Eines Menschen Herz
- Lastschrift, Kreditkarte, Paypal, Rechnung
- Kostenlose Rücksendung
Eines Menschen Herz von William Boyd
LESEPROBE
Hotel Metropol, Lissabon. Gesternwar ich mit dem Zug in Sintra. Ein dunstiger, kühler Tag, aber die Aussicht warum so bezaubernder, da die Landschaftskonturen durch den Dunst weich wurden.Aber irgendwie wurde mir dort der Mantel mitsamt Paß und Brieftasche gestohlen,und zwar im Castelo da Peña. Ich legte den Mantel auf die Mauer derAußengalerie und trat auf einen vorstehenden Balkon hinaus, um den Blick aufdie Berge von Arrábida zu fotografieren. Als ich zurückkam, war der Mantel weg.Ich lief um die Burg und schaute mir alle Besucher an, auch die Leute im Park,aber ich konnte nichts Verdächtiges an ihnen entdecken. Also ging ich heutemorgen ins Konsulat und legte meine mißliche Lage dar. Am Nachmittag bekommeich einen provisorischen Paß. Ich habe meiner Bank telegraphiert, mir Geld zuschicken. Später. Folgendes ist geschehen. Ich begab mich ins Konsulat (Rua doFerregail de Baixo) und wurde ins Vorzimmer gewiesen – ein paar Stühle, einTisch mit alten Illustrierten und den Times-Ausgaben der letzten Woche. Alssich die Tür öffnete, blickte ich auf, in Erwartung eines Beamten, aber es wareine junge Frau. Es ist erstaunlich, mit welcher Plötzlichkeit dieser Eindruckauftritt – er muß auf einen tiefen, atavistischen Begattungsinstinktzurückgehen. Ein Blick, und du denkst: »Ja, das ist sie. Sie ist die Richtigefür mich.« Jede Faser des Körpers scheint in diesen Ruf einzustimmen. Welcheäußeren Faktoren sind maßgeblich für dieses Gefühl? Ist es die Schwingung einerBraue? Die Kurve eines Mundes? Die Linie eines Fußes? Die Schlankheit einesHandgelenks?... Wir lächelten uns höflich an, zwei Ausländer, verwickelt inAmtsgeschäfte, ich schlug meine Zeitung auf und musterte sie ausführlich überden Zeitungsrand. Der erste Eindruck: ein längliches, schmales, derbes Gesicht.Die Augenbrauen hoch gewölbt, gezupft und nachgezeichnet, sie trug Lippenstift.Ihr Haar kräftig und widerspenstig, mittelbraun mit naturblonden Spitzen anSchläfe und Stirn. Ich stellte mir vor, daß sie am Morgen die Bürste durch ihrHaar gezogen und für den Rest des Tages alle weiteren Bemühungen aufgegebenhat. Sie trug ein blaßgrünes Leinenkostüm, recht schick. Sie holte einZigarettenetui aus der Handtasche und hatte schon eine Zigarette angezündet,bevor ich ihr mit meinem Feuerzeug zu Hilfe eilen konnte. Richtig, dachte ich,das ist meine Chance: Ich konnte sie um Feuer bitten – und klappte gerade meinEtui auf, als der Sekretär des Konsuls eintrat: »Mr. Mountstuart, der Konsulläßt bitten.« Ich trat ins Büro ein, und wie in Trance leistete ich dieUnterschriften für meinen provisorischen Paß. Beim Hinausgehen schaute ich nocheinmal in den Warteraum, aber sie war verschwunden. Ich wurde von einerunbeschreiblichen, geradezu grotesken Panik ergriffen. Ich rannte zurück zumSekretär und fragte ihn, wo die junge Frau sei. Bei einem anderen Beamten,erwiderte er. Sie sei auf einer Automobilreise mit ihrem Vater, der habe einenUnfall gehabt und sich das Bein gebrochen, und jetzt gebe es komplizierteVersicherungsfragen zu klären. Ich ging zurück ins Vorzimmer und wartete beigeöffneter Tür, damit ich den Korridor überblicken konnte. Als sie aus dem Bürokam, trat ich so locker, wie es nur ging, auf sie zu. Ich lächelte und hattenicht die geringste Vorstellung, was ich sagen würde. Sie musterte michunwillig, ihre perfekt geschwungenen Brauen kräuselten sich. »Sind Sie zufälligLogan Mountstuart?« fragte sie. »Ja, der bin ich.« Ich konnte mein Glück nichtfassen. Eine Leserin. »Dachte ich mir«, sagte sie und ging mit einemGesichtsausdruck, den man nur als höhnisch bezeichnen kann, an mir vorbei. Ichfolgte ihr die Treppe hinab auf die Straße. »Einen Moment, bitte«, sagte ich.»Woher wissen Sie das? Kennen wir uns?« »Ganz bestimmt nicht. Aber ich weißzufällig, daß Sie unter zehn Guineen nicht nach London kommen.« Es gelang mir,sie zum Besuch eines Cafés zu bewegen. Ich bestellte ein Glas vinho tinto, sieMineralwasser, und ich erfuhr den Hintergrund ihrer Behauptung. Sie istSekretärin bei der Interview-Redaktion der BBC und zuständig für die Einladungvon Gästen; der Sender hat mich zu einem Gespräch über »Neue Strömungen dereuropäischen Malerei« einladen wollen und ist mit meiner Honorarforderungkonfrontiert worden. Die ganze Abteilung habe diese Forderung absurd gefunden,versicherte sie mir. »Denn was glauben Sie, wer Sie sind? Strawinsky?Galsworthy*?« »Aber das war gewiß der Fehler meines Agenten«, sagte ich. »Ertreibt meine Honorare in die Höhe, ohne mich zu fragen. Das ist wirklichunerhört.« »Damit tut er Ihnen keinen Gefallen, das kann ich Ihnen sagen«,meinte sie hitzig. »Sie sind sofort auf der schwarzen Liste gelandet. ZehnGuineen? Absolut lächerlich. Ich würde ihm kündigen.« Ich sagte, daß ich schonlange vorhätte, Wallace zu kündigen. Und fragte sie nach ihrem Namen. »FreyaDeverell«, erwiderte sie. FreyaDeverell. Freya Deverell. Ich bekomme Herzrasen, fliegende Hitze,Atembeklemmung, wenn ich nur ihren Namen schreibe. Ihre Schönheit hat etwasProvokatives. Ihre Lippen sind ein wenig vorgestülpt, nicht wie einSchmollmund, aber so, als wollte sie jeden Moment mit einer respektlosenBemerkung herausplatzen. Sie ist groß und schlank, schätzungsweise AnfangZwanzig und sehr selbstsicher für ihr jugendliches Alter. Ihr Vater, sagt sie,hat einen komplizierten Beinbruch, und es dürfte noch eine weitere Wochedauern, bis er aus dem Krankenhaus entlassen und reisefähig wird. »Ich nehme morgen den Dampfer nachSouthampton«, sagte ich, »aber darf ich sie heute abend zum Essen einladen?Vielleicht kann ich Sie ja dazu überreden, mich von der schwarzen Liste zuentfernen.« Ich sitze hier, schreibe diese Worte und warte darauf, daß es Zeitwird, sie von ihrem Hotel abzuholen. Es ist erschreckend, wie zerbrechlich diesekostbaren Momente unseres Lebens sind. Hätte ich meinen Paß nicht verloren,wäre ihr Vater nicht verunglückt und hätte sich das Bein gebrochen, wäre sienicht zufällig zur selben Zeit im Konsulat erschienen... Der Blick nach vorneverrät uns nichts; nur im Rückblick zeigt sich die völlige Zufälligkeit solcherlebensentscheidenden Begegnungen.
[APRIL]
SGTM Garudja. Französisches Schiff, portugiesische Besatzung. Die Hälfte derKabinen ist leer. Ich habe meine drei Artikel für die Graphic geschrieben undals Zugabe einen Bericht über meinen Atelierbesuch bei Picasso, den Wallacebestimmt irgendwo unterbringen wird. Den Vormittag habe ich auf Deck verbracht,ein frischer, sonniger Tag. Ich bin auf und ab gegangen, habe meine Gedankensortiert und gesammelt und versucht, meiner unmittelbaren Zukunft Gestalt undRichtung zu verleihen.
Das Dinner mit Freya verlief gut, und ich habe mehr über sie erfahren. IhrVater ist Witwer und wohnt mit ihrem Bruder in Cheshire. Einmal jährlich fährtFreya mit ihrem Vater in die Ferien – am liebsten nach Deutschland oderÖsterreich, aber jetzt weigert sie sich, dorthin zu fahren, wegen derpolitischen Lage*, daher die unglückselige Reise nach Portugal. Freya stehtviel weiter links als ich; mir wurde bewußt, wie sehr mir die Politikentglitten ist, und ich schämte mich ein wenig für meine Unwissenheit undGleichgültigkeit. Sie ist einundzwanzig und arbeitet seit zwei Jahren bei derBBC. Sie möchte ihre eigenen Sendungen produzieren – »nicht leicht in solcheinem Laden, das kann ich Ihnen sagen«. Zu manchen Themen, über die wirsprachen, bezog sie heftige Gegenposition. Picasso – »ein Scharlatan«; VirginiaWoolf – »unsere größte lebende Schriftstellerin«; Mosley – »ein Desaster fürdas Land«. Ich brachte sie zum Hotel zurück, und sie schüttelte mir kräftig dieHand, als wir uns verabschiedeten. Auf meine Frage, ob wir uns in Londonwiedersehen werden, gab sie mir ihre Adresse, sie wohnt mit acht anderenledigen Frauen in einer Art Pension in Chiswick. Sie weiß, daß ich verheiratetbin und ein Kind habe. Ich sagte, ich werde mich melden, sobald sie zurück ist.Als ich ihr meine Karte gab, las sie laut: »Thorpe Geldingham... das klingtsehr abgelegen.« Ich sagte ihr, daß ich eine Wohnung in London suche. »HabenSie ein Buch von mir gelesen?« hatte ich irgendwann an diesem Abend gefragt.»Nein.« »Warum wollten Sie mich denn einladen?« »Keine Ahnung. Jemand hat einenArtikel von Ihnen gelesen. Ich glaube, Ihr Name hat mich neugierig gemacht.« Nichtdie solideste Basis für eine Beziehung, aber ich bin vollkommen und restlos vondieser Frau gefangengenommen. Freya.Freya. Freya.
DIENSTAG, 15. MAI
Wieder in Chelsea. Habe soeben drei Monatsmieten für eine kleine halbmöblierteWohnung in der Draycott Avenue hingelegt. Ein hübsch geräumiges Wohnzimmer, dasmir auch als Arbeitszimmer dienen wird, ein winziges Schlafzimmer, eineToilette (kein Bad) und eine schmale Kochnische mit Klapptisch. Ich mußte einpaar Möbel kaufen – ein einfaches Bett (ein Doppelbett würde nichthineinpassen), ein Sofa, ein paar Töpfe und Pfannen. Über mir wohnt einepolnische Näherin mittleren Alters und unter mir zwei Beamte, von denen ichvermute, daß sie »musisch« veranlagt sind. Die Straße ist düster und anonym,jeder bleibt hier für sich. Ich glaube, das ist ideal für mein neues Leben. Freyaliebt das Ballett, also gingen wir letzten Freitag in Giselle. Ich bin einbekennender Ignorant, wenn es um Ballett geht. (Warum nur? Alle anderenKunstrichtungen faszinieren mich.) Aber es hat mir trotzdem Spaß gemacht. DenVerlockungen von Grazie, Eleganz, lieblicher Musik kann man wohl schwerlichwiderstehen. Freya setzte mir danach im Restaurant ganz schön zu und warentsetzt über meine Unwissenheit. »Wenn ich nun sagen würde, ich interessieremich nicht für Kunst und Literatur? Was würdest du dann von mir denken?« Mitgrößter Freude gab ich mich geschlagen – Freude darüber, daß ich ihrgegenübersitzen und mich geschlagen geben durfte. Ich habe ein neues Bankkontoeröffnet, auf das Wallace meine literarischen Einkünfte überweisen wird.Aelthred zahlt uns, Lottie, eine jährliche Apanage von dreihundert Pfund, diefür den Haushalt in Norfolk reichen dürfte. Ich sagte zu Lottie, daß ich»öfter, wesentlich öfter« in London sein werde, aber sie schien sich nicht vieldaraus zu machen, solange ich an den Wochenenden zu Hause bin; das war ihreeinzige Bedingung. Ich habe ihre Ahnungslosigkeit benutzt, um die meistenBücher und Bilder in aller Stille in die Draycott Avenue zu verfrachten, undglaube nicht, daß es ihr aufgefallen ist. Wallace hat meine »Begegnung mitPicasso« für zweihundert Dollar ans Life-Magazin verkauft.
[MAI]
Behutsam und ohne Hast mache ich Freya den Hof. Ich plane unsere Treffensorgfältig, lasse ausreichend Zeit verstreichen, nehme nichts für selbstverständlich.Sie geht gern essen und trinkt genausoviel wie ich. Meine Stammlokale meide ich– also kein Ivy, kein Café Royale, kein Previtali –, weil ich kein Gerede will.Wir gehen ins Kino, besuchen Gemäldegalerien, Theater und Ballett. Letzte Wochevor dem Theater nahmen wir einen Drink in der Draycott Avenue, und siebewunderte die Wohnung. Es gibt einen »jungen Mann« bei der BBC, der sich fürsie interessiert, aber der ist, glaube ich, keine Konkurrenz.
FREITAG, 8. JUNI
Gestern gab einer von Freyas BBC-Chefs eine Cocktailparty, und sie lud michein, mitzukommen. Sie zog sich in der Draycott Avenue um (und sah immarineblauen Kreppkleid und mit Stöckelschuhen plötzlich sehr mondän aus), undwir fuhren mit dem Taxi zu seinem Haus in Highgate. Er heißt Turville Stevens,ist erst in den Vierzigern, hat aber buschiges, schlohweißes Haar. Weil derAbend warm war, verlagerte sich die Party in den Garten. Aus irgendeinem Grundstieg mir der Alkohol zu Kopf (ich hatte vor Freyas Ankunft Gin pur getrunken,um meine Nerven zu beruhigen), und ich ging ein wenig spazieren, um michauszunüchtern. Als ich dann mitten in diesem englischen Garten stand, in dermilden Frühsommernacht, überkam mich ein inniges Wohlbefinden. Ein tieferSchauder von Glück und Seligkeit durchströmte mich. Ich blickte in die Rundeund sah, daß Freya auf dem Rasen stand und mich anschaute. Das ist Liebe. NurLiebe vermag das. Unsere Blicke trafen sich, und wir tauschten unsere Botschaftaus – allein mit Blicken. Dann rief Turville nach ihr, und sie mußte sichwegdrehen. Ich lief wie ein Automat zu einer Gruppe hinüber, weil ich glaubte,Tommy Beatty dort gesehen zu haben. Zu meinem gelinden Erschrecken traf ichdort auf Land. Wir haben sehr nett miteinander geplaudert: Sie will bei dennächsten Wahlen fürs Parlament kandidieren. Sie fragte nach Lottie und Lionel,wollte wissen, woran ich schreibe und so weiter, und ich erkundigte mich nachden anderen Fothergills. Da wir uns so intim gekannt haben, war es seltsam,diese Kühle zwischen uns zu erleben. Wenn man einer Frau einen Antrag macht,und sie lehnt ab, ist es vermutlich immer so, daß ein normales Verhältnis nichtmehr möglich ist; die Verletzung sitzt zu tief. Der Mensch erträgt nur einbegrenztes Maß an Zurücksetzung. Als wir uns noch unterhielten, kam Freya, undich stellte sie vor. In solchen Situationen läßt sich nichts kaschieren: Ichweiß nicht, welche unsichtbaren Signale da gewechselt werden – vielleicht habenFrauen ein deutlicheres Gespür dafür als Männer –, aber mir war sofort klar,daß (a) Land wußte, was ich für Freya empfinde, und (b) Freya wußte, daß Landmeine ehemalige Geliebte ist. Die Unterhaltung zu dritt verlief sehr steif undschleppend, und wir brachen sie ab, sobald es sich ergab. Was mir an der Partyweiterhin gefiel, war die Beobachtung, daß mein literarisches Geplätscher nochimmer Eindruck macht. Elizabeth Bowen sagte ein wenig lauernd, wie mir schien:»Sie müssen ja jetzt enorm reich sein«, und ich wurde ein halbes Dutzend malgefragt, wann denn mein nächstes Buch zu erwarten sei. Turville Stevens machtemir große Komplimente zu der Sinneskraft und sagte, er könne sicher etwas imRundfunk senden, wenn Die Kosmopoliten erscheinen. Freya und ich gingen gegenneun und riefen in der High Street ein Taxi. Ich fragte sie, wohin sie zumEssen wolle, und sie sagte: »In die Draycott Avenue«. Die nackte Freya. Sogarnoch schöner. Sommersprossen auf Brust und Schultern. Ihre Hüftknochen sinddeutlich zu sehen. Ich weiß nicht, warum – wir sind schließlich beide keineDreißig –, aber ich fühle mich so viel älter als sie. Wir umklammern uns inmeinem schmalen Bett. »Wir dürfen niemals ein Doppelbett nehmen, Logan«, sagtesie. »Niemals. Wir müssen immer in einem einfachen Bett schlafen.« Sie bliebüber Nacht und ging am Morgen um acht zur Arbeit. Ich sitze im Schlafrock inder Küche und schreibe dies am Klapptisch, vor mir die übriggebliebenen Krustenihres Frühstückstoasts, und mein Herz macht Freudensprünge. Ich denke anLottie, unser Leben, unser Kind, und erkenne, daß es ein gräßlicher Fehler war,sie zu heiraten. Aber das Vergangene läßt sich nicht ungeschehen machen. Ichwill nur noch mit Freya sein: Jede Minute ohne sie ist unwiderruflich verloreneZeit.
© 2005 by Carl Hanser VerlagGmbH & Co. KG, München
Übersetzung: Chris Hirte
- Autor: William Boyd
- 2005, 512 Seiten, Maße: 15,3 x 22,1 cm, Gebunden, Deutsch
- Dtsch. v. Chris Hirte
- Übersetzer: Chris Hirte
- Verlag: HANSER
- ISBN-10: 3446205659
- ISBN-13: 9783446205659
Zustand | Preis | Porto | Zahlung | Verkäufer | Rating |
---|
5 von 5 Sternen
5 Sterne 1Schreiben Sie einen Kommentar zu "Eines Menschen Herz".
Kommentar verfassen