auf. Unsere Familie war wiedervereint. Was immer auch geschehen mochte, wir würden zusammenbleiben. So hofften wir.
Übersetzung: Ursula Pesch
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2009 by Droemer Verlag.
Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt Th. Knaur
Nachf. GmbH & Co. KG, München.
Meine gesamte Familie kampierte auf Decken und Daunenbetten in der Apfelplantage hinter Tante Uchkas kleinem Haus. Von all meinen Tanten mochte ich Uchka am liebsten. Sie war nicht einmal zehn Jahre älter und kaum größer als ich und eher wie eine beste Freundin. Zygush, ihr dreijähriger Sohn, tollte auf der Plantage herum und hob her untergefallene grüne Äpfel auf. Sein Vater Hersch Leib war ihm auf den Fersen, kriegte ihn aber nicht zu fassen. Nach etwa zwanzig Minuten griff Uchka schließlich ein: Sie reichte Babcia, meiner Großmutter, die kleine Zosia und schnappte sich den lachenden Jungen, als er an ihr vorbeilief.
Zygush verstand nicht, dass er nicht lachen oder herumlaufen oder Spaß haben sollte, und ließ sich nur mit einem Keks, dem üblichen Bestechungsmittel, zur Ruhe bringen. Für ihn war das Ganze lediglich ein nächtliches Picknick wie diejenigen, die wir auf dem Paradieshügel veranstalteten. Er wusste nicht, dass die Nazis an diesem Morgen, während wir noch geschlafen hatten, in Polen einmarschiert waren. Das am Stadtrand gelegene und nur von reifenden Roggen- und Weizenfeldern umgebene Haus der Gorskis war bombardiert worden. Noch immer flogen Flugzeuge über unsere Köpfe hinweg, unterwegs zum fünfunddreißig Kilometer entfernten Lemberg. Obwohl die Motoren einen ohrenbetäubenden Lärm machten, sagte keiner von uns ein Wort. Nie zuvor in meinem zwölfjährigen Leben hatte meine Familie schweigend beisammengesessen. Aber wir hatten
alle Angst, dass die Piloten uns hören und dann angreifen würden. Als meine ruhelose kleine Schwester Mania ihren Platz unter dem Apfelbaum verließ, um besser sehen zu können, hatte Mama es nicht gewagt, die Stimme zu heben. Stattdessen hatte sie wild gestikuliert, um Mania dazu zu bringen, sich wieder hinzusetzen.
Ich wusste nicht, wer auf den Gedanken gekommen war, wir sollten alle draußen schlafen, doch die Idee hatte sich in Windeseile in unseren Straßen verbreitet. Nach dem, was den Gorskis passiert war, hatten wir Angst, in unseren Häusern zu bleiben. Wir hatten die Wandschränke nach den alten Federbetten durchwühlt, die, wie Mama und Babcia entschieden, ruhig dreckig werden konnten, und etwas Brot, Obst und Käse eingepackt. Und dann waren wir neun, die alle zusammen im selben Haus wohnten, einen Kilometer weiter zu Uchka gewandert. Zólkiew schien zweigeteilt zu sein. Die eine Hälfte zog, mit Decken und Lebensmitteln beladen, aus der Stadt, die andere Hälfte starrte uns wie gelähmt hinterher und fragte sich, ob sie uns nicht folgen sollte. Als wir fast beim Haus der Gorskis waren, erfasste mich eine makabere Neugier. Ich hatte noch nie ein ausgebombtes Haus gesehen und wollte hingehen und es mir anschauen, doch Mama ließ mich nicht. Sie wollte, dass wir alle zusammenblieben. Mania hatte Mama wie üblich ignoriert und war schon zu Uchka vorausgelaufen, während ich im Schneckentempo mit den anderen mitgehen musste. Babcia und Dzadzio, meine Großeltern, die beleibt waren und denen längeres Gehen beträchtliche Schmerzen bereitete, beteuerten immer wieder, dass wir uns um sie keine Sorgen machen und vorausgehen sollten. Doch Mama wollte nicht, dass ihre Eltern im Fall eines weiteren Bombenangriffs alleine waren.
Mamas Spitzname war Salka, die Kosakin, weil sie durchs Leben ging, als säße sie auf einem Pferd und stelle sich jedem Problem mit gezogenem Schwert. Sie regelte alles von ihrem
Küchentisch aus. Doch so viel wir diesmal auch redeten, redeten und redeten, um die neue Realität zu verstehen, dies war ein Tag, an dem es auf unsere Fragen keine Antworten gab.
Auf allen Feldern, Weiden und Bauernhöfen, die unsere kleine Stadt Zólkiew umgaben, schlugen Dutzende anderer Familien unter den Sternen ihr Nachtlager auf. Obwohl es eine warme Septembernacht war und es nach frisch gemähtem Heu duftete, konnte niemand schlafen. Schließlich hatte die Erschöpfung doch über die Angst gesiegt, und nach und nach erlagen alle außer mir der Müdigkeit. Ich war nie ein nervöses, ängstliches Mädchen gewesen, sondern die ruhige, fleißige Tochter. Aber als ich nach weiteren Flugzeugen Ausschau hielt und auf das Geräusch ihrer Motoren wartete, hatte ich das Gefühl, nie wieder schlafen zu können.
In der Ferne konnte ich die Silhouetten von Zólkiews barocken Kirchtürmen mit ihren Zwiebelhauben und goldenen Kuppeln erkennen. Kein einziges Licht brannte, und die mir vertraute Stadt sah auf unheimliche Weise verlassen aus, ja fast wie eine Geisterstadt. Es war, als habe der Schatten des Krieges unsere Stadt verdunkelt. Unsere Familie lebte seit eh und je in dieser Ecke Galiziens im Südosten Polens. Ich konnte mir nicht vorstellen, irgendwo anders zu leben. Wir waren hier schon länger verwurzelt als die meisten Weißbirken und russischen Kiefern, die die Waldinseln in der Steppe bildeten. Ich hatte Dzadzio und Babcia im Zusammenhang mit unserer Familiengeschichte noch nie von einem anderen Ort sprechen hören.
Solange ich zurückdenken konnte, lebte meine Familie immer auf engstem Raum zusammen. Man konnte sich in unserem kleinen Steinhaus nicht umdrehen, ohne mit jemandem zusammenzustoßen. Als wir nun auf den Federbetten zusammengedrängt unter den Apfelbäumen lagen und e inander als Kopfkissen benutzten, ähnelten wir mehr denn je einem Rudel. Die Einzige, die fehlte, war Tante Rosa, die in den dichten Wäldern Zentralpolens lebte. Als Tante Rosa sich mit Pinchas, ihrem zukünftigen Mann, verlobte, hatte Babcia getrauert. Rosa war die hübscheste der Schwestern, und Babcia hatte immer gesagt, sie hätte jeden Mann in der Stadt haben können. Nicht dass Pinchas, ein Holzhändler, keine gute Partie gewesen wäre, mit der jede Mutter gerne geprahlt hätte. Doch Pinchas lebte auf der anderen Seite Polens in Josefow, und Rosa würde Zólkiew verlassen müssen.
Neben mir lag meine kleine, von der Sommersonne gebräunte Schwester Mania. Sie war als Erste eingeschlafen, sogar noch vor den Kleinen. Nur im Schlaf war sie still. Mit zehn lief sie schneller als die meisten Jungen ihres Alters, und ihre dünnen Arme und Beine waren so stark wie die Litze, mit der die Bauern ihr Heu bündelten. Das Springseil, das sie immer wie eine Kette um den Hals trug, lag neben ihr. Neben Mania lag Tante Giza, Mamas zweitjüngste Schwester. Sie war Laienschauspielerin und sah aus wie ein Stummfilmstar. Wenn Giza auf der Bühne stand und eine tragische Figur spielte, umrandete sie ihre schwarzen Augen mit Khol und malte sich die Lippen rot. Doch die wahre Tragödie hatte sich abseits der Bühne ereignet. Giza war mit dreiunddreißig Jahren Witwe geworden. Zur Yahrzeit, dem Todestag ihres Mannes, besuchte sie dessen Geburtsstadt Wien und blieb dort schließlich ein ganzes Jahr.
Als sie endlich nach Zólkiew zurückkehrte und zu meinen Großeltern auf die andere Seite des Hauses zog, das wir mit ihnen teilten, wünschte meine Großmutter sich nur eins: dass Giza einen anderen Ehemann fand. Doch statt Enkelkinder zur Welt zu bringen, eröffnete Giza ein Geschäft für Unterbekleidung. »Was für eine verrückte Idee!«, hatte Babcia gesagt. »Das wird dir nur den Kopf verdrehen und ist für mich wie ein Schlag ins Gesicht! Wenn das neue Kleid dann nicht passt, werden sie dir die Schuld dafür geben!« Besonders entsetzt und peinlich berührt war Babcia, als Giza ein Schild in unser Vorderfenster hängte. Die Frauen kamen nicht nur, um einen Hüfthalter zu kaufen. Sie setzten sich. Sie tranken Tee. Sie aßen Gebäck. Sie redeten. Dann kauften sie. Und saßen noch ein Weilchen länger da. Unser Haus war zu Gizas Fabrik, zum Ausstellungsraum und Café geworden. Damals war im Schloss von Zólkiew ein großes Regiment polnischer Kavallerie stationiert, und schon bald füllte sich unser Wohnzimmer mit den Ehefrauen der Offiziere. Sobald sich herumgesprochen hatte, dass sogar der polnische Adel Gizas Produkte unter seinen Gewändern trug, konnte sie mit dem Nähen gar nicht mehr schnell genug nachkommen. Natürlich wurde Babcia trotz der Schimpferei Gizas beste Kundin, eng gefolgt von ihren Schwestern. Und schon bald prahlte sie damit, dass alles, was in Zólkiew Rang und Namen hatte, einen Hüfthalter von Jizela trug, wie Giza eigentlich hieß, ein viel vornehmerer Name als die Kurzform, die jeder verwendete.
Neben Babcia hatte sich Dzadzio breitgemacht und schnarchte laut. Obwohl ich wusste, dass mein Dzadzio sehr alt war, kam er mir gesund und kräftig vor. Ich bewunderte ihn. Wenn ich mein Zeugnis bekam, rannte ich nach Hause und zeigte es zuerst ihm. Er nahm mich dann auf den Schoß, schüttelte den Kopf und sagte: »Clarutschka, Clarutschka, was soll ich nur mit dir machen? Schon wieder lauter Sechsen?« Ich hatte nie etwas anderes als Einsen, und ich wusste, dass dies seine Art war, mich zu loben. Dzadzio ging noch immer Tag für Tag zum Gottesdienst in die Synagoge, saß jedoch die restliche Zeit in seinem großen Sessel am Fenster und ließ die Welt an sich vorbeiziehen.
Dzadzio hatte seinen Anteil am Besitz der Ölmühle, die uns zusammen mit den Melmans und den Patrontaschs, zwei Nachbarfamilien, gehörte, meinem Vater überantwortet. Die Frauen dieser Familien, Fanka Melman und Sabina Patrontasch, waren mit Mama befreundet. Die drei teilten sich alles, einschließlich einer Haushälterin namens Julia Beck, die so gut jüdisch kochen konnte wie Mama. Herrn Patrontaschs verwitwete jüngere Schwester Klara und Mama waren als Kinder sogar beide von Julias Mutter, ihrer gemeinsamen Amme und der Haushälterin unserer Großeltern, gestillt worden. Klara und Julia waren wie Schwestern aufgewachsen und beste Freundinnen.
Unter dem Baum neben Dzadzio lagen meine Onkel Manek und Josek, die auch bei uns lebten. Beide betete ich an. Mama sagte, mit seinen tiefblauen Augen und dem goldenen Haar, das im Lampenlicht seidig schimmerte, sei Josek der Don Juan der Familie. Dzadzio folgte Josek überallhin, als sei er dessen Gewissen. Herr Patrontasch hatte eine wunderschöne siebzehnjährige Tochter namens Pepka, mit der Josek stundenlang über den Zaun hinweg plauderte. In unserer kleinen Stadt brauchte ein Junge nur mehr als zweimal mit einem Mädchen zu sprechen, und schon liefen deren Eltern zum Shadkhyn, dem Ehestifter, um einen Ehevertrag auszuarbeiten. Wenn Dzadzio, der an seinem üblichen Platz vor dem Fenster saß, es nicht länger aushielt, ging er nach draußen, zog Josek vom Zaun weg und schrie ihn an: »Du wirst das Mädchen in Ruhe lassen oder heiraten!« Er wollte nicht, dass sein Sohn den Ruf der Tochter seines Nachbarn ruinierte.
Manek war genau das Gegenteil von Josek, ein begeisterter Zionist, der einen kleinen Kibbuz unterstützte, den ein paar junge Leute in Zólkiew gegründet hatten. Mania ging gerne überall mit ihm hin und begleitete ihn zu vielen Treffen der Kibbuzniks. Sie war so oft im Kibbuz, dass jemand sie einmal fragte, ob sie eine Kibbuznik werden wolle, wenn sie groß sei. Meine kleine Schwester lachte über die Absurdität der Frage: »Bist du verrückt? Es gibt eine weite Welt, die erforscht werden will!« Manek war es, der uns das Tanzen beigebracht hatte. Wann immer eine Hochzeit stattfand, konnten Mama, ihre Schwestern und all die Mädchen in Zólkiew von Glück reden, wenn Manek einmal mit ihnen tanzte, denn wir versuchten immer, ihn für uns zu behalten.
Uchkas Hochzeit war wunderschön gewesen. Da sie die jüngste der Reizfeld-Schwestern war, gab es traditionsgemäß ein großes Fest. Meine Großeltern knauserten nicht. Rosa kam mit ihrem Mann Pinchas Karp und ihren vier Kindern Wilek, Frieda, Klara und Mania. Es war Brauch, dass Eltern ihre Kinder nach verstorbenen Eltern und Großeltern benannten, was oft dazu führte, dass Cousinen oder Cousins dieselben Namen hatten. In unserer Familie hatten wir zwei Zygushs, zwei Wileks, zwei Gizas und sogar drei Manias. Doch das brachte niemanden in der Familie durcheinander, und wir Kinder hatten nie das Gefühl, abgelegte Kleider zu tragen. Wie alles andere in meinem Leben vor dem Krieg erschien mir auch das völlig richtig.
Uchka und Hersch Leib sahen kaum älter als sechzehn aus, als sie unter der Chuppah, dem Traubaldachin, standen. Wann immer eine jüdische Hochzeit stattfand, wussten die Armen in Zólkiew oder jeder anderen Stadt Polens, dass sie willkommen waren. Auf einer Seite des Saals stand ein langer Tisch, der für alle reserviert war, die eine gute Mahlzeit haben wollten. Mama hatte eine moderne Band aus Lemberg engagiert, die Tango und Walzer spielte. Ich tanzte mit all meinen Onkeln und Cousins. Doch den größten Teil des Abends nahmen Maria und ich Manek in Beschlag. Vielleicht ließen wir ihn ein- oder zweimal mit der Braut und mit seinen Schwestern tanzen.
Bevor der Abend zu Ende war, hoben Uchkas Brüder und einige der anderen jungen Männer die Braut, die auf einem aus Korb geflochtenen Thron saß, auf ihre Schultern und tanzten mit ihr. Dann verließ das frisch vermählte Paar lange vor den anderen Gästen das Fest. Uchka und Hersch verreisten nicht, sondern gingen nach Hause, um die Hochzeitsnacht in Dzadzios und Babcias Zimmer zu verbringen, in dem Mama und Papa und alle anderen Schwestern mit ihren Ehemännern die erste gemeinsame Nacht verbracht hatten. Meine Großeltern hatten ein riesiges Bett aus dunklem Mahagoni, in dem wir alle zur Welt gekommen waren - Mama, ihre Brüder und Schwestern, Mania und ich, und in jüngster Zeit Zygush und Zosia. Pünktlich neun Monate nach der Hochzeit kam Zygush zur Welt.
Das war erst drei Jahre her. Doch statt mich jetzt auf das kommende Schuljahr vorzubereiten und mit meinen Freundinnen zu klönen, bereiteten wir uns auf den Krieg vor.
Dieser Krieg hatte sich schon seit langem abgezeichnet. Seit Jahren hatten wir in Dzadzios Radio Hitlers pathetische Reden gehört. Aber Mama und Papa gingen davon aus, dass jemand, der so extrem war, nicht lange an der Macht bleiben könne. Sie waren davon überzeugt, dass die Deutschen sich erheben und Hitler stürzen würden. Entgegen ihren Erwartungen gewann Hitler jedoch weiterhin an Macht, und überall in Europa nahm der Antisemitismus zu. Dennoch glaubten meine Eltern nicht, dass die Tragödie, die sich in Nazideutschland abspielte, auch uns in Zólkiew erreichen würde. In unserer Stadt herrschte Toleranz, eine Tradition, die auf Johann III. Sobieski zurückging, den legendären König von Polen, den Retter Europas, der die Türken, die Wien belagerten, in der Schlacht am Kahlenberg besiegt hatte. Seine Familie hatte Zólkiew im 16. Jahrhundert zu ihrer offiziellen Residenz erkoren.
Ich war stolz, Teil der Sobieski-Tradition zu sein, und der Gedanke, seine Aufklärungsideale seien in unserer Stadt noch lebendig, gefiel mir. Es gab in Zólkiew Dutzende von politischen und religiösen Organisationen: zionistische, chassidische, orthodoxe, kommunistische, bundistische, sozialistische und andere. Das Leben der Juden von Zólkiew spielte sich im Schtetl ab mit vielen jüdischen Schulen, Synagogen, Wohltätigkeitsorganisationen, Clubs und Bruderschaften. Unsere Bräuche und Traditionen nährten uns, bereiteten uns aber auch Bauchschmerzen. Papa sagte immer, wir seien fünftausend Juden mit zehntausend Meinungen! Wir befanden uns stets wegen der ein oder anderen Sache im Kriegszustand, und dennoch glich unsere Stadt im antisemitischen Osteuropa einer Art Oase.
Kurz nach dem Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich vor über einem Jahr hatte der Zustrom von Flüchtlingen in unsere Stadt begonnen. Es gab kaum ein Zimmer oder eine Wohnung, die nicht belegt waren. Das Wohlfahrtskomitee unterstützte über zweihundert Flüchtlingsfamilien. Mehr als 640 Kinder bekamen zwei Mahlzeiten am Tag. Auch wir leisteten unseren Beitrag. Jeden Mittwoch kamen die Herzbergs, ein sehr nettes Flüchtlingspaar aus Wien, zu uns zum Mittagessen. Während wir Mamas Hühnersuppe aßen, die in unserem guten Porzellan serviert wurde, erzählten die Herzbergs von dem Alptraum, den sie hinter sich gelassen hatten. Davon, dass ihre Synagogen zerstört, dass Juden in den Straßen zusammengeschlagen und ihre Geschäfte und Unternehmen geplündert wurden. Sie machten nur allzu deutlich, was Hitler für die Juden bedeutete.
Im vergangenen Jahr hatte Onkel Manek vorgeschlagen, wir sollten alle nach Palästina auswandern. Die Welt brenne, sagte er. Als eine große ukrainische Firma die Fabrik kaufen wollte, hatte er Papa und Dzadzio gebeten, sie zu verkaufen. Dies sei unsere letzte Chance, sagte er, doch die beiden weigerten sich. Dzadzio war so böse, dass Manek sein Lebenswerk verkaufen wollte, dass mein Onkel für eine Weile auf unserer Seite des Hauses leben musste. Manek brachte das Thema nie wieder zur Sprache. Das brauchte er auch nicht.
Vor nicht einmal einer Woche hatten die Russen und die Nazis den Hitler-Stalin-Pakt, einen Nichtangriffspakt, unterzeichnet. Papa hatte mir erklärt, dass Nazideutschland nun in Polen einmarschieren und eine Ostfront eröffnen könne, ohne dass die Russen irgendetwas dagegen unternehmen würden. Dieser Pakt machte ganz Polen fassungslos. Niemand konnte verstehen, warum Russland die Ansprüche, die es im Verlauf der Geschichte immer wieder auf Polen gestellt hatte, nun aufgab. Stalin, so kam es uns vor, überreichte Hitler unser Land wie eine für den Ofen gestopfte Gans. Nachdem Polen beinahe zweihundert Jahre lang immer wieder von den Zaren und dem Russischen Reich auf brutale Weise besetzt worden war, hatten wir die Russen mehr gefürchtet als die Deutschen. Doch das änderte sich mit Hitler. Polens Verteidigungsmaßnahmen waren vor allem auf die Ostgrenze zu Russland gerichtet. Wir hatten weder die Zeit noch die Mittel, unsere Westgrenze zu verteidigen.
Irgendwann muss ich eingenickt sein. Als ich am nächsten Morgen aufwachte, dauerte es einen Moment, bis ich wieder wusste, warum wir dort waren. Wir packten unsere Decken zusammen und machten uns auf den langen Heimweg. Zu Hause scharten wir uns in der Hoffnung, von einem polnischen Gegenangriff zu hören, um Dzadzios Radio. Aber es gab nur schlechte Nachrichten. Die Deutschen rückten so schnell vor, wie ihre Panzer fahren konnten. Die polnische Kavallerie kämpfte tapfer um jeden Meter des polnischen Territoriums, war jedoch unterlegen. Polen besaß nicht viele Panzer oder Flugzeuge, und die meisten modernen Waffen, die wir produziert hatten, waren an andere Länder verkauft worden.
Jeder weitere Tag schien nur noch mehr schlechte Nachrichten zu bringen. Jeden Abend wanderten wir zur Obstplantage und beobachteten die Flugzeuge der Nazis, die über unsere Köpfe hinwegflogen und den Himmel wie Heuschrecken verdunkelten. Jeden Morgen gingen wir wieder nach Hause, um Radio zu hören. Am 4. September schlossen die Nazitruppen Warschau ein. Am 5. September überquerten sie die Weichsel und drangen nach Ostpolen vor. Und am 6. September kapitulierte Krakau. Mit neuen Flüchtlingen trafen auch neue Gerüchte ein. Die Nazis rückten vor. In einigen polnischen Städten begrüßten die Volksdeutschen, ethnische Deutsche, die im 17. und 18. Jahrhundert Polen besiedelt hatten, die Deutschen mit Fahnen und Blumen. Das taten auch viele Polen und die ukrainischen Nationalisten. Es gab keine Opposition mehr.
Am 18. September 1939 trafen die Nazis in Zólkiew ein. Es war jedoch nur die Wehrmacht, und es fiel nicht ein einziger Schuss. Die deutschen Soldaten waren höflich, während sie wie Touristen durch die Stadt schlenderten, die Holztreppen an den Schlossmauern erklommen, Fotos von den Kirchen machten, Birkenkästchen mit Einlegearbeiten sowie Tischtücher und Servietten aus Spitze kauften, um sie ihren Ehefrauen, Freundinnen und Müttern als Geschenk zu schicken. Sie führten neugierigen Jungen ihre Waffen vor und flirteten mit den Mädchen. Ich wusste davon nur aus zweiter Hand, aus Erzählungen von Manek, Josek und Papa. Mania und ich hatten schreckliche Angst und trauten uns nicht, die sicheren Hinterhöfe in unserer Straße zu verlassen.
Nur eine knappe Woche später hörten wir von einer geheimen Änderung des ursprünglichen Hitler-Stalin-Pakts. Hitler würde nun den Westen Polens kontrollieren, Stalin den Osten behalten. Zólkiew lag keine hundert Kilometer von der russischen Grenze entfernt. Alle jüdischen Familien in
Zólkiew knieten nieder und dankten Gott für sein Erbarmen. Schon wenige Tage später marschierten junge russische Soldaten aus der Krim mit Wangen wie Aprikosen in die Stadt und lösten die Deutschen ab. Jahrhundertelang hatten die Russen Dissidenten in die riesigen eisigen Gebiete am äußersten Ende ihres Landes deportiert, so dass man nie wieder von ihnen hörte. Der Zar hatte so viele Polen nach Sibirien deportieren lassen, dass es dort ganze Städte gab, die größer als Zólkiew waren, in denen nur Polnisch gesprochen wurde. Doch wenn wir unter uns blieben, die Sowjets nicht reizten und uns ihnen nicht widersetzten, würden sie uns in Ruhe lassen. Wir glaubten, das Leben unter den Kommunisten ertragen zu können. Wir müssten unsere Religion sicherlich im Privaten ausüben und vielleicht unser Unternehmen aufgeben, aber wir würden der Verfolgung durch die Nazis entgehen.
Nur Dzadzio schrie wie ein Prophet: »Ihr wisst nicht, wer hierherkommt! Ihr wisst es nicht!« Er verachtete die Russen. Er hatte die Zaristen gehasst, und nun hasste er die Kommunisten. 1914 war er als Offizier der polnischen Armee gefangen genommen worden und hatte sechs Jahre in einem russischen Konzentrationslager verbracht, vier Jahre unter dem Zaren und zwei unter den Kommunisten. Er hatte Stalins Hölle erlebt. Dzadzio wusste, dass die Russen Zauberer waren, die die Welt allein mit Worten ändern konnten - Einladungen in Drohungen verwandeln konnten, Überfluss in Hunger, Loyalität in Angst, Lächeln in Lügen. Er sprach nie darüber, was er im russischen Konzentrationslager durchgemacht hatte. Nicht einmal mit seiner Frau. Aber Mama erzählte mir, dass er noch immer Alpträume hatte. Er wachte schreiend auf und war so in Schweiß gebadet, dass Babcia die Bettlaken wechseln musste.
Wenige Tage nach Ankunft der Russen tauchten Tante Rosa, ihr Mann und ihre vier Kinder nur mit ihren Kleidungsstücken auf dem Rücken vor unserer Haustür auf. Unsere Familie war wiedervereint. Was immer auch geschehen mochte, wir würden zusammenbleiben. So hofften wir.
Übersetzung: Ursula Pesch
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2009 by Droemer Verlag.
Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt Th. Knaur
Nachf. GmbH & Co. KG, München.
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Bibliographische Angaben
- Autoren: Stephen Glantz , Clara Kramer
- 398 Seiten, teilweise Schwarz-Weiß-Abbildungen, Maße: 13,2 x 21 cm, Gebunden
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3868003878
- ISBN-13: 9783868003871
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