Eines Tages vielleicht
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Eine wunderbar einfühlsame Geschichte über Mütter und Töchter und über das Wiederfinden der Hoffnung.
Eines Tages vielleicht von Laura Moriarty
1
In jenem Sommer quälte sich Leigh immer wieder damit, im Geist alle Möglichkeiten durchzuspielen, wie der Unfall hätte verhindert werden können. Sie dachte an den streunenden Hund, der in gewisser Weise der Auslöser gewesen war. Wäre er nicht gewesen, hätte es keinen Unfall gegeben. Wäre der Hund zu Hause geblieben, wo er hingehörte, hätte er einen verantwortungsvolleren Besitzer gehabt, sich nicht unter einem Zaun hindurchgegraben oder wäre nicht in einem unbeobachteten Augenblick zu einer Tür hinausgeschlüpft, dann wäre er nicht irgendeiner Spur gefolgt, die ihn an jenem Nachmittag exakt in jenem Augenblick auf die Commerce Street geführt hatte. Dann wäre Leighs Tochter mit großer Wahrscheinlichkeit ohne irgendwelche Zwischenfälle nach Hause gefahren, und Bethany Cleese wäre noch am Leben.
Eine winzige Kleinigkeit nur, dachte Leigh oft, und die schreckliche Katastrophe hätte wahrscheinlich verhindert werden können. Wäre der Hund nicht so zutraulich gewesen, hätte er sich nicht von den Mädchen ins Auto locken lassen, und Kara wäre beim Verlassen des Parkplatzes nicht abgelenkt gewesen. Willow erzählte der Polizei später, sie hätten beide lachend versucht, den Hund zurückzudrängen, damit er hinten auf der Rückbank blieb, als sie den dumpfen Schlag hörten, der, wie sich herausstellen sollte, von dem Aufprall herrührte, der heftig genug gewesen war, ein junges Mädchen zu töten. Doch der Hund war nicht die einzige Ablenkung gewesen: Kara hatte, wie sie sofort eingeräumt hatte, beim Fahren telefoniert. Leigh konnte sich gut vorstellen, dass die Mädchen auch das Radio eingeschaltet hatten. Danach gefragt hatte sie allerdings nicht. Leigh war eine taktvolle, mitfühlende Mutter. Sie versuchte jedenfalls, eine zu sein. Sie gab sich immer die größte Mühe. Aber manchmal sagte sie anscheinend dennoch das Falsche.
Sooft sie an diese letzten Augenblicke im Wageninneren dachte, stellte sie sich den Hund aus irgendeinem Grund als Terriermischling vor, braun, so wie Benji. Wirklich gesehen hatte sie den Hund nie. Sie hatte erst viel später von ihm erfahren, und von der Rolle, die er bei dem Unfall gespielt hatte. Dabei war sie nur sieben Straßen entfernt gewesen, als der Unfall geschah: Sie hatte an der Juniorhighschool in der achten Klasse Englisch unterrichtet, so wie sie es seit über zehn Jahre an fast jedem Schultag getan hatte. Sieben Straßen nur, und sie hatte nicht die geringste Ahnung gehabt, was passiert war. Nachdem der Krankenwagen eingetroffen war, hatte Kara mit ihrem Handy ihren Vater in dessen Büro in der Universität angerufen. Gary war nicht da. Der Anruf war zum Büro der englischen Fakultät umgeleitet worden, und die Sekretärin, die die Dringlichkeit der Situation sofort erkannte, hatte ihn in einer Fakultätssitzung in einem anderen Stockwerk aufgespürt. Wie Gary Leigh später erzählte, hatte er die Stimme seiner Tochter zunächst nicht erkannt, so heftig schluchzte sie. Außerdem hörte es sich an, als fröstelte sie, und Gary erinnerte sich noch, gedacht zu haben, dass das an einem so warmen Tag überhaupt keinen Sinn machte. Als er endlich begriffen hatte, was passiert war, drückte er der Sekretärin das Telefon in die Hand und rannte los. Er hetzte mit Schlips und Jackett über den sorgfältig gepflegten Rasen des Universitätsgeländes zum Parkplatz. Es war Jahre her, dass er so schnell und so weit gelaufen war, und als er endlich bei seinem Wagen ankam, blieb er einen Augenblick schwer atmend stehen, eine Hand auf seine Brust gepresst.
Das alles geschah gegen drei Uhr nachmittags. Leigh erinnerte sich, dass sie die Sirenen gehört und wie jedes Mal bei diesem schaurigen Geheul eine vage Besorgnis verspürt hatte, die sie aber stets mit anderen Menschen und den Tragödien in deren Leben in Verbindung brachte. Dass die Sirenen etwas mit ihrem eigenen Leben zu tun hatten, erfuhr sie erst Stunden später, als sie, die Abschlussarbeiten ihrer Schüler unter den Arm geklemmt, nach Hause kam. Jemand hatte den Eimer mit dem Recyclingmüll umgeworfen, der im Windfang stand, und sie wäre um ein Haar auf einer zusammengedrückten Aluminiumdose ausgerutscht. Sie konnte sich gerade noch fangen. Ärgerlich schaute sie auf und sah ihren Mann und ihre Tochter im Wohnzimmer auf der Couch sitzen, eng beieinander, in einer Haltung, die sie an die Pärchen erinnerte, die sie manchmal in Lastwagen sitzen sah, der Mann hinter dem Steuer, die Frau neben ihm, dort, wo sich eigentlich eine Mittelkonsole befinden sollte. Leigh schnalzte verdrossen mit der Zunge, laut genug, dass sie es hören mussten. Sie hatten den Müll einfach liegen lassen, damit sie ihn wegräumte. Doch als sie näher kam, merkte sie, dass etwas nicht stimmte. Gary hatte seinen Arm um Karas Schultern gelegt, mit der anderen Hand hielt er ihre Hände auf ihren Knien fest. Kara hatte den Kopf gesenkt, ihr Gesicht war hinter ihren verwuschelten dunkelblonden Haaren verborgen. Garys Züge waren aufs Äußerste angespannt, und seine Brille saß schief auf seiner Nase. Leighs Blick fiel auf Justin, der auf dem Fußboden saß, seinen Rucksack und den Lunchbeutel neben seinen Füßen. Er hob den Kopf und sah seine Mutter an, als ob er, sein Vater und seine Schwester seit Tagen hilflos da gesessen und auf Rettung gewartet hätten.
»Was ist denn hier los?«
Als keiner antwortete, überkam Leigh ein erster Anflug von Angst. Aber immerhin waren alle da, ihr Mann, ihr Sohn, ihre Tochter; was immer also passiert sein mochte, es konnte nicht so schlimm sein. Sie warf einen Blick aus dem Panoramafenster. Der Geländewagen stand nicht in der Auffahrt.
»Was ist passiert? Ist was mit dem Wagen?« Möglicherweise schwang ein selbstgerechter Unterton in ihrer Stimme mit, schließlich war sie von Anfang an dagegen gewesen, Kara mit dem Geländewagen zur Schule fahren zu lassen. Der Suburban hatte einen verbeulten Kotflügel, war sieben Jahre alt und hatte Gary gehört. Wozu brauchte Kara ein Auto? Leigh war seinerzeit mit dem Bus zur Highschool gefahren. Es war doch nichts dabei, den Bus zu nehmen.
Kara blickte wortlos zu ihrer Mutter auf und blinzelte, als würde sie in ein grelles Licht schauen. Leigh glaubte sich später daran zu erinnern, dass sie in der Sekunde, als ihre Blicke sich trafen, den Eindruck hatte, das Gesicht ihrer Tochter hätte sich dauerhaft verändert. Auch ihre Haltung war anders. Normalerweise hielt sie sich wunderbar gerade, aber jetzt hockte sie in sich zusammengesunken auf der Couch und sah sehr jung und klein aus neben Gary. Ihre Augen schimmerten, als hätte sie geweint, und sie huschten unruhig hin und her, vom Fußboden an die Decke und von dort zur Wand und wieder zurück zum Fußboden. Sie erinnerte Leigh an einen sterbenden Vogel, an ein Junges, das aus dem Nest gestoßen worden war.
Leigh bückte sich, um Karas Blick aufzufangen, aber ihre Tochter wich ihr aus.
»Was ist?«, fragte sie noch einmal, und das St kam hart und zischend aus ihrem Mund. Sie sah Gary an, aber auch er schwieg. Leigh wurde allmählich wütend. Sie haben sich bereits verbündet, dachte sie, und sie würden niemals zugeben, dass sie Recht gehabt hatte, was das Auto betraf.
»Es hat einen Unfall gegeben«, sagte Gary schließlich. An seinem Ton erkannte Leigh sofort, dass nicht das Auto das Problem war. Sie ließ sich in einen Sessel fallen. Die Schlüssel in ihrer Hand klirrten. An ihrem Schlüsselbund hing ein großes, rosarotes Herz, ein kitschiges, billiges Ding. Aber da es ein Weihnachtsgeschenk von Justin war, hatte sie es pflichtschuldig an ihrem Schlüsselring angebracht. Leigh bemerkte die Kratzer auf Karas Wangen. Sie begriff, dass Gary die Hände seiner Tochter festhielt, damit sie sich nicht das Gesicht zerkratzte. Sie betrachtete Karas glänzende, rosarote Fingernägel, während sie mit dem Metallherz an ihrem Schlüsselbund spielte.
»Kara saß am Steuer«, fuhr Gary fort. »Sie hat jemanden auf dem Fußgängerüberweg angefahren. Ein Mädchen.«
Kara streifte ihn mit einem flüchtigen Blick, bevor sie wieder auf den Fußboden starrte. Leigh hielt den Atem an. Auch Garys Augen schimmerten hinter den Brillengläsern, und vielleicht hätte das allein genügen sollen, Leigh den Ernst der Situation klarzumachen. In den zwanzig Jahren, die sie verheiratet waren, hatte sie ihren Mann genau zwei Mal weinen sehen: das erste Mal, als er erfuhr, dass seine Mutter an Krebs erkrankt war, das zweite Mal an dem Abend, als sie starb.
»Und was ist mit ihr? Was ist mit dem Mädchen?«
Er machte die Augen kurz zu, und als er sie wieder öffnete, schaute er weg, als hätte er ihre Frage bereits beantwortet. »Gary? Was ist mit ihr?«
»Sie ist tot«, sagte er gereizt, als wäre ihm unbegreiflich, wie sie so begriffsstutzig sein konnte.
Leighs Blick ging in Richtung Küche und den dahinterliegenden Eingangsbereich, und dann heftete sie ihn auf die Tür, durch die sie gerade hereingekommen war. Vor zwei Minuten hatte sie an diesem sonnigen Nachmittag den Wagen in die Garage gefahren, das Schuljahr war vorbei, im Radio lief ein Song von U2. Sie hatte sich Gedanken gemacht wegen Mr Tork und der Eltern-Lehrer-Vertretung. Vor dem Aussteigen hatte sie noch einen raschen Blick in den Innenspiegel geworfen und gedacht, dass sie ihr Leben lang dünn gewesen war und ihr Gesicht vermutlich deshalb so rasch alterte. Das – die Eltern-Lehrer-Vertretung, die Falten in ihrem Gesicht – waren die Dinge gewesen, um die sie sich vor zwei Minuten noch gesorgt hatte.
»Wer ist es?«, fragte sie tonlos.
»Eine Schülerin von der Highschool.«
Leigh wappnete sich. »Wer? Wie heißt sie?«
Garys Miene verfinsterte sich. Er lockerte seinen Krawattenknoten und öffnete die obersten zwei Hemdknöpfe. Er hatte große Schweißflecke unter den Achseln.
»Bethany Cleese.«
Leigh und Gary zuckten zusammen. Es war Kara, die geantwortet hatte, und ihre Stimme klang so tief und rau wie die eines alten Mannes. Leigh machte eine hastige Handbewegung, als versuchte sie, etwas von sich wegzuschieben, aber schon sah sie Bethany im Geist vor sich, wie sie sie aus ihrer achten Klasse kannte, wo sie ganz vorne gesessen hatte, die dunklen Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Leigh hatte im Lauf der Jahre so viele Schüler gehabt, dass sie oft Mühe hatte, sich an die stilleren unter ihnen zu erinnern. Vielleicht hätte sie auch Bethany vergessen, hätte sie sie nicht letztes Jahr zufällig mit ihrer Mutter im Supermarkt getroffen. Die Mutter hatte einen anderen Nachnamen, Leigh konnte ihn sich nicht merken, und sie hatte blondierte Haare, die im Neonlicht des Supermarkts gelb und stumpf aussahen. Sie hatte sich entschuldigt, weil sie nie zum Elternabend gekommen war. Sie habe seinerzeit abends gearbeitet, erklärte sie, aber sie hätte die Lehrerin, die ihre Tochter so mochte, gern einmal persönlich kennen gelernt. Leigh wusste noch, dass Bethany peinlich berührt zu Boden geblickt hatte. Doch ihre Mutter plauderte ungerührt weiter und schob dabei ihren Einkaufswagen vor und zurück wie einen Kinderwagen mit einem schlafenden Kind. Sie habe ihre eigene Reinigungsfirma gegründet, erzählte sie, und jetzt könne sie abends zu Hause bei ihrer Tochter sein. Das Geschäft laufe gut.
Leigh hatte eifrig genickt und gedacht, sie würde der Frau gern begreiflich machen, dass sie sich nicht zu rechtfertigen brauchte. Bethany war seit einem Jahr nicht mehr in ihrer Klasse, und es gab viele Eltern, die abends arbeiteten. Plötzlich klappte die Frau ihre Brieftasche auf, zog ein Kärtchen aus einem der Fächer und reichte es Leigh. Sie könne noch eine Kundin annehmen, meinte sie. Die Preise seien günstig, der Service ausgezeichnet. Bethany gab ein unterdrücktes Brummen von sich und wandte einen Moment das Gesicht ab, doch dann lächelten Mutter und Tochter Leigh an. Ihr fiel auf, dass sie die gleichen großen, braunen Augen hatten. Später sah Leigh die beiden noch einmal in der Obst- und Gemüseabteilung. Bethany hatte sich zu ihrer Mutter gebeugt und sagte etwas, das sie zum Lachen brachte.
Leigh hatte das Kärtchen mit der Telefonnummer weggeworfen. Sie und Gary hätten sich vielleicht einmal im Monat eine Putzhilfe leisten können, aber es wäre Leigh unangenehm gewesen, Bethanys Mutter im Haus zu haben, die selbst mit ihren gebleichten Haaren einen so adretten und ordentlichen Eindruck machte. Leigh wusste, wie furchtbar es manchmal in ihren vier Wänden aussah.
Als sie jetzt im Sessel saß und an dem herzförmigen Schlüsselanhänger herumspielte, konnte sie Bethanys Mutter mit ihrer Stupsnase und ihren hohen, dünnen Brauen deutlich vor sich sehen. Ob sie es schon wusste? Und wenn ja, wer mochte ihr die schreckliche Nachricht überbracht haben? Sie stellte sich vor, wie die Frau fassungslos den Kopf schüttelte, sich vor Schmerz krümmte. Sie würde sie alle hassen. Sie würde Kara hassen. Leigh sah ihre Tochter an. Gary hatte ihre Hände von ihren Knien weggezogen, und Leigh bemerkte die halbmondförmigen Vertiefungen, die ihre Fingernägel in die Haut gegraben hatten. Kara hatte kurz vor der Abschlussfeier begonnen, in ein Sonnenstudio zu gehen, und die Haut rings um die Einkerbungen war golden gebräunt.
»O Schätzchen«, sagte sie. In diesem Moment sprach sie für sie alle – für Kara, für Bethany und deren Mutter, für Justin und auch für Gary, der so elend und so verschwitzt aussah. Er war ein hellhäutiger Typ, der schnell einen Sonnenbrand bekam, und die Nachmittagssonne, die durch das Fenster hereinschien, war grell und stark. Leigh stand auf, zog die Vorhänge zu und setzte sich dann neben Kara auf die Armlehne des Sofas. Sie legte einen Arm um sie, sodass sie mit ihrer Hand auch Gary berührte. Ihre Knie stießen an Justins Rücken. Die körperliche Nähe zu ihrer Familie gab ihr Kraft. Es war, als wäre sie an eine Energiezufuhr angeschlossen worden, wie eine Lampe, deren Stecker in die Steckdose gesteckt wird. Doch eine Sekunde später versteifte sich Kara und rückte weg von ihr und ein wenig näher an ihren Vater heran.
»Hast du sie ... einfach so mit nach Hause nehmen dürfen?« Leigh hörte selbst, wie unsicher ihre Stimme klang. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. »Was hat die Polizei denn ...«
Gary beugte sich vor. »Sie war ja nicht betrunken. Es war ein Unfall.«
Leigh schüttelte den Kopf. So hatte sie das nicht gemeint. Sie berührte Kara am Arm. Ihre Finger hoben sich blass gegen die gebräunte Haut ihrer Tochter ab. »Hast du ... Sie war auf dem Zebrastreifen? Bist du sicher?«
Kara zuckte mit den Schultern. »Ich hab sie nicht gesehen.« »Und warum nicht?«
Sie stellte die Frage so behutsam wie möglich. Aber sie musste es wissen. Alle anderen wussten, was passiert war, im Gegensatz zu ihr. Sie würde ihre Informationen aus zweiter Hand bekommen. Sie würde niemals so viel in Erfahrung bringen, wie sie eigentlich müsste.
»Ist sie ... ist sie einfach so auf die Straße gelaufen?«
»Ich weiß es nicht.« Kara blickte zu ihrer Mutter auf, ihre grauen Augen waren weit aufgerissen und glänzten. »Ich kann es dir nicht sagen. Ich weiß es nicht, okay? Ich weiß nicht, warum ich sie nicht gesehen habe. Ich habe sie einfach nicht gesehen!«
Leigh straffte sich. Sie waren beide sauer auf sie. Sie fühlte sich gekränkt und verletzt, wie schon so oft. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, und sie kam sich deswegen dumm und egoistisch vor. Sie sollte wegen Bethany weinen oder gar nicht. Dann schluckte sie, schüttelte den Kopf und stand auf.
»Ich werde dir etwas zu essen machen«, sagte sie. Sie schaute nicht zurück, wartete nicht auf eine Antwort. Sie würde Gary später nach den Einzelheiten fragen. Aber im Durchgang zur Küche hielt sie dann doch inne und drehte sich um. Gary hatte seinen Arm noch immer um Karas Schultern gelegt, ungezwungen und selbstverständlich. Karas Wange ruhte an seiner Brust. Leigh beobachtete die Szene mit angehaltenem Atem. Ihr ganzes Leben lang war es ihr schwergefallen, Traurigkeit und Wut auseinanderzuhalten. Sie war sich dessen durchaus bewusst. Aber wann war das Vermischen dieser beiden Emotionen falsch und wann nicht? Schwer zu sagen.
Sie ging zurück ins Wohnzimmer und hüstelte. Gary und Justin blickten beide auf, und Leigh nickte in Richtung Küche. Als Justin sich anschickte aufzustehen, hob Leigh abwehrend die Hand. Im Gegensatz zu Gary, der sie nur benommen anstarrte, war Justin mit seinen zwölf Jahren durchaus imstande, einen diskreten Wink zu deuten. Sie schaute Gary mit weit aufgerissenen Augen an und machte erneut eine Kopfbewegung zur Küche hin. Endlich verstand er. Leigh ging in die Küche und schaltete den Geschirrspüler ein. Obwohl eine Tüte aufgeschnittenes Brot auf der Arbeitsfläche lag, nahm sie eine neue Packung aus der Tiefkühltruhe, zog zwei Scheiben heraus und legte sie in die Mikrowelle. Dann drehte sie den Wasserhahn an der Spüle auf.
»Was machst du denn?« Gary war ihr gefolgt. Er musste sich in dem weißen Türrahmen immer ein wenig ducken. Der niedrige Rahmen sei schuld daran, dass er seine Haare verlor, jedes Jahr ein paar mehr, scherzte er immer. Leigh zog ihn am Arm näher zu sich heran. »Ich will nicht, dass sie uns hört.« Sie hatte flüstern wollen, aber die Worte kamen zischend aus ihrem Mund. »Mein Gott! Was genau ist denn passiert?«
Gary rückte seine Brille zurecht. Er sah furchtbar erschöpft aus. Leigh konnte den Schweiß riechen, der auf seinem Hemd getrocknet war. Stockend begann er zu erzählen, wie er über das Universitätsgelände gerannt war, wie sein Herz gehämmert hatte, wie endlos ihm die Fahrt quer durch die ganze Stadt vorgekommen war. Als er endlich am Unfallort eingetroffen war, lag Kara auf der Rückbank des Streifenwagens auf der Seite, das Gesicht hinter ihren Armen verborgen. Sie habe Daddy zu ihm gesagt, fügte er hinzu. So hatte sie ihn seit Jahren nicht mehr genannt.
»Warum hast du mich nicht angerufen?«
Er blinzelte verwirrt und schien im ersten Moment keine Antwort darauf zu haben. »Ich hab’s versucht. Ich hab’s gleich versucht, nachdem der Anruf kam. Es war nach drei Uhr, deshalb hab ich dich auf deinem Handy angerufen, aber ich konnte dich nicht erreichen. Danach hab ich’s vom Auto aus noch einmal versucht.«
Jetzt fiel es ihr wieder ein. Sie hatte sich gerade mit Jim Tork unterhalten, als ihr Handy klingelte. Es war eine angespannte Unterredung gewesen. Mr Tork wollte nicht, dass sein Sohn im nächsten Jahr in der achten Klasse in Leighs Englischunterricht Der große Gatsby las, weil – Mr Tork hatte jeden einzelnen Grund an seinen langen, dünnen Fingern abgezählt – die Geschichte außerordentlich deprimierend sei, der Roman eine dekadente Lebensweise als erstrebenswert darstelle, Ehebruch schildere, als ob es sich um etwas ganz Alltägliches handele, und mehr als eine Romanfigur den Namen des Herrn missbrauche. Mr Tork regte sich auch über die Kurzgeschichte von Flannery O’Connor und die Lebenserinnerungen von Tobias Wolff auf. Er habe sich Leighs Leseliste genau angesehen, erklärte er, und soweit er es beurteilen könne, seien alle ausgewählten Titel gleichermaßen deprimierend.
Leigh fand, dass Mr Tork ein schönes Gesicht mit einer Römernase und dramatischen Augen hatte, deren äußere Winkel nach unten zeigten. Er sah gut aus und hatte eine tiefe, selbstsichere Stimme. Leigh nickte ernst, während er redete, und dachte, dass er mit einem solchen Gesicht unter anderen Umständen vielleicht ein berühmter Schauspieler geworden wäre. Wäre er irgendwo anders geboren worden oder hätte andere Eltern gehabt, würde sie ihn möglicherweise nur von der Leinwand kennen. Er hätte einen eleganten Haarschnitt, würde einen teuren Anzug tragen und in die Kamera lächeln. Plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie dem realen Mr Tork aus Danby, Kansas, der einen fürchterlichen Haarschnitt und ein bis obenhin zugeknöpftes Polohemd trug und nicht die Spur lächelte, gar nicht zuhörte. Sie riss sich zusammen. Sie musste wenigstens so tun, als nähme sie seine Bedenken ernst, sonst zog er womöglich andere Eltern auf seine Seite. Also griff sie ohne hinzusehen in ihre Handtasche, als ihr Handy klingelte, und schaltete es aus.
Sie ging an Gary vorbei zur Küchentheke, klappte ihre Handtasche auf und kramte ihr Mobiltelefon heraus. Er sah zu, wie sie es aufklappte, ein paar Tasten drückte und prüfend das Display betrachtete.
»Was soll das? Leigh, ich sage dir doch, ich habe versucht, dich zu erreichen. Du glaubst doch nicht –« Er brach unvermittelt ab, als ihm klarwurde, wonach sie suchte.
Leigh starrte das Display an. Gary streckte die Hand nach ihrer Schulter aus, aber sie wich zurück.
»Wahrscheinlich hat sie gedacht, sie würde dich nicht erwischen«, sagte er. »Liebes. Sie war völlig durcheinander. Sie hat in dem Moment doch gar nicht vernünftig nachgedacht.«
»Du hättest im Sekretariat anrufen können. Sie hätten jemand nach mir geschickt.«
»Dafür war keine Zeit.« Er schaute hinüber zur Spüle, wo das Wasser aus dem Hahn floss und in den Abfluss plätscherte. »Ich musste bei ihr bleiben. Sie hatten schon angefangen, Fragen zu stellen. Willow wurde bereits vernommen.«
»Willow?«
»Sie war dabei. Sie saß mit Kara im Auto.«
Leigh schüttelte den Kopf. Sie hatte angenommen, Kara wäre allein im Auto gewesen. Niemals würde sie alle Einzelheiten erfahren, das begriff sie jetzt. Sie würde niemals so viel wissen, wie Gary wusste.
Er nahm seine Brille ab und rieb sich mit Daumen und Zeigefinger die Augen. Er sieht alt aus, dachte Leigh. Die Haut hing schlaff und schwer an seinem langen, schmalen Gesicht herunter. »Sie hatte schon ins Röhrchen blasen müssen, als ich kam. Sie sahen sie ganz genau an und stellten Fragen. Das Auto wurde durchsucht. Ein Haufen Gaffer stand herum. Einige machten Fotos.«
»Hast du sie gesehen? Bethany?«
Seine Miene verfinsterte sich wieder, als hätte sie eine feindselige Bemerkung gemacht. »Sie war zugedeckt.« Sein Blick richtete sich auf einen Punkt über ihrer Schulter. »Ich hab nur gesehen, wo sie gestürzt ist.«
»War ihre Mutter auch da?«
Er machte ein verwirrtes Gesicht. »Ihre Mutter? Nein«, antwortete er.
Leigh wandte den Blick ab und starrte abwesend auf den Kühlschrank, der mit kleinen Momentaufnahmen aus ihrem Leben bedeckt war: eine Einladung zu Justins bevorstehendem Konzert, ein Abholschein von einer Reinigung (die Sachen hätten bereits vor über zwei Monaten abgeholt werden können), ein Foto von Gary in einem Vampirkostüm an Halloween, ein kleiner Zeitungsartikel über Leighs Auszeichnung für ihre Arbeit mit behinderten Schülern. Rechts daneben zog ein farbiges Zeitungsfoto von Kara die Aufmerksamkeit auf sich. Es stammte aus dem vergangenen Jahr und zeigte sie beim Fußballspielen, kurz nachdem sie einer Gegnerin den Ball abgeluchst hatte. Ihr langes rechtes Bein war nach vorn gestreckt, jeder Muskel angespannt, ihre Fußspitze berührte den Ball. Vier Wörter aus der Schachtel bunter Magnete, die Leigh aus einer Laune heraus gekauft hatte, hielten das Foto fest: REIZENDES MÄDCHEN KICKT GUT. Gary hatte das Foto aus der Zeitung ausgeschnitten, aber es war Leigh, die eines Tages, während sie mit ihrer Schwester telefonierte, die vier Magnete zusammengestellt hatte, ohne im Grunde darüber nachzudenken. Es hatte sich einfach ergeben. Aber der Satz passte. Kara mit ihrem hochhüpfenden Pferdeschwanz sah auf dem Foto wirklich reizend aus, der Inbegriff von Jugend und Kraft.
Der Timer der Mikrowelle klingelte. Leigh und Gary sahen das Gerät an, als hätte es sie absichtlich unterbrochen.
»Und sie war auf dem Fußgängerübergang?«, fragte Leigh. Dieser Punkt war wichtig. Sie würde die Frage so lange stellen, bis sie eine Antwort darauf erhielt.
Gary senkte seinen Blick. »Zu dem Zeitpunkt nicht. Sie muss am Bordstein gestürzt sein. Da war alles voller Blut.« Die Stirn in Falten gezogen, deutete er vage auf den Fußboden. »Sie haben den Abstand von ihr zu den Rädern gemessen.«
Leigh ließ sich gegen die Küchentheke fallen. Wieder sah sie Bethany vor sich, ihre dunklen Augen, ihr träges Lächeln, die Rundung ihrer Wange, die das durchs Klassenzimmerfenster hereinfallende Licht reflektierte.
Sie schaute zu Gary auf. »Und wie geht es jetzt weiter?«
»Es wird Anzeige erstattet werden. Der Fall wird ans Amtsgericht weitergeleitet und von dort möglicherweise an den Bezirksstaatsanwalt.«
»Wird man sie verhaften?«
»Kann ich mir nicht vorstellen. Es war ein Unfall, Leigh.«
»Ja, schon, aber ...« Sie schüttelte den Kopf und versuchte, ihre Gedanken zu ordnen. »Auch wenn es ein Unfall war, ich meine, du weißt selbst, wenn sie fahrlässig gehandelt hat ...«
Er legte sich eine Hand über den Mund. »Ich hab keine Ahnung. Gesagt haben sie nichts. Sie haben das Auto beschlagnahmt, aber sie hatten nichts dagegen, dass ich Kara mit nach Hause nehme.« Er lehnte den Oberkörper zurück und spähte hinüber ins Wohnzimmer. Leigh stellte sich auf Zehenspitzen, damit sie ihm über die Schulter blicken konnte. Justin hatte sich aufs Sofa zu Kara gesetzt, die Wange an ihre Schulter geschmiegt. Das Mädchen tätschelte ihm zerstreut die Hand und starrte aus dem gegenüberliegenden Fenster.
»Ich hab ihr eine Valium gegeben, kurz bevor du gekommen bist«, flüsterte Gary. »Es sind noch ein paar übrig von meiner Operation.« Er fuhr sich mit den Fingern unter seine Brille und rieb sich aufs Neue die Augen. »Wir müssen einen Anwalt einschalten«, fügte er hinzu.
Sie schauten sich einige Sekunden lang wortlos an. Dann drehte sich Gary um und ging zurück ins Wohnzimmer. Nach einem Augenblick wandte Leigh sich ab, öffnete die Mikrowelle und nahm das Brot heraus. Es war hart geworden und ungenießbar. Sie warf es in den Müll, zog acht frische Scheiben aus der Packung und legte sie nebeneinander auf die Arbeitsfläche.
Das Telefon klingelte. Gary kam in die Küche zurückgelaufen.
»Nicht drangehen«, sagte er. »Wir sollten vorerst mit niemandem reden.«
Leigh sah ihn an. Er hatte die Zähne fest zusammengebissen und atmete schwer. Es kam selten vor, dass er in diesem Befehlston sprach. Im Geist sah sie das Garagentor vor sich, das sich senkte und zufiel, eine Zugbrücke, die hochgezogen wurde, eine Abschottung gegen die Welt da draußen.
Der Anrufbeantworter schaltete sich ein. Sie hörten den Ansagetext, den Kara und Justin sich ausgedacht hatten und fröhlich herunterleierten:
Die Churchills sind leider nicht da,
sonst würden wir rangehen, ganz klar.
Hinterlasst uns eine Nachricht nach dem Signal,
aber verschont uns mit Werbung – die ist uns völlig egal. Gelächter, dann ein Piepton und dann die beruhigende, beschwörende Stimme von Eva Greb.
» Leigh? Hallo? Jemand zu Hause? O mein Gott, ich hab’s gerade erfahren. Willow ist ganz außer sich. Sie macht sich schreckliche Sorgen um Kara. Wir sind den ganzen Abend zu Hause. Ruf mich so schnell wie möglich zurück. Wenn du irgendwas brauchst, ich komm sofort rüber. Ruf mich heute Abend noch an, ganz egal, wie spät es ist. Ich will bloß sichergehen ...«
Gary schüttelte den Kopf. »Wir dürfen vorerst mit niemandem reden.« Er sah Leigh fest in die Augen. »Hast du verstanden? Mit niemandem! Vor allem nicht mit ihr.«
Justin aß als Einziger sein Sandwich. Seine Serviette ordentlich auf dem Schoß gefaltet, biss er geräuschlos einen kleinen Happen nach dem anderen ab. Leigh zog die Vorhänge wieder auf. Inzwischen war es früher Abend, und das trübe Rechteck Licht vom Panoramafenster war von der Couch auf den Fußboden gewandert. Karas Augen waren klein geworden, ihre Lider schwer. Sie hatte ihre Creolen abgenommen und schüttelte sie in der hohlen Hand wie zwei Würfel.
Das Telefon klingelte in einem fort. Eine Reporterin vom Danby Chronicle hinterließ ihren Namen und ihre Telefonnummer. Willow rief ebenfalls an. Ihre hohe, zarte Stimme war so leise, dass man sie kaum verstehen konnte. Um sieben Uhr kam ein zweiter Anruf von Eva. »Ich wollte nur hören, ob ihr schon zu Hause seid. Willow und ich machen uns Sorgen. Vielleicht schau ich später mal vorbei. Ruft mich an, sobald ihr könnt. Auch wenn es spät werden sollte.«
Leigh vermied es, Gary anzusehen. Sie ging an den Tisch zurück, griff nach ihrem Sandwich, legte es wieder hin. Sekunden später klingelte das Telefon erneut.
»Hallo? Hallo? Hallo? Hier ist Ed-na Cas-tle.«
Eine lange Pause. Justin sah seine Mutter an, und sie hätten sich beinahe angelächelt.
»Ich rufe wegen Jus-tin Churchill an«, fuhr die Stimme fort, wobei sie jedes Wort so langsam und deutlich aussprach, als testete sie ein Mikrofon. »Wir dachten, er würde heute Abend zum Klavierspielen kommen, damit wir singen können. Wir warten alle auf ihn. Wir haben uns alle darauf gefreut, dass er für uns spielt.«
Das Freizeichen ertönte. Gary, der sich auf die Klavierbank gesetzt hatte, lächelte. »Geh nur, wenn du magst«, sagte er zu Justin. »Aber rede mit niemandem über den Unfall oder über deine Schwester, okay?«
»Ich muss da nicht hingehen«, erwiderte Justin. »Ich kann anrufen und sagen, ich bin krank.« Seine Stimme klang resigniert, seine Miene war voller Besorgnis. Er wollte seinen Teil beitragen. Obwohl er sein Sandwich längst aufgegessen hatte, saß er immer noch am Tisch.
»Geh nur«, sagte seine Schwester. Wieder erschraken Leigh und Gary über ihre fremde, ungewohnt tiefe Stimme. Sie hörte sich an wie ein völlig anderer Mensch. Die Stirn hatte sie in tiefe Falten gezogen, als kostete sie das Sprechen schrecklich viel Kraft, und ihre Schultern wirkten wie nach innen gefaltet.
»Geh nur, Justin. Das ist schon in Ordnung. Du kannst hier doch nichts tun.«
Er schaute seine Mutter an. Als sie nickte, stand er auf, seinen leeren Teller in den Händen. »Fährst du mich?«
Leigh hätte fast wieder genickt, besann sich dann aber. Sie fuhr ihn immer, überallhin, zum Seniorenheim, zum Videoverleih, zum Supermarkt, wenn er irgendwelche Sonderwünsche hatte. Normalerweise machte ihr das nichts aus. Aber heute, an diesem schrecklichen Tag hatte Gary bereits genug Zeit allein mit Kara verbracht. Leigh fand, dass jetzt sie an der Reihe war. In Anbetracht der Umstände mochte dieser Wunsch lächerlich und engstirnig sein, aber sie hatte das Gefühl, etwas – oder
jemand, vielleicht Gary selbst – hielt sie auf subtile, aber ent
schlossene Weise fern von ihrer Tochter. Sie sah ihren Mann an.
»Würdest du ihn fahren? Ich würde gern dableiben.«
Sie sagte es leichthin, als würde sie davon ausgehen, dass er die Frage erwartete. Ein Schweigen entstand, und in der Stille spürte Leigh ihr eigenes Unbehagen, ein Unbehagen, das sich in den Blicken aller im Raum widerspiegelte.
»Sicher«, antwortete Gary im gleichen beiläufigen Tonfall. Er und Justin schauten sich an, als wüssten sie nicht so recht, wie es jetzt weitergehen sollte. Dann zeigte der Junge auf die Klavierbank, auf der sein Vater immer noch saß. »Meine Noten sind da drin.« Gary stand auf, klopfte die Taschen nach seinem Schlüsselbund ab. Ein beklemmendes Gefühl beschlich Leigh, aber sie sagte nichts. Sobald sie mit Kara allein wäre, würden ihr die richtigen Worte schon einfallen, Worte, die Kara zeigten, dass sie bei allem Schmerz, allem Mitgefühl für Bethany und deren Mutter zu ihr halten und das alles mit ihr gemeinsam durchstehen würde. Ja, ihr würden ganz bestimmt die richtigen Worte einfallen. Und sie würde sie auf die richtige Art und Weise sagen. Sie würde einfach aussprechen, was sie empfand.
Aber als sie hörten, wie Gary den Wagen aus der Garage fuhr, stand Kara auf und sagte, sie werde ins Bett gehen. Leigh war nicht dazu gekommen, auch nur ein einziges Wort zu äußern.
»Aber ...« Leigh erhob sich ebenfalls und folgte ihr zur Treppe. »Schätzchen? Geht es dir auch gut?«
»Nein.« Ihr Ton war so gereizt wie der ihres Vaters zuvor in der Küche. Kara klammerte sich ans Treppengeländer, als bewegte sie sich auf schwankendem Boden, und dann stieg sie die ersten Stufen hinauf.
»Du musst doch etwas essen«, sagte Leigh hilflos.
Kara drehte sich um und musterte sie mit einem Ausdruck tiefster Verachtung. Unter anderen Umständen hätte Leigh sie wahrscheinlich scharf deswegen angegangen. Karas Augen waren ihren eigenen verblüffend ähnlich, daher hatte Leigh, wenn sie ihre Tochter ansah, oft das verstörende Gefühl, ihr jüngeres Ich anzuschauen. Mit ihren achtzehn Jahren war Kara bereits etliche Zentimeter größer als ihre Mutter, und ihr Blick konnte sehr herablassend sein, und so hatte es den Anschein, als schaute sie nicht nur physisch, sondern auch moralisch, halb belustigt, halb mitleidig, auf ihre Mutter hinunter.
Vielleicht bildete sich Leigh das auch nur ein. Das spielt jetzt keine Rolle, dachte sie. Sie durfte jetzt nicht an sich denken.
»Wenn du reden möchtest ...«, rief sie Kara hinterher.
Doch das wollte Kara anscheinend nicht. Eine Hand weiter fest am Geländer, ging sie die Treppe hinauf. Leigh blieb allein im dunklen Wohnzimmer zurück. Die Fenster hoben sich im Gegenlicht von der Dämmerung ab. Sie setzte sich auf die Armlehne des Sofas und schaute hinaus. Sie durfte sich nicht selbst bemitleiden. Irgendwo da draußen, gar nicht so weit entfernt, musste Bethany Cleese’ Mutter an diesem warmen, vom Duft des Flieders erfüllten Frühlingsabend die Nachricht verkraften, dass ihr Kind nicht mehr nach Hause kommen würde. Leigh versuchte, sich ganz auf diesen Gedanken zu konzentrieren, als wäre der Schmerz eine Art Buße, etwas, das sie tun konnte, um zu helfen.
Doch es gelang ihr nicht. Ein Bild stieg vor ihrem inneren Auge auf und ließ sich nicht mehr vertreiben. Sie sah ihre Tochter als kleines Mädchen vor sich, wie sie aus dem Schulbus ausstieg und in Baumwollstrumpfhosen und Tennisschuhen mit ausgestreckten Armen die Auffahrt hinaufrannte, wo ihre Mutter auf sie wartete. Leigh sah ihr Lächeln, ihre schiefen Zähne, die noch von keiner Zahnspange korrigiert worden waren, und die überwältigende Liebe in diesen geradezu unheimlich vertrauten Augen, als sie sich in die Arme ihrer Mutter warf. Sie und ihr kleines Mädchen waren anfangs so wundervoll miteinander ausgekommen. Aber als sie jetzt allein im dämmrigen Wohnzimmer saß, musste sie an einen Ausspruch von Jackie Kennedy denken, den sie irgendwann einmal in einer Zeitschrift gelesen hatte: »Wenn Sie bei der Erziehung Ihrer Kinder patzen, zählt alles andere in Ihrem Leben nicht mehr viel, was immer Sie auch tun mögen.« Leigh hatte das Zitat gleich gefallen. Sie war aufgewachsen in der festen Überzeugung, dass sie es richtig machen, eine gute Mutter sein würde. Sie war so selbstsicher und selbstgefällig gewesen.
Doch jetzt, so viele Jahre später, kamen ihr diese Worte wie eine düstere Prophezeiung vor. Trotz bester Absichten hatte sie offenbar bei der Erziehung ihrer Tochter gepatzt. Und nun, da Kara ebenfalls ein furchtbarer Fehler unterlaufen war, schien sich der Spruch zu bewahrheiten: Alles andere zählte in der Tat nicht mehr viel.
Für die Orginalausgabe:
Copyright © 2007 by Laura Moriarty
Titel der amerikanischen Originalausgabe: »The Rest of Her Life«
Originalverlag: Hyperion, New York
Für die deutschsprachige Ausgabe:
Copyright © 2010 by Bastei Lübbe GmbH & Co. KG, Köln
Textredaktion: Cathrin Wirtz
- Autor: Laura Moriarty
- 2010, 366 Seiten, Maße: 12,5 x 18,6 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung: Strasser, Sylvia
- Übersetzer: Sylvia Strasser
- Verlag: Bastei Lübbe
- ISBN-10: 340416475X
- ISBN-13: 9783404164752
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