Eisbraut
Thriller. Deutsche Erstausgabe
Nur wenige Monate nach der Ermordung ihres Verlobten steht die Gerichtsmedizinerin Theresa MacLean vor ihrem bisher schwierigsten Fall: Die frisch verheiratete Jillian Perry wird tot im Wald aufgefunden - sie ist erfroren. Es gibt keine Spuren, die auf...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Eisbraut “
Nur wenige Monate nach der Ermordung ihres Verlobten steht die Gerichtsmedizinerin Theresa MacLean vor ihrem bisher schwierigsten Fall: Die frisch verheiratete Jillian Perry wird tot im Wald aufgefunden - sie ist erfroren. Es gibt keine Spuren, die auf ein Verbrechen hindeuten, doch Theresas Intuition sagt ihr, dass die junge Mutter keinen Selbstmord begangen hat. Dann beantragt plötzlich auch noch Jillians Exfreund das Sorgerecht für deren kleine Tochter - und behauptet, sie schwebe in Lebensgefahr.
Klappentext zu „Eisbraut “
Ein fast perfektes Verbrechen. Ein kaltherziger Killer. Eine Frau, die ihn erbarmungslos jagt.Nur wenige Monate nach der Ermordung ihres Verlobten steht die Gerichtsmedizinerin Theresa MacLean vor ihrem bisher schwierigsten Fall: Die frisch verheiratete Jillian Perry wird tot im Wald aufgefunden sie ist erfroren. Es gibt keine Spuren, die auf ein Verbrechen hindeuten, doch Theresas Intuition sagt ihr, dass die junge Mutter keinen Selbstmord begangen hat. Dann beantragt plötzlich auch noch Jillians Exfreund das Sorgerecht für deren kleine Tochter und behauptet, sie schwebe in Lebensgefahr
Lese-Probe zu „Eisbraut “
Eisbraut von Lisa Black ... mehr
1
Mittwoch, 3. März
»Ich habe hier das ganze Haus voll toter Menschen«, erklärte Theresa MacLean dem Detective. »Und deshalb keine Zeit für jemanden, der vermutlich noch am Leben ist.« Frank Patrick parkte den Wagen am Bordstein und deutete auf das alte Backsteinhaus vor ihnen. »Das wissen wir doch noch gar nicht mit Sicherheit. Welche Frau lässt schon einen stinkreichen Ehemann, ein tolles Apartment und eine fünf Monate alte Tochter zurück?« »Eine ziemlich dumme Frau.« Theresa zog sich die Mütze tiefer in die Stirn. Sie hatte sich heute nicht die Mühe gemacht, ihr rotes Haar in Locken zu legen. Nun betrachtete sie das historische Gebäude aus einem anderen Blickwinkel. »Wir befinden uns hier in Lakewood.« »Du hast auf dem Weg vom Leichenschauhaus hierher also doch aufgepasst. Ich dachte schon, du wärst wieder mal ins Koma gefallen.«
Sie ignorierte den Seitenhieb. »Ich kenne dieses Haus. Man sieht es von den Schnellzügen aus.«
»Früher saß hier die National Carbon Company«, erklärte Frank. Das rote Ziegelgebäude vor ihr hätte gut auf den Campus von Oxford gepasst; die Nebengebäude, die zwar auch aus Backstein, doch weniger stilvoll waren, dagegen gar nicht. »Warum bist du in diesen Fall involviert?«, fragte Theresa.
Frank arbeitete seit acht Jahren als Detective bei der Mordkommission von Cleveland, doch der florierende Vorort Lakewood hatte eigentlich seine eigene Polizeibehörde, und außerdem war die Frau bislang nur als vermisst gemeldet. »Wegen ihres Jobs.«
»Bei der Carbon Company?«
»Nein, die Firma ist schon seit Jahren bankrott. Ihr Mann hat das unbewohnte Gebäude vor sechs Monaten gekauft. Ich meinte ihren Job.« Er öffnete die Tür und stieg aus dem Wagen; Theresa tat es ihm gleich. Die eisige und feuchte Märzluft traf auf Theresas Gesicht. Sie zog die gefütterte Jacke mit der Aufschrift GErICHTSMEDIZIN auf dem rücken enger um sich, auch wenn klar war, dass das nichts helfen würde. Seit acht Monaten war ihr nicht mehr warm gewesen. Die Schrift auf der Jacke wies sie als ein Mitglied der Gerichtsmedizin aus, sie war forensische Wissenschaftlerin, kein Cop, weshalb Zeugen und Familienmitglieder ihr gewöhnlich etwas freundlicher gegenübertraten als den Police Officers. Sie wartete, bis Frank den Wagen umrundet hatte. Mitten unter der Woche herrschte starker Verkehr auf der West 117th Street, Autos jagten über die schmale Fahrbahn. Jeder musste irgendwohin, und das schnell. Frank sprang aus dem Weg. Er hatte lange Beine, hellbraunes Haar und einen ebensolchen Schnauzbart, war schlank und gut aussehend, verfügte jedoch über nicht viel mehr Sinn für Mode als sie, auch wenn sie das nie laut auszusprechen gewagt hätte. »Und was arbeitet sie?« »Escortservice.«
»Wie bitte?« »Sie hat als Begleitdame gearbeitet. Genauer gesagt war das früher ihr Job - bis zu ihrer Heirat. Sie war eines dieser hübschen Mädchen, die Geschäftsleute gern als Begleitung für Cocktailpartys engagieren, sodass man möglichst viel Eindruck schindet. Das Unternehmen - ich verwende den Begriff im weitesten Sinne - hat seinen Sitz auf der West 25th Street. Ich kenne ihren Boss noch von seinen ehrenwerten Anfängen und will ihn schon seit bestimmt fünfzehn Jahren festnageln. Falls sie also tot sein sollte, hoffe ich, dass er seine Finger im Spiel hat.«
»Es ist doch schön, ein Ziel zu haben.«
»Hey, ich hoffe ja nicht, dass die Frau tot ist. Ich will nur ihren Boss drankriegen, wenn es so ist. Die Kollegen hier aus Lakewood sind auf meiner Seite, aber im Moment haben sie alle Hände voll zu tun mit dieser Familie, die drüben auf der Warren Road einem Verbrechen zum Opfer gefallen ist, weshalb sie nichts dagegen haben, wenn ich mir die Sache mal genauer ansehe. Lass uns reingehen, mir ist kalt.« »Ein Callgirl.« »Das bedeutet, ihr Boss hat einen Posten zu vergeben, falls du mal was anderes ausprobieren willst.« Er grinste. Doch sie blieb ernst, woraufhin sein Grinsen erstarb. Sie fühlte sich schuldig, denn er hatte sie seit ihrem dritten Lebensjahr stets zum Lachen gebracht, und sie wusste, wie sehr es ihn belastete, dass es ihm jetzt nicht mehr gelang. Doch sie konnte nichts dagegen tun. Ihr Sinn für Humor war mit ihrem Verlobten Paul gestorben. »Du hast mich also wegen einer verdammten Nutte auf Sauftour hierhergeschleppt?«
Er wurde ernst. »Schau dir die Wohnung bitte einfach mal an, okay? Sammle ein paar Sachen, die wir für einen DNA-Abgleich verwenden können, falls ihre Leiche irgendwo auftaucht, und dann kannst du zurück in dein Kriminaltechniklabor und dich wieder hinter deinen Glasträgern und Mikroskopen verschanzen. « Sie starrte ihn finster an, folgte ihm dann aber über den von rissen durchzogenen Gehsteig durch eine unverschlossene Glastür. Frank hatte sie darüber hinaus seit ihrem dritten Lebensjahr herumkommandiert, doch sie hatte sich daran gewöhnt. Außerdem, wenn sie sich zu lange mit ihm herumstritt, würde er sich bei seiner Mutter beschweren, die das wiederum ihrer Schwester - Theresas Mutter - erzählen würde, die ihr dann diesen besorgten »Wann wirst du nur dein Leben wieder in den Griff bekommen«-Blick zuwerfen würde, mit dem sie sie seit acht Monaten immer wieder bedachte. Auch daran hatte sich Theresa gewöhnt.
Geh einfach weiter, sagte sie sich. Ist ja nicht so, als hättest du sonst nichts zu tun.
Die Eingangshalle war klamm und roch modrig. »Die leben hier in einer Fabrik?«
»Nein, die Fabrikräume befinden sich in den anderen Gebäuden. In diesem Haus waren früher die Büros untergebracht. Offensichtlich lässt der Hausherr es als Wohngebäude für sich und seinen Partner und die Programmierer renovieren. Es geht um Computer und irgendwelche High-Tech-Sachen, und diese Typen arbeiten ja zu den seltsamsten Zeiten. Klingt so, als wolle er der Bill Gates von Cleveland werden. Ich weiß das alles von dem Lakewood-Cop, der die Anzeige aufgenommen hat; er hat sich sehr viel mehr für die Architektur interessiert als für unsere abgängige junge Mutter.«
Der Fahrstuhl brauchte unverhältnismäßig lange für ein Stockwerk, und Frank nutzte die Zeit, um ihr mehr über die vermisste Jillian Perry zu erzählen. Sie war vierundzwanzig, gebürtig in Cleveland, lebte hier mit ihrem Mann, Evan Kovacic, mit dem sie seit drei Wochen verheiratet war, und ihrer kleinen Tochter. Evan Kovacic war der Inhaber einer Firma, die Video- spiele entwickelte. Er war Montagabend von einem Meeting in der Innenstadt zurückgekommen und hatte die Tür verschlossen vorgefunden, das Baby weinte in seinem Bettchen, und Jillian war verschwunden.
»Und ihr Mann wusste von ihrer früheren Tätigkeit?«
»Definitiv. Er selbst drückt es so aus, Jillian habe als dreidimensionales Model gearbeitet.«
»Dreidimensional, aha. Du hast gesagt, ihre Tochter«, bemerkte Theresa, als der klaustrophobisch enge Aufzug ächzend zum Stillstand kam. »Das Kind ist also nicht von ihm?«
»Nein, Jillian war schwanger, als die beiden sich kennenlernten. Ich schätze, der Vater ist nicht von Bedeutung.« Theresa schnaubte und stieß die Fahrstuhltür mit dem Fuß an, damit sie sich schneller öffnete. »Großartig.«
»Wir können uns unsere Opfer nicht aussuchen, Tess.«
»Wem sagst du das.« Der Eingangsbereich des ersten Stocks war frisch mit Teppich ausgelegt worden, doch im Verputz neben der Tür mit der Nummer 212 war eine Kerbe zu sehen. Frank warf ihr einen warnenden Blick zu, als er klopfte, und sie straffte die Schultern. Ich bin ein Profi. Konzentrier dich auf den Job. Was muss ich als Nächstes tun? Jedes Opfer ist mir wichtig. Selbst wenn sie eine drogensüchtige Schlampe war. Die sich einen Scheiß um ihr eigenes Kind schert.
So dachten die Leute in der Abgeschiedenheit ihrer Gedanken, so sahen die harten Urteile aus, die man niemals, unter keinen Umständen mit anderen teilen würde.
Ein Mann etwa in ihrem Alter - neununddreißig - öffnete die Tür. Sein schwarzes Haar war modisch kurz geschnitten, und er trug Jeans und ein Hemd ohne Krawatte, das ihm über die Hose hing. Wegen seines beträchtlichen Bauchumfangs schien es ständig zu verrutschen. Er wirkte eher wie ein übergroßer Junge als wie ein erwachsener Mann. Im Hintergrund waren CNN-reporter zu hören, und kürzlich hatte jemand italienisches Essen aufgewärmt.
»Hi, ich bin Evan. Gut, dass Sie pünktlich sind, ich muss gleich wieder zurück an die Arbeit. Ich habe den Babysitter über Mittag nach Hause geschickt, weil ich sowieso hier sein musste, also bleibt mir noch eine halbe Stunde. Haben Sie etwas über Jillian herausgefunden? Sie sind Detective Patrick, nicht wahr?« Frank stellte ihm Theresa vor. Sie war nie besonders auf Körperkontakt aus und schon gar nicht bei verzweifelten Angehörigen, doch Evan Kovacic reichte ihr die Hand, sodass sie sie schütteln musste, auch wenn ihr persönlich ein Nicken gereicht hätte. Seine Finger waren weich und viel zu fleischig, und sie konnte ihn sich nicht beim Bau von Mikrochips oder was auch immer es war vorstellen. Während er mit ihrem Cousin sprach, sah sie sich im Zimmer um.
In das Heim eines Fremden einzudringen bereitete ihr schon längst kein unbehagliches Gefühl mehr, schließlich hatte sie es in den letzten zwölf Jahren mindestens einmal die Woche getan. Doch sie fand es auch längst nicht mehr so faszinierend wie früher.
Zumindest war alles ordentlich. Die polierten Holzböden glänzten, und auf den Möbeln, die um das Ledersofa arrangiert waren, standen gerade so viele Dinge des täglichen Lebens, dass der raum gemütlich wirkte. Leichte Stoffvorhänge rahmten das Fenster ein. Man verdiente offensichtlich gut mit der Entwicklung von Computerspielen.
»Schön hier«, sagte sie und unterbrach damit Evan Kovacics Fragen. Dann räusperte sie sich und zwang sich zu einem vernünftigen Satz. Irgendwie fiel es ihr im Laufe der Zeit immer schwerer, sich mit Menschen zu unterhalten. »Eine reizende Wohnung haben Sie hier.«
»Jillian hat sie eingerichtet«, erklärte Evan und knabberte an einem Fingernagel. »Sie hat - hatte - ein Händchen dafür.«
»Ich müsste mir ihr Schlafzimmer und das Badezimmer an sehen, wenn es möglich ist.« Bloß schnell die DNA-Proben nehmen und zurück an die normale Arbeit.
»Da drüben.« Evan Kovacic deutete mit der Hand in den Flur und fuhr dann fort, Frank zu befragen, wie die Polizei nach einer Frau suchen wollte, die wie vom Erdboden verschluckt schien.
Zuerst stieß Theresa auf das Badezimmer. Problemlos konnte sie erkennen, welche Zahnbürste, welcher rasierer und welche Haarbürste der vermissten Frau gehörten - Jillian stand offensichtlich auf rosa. Ein rosafarbener Handspiegel, rosa Handtücher und ein ebensolches Make-up-Köfferchen mit pinkfarbenen Strasssteinen waren über das Bad verteilt. Theresa zog sich Latexhandschuhe über und verstaute die Dinge, die sie verwerten konnte, in drei separaten Papierumschlägen. Sie machte sich nicht die Mühe,sie zu beschriften, das konnte sie auch noch im Labor tun; solange die Gegenstände in ihrer Obhut blieben, mussten sie nicht sofort versiegelt werden. Kurz erhaschte sie im Spiegel einen Blick auf ihr Gesicht, das einen missmutigen und verärgerten Ausdruck zeigte, und verließ das Badezimmer.
Sie verstaute die Umschläge in ihrer Kameratasche und betrat versehentlich das Kinderzimmer. Obwohl sie den Raum eigentlich sofort wieder verlassen wollte, ging sie auf Zehenspitzen zu dem weißen Kinderbett. Es war siebzehn Jahre her, dass rachael ein Baby gewesen war. Mütter verloren nie das Interesse an den Kindern anderer Leute.
Jillians Tochter schlief friedlich in der rosa Bettwäsche, auf der »Prinzessin« stand, das kleine Gesicht zerknittert, konzentriert auf einen Traum oder den Zustand ihrer Windel oder einfach nur auf die neue Fähigkeit zu atmen. Heller Flaum bedeckte ihren Kopf, die Hände waren zu lockeren Fäusten geballt, die Fingernägel so unglaublich winzig. Ihre Haut war perfekt, und ihr Bett roch nach Babypuder. Ich sollte doch jetzt etwas empfinden. Hoffnung, Trauer, Mitgefühl. Irgendetwas.
Doch ich fühle nichts.
Sie entfernte sich rückwärts von dem schlafenden Kind, als ob der leiseste Schritt es wecken könnte, obwohl nicht einmal die Stimmen der Männer in nur wenigen Metern Entfernung das schafften.
Das Schlafzimmer des Ehepaars Kovacic ließ die reinheit des Kinderzimmers vermissen. Die Bettdecken waren nachlässig zurechtgezogen, Satinbettwäsche - was sonst? - blitzte unter einem schokoladenfarbenen Veloursüberwurf hervor. Die dazu passenden Nachtkästchen waren optisch klar getrennt - ein rosafarbenes Band, ein Buch mit Kreuzworträtseln, ein Durcheinander an Ohrringen auf ihrem, eine kleine Videospielkonsole und eine Baseballkappe auf seinem. Auf Jillians Kommode standen Parfümflaschen und verschiedene gerahmte Fotos, die Theresa nun eingehender betrachtete. Für ein professionelles Model - im weitesten Sinne - waren darunter überraschenderweise keine gestellten Aufnahmen, sondern lediglich Schnappschüsse von einer blonden Frau, Evan, dem Baby und diversen anderen Leuten.
Theresa suchte nach einem Wäschekorb. Die Zahnbürste, die Haarbürste und der rasierer sollten ihnen ausreichend DNA für einen Abgleich verschaffen, falls eine Leiche auftauchte, doch es war immer besser, auf Nummer sicher zu gehen.
Sie öffnete den Schrank. Jillians Hälfte war vollgestopft mit weit ausgeschnittenen Blusen und eng anliegenden Kleidern in allen Farben des Regenbogens. Evans Schrankseite enthielt Sweatshirts, T-Shirts und Kleidung für extreme Kälte. Wattierte Nylonhosen mit der Aufschrift FASTER in Gelb entlang eines Beins deuteten darauf hin, dass er Skifahrer war - nein, nicht Skifahrer, korrigierte sie sich, als sie ein Snowboard entdeckte, das auf dem Schrankboden lag und halb aus einer Tragetasche herausragte. Daneben stand ein Wäschekorb aus Plastik. Evan hatte offensichtlich in den drei Tagen seit Jillians Verschwinden weiter seine T-Shirts und Unterhosen hineingeworfen, auch wenn er den Korb nicht immer getroffen hatte, sodass Theresa sich erst durch einige Männerunterhosen und ein paar Hemden wühlen musste, bis sie auf weiblichere Kleidungsstücke stieß. Theresa zog einen rock heraus, einen Pullover mit V-Ausschnitt und den obligatorischen Stringtanga, etwas, was Theresa niemals angezogen hätte. Es sah wie die pure Folter aus. Zwei Exemplare packte sie in einen vierten Papierumschlag; Vaginalsekret enthielt ausreichend Hautzellen - sogenannte Epithelien - für eine DNA-Analyse. Außerdem würden sie vielleicht Sperma entdecken, das nicht von Evan stammte, falls Liebhaber oder Exkunden mit im Spiel waren, auch wenn Theresa nicht sagen konnte, ob dies wichtig sein könnte. Wenn ihre Unterwäsche noch hier rumlag, Jillian jedoch nicht mehr auftauchte, dann hatte vermutlich kein Spermium auf dem Stoffetwas mit dem Verbrechen zu tun. Wenn es denn ein Verbrechen gegeben und Jillian nicht einfach nur Ehe und Mutterschaft zu einengend gefunden und beides zusammen mit ihren rosafarbenen Handtüchern hinter sich gelassen hatte.
Theresa richtete sich mit knackenden Knien auf. Mehr gab es fürs Erste nicht zu tun. Wenn Evan seine Frau umgebracht hatte, würde er Theresa wohl kaum unbeaufsichtigt herumschnüffeln lassen. Sie entdeckte keine Blutspritzer oder Anzeichen für einen neuen Farbanstrich oder einen neuen Teppich, was Hinweise auf eine gründliche Reinigungsaktion hätten sein können. Jillian hatte auch keine Drohbriefe oder kompromittierenden Fotos herumliegen lassen, auch wenn Theresa keine der Kommodenschubladen durchwühlt hatte und dies auch nicht vorhatte. Sie war nur hier, um ein paar Dinge für eine spätere DNA-Analyse mitzunehmen, und hatte kein Verlangen danach zu sehen, was ehemalige Callgirls so in ihren Kommoden aufbewahrten, was Menschen, die eine Ehe, Liebe, ein Leben hatten, um sich herum aufbewahrten. Sie hatte nicht das geringste Verlangen, sich über die Unterschiede zwischen deren Leben und ihrem eigenen Gedanken zu machen.
Es war an der Zeit, zurück ins Labor zu fahren zu jenen Fällen, die zwar nicht ganz so spannend, deren Opfer dafür jedoch nachweislich tot waren. Kein Zweifel - Jillian würde zurückkehren, nach einem Streit mit ihrer Mutter oder ihrem neuen Freund oder zu wem auch immer sie gegangen war.
Aus reiner Trägheit blieb Theresa noch ein Weilchen stehen und warf einen letzten Blick auf die Fotos von Jillian. Sie war hübsch, zugegeben, mit klarer, reiner Haut und blonden Haaren, die ihr über den rücken fielen. Selbst im Kreißsaal strahlte sie noch, als sie ihr neugeborenes Baby verschwitzt und erschöpft in die Kamera hielt. Sie strahlte auch in ihrem Hochzeitskleid neben Evan, der einen Smoking trug. Entweder hatte sie während der Schwangerschaft kaum zugenommen, oder sie hatte das Gewicht schnell wieder verloren, dachte Theresa mit einem Anflug von Eifersucht. Sie selbst nahm jede Woche dieselben fünf Pfund zu und wieder ab.
»Ist das alles, was Sie zu unternehmen gedenken?«, fragte Evan Kovacic, der am Türrahmen lehnte und mit einem Nicken auf ihre Kameratasche deutete, aus der die Papiertüten hervorragten. »Ich meine, kann ich Ihnen noch etwas geben, das Ihnen helfen könnte, sie zu finden?«
Was sollte sie darauf schon erwidern? Danke, das wäre es fürs Erste, bis wir ihre Leiche finden? Sie warf einen Blick auf Frank, der hinter Evan stand, doch bevor ihr Cousin sich einschalten konnte, fuhr dieser beim Anblick der Fotos fort: »Sie war so wunderhübsch. Und nicht nur, was das Äußere betrifft. Ich weiß, dass sie uns niemals verlassen hätte, nicht freiwillig. Sie liebte Cara. Sie liebte mich.«
Theresa folgte seinem Blick auf die Fotos. Vielen Dank, Jillian. Danke, dass du mich für fünf Minuten Arbeit quer durch die Stadt geschleift hast, danke, dass du die Vorstellung der Männer aufrechterhältst, Frauen seien nichts als hübsche Gespielinnen, danke, dass du deine Tochter bei einem Typen gelassen hast, der aussieht, als könne er kaum für sich selbst sorgen. Toll gemacht.
Sie fing den Blick ihres Cousins auf und versuchte ihm zu signalisieren: Los, lass uns abhauen.
Frank ignorierte sie. »Mr Kovacic, als Sie am Montag nach Hause gekommen sind, da war die Tür abgesperrt? Alles an Ort und Stelle?« »Ja. Jerry und ich - Jerry Graham, mein Partner - waren den ganzen Tag auf einem Treffen der Software Association im Tower City Center. Etwa um drei Uhr nachmittags kamen wir zurück.«
Übersetzung: Sabine Thiele
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2012 by Blanvalet in der Verlagsgruppe random House GmbH
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Mittwoch, 3. März
»Ich habe hier das ganze Haus voll toter Menschen«, erklärte Theresa MacLean dem Detective. »Und deshalb keine Zeit für jemanden, der vermutlich noch am Leben ist.« Frank Patrick parkte den Wagen am Bordstein und deutete auf das alte Backsteinhaus vor ihnen. »Das wissen wir doch noch gar nicht mit Sicherheit. Welche Frau lässt schon einen stinkreichen Ehemann, ein tolles Apartment und eine fünf Monate alte Tochter zurück?« »Eine ziemlich dumme Frau.« Theresa zog sich die Mütze tiefer in die Stirn. Sie hatte sich heute nicht die Mühe gemacht, ihr rotes Haar in Locken zu legen. Nun betrachtete sie das historische Gebäude aus einem anderen Blickwinkel. »Wir befinden uns hier in Lakewood.« »Du hast auf dem Weg vom Leichenschauhaus hierher also doch aufgepasst. Ich dachte schon, du wärst wieder mal ins Koma gefallen.«
Sie ignorierte den Seitenhieb. »Ich kenne dieses Haus. Man sieht es von den Schnellzügen aus.«
»Früher saß hier die National Carbon Company«, erklärte Frank. Das rote Ziegelgebäude vor ihr hätte gut auf den Campus von Oxford gepasst; die Nebengebäude, die zwar auch aus Backstein, doch weniger stilvoll waren, dagegen gar nicht. »Warum bist du in diesen Fall involviert?«, fragte Theresa.
Frank arbeitete seit acht Jahren als Detective bei der Mordkommission von Cleveland, doch der florierende Vorort Lakewood hatte eigentlich seine eigene Polizeibehörde, und außerdem war die Frau bislang nur als vermisst gemeldet. »Wegen ihres Jobs.«
»Bei der Carbon Company?«
»Nein, die Firma ist schon seit Jahren bankrott. Ihr Mann hat das unbewohnte Gebäude vor sechs Monaten gekauft. Ich meinte ihren Job.« Er öffnete die Tür und stieg aus dem Wagen; Theresa tat es ihm gleich. Die eisige und feuchte Märzluft traf auf Theresas Gesicht. Sie zog die gefütterte Jacke mit der Aufschrift GErICHTSMEDIZIN auf dem rücken enger um sich, auch wenn klar war, dass das nichts helfen würde. Seit acht Monaten war ihr nicht mehr warm gewesen. Die Schrift auf der Jacke wies sie als ein Mitglied der Gerichtsmedizin aus, sie war forensische Wissenschaftlerin, kein Cop, weshalb Zeugen und Familienmitglieder ihr gewöhnlich etwas freundlicher gegenübertraten als den Police Officers. Sie wartete, bis Frank den Wagen umrundet hatte. Mitten unter der Woche herrschte starker Verkehr auf der West 117th Street, Autos jagten über die schmale Fahrbahn. Jeder musste irgendwohin, und das schnell. Frank sprang aus dem Weg. Er hatte lange Beine, hellbraunes Haar und einen ebensolchen Schnauzbart, war schlank und gut aussehend, verfügte jedoch über nicht viel mehr Sinn für Mode als sie, auch wenn sie das nie laut auszusprechen gewagt hätte. »Und was arbeitet sie?« »Escortservice.«
»Wie bitte?« »Sie hat als Begleitdame gearbeitet. Genauer gesagt war das früher ihr Job - bis zu ihrer Heirat. Sie war eines dieser hübschen Mädchen, die Geschäftsleute gern als Begleitung für Cocktailpartys engagieren, sodass man möglichst viel Eindruck schindet. Das Unternehmen - ich verwende den Begriff im weitesten Sinne - hat seinen Sitz auf der West 25th Street. Ich kenne ihren Boss noch von seinen ehrenwerten Anfängen und will ihn schon seit bestimmt fünfzehn Jahren festnageln. Falls sie also tot sein sollte, hoffe ich, dass er seine Finger im Spiel hat.«
»Es ist doch schön, ein Ziel zu haben.«
»Hey, ich hoffe ja nicht, dass die Frau tot ist. Ich will nur ihren Boss drankriegen, wenn es so ist. Die Kollegen hier aus Lakewood sind auf meiner Seite, aber im Moment haben sie alle Hände voll zu tun mit dieser Familie, die drüben auf der Warren Road einem Verbrechen zum Opfer gefallen ist, weshalb sie nichts dagegen haben, wenn ich mir die Sache mal genauer ansehe. Lass uns reingehen, mir ist kalt.« »Ein Callgirl.« »Das bedeutet, ihr Boss hat einen Posten zu vergeben, falls du mal was anderes ausprobieren willst.« Er grinste. Doch sie blieb ernst, woraufhin sein Grinsen erstarb. Sie fühlte sich schuldig, denn er hatte sie seit ihrem dritten Lebensjahr stets zum Lachen gebracht, und sie wusste, wie sehr es ihn belastete, dass es ihm jetzt nicht mehr gelang. Doch sie konnte nichts dagegen tun. Ihr Sinn für Humor war mit ihrem Verlobten Paul gestorben. »Du hast mich also wegen einer verdammten Nutte auf Sauftour hierhergeschleppt?«
Er wurde ernst. »Schau dir die Wohnung bitte einfach mal an, okay? Sammle ein paar Sachen, die wir für einen DNA-Abgleich verwenden können, falls ihre Leiche irgendwo auftaucht, und dann kannst du zurück in dein Kriminaltechniklabor und dich wieder hinter deinen Glasträgern und Mikroskopen verschanzen. « Sie starrte ihn finster an, folgte ihm dann aber über den von rissen durchzogenen Gehsteig durch eine unverschlossene Glastür. Frank hatte sie darüber hinaus seit ihrem dritten Lebensjahr herumkommandiert, doch sie hatte sich daran gewöhnt. Außerdem, wenn sie sich zu lange mit ihm herumstritt, würde er sich bei seiner Mutter beschweren, die das wiederum ihrer Schwester - Theresas Mutter - erzählen würde, die ihr dann diesen besorgten »Wann wirst du nur dein Leben wieder in den Griff bekommen«-Blick zuwerfen würde, mit dem sie sie seit acht Monaten immer wieder bedachte. Auch daran hatte sich Theresa gewöhnt.
Geh einfach weiter, sagte sie sich. Ist ja nicht so, als hättest du sonst nichts zu tun.
Die Eingangshalle war klamm und roch modrig. »Die leben hier in einer Fabrik?«
»Nein, die Fabrikräume befinden sich in den anderen Gebäuden. In diesem Haus waren früher die Büros untergebracht. Offensichtlich lässt der Hausherr es als Wohngebäude für sich und seinen Partner und die Programmierer renovieren. Es geht um Computer und irgendwelche High-Tech-Sachen, und diese Typen arbeiten ja zu den seltsamsten Zeiten. Klingt so, als wolle er der Bill Gates von Cleveland werden. Ich weiß das alles von dem Lakewood-Cop, der die Anzeige aufgenommen hat; er hat sich sehr viel mehr für die Architektur interessiert als für unsere abgängige junge Mutter.«
Der Fahrstuhl brauchte unverhältnismäßig lange für ein Stockwerk, und Frank nutzte die Zeit, um ihr mehr über die vermisste Jillian Perry zu erzählen. Sie war vierundzwanzig, gebürtig in Cleveland, lebte hier mit ihrem Mann, Evan Kovacic, mit dem sie seit drei Wochen verheiratet war, und ihrer kleinen Tochter. Evan Kovacic war der Inhaber einer Firma, die Video- spiele entwickelte. Er war Montagabend von einem Meeting in der Innenstadt zurückgekommen und hatte die Tür verschlossen vorgefunden, das Baby weinte in seinem Bettchen, und Jillian war verschwunden.
»Und ihr Mann wusste von ihrer früheren Tätigkeit?«
»Definitiv. Er selbst drückt es so aus, Jillian habe als dreidimensionales Model gearbeitet.«
»Dreidimensional, aha. Du hast gesagt, ihre Tochter«, bemerkte Theresa, als der klaustrophobisch enge Aufzug ächzend zum Stillstand kam. »Das Kind ist also nicht von ihm?«
»Nein, Jillian war schwanger, als die beiden sich kennenlernten. Ich schätze, der Vater ist nicht von Bedeutung.« Theresa schnaubte und stieß die Fahrstuhltür mit dem Fuß an, damit sie sich schneller öffnete. »Großartig.«
»Wir können uns unsere Opfer nicht aussuchen, Tess.«
»Wem sagst du das.« Der Eingangsbereich des ersten Stocks war frisch mit Teppich ausgelegt worden, doch im Verputz neben der Tür mit der Nummer 212 war eine Kerbe zu sehen. Frank warf ihr einen warnenden Blick zu, als er klopfte, und sie straffte die Schultern. Ich bin ein Profi. Konzentrier dich auf den Job. Was muss ich als Nächstes tun? Jedes Opfer ist mir wichtig. Selbst wenn sie eine drogensüchtige Schlampe war. Die sich einen Scheiß um ihr eigenes Kind schert.
So dachten die Leute in der Abgeschiedenheit ihrer Gedanken, so sahen die harten Urteile aus, die man niemals, unter keinen Umständen mit anderen teilen würde.
Ein Mann etwa in ihrem Alter - neununddreißig - öffnete die Tür. Sein schwarzes Haar war modisch kurz geschnitten, und er trug Jeans und ein Hemd ohne Krawatte, das ihm über die Hose hing. Wegen seines beträchtlichen Bauchumfangs schien es ständig zu verrutschen. Er wirkte eher wie ein übergroßer Junge als wie ein erwachsener Mann. Im Hintergrund waren CNN-reporter zu hören, und kürzlich hatte jemand italienisches Essen aufgewärmt.
»Hi, ich bin Evan. Gut, dass Sie pünktlich sind, ich muss gleich wieder zurück an die Arbeit. Ich habe den Babysitter über Mittag nach Hause geschickt, weil ich sowieso hier sein musste, also bleibt mir noch eine halbe Stunde. Haben Sie etwas über Jillian herausgefunden? Sie sind Detective Patrick, nicht wahr?« Frank stellte ihm Theresa vor. Sie war nie besonders auf Körperkontakt aus und schon gar nicht bei verzweifelten Angehörigen, doch Evan Kovacic reichte ihr die Hand, sodass sie sie schütteln musste, auch wenn ihr persönlich ein Nicken gereicht hätte. Seine Finger waren weich und viel zu fleischig, und sie konnte ihn sich nicht beim Bau von Mikrochips oder was auch immer es war vorstellen. Während er mit ihrem Cousin sprach, sah sie sich im Zimmer um.
In das Heim eines Fremden einzudringen bereitete ihr schon längst kein unbehagliches Gefühl mehr, schließlich hatte sie es in den letzten zwölf Jahren mindestens einmal die Woche getan. Doch sie fand es auch längst nicht mehr so faszinierend wie früher.
Zumindest war alles ordentlich. Die polierten Holzböden glänzten, und auf den Möbeln, die um das Ledersofa arrangiert waren, standen gerade so viele Dinge des täglichen Lebens, dass der raum gemütlich wirkte. Leichte Stoffvorhänge rahmten das Fenster ein. Man verdiente offensichtlich gut mit der Entwicklung von Computerspielen.
»Schön hier«, sagte sie und unterbrach damit Evan Kovacics Fragen. Dann räusperte sie sich und zwang sich zu einem vernünftigen Satz. Irgendwie fiel es ihr im Laufe der Zeit immer schwerer, sich mit Menschen zu unterhalten. »Eine reizende Wohnung haben Sie hier.«
»Jillian hat sie eingerichtet«, erklärte Evan und knabberte an einem Fingernagel. »Sie hat - hatte - ein Händchen dafür.«
»Ich müsste mir ihr Schlafzimmer und das Badezimmer an sehen, wenn es möglich ist.« Bloß schnell die DNA-Proben nehmen und zurück an die normale Arbeit.
»Da drüben.« Evan Kovacic deutete mit der Hand in den Flur und fuhr dann fort, Frank zu befragen, wie die Polizei nach einer Frau suchen wollte, die wie vom Erdboden verschluckt schien.
Zuerst stieß Theresa auf das Badezimmer. Problemlos konnte sie erkennen, welche Zahnbürste, welcher rasierer und welche Haarbürste der vermissten Frau gehörten - Jillian stand offensichtlich auf rosa. Ein rosafarbener Handspiegel, rosa Handtücher und ein ebensolches Make-up-Köfferchen mit pinkfarbenen Strasssteinen waren über das Bad verteilt. Theresa zog sich Latexhandschuhe über und verstaute die Dinge, die sie verwerten konnte, in drei separaten Papierumschlägen. Sie machte sich nicht die Mühe,sie zu beschriften, das konnte sie auch noch im Labor tun; solange die Gegenstände in ihrer Obhut blieben, mussten sie nicht sofort versiegelt werden. Kurz erhaschte sie im Spiegel einen Blick auf ihr Gesicht, das einen missmutigen und verärgerten Ausdruck zeigte, und verließ das Badezimmer.
Sie verstaute die Umschläge in ihrer Kameratasche und betrat versehentlich das Kinderzimmer. Obwohl sie den Raum eigentlich sofort wieder verlassen wollte, ging sie auf Zehenspitzen zu dem weißen Kinderbett. Es war siebzehn Jahre her, dass rachael ein Baby gewesen war. Mütter verloren nie das Interesse an den Kindern anderer Leute.
Jillians Tochter schlief friedlich in der rosa Bettwäsche, auf der »Prinzessin« stand, das kleine Gesicht zerknittert, konzentriert auf einen Traum oder den Zustand ihrer Windel oder einfach nur auf die neue Fähigkeit zu atmen. Heller Flaum bedeckte ihren Kopf, die Hände waren zu lockeren Fäusten geballt, die Fingernägel so unglaublich winzig. Ihre Haut war perfekt, und ihr Bett roch nach Babypuder. Ich sollte doch jetzt etwas empfinden. Hoffnung, Trauer, Mitgefühl. Irgendetwas.
Doch ich fühle nichts.
Sie entfernte sich rückwärts von dem schlafenden Kind, als ob der leiseste Schritt es wecken könnte, obwohl nicht einmal die Stimmen der Männer in nur wenigen Metern Entfernung das schafften.
Das Schlafzimmer des Ehepaars Kovacic ließ die reinheit des Kinderzimmers vermissen. Die Bettdecken waren nachlässig zurechtgezogen, Satinbettwäsche - was sonst? - blitzte unter einem schokoladenfarbenen Veloursüberwurf hervor. Die dazu passenden Nachtkästchen waren optisch klar getrennt - ein rosafarbenes Band, ein Buch mit Kreuzworträtseln, ein Durcheinander an Ohrringen auf ihrem, eine kleine Videospielkonsole und eine Baseballkappe auf seinem. Auf Jillians Kommode standen Parfümflaschen und verschiedene gerahmte Fotos, die Theresa nun eingehender betrachtete. Für ein professionelles Model - im weitesten Sinne - waren darunter überraschenderweise keine gestellten Aufnahmen, sondern lediglich Schnappschüsse von einer blonden Frau, Evan, dem Baby und diversen anderen Leuten.
Theresa suchte nach einem Wäschekorb. Die Zahnbürste, die Haarbürste und der rasierer sollten ihnen ausreichend DNA für einen Abgleich verschaffen, falls eine Leiche auftauchte, doch es war immer besser, auf Nummer sicher zu gehen.
Sie öffnete den Schrank. Jillians Hälfte war vollgestopft mit weit ausgeschnittenen Blusen und eng anliegenden Kleidern in allen Farben des Regenbogens. Evans Schrankseite enthielt Sweatshirts, T-Shirts und Kleidung für extreme Kälte. Wattierte Nylonhosen mit der Aufschrift FASTER in Gelb entlang eines Beins deuteten darauf hin, dass er Skifahrer war - nein, nicht Skifahrer, korrigierte sie sich, als sie ein Snowboard entdeckte, das auf dem Schrankboden lag und halb aus einer Tragetasche herausragte. Daneben stand ein Wäschekorb aus Plastik. Evan hatte offensichtlich in den drei Tagen seit Jillians Verschwinden weiter seine T-Shirts und Unterhosen hineingeworfen, auch wenn er den Korb nicht immer getroffen hatte, sodass Theresa sich erst durch einige Männerunterhosen und ein paar Hemden wühlen musste, bis sie auf weiblichere Kleidungsstücke stieß. Theresa zog einen rock heraus, einen Pullover mit V-Ausschnitt und den obligatorischen Stringtanga, etwas, was Theresa niemals angezogen hätte. Es sah wie die pure Folter aus. Zwei Exemplare packte sie in einen vierten Papierumschlag; Vaginalsekret enthielt ausreichend Hautzellen - sogenannte Epithelien - für eine DNA-Analyse. Außerdem würden sie vielleicht Sperma entdecken, das nicht von Evan stammte, falls Liebhaber oder Exkunden mit im Spiel waren, auch wenn Theresa nicht sagen konnte, ob dies wichtig sein könnte. Wenn ihre Unterwäsche noch hier rumlag, Jillian jedoch nicht mehr auftauchte, dann hatte vermutlich kein Spermium auf dem Stoffetwas mit dem Verbrechen zu tun. Wenn es denn ein Verbrechen gegeben und Jillian nicht einfach nur Ehe und Mutterschaft zu einengend gefunden und beides zusammen mit ihren rosafarbenen Handtüchern hinter sich gelassen hatte.
Theresa richtete sich mit knackenden Knien auf. Mehr gab es fürs Erste nicht zu tun. Wenn Evan seine Frau umgebracht hatte, würde er Theresa wohl kaum unbeaufsichtigt herumschnüffeln lassen. Sie entdeckte keine Blutspritzer oder Anzeichen für einen neuen Farbanstrich oder einen neuen Teppich, was Hinweise auf eine gründliche Reinigungsaktion hätten sein können. Jillian hatte auch keine Drohbriefe oder kompromittierenden Fotos herumliegen lassen, auch wenn Theresa keine der Kommodenschubladen durchwühlt hatte und dies auch nicht vorhatte. Sie war nur hier, um ein paar Dinge für eine spätere DNA-Analyse mitzunehmen, und hatte kein Verlangen danach zu sehen, was ehemalige Callgirls so in ihren Kommoden aufbewahrten, was Menschen, die eine Ehe, Liebe, ein Leben hatten, um sich herum aufbewahrten. Sie hatte nicht das geringste Verlangen, sich über die Unterschiede zwischen deren Leben und ihrem eigenen Gedanken zu machen.
Es war an der Zeit, zurück ins Labor zu fahren zu jenen Fällen, die zwar nicht ganz so spannend, deren Opfer dafür jedoch nachweislich tot waren. Kein Zweifel - Jillian würde zurückkehren, nach einem Streit mit ihrer Mutter oder ihrem neuen Freund oder zu wem auch immer sie gegangen war.
Aus reiner Trägheit blieb Theresa noch ein Weilchen stehen und warf einen letzten Blick auf die Fotos von Jillian. Sie war hübsch, zugegeben, mit klarer, reiner Haut und blonden Haaren, die ihr über den rücken fielen. Selbst im Kreißsaal strahlte sie noch, als sie ihr neugeborenes Baby verschwitzt und erschöpft in die Kamera hielt. Sie strahlte auch in ihrem Hochzeitskleid neben Evan, der einen Smoking trug. Entweder hatte sie während der Schwangerschaft kaum zugenommen, oder sie hatte das Gewicht schnell wieder verloren, dachte Theresa mit einem Anflug von Eifersucht. Sie selbst nahm jede Woche dieselben fünf Pfund zu und wieder ab.
»Ist das alles, was Sie zu unternehmen gedenken?«, fragte Evan Kovacic, der am Türrahmen lehnte und mit einem Nicken auf ihre Kameratasche deutete, aus der die Papiertüten hervorragten. »Ich meine, kann ich Ihnen noch etwas geben, das Ihnen helfen könnte, sie zu finden?«
Was sollte sie darauf schon erwidern? Danke, das wäre es fürs Erste, bis wir ihre Leiche finden? Sie warf einen Blick auf Frank, der hinter Evan stand, doch bevor ihr Cousin sich einschalten konnte, fuhr dieser beim Anblick der Fotos fort: »Sie war so wunderhübsch. Und nicht nur, was das Äußere betrifft. Ich weiß, dass sie uns niemals verlassen hätte, nicht freiwillig. Sie liebte Cara. Sie liebte mich.«
Theresa folgte seinem Blick auf die Fotos. Vielen Dank, Jillian. Danke, dass du mich für fünf Minuten Arbeit quer durch die Stadt geschleift hast, danke, dass du die Vorstellung der Männer aufrechterhältst, Frauen seien nichts als hübsche Gespielinnen, danke, dass du deine Tochter bei einem Typen gelassen hast, der aussieht, als könne er kaum für sich selbst sorgen. Toll gemacht.
Sie fing den Blick ihres Cousins auf und versuchte ihm zu signalisieren: Los, lass uns abhauen.
Frank ignorierte sie. »Mr Kovacic, als Sie am Montag nach Hause gekommen sind, da war die Tür abgesperrt? Alles an Ort und Stelle?« »Ja. Jerry und ich - Jerry Graham, mein Partner - waren den ganzen Tag auf einem Treffen der Software Association im Tower City Center. Etwa um drei Uhr nachmittags kamen wir zurück.«
Übersetzung: Sabine Thiele
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2012 by Blanvalet in der Verlagsgruppe random House GmbH
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Autoren-Porträt von Lisa Black
Lisa Black hat einen Universitätsabschluss in Biologie und arbeitet seit mehreren Jahren als Forensikerin in Ohio und Florida, wo sie mit ihrem Mann lebt.
Bibliographische Angaben
- Autor: Lisa Black
- 2012, 382 Seiten, Maße: 12,5 x 18,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Aus d. Amerikan. v. Thiele, Sabine
- Übersetzer: Sabine Thiele
- Verlag: Blanvalet
- ISBN-10: 3442376653
- ISBN-13: 9783442376650
Rezension zu „Eisbraut “
"Ein verstörender Thriller."
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