Eisige Schatten
Cassie Nell ist eine ganz besondere Beraterin der Polizei von Los Angeles: Sie hat hellseherische Fähigkeiten! Als sie in einem Entführungsfall den Tod eines kleinen Mädchens nicht verhindern kann, gibt sie sich selbst die Schuld. Und jagt...
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Produktinformationen zu „Eisige Schatten “
Cassie Nell ist eine ganz besondere Beraterin der Polizei von Los Angeles: Sie hat hellseherische Fähigkeiten! Als sie in einem Entführungsfall den Tod eines kleinen Mädchens nicht verhindern kann, gibt sie sich selbst die Schuld. Und jagt den Täter mit ihrer übersinnlichen Begabung.
Lese-Probe zu „Eisige Schatten “
Eisige Schatten von Kay HooperProlog
Los Angeles 16. August 1998
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Sprich mit mir, Cassie.«
Fast reglos saß sie auf dem hochlehnigen Stuhl, den Kopf so weit vorgebeugt, dass ihr Gesicht hinter ihrem Haar verborgen war. Nur ihre Hände bewegten sich, ihre dünnen Finger strichen sanft über die roten Blütenblätter der kunstvoll aus Seidenpapier gefertigten Rose in ihrem Schoß.
»Ich glaube ... er bewegt sich«, flüsterte sie.
»Wohin bewegt er sich? Was kannst du sehen, Cassie?« Detective Logans Stimme blieb gleichmäßig und ungeheuer geduldig, verriet nichts von der Besorgnis und Dringlichkeit, die ihm den Schweiß ins Gesicht trieben und seine Augen umwölkten.
»Ich ... ich bin mir nicht sicher.«
Von seinem Platz ein paar Schritte entfernt fragte Logans Partner leise: »Warum ist sie diesmal so zögerlich?«
»Weil er sie zu Tode ängstigt«, erwiderte Logan genauso leise. »Himmel noch mal, er ängstigt ja sogar mich zu Tode.« Er hob die Stimme. »Cassie? Konzentrier dich, Schätzchen. Was sieht er?«
»Dunkelheit. Ich kann nichts erkennen. Es ist nur ... es ist dunkel.« - »Okay. Was denkt er?«
Sie atmete zittrig ein, und ihre dünnen Finger bebten, während sie die Papierrose betasteten. »Ich ... ich möchte nicht ... Es ist so kalt in seinem Kopf. Und da sind so viele ... Schatten. So viele verschlungene Schatten. Bitte verlang nicht von mir, dass ich tiefer hineingehe. Verlang nicht, dass ich sie berühre.«
Logans grimmiges Gesicht wurde bei der Angst und dem Ekel in ihrer Stimme noch düsterer, und nun war er an der Reihe, tief durchzuatmen, um die Ruhe zu bewahren. Als er sprach, war seine Stimme kühl und gelassen. »Cassie, hör mir zu. Du musst tiefer hinein. Du musst es tun, um des kleinen Mädchens willen. Verstehst du das?«
»Ja«, erwiderte sie verloren. »Ich verstehe.« Die Stille wurde so durchdringend, dass man das leise Rascheln des Seidenpapiers hören konnte.
»Wo ist er, Cassie? Was denkt er?«
»Er ist in Sicherheit. Er weiß, dass er in Sicherheit ist.« Sie legte den Kopf schräg, als lausche sie einer fernen Stimme. »Die Polizei wird ihn jetzt niemals finden. Idioten. Dämliche Idioten. Er hat ihnen all die Hinweise gegeben, und sie haben sie nie erkannt.«
Logan ließ sich von dieser verstörenden Information nicht ablenken. »Hör auf, ihn zu belauschen, Cassie. Achte darauf, was er macht, wohin er geht.«
»Er geht los ... um das Mädchen zu holen. Will es an seinen geheimen Ort bringen. Er ist jetzt für sie bereit. Er ist bereit, um ... «
»Wo ist das? Was ist um ihn herum, Cassie?«
»Es ist ... dunkel. Sie ... er hat sie gefesselt. Er hat sie gefesselt ... auf dem Rücksitz eines Autos. Er steigt in das Auto, lässt den Motor an. Er fährt rückwärts aus der Garage. Oh! Ich kann sie weinen hören ... «
»Hör nicht hin«, drängte Logan. »Bleib bei ihm, Cassie. Sag uns, wohin er fährt.«
»Ich weiß es nicht.« Ihre Stimme klang verzweifelt. »Es ist so dunkel. Ich kann über die Scheinwerfer nicht hinausschauen.«
»Sieh genauer hin, Cassie. Halte nach Orientierungspunkten Ausschau. Auf was für einer Straße fährt er?«
»Auf ... einer Asphaltstraße. Zwei Fahrbahnen. Da sind Briefkästen, wir fahren an Briefkästen vorbei.«
»Gut, Cassie, das ist gut.« Er warf seinem Partner einen Blick zu, der eine hilflose Grimasse schnitt, und konzentrierte sich dann wieder auf den dunklen, gebeugten Kopf. »Halte weiter Ausschau. Du musst uns sagen, wohin er fährt.«
Ein paar Augenblicke lang war nur ihr Atmen zu hören, schnell und flach. Dann sagte sie abrupt: »Er biegt ab. Auf dem Straßenschild steht ... Andover.«
Logans Partner entfernte sich ein paar Schritte und sprach leise in ein Handy.
»Mach weiter, Cassie. Was siehst du? Sprich mit mir.« »Es ist so dunkel.«
»Ich weiß. Aber halt die Augen offen.«
»Er denkt ... schreckliche Dinge.«
»Hör nicht hin. Geh nicht zu tief hinein, Cassie.«
Zum ersten Mal, seit sie mit der Sitzung begonnen hatten, hob sie den Kopf, und Logan zuckte zusammen. Ihre Augen waren geschlossen. Noch nie hatte er ein derart blasses menschliches Gesicht gesehen. Zumindest kein lebendes. Und diese bleiche, bleiche Haut war straff über die Knochen gespannt.
»Cassie? Cassie, wo bist du?«
»Tief.« Ihre Stimme klang anders, fern und beinahe hohl, als käme sie aus einem bodenlosen Brunnenschacht.
»Cassie, hör mir zu. Du musst dich zurückziehen. Schau nur auf das, was er sieht.«
»Das ist wie Würmer«, flüsterte sie, »die sich an verwesendem Fleisch mästen. An einer verwesenden Seele ... «
»Cassie, zieh dich zurück. Sofort. Hörst du mich?«
Nach einigen Augenblicken sagte sie: »Ja. In Ordnung.« Sie zitterte jetzt sichtbar, und er wusste, wenn er sie berührte, würde ihre Haut eiskalt sein.
»Was siehst du? Was sieht er?«
»Die Straße. Keine Briefkästen mehr. Er wird angespannt. Er ist fast an seinem geheimen Ort angekommen.«
»Sieh hin, Cassie. Mach weiter.«
Mehrere Minuten vergingen, dann runzelte sich ihre Stirn.
»Cassie?«
Sie schüttelte den Kopf.
Logan trat rasch beiseite und sprach leise mit seinem Partner. »Schon Glück mit Andover gehabt, Paul?«
»Es gibt fünf Variationen des Straßennamens Andover innerhalb von zweihundert Meilen. Bob, wir können sie nicht alle erreichen, ganz zu schweigen davon, sie wirkungsvoll abzudecken. Sie muss uns was anderes geben.«
»Ich weiß nicht, ob sie das kann.«
»Sie muss es versuchen.«
Logan kehrte zu Cassie zurück. »Was siehst du, Cassie? Sprich mit mir.«
In einem jetzt fast träumerischen Ton sagte sie: »Da ist ein See. Ich hab die Scheinwerfer auf dem Wasser schimmern sehen. Er ist ... sein geheimer Ort ist in der Nähe eines Sees. Er denkt, er wird die Leiche da reinwerfen, wenn er fertig ist. Vielleicht.«
Logan sah rasch zu seinem Partner, aber Paul sprach bereits ins Handy.
»Was noch, Cassie? Was kannst du mir noch sagen?«
»Es wird schwieriger.« Ihre Stimme wurde unsicher, schwankte erneut. »Schwieriger, in seinem Kopf zu bleiben. Ich bin so müde.«
»Ich weiß, Cassie. Aber du musst es weiter versuchen. Du musst uns bei ihm halten.«
Wie immer reagierte sie auf seine Stimme und seine Beharrlichkeit, schöpfte ihre jämmerlich dürftigen Kraftreserven aus, um einen Kontakt zu halten, der sie abstieß und verängstigte. »Ich höre sie. Das kleine Mädchen. Sie weint. Sie hat so viel Angst.«
»Hör nicht auf sie, Cassie. Nur auf ihn.«
»In Ordnung.« Sie hielt inne. »Er biegt ab. Jetzt ist es eine gewundene Straße. Ein Feldweg. Manchmal kann ich den See zwischen den Bäumen sehen.«
»Siehst du ein Haus?«
»Wir kommen an ... Einfahrten vorbei, glaube ich. Überall sind Häuser. Häuser an dem See.«
Logan trat beiseite, als Paul ihm ein Zeichen gab. »Was ist?«
»Es gibt nur eine Andover Street in der Nähe eines Sees. Am Lake Temple. Der liegt nur etwa fünfzehn Meilen entfernt, Bob.«
»Kein Wunder, dass sie ihn so gut empfängt«, murmelte Logan. »Sie war noch nie so tief drinnen, nicht in diesem Dreckskerl. Die Teams sind unterwegs?«
»Ich hab sie alle losgeschickt. Und wir arbeiten eine Liste aller Hausbesitzer am See ab. Mir wurde gesagt, es wäre eine Gegend, in der die Leute ihren Häusern Namen geben, Namensschilder aufstellen und so. Wenn wir echtes Glück haben ...«
»Halt mich auf dem Laufenden«, sagte Logan und kehrte zu Cassie zurück.
»Lake Temple«, sagte sie, wieder verträumt. »Der Name gefällt ihm. Er findet ihn passend.«
»Hör nicht auf das, was er denkt, Cassie. Beobachte nur. Sag mir, was er macht, wohin er fährt.«
Das fünfminütige Schweigen schien ewig zu dauern, dann sprach sie plötzlich wieder.
»Wir biegen ab. In eine Einfahrt, glaube ich.«
»Siehst du irgendwelche Briefkästen?«
»Nein. Nein. Tut mir leid.«
»Mach weiter.«
»Die Einfahrt ist steil. Lang. Windet sich zum See hinunter. Ich sehe ... ich glaube, da vorne ist ein Haus. Manchmal wird es von den Scheinwerfern gestreift ... «
»Beobachte weiter, Cassie. Wenn du das Haus siehst, halt nach einem Schild Ausschau. Das Haus hat einen Namen.«
»Da ... da ist das Haus.« Sie sprach schneller. »Neben der Tür ist ein Schild. Da steht ... ›Rentenfonds‹.«
Logan blinzelte und schaute dann zu Paul, der nur das Wort »typisch« mit den Lippen andeutete.
Logan wandte sich wieder Cassie zu. »Sprich mit mir, Cassie. Hält er das Auto an? Will er in dieses Haus?«
Cassie erwiderte: »Warte ... wir fahren daran vorbei. Oh. Oh, verstehe. Da ist ... ein Bootshaus. Ich glaube, es ist ein Bootshaus. Ich sehe ... «
»Was, Cassie? Was siehst du?«
»Es hat ... eine Wetterfahne oben drauf. Auf dem Dach. Ich kann sehen, wie sie sich in der Brise bewegt. Ich kann sie ... knarren hören.«
»Hören? Cassie, hat er das Auto angehalten?«
Sie schien verwirrt. »Oh. Oh ja, hat er. Die Scheinwerfer sind aus. Ich kann die Umrisse des Bootshauses sehen ... die dunkle Form. Aber ... er kennt sich aus. Er ... er holt sie vom Rücksitz. Trägt sie ins Bootshaus. Sie ist so klein. Sie wiegt fast nichts. Ohhhh ... «
»Cassie ... «
»Sie hat so viel Angst ... «
»Cassie, hör auf mich. Du kannst ihr nur helfen, wenn du darauf achtest, was er tut. Wohin er geht.« Er schaute zu seinem Partner. »Wo zum Teufel sind sie?«
»Fast da. Fünf Minuten.«
»Verdammt, sie hat keine fünf Minuten mehr!« »Sie beeilen sich, sosehr sie nur können, Bob.«
Cassie atmete schnell. »Irgendwas stimmt nicht.« Logan starrte sie an. »Was?«
»Ich weiß es nicht. Seine Gefühle sind diesmal ... anders. Verschlagen, irgendwie, und fast ... amüsiert. Er will der Polizei was Neues bieten. Er ... oh. Oh Gott. Er hat ein Messer. Er will sie nur aufschlitzen ... « Ihre Stimme war durchwoben von Schmerz und Entsetzen. »Er will ... er will ... schmecken ... «
»Cassie, hör auf mich. Zieh dich zurück. Zieh dich sofort zurück.«
Logans Partner kam auf ihn zu. »Bob, wenn sie bei ihm bleibt, kann sie uns vielleicht helfen.«
Logan schüttelte den Kopf, ohne den Blick von Cassie zu wenden. »Wenn sie bei ihm bleibt und er das Mädchen umbringt, könnte es Cassie zu tief hineinziehen in seine Raserei. Wir würden sie beide verlieren. Cassie? Cassie, komm raus. Jetzt. Hörst du?« Er streckte die Hand aus und nahm ihr die Seidenpapierrose aus den Fingern.
Cassie holte schaudernd Luft und öffnete dann langsam die Augen. Sie waren von einem so blassen Grau, dass sie wie schwache Schatten auf Eis wirkten, auf frappierende Weise von tiefschwarzen Wimpern umrahmt. Dunkle Flecken der Erschöpfung lagen unter diesen Augen, und ihre Stimme zitterte vor Überanstrengung. »Bob? Warum hast du ... «
Logan goss heißen Kaffee aus einer Thermoskanne in eine Tasse und reichte sie Cassie. »Trink das.«
»Aber ... «
»Du hast uns so gut geholfen, wie du konntest, Cassie. Den Rest müssen meine Leute erledigen.«
Sie trank von dem heißen Kaff ee, die Augen auf die Rose gewandt, die er noch in der Hand hielt. »Sag ihnen, sie sollen sich beeilen«, flüsterte sie.
Aber es dauerte fast noch zehn Minuten, lange Minuten, bevor der Bericht eintraf und Paul finstere Blicke auf Cassie warf.
»Das Bootshaus war leer. Sie haben die Gabelung in der Einfahrt übersehen. Der eine Weg führte zum Bootshaus und der andere zu einer weniger als fünfzig Meter entfernten Bucht, an der ein Kabinenkreuzer vertäut lag. Der Kerl war weg, als wir das Boot endlich fanden. Das kleine Mädchen war noch warm.«
Logan fing rasch die Tasse auf, die Cassies Fingern entglitt, und sagte: »Halt die Klappe, Paul. Sie hat ihr Bestes getan ...«
»Ihr Bestes? Sie hat's total vermasselt, Bob! Auf dem Bootshaus war keine Wetterfahne - da war eine Fahne am Mast des Bootes. Die hat sie im Wind flattern sehen. Und das Knarren kam vom Boot im Wasser. Das konnte sie nicht unterscheiden?«
»Es war dunkel«, flüsterte Cassie. Tränen sammelten sich in ihren Augen, tropften aber nicht herab. Ihre zitternden Hände verknoteten sich im Schoß, und sie atmete, als kämpfte sie gegen ein erdrückendes Gewicht auf ihrer Lunge an.
»Fünf Minuten«, sagte Paul. »Wir haben fünf Minuten damit verschwendet, in der falschen Richtung zu suchen, und deswegen ist das kleine Mädchen tot. Was soll ich seinen Eltern sagen? Dass unsere berühmte Paragnostin es vermasselt hat?«
»Paul, halt deine verdammte Klappe!« Logan schaute zu Cassie. »Es war nicht deine Schuld, Cassie.« Seine Stimme klang überzeugend. Aber seine Augen sagten etwas anderes.
Sie senkte den Blick und starrte auf die Seidenrose, die er in der Hand hielt, die zarte Vollkommenheit durch die raue Kraft seiner Polizistenhand unterstrichen.
So viel Schönheit, erschaffen von einem Ungeheuer.
Übelkeiterregende Angst ringelte sich in ihrer Magengrube und kroch auf dem Bauch durch ihre Gedanken, und sie merkte kaum, dass sie laut sprach, als sie heiser sagte: »Ich kann nicht mehr. Ich kann das nicht mehr machen. Ich kann es nicht.«
»Cassie ...«
»Ich kann nicht. Ich kann nicht. Ich kann nicht.« Es war wie ein Mantra, um das Unerträgliche abzuwehren, und sie flüsterte es immer wieder, als sie die Augen schloss und den verhöhnenden Anblick der Seidenblume ausblendete, der von nun an ihre Albträume bevölkern würde.
...
Übersetzung: Susanne Aeckerle
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2008 by
Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Sprich mit mir, Cassie.«
Fast reglos saß sie auf dem hochlehnigen Stuhl, den Kopf so weit vorgebeugt, dass ihr Gesicht hinter ihrem Haar verborgen war. Nur ihre Hände bewegten sich, ihre dünnen Finger strichen sanft über die roten Blütenblätter der kunstvoll aus Seidenpapier gefertigten Rose in ihrem Schoß.
»Ich glaube ... er bewegt sich«, flüsterte sie.
»Wohin bewegt er sich? Was kannst du sehen, Cassie?« Detective Logans Stimme blieb gleichmäßig und ungeheuer geduldig, verriet nichts von der Besorgnis und Dringlichkeit, die ihm den Schweiß ins Gesicht trieben und seine Augen umwölkten.
»Ich ... ich bin mir nicht sicher.«
Von seinem Platz ein paar Schritte entfernt fragte Logans Partner leise: »Warum ist sie diesmal so zögerlich?«
»Weil er sie zu Tode ängstigt«, erwiderte Logan genauso leise. »Himmel noch mal, er ängstigt ja sogar mich zu Tode.« Er hob die Stimme. »Cassie? Konzentrier dich, Schätzchen. Was sieht er?«
»Dunkelheit. Ich kann nichts erkennen. Es ist nur ... es ist dunkel.« - »Okay. Was denkt er?«
Sie atmete zittrig ein, und ihre dünnen Finger bebten, während sie die Papierrose betasteten. »Ich ... ich möchte nicht ... Es ist so kalt in seinem Kopf. Und da sind so viele ... Schatten. So viele verschlungene Schatten. Bitte verlang nicht von mir, dass ich tiefer hineingehe. Verlang nicht, dass ich sie berühre.«
Logans grimmiges Gesicht wurde bei der Angst und dem Ekel in ihrer Stimme noch düsterer, und nun war er an der Reihe, tief durchzuatmen, um die Ruhe zu bewahren. Als er sprach, war seine Stimme kühl und gelassen. »Cassie, hör mir zu. Du musst tiefer hinein. Du musst es tun, um des kleinen Mädchens willen. Verstehst du das?«
»Ja«, erwiderte sie verloren. »Ich verstehe.« Die Stille wurde so durchdringend, dass man das leise Rascheln des Seidenpapiers hören konnte.
»Wo ist er, Cassie? Was denkt er?«
»Er ist in Sicherheit. Er weiß, dass er in Sicherheit ist.« Sie legte den Kopf schräg, als lausche sie einer fernen Stimme. »Die Polizei wird ihn jetzt niemals finden. Idioten. Dämliche Idioten. Er hat ihnen all die Hinweise gegeben, und sie haben sie nie erkannt.«
Logan ließ sich von dieser verstörenden Information nicht ablenken. »Hör auf, ihn zu belauschen, Cassie. Achte darauf, was er macht, wohin er geht.«
»Er geht los ... um das Mädchen zu holen. Will es an seinen geheimen Ort bringen. Er ist jetzt für sie bereit. Er ist bereit, um ... «
»Wo ist das? Was ist um ihn herum, Cassie?«
»Es ist ... dunkel. Sie ... er hat sie gefesselt. Er hat sie gefesselt ... auf dem Rücksitz eines Autos. Er steigt in das Auto, lässt den Motor an. Er fährt rückwärts aus der Garage. Oh! Ich kann sie weinen hören ... «
»Hör nicht hin«, drängte Logan. »Bleib bei ihm, Cassie. Sag uns, wohin er fährt.«
»Ich weiß es nicht.« Ihre Stimme klang verzweifelt. »Es ist so dunkel. Ich kann über die Scheinwerfer nicht hinausschauen.«
»Sieh genauer hin, Cassie. Halte nach Orientierungspunkten Ausschau. Auf was für einer Straße fährt er?«
»Auf ... einer Asphaltstraße. Zwei Fahrbahnen. Da sind Briefkästen, wir fahren an Briefkästen vorbei.«
»Gut, Cassie, das ist gut.« Er warf seinem Partner einen Blick zu, der eine hilflose Grimasse schnitt, und konzentrierte sich dann wieder auf den dunklen, gebeugten Kopf. »Halte weiter Ausschau. Du musst uns sagen, wohin er fährt.«
Ein paar Augenblicke lang war nur ihr Atmen zu hören, schnell und flach. Dann sagte sie abrupt: »Er biegt ab. Auf dem Straßenschild steht ... Andover.«
Logans Partner entfernte sich ein paar Schritte und sprach leise in ein Handy.
»Mach weiter, Cassie. Was siehst du? Sprich mit mir.« »Es ist so dunkel.«
»Ich weiß. Aber halt die Augen offen.«
»Er denkt ... schreckliche Dinge.«
»Hör nicht hin. Geh nicht zu tief hinein, Cassie.«
Zum ersten Mal, seit sie mit der Sitzung begonnen hatten, hob sie den Kopf, und Logan zuckte zusammen. Ihre Augen waren geschlossen. Noch nie hatte er ein derart blasses menschliches Gesicht gesehen. Zumindest kein lebendes. Und diese bleiche, bleiche Haut war straff über die Knochen gespannt.
»Cassie? Cassie, wo bist du?«
»Tief.« Ihre Stimme klang anders, fern und beinahe hohl, als käme sie aus einem bodenlosen Brunnenschacht.
»Cassie, hör mir zu. Du musst dich zurückziehen. Schau nur auf das, was er sieht.«
»Das ist wie Würmer«, flüsterte sie, »die sich an verwesendem Fleisch mästen. An einer verwesenden Seele ... «
»Cassie, zieh dich zurück. Sofort. Hörst du mich?«
Nach einigen Augenblicken sagte sie: »Ja. In Ordnung.« Sie zitterte jetzt sichtbar, und er wusste, wenn er sie berührte, würde ihre Haut eiskalt sein.
»Was siehst du? Was sieht er?«
»Die Straße. Keine Briefkästen mehr. Er wird angespannt. Er ist fast an seinem geheimen Ort angekommen.«
»Sieh hin, Cassie. Mach weiter.«
Mehrere Minuten vergingen, dann runzelte sich ihre Stirn.
»Cassie?«
Sie schüttelte den Kopf.
Logan trat rasch beiseite und sprach leise mit seinem Partner. »Schon Glück mit Andover gehabt, Paul?«
»Es gibt fünf Variationen des Straßennamens Andover innerhalb von zweihundert Meilen. Bob, wir können sie nicht alle erreichen, ganz zu schweigen davon, sie wirkungsvoll abzudecken. Sie muss uns was anderes geben.«
»Ich weiß nicht, ob sie das kann.«
»Sie muss es versuchen.«
Logan kehrte zu Cassie zurück. »Was siehst du, Cassie? Sprich mit mir.«
In einem jetzt fast träumerischen Ton sagte sie: »Da ist ein See. Ich hab die Scheinwerfer auf dem Wasser schimmern sehen. Er ist ... sein geheimer Ort ist in der Nähe eines Sees. Er denkt, er wird die Leiche da reinwerfen, wenn er fertig ist. Vielleicht.«
Logan sah rasch zu seinem Partner, aber Paul sprach bereits ins Handy.
»Was noch, Cassie? Was kannst du mir noch sagen?«
»Es wird schwieriger.« Ihre Stimme wurde unsicher, schwankte erneut. »Schwieriger, in seinem Kopf zu bleiben. Ich bin so müde.«
»Ich weiß, Cassie. Aber du musst es weiter versuchen. Du musst uns bei ihm halten.«
Wie immer reagierte sie auf seine Stimme und seine Beharrlichkeit, schöpfte ihre jämmerlich dürftigen Kraftreserven aus, um einen Kontakt zu halten, der sie abstieß und verängstigte. »Ich höre sie. Das kleine Mädchen. Sie weint. Sie hat so viel Angst.«
»Hör nicht auf sie, Cassie. Nur auf ihn.«
»In Ordnung.« Sie hielt inne. »Er biegt ab. Jetzt ist es eine gewundene Straße. Ein Feldweg. Manchmal kann ich den See zwischen den Bäumen sehen.«
»Siehst du ein Haus?«
»Wir kommen an ... Einfahrten vorbei, glaube ich. Überall sind Häuser. Häuser an dem See.«
Logan trat beiseite, als Paul ihm ein Zeichen gab. »Was ist?«
»Es gibt nur eine Andover Street in der Nähe eines Sees. Am Lake Temple. Der liegt nur etwa fünfzehn Meilen entfernt, Bob.«
»Kein Wunder, dass sie ihn so gut empfängt«, murmelte Logan. »Sie war noch nie so tief drinnen, nicht in diesem Dreckskerl. Die Teams sind unterwegs?«
»Ich hab sie alle losgeschickt. Und wir arbeiten eine Liste aller Hausbesitzer am See ab. Mir wurde gesagt, es wäre eine Gegend, in der die Leute ihren Häusern Namen geben, Namensschilder aufstellen und so. Wenn wir echtes Glück haben ...«
»Halt mich auf dem Laufenden«, sagte Logan und kehrte zu Cassie zurück.
»Lake Temple«, sagte sie, wieder verträumt. »Der Name gefällt ihm. Er findet ihn passend.«
»Hör nicht auf das, was er denkt, Cassie. Beobachte nur. Sag mir, was er macht, wohin er fährt.«
Das fünfminütige Schweigen schien ewig zu dauern, dann sprach sie plötzlich wieder.
»Wir biegen ab. In eine Einfahrt, glaube ich.«
»Siehst du irgendwelche Briefkästen?«
»Nein. Nein. Tut mir leid.«
»Mach weiter.«
»Die Einfahrt ist steil. Lang. Windet sich zum See hinunter. Ich sehe ... ich glaube, da vorne ist ein Haus. Manchmal wird es von den Scheinwerfern gestreift ... «
»Beobachte weiter, Cassie. Wenn du das Haus siehst, halt nach einem Schild Ausschau. Das Haus hat einen Namen.«
»Da ... da ist das Haus.« Sie sprach schneller. »Neben der Tür ist ein Schild. Da steht ... ›Rentenfonds‹.«
Logan blinzelte und schaute dann zu Paul, der nur das Wort »typisch« mit den Lippen andeutete.
Logan wandte sich wieder Cassie zu. »Sprich mit mir, Cassie. Hält er das Auto an? Will er in dieses Haus?«
Cassie erwiderte: »Warte ... wir fahren daran vorbei. Oh. Oh, verstehe. Da ist ... ein Bootshaus. Ich glaube, es ist ein Bootshaus. Ich sehe ... «
»Was, Cassie? Was siehst du?«
»Es hat ... eine Wetterfahne oben drauf. Auf dem Dach. Ich kann sehen, wie sie sich in der Brise bewegt. Ich kann sie ... knarren hören.«
»Hören? Cassie, hat er das Auto angehalten?«
Sie schien verwirrt. »Oh. Oh ja, hat er. Die Scheinwerfer sind aus. Ich kann die Umrisse des Bootshauses sehen ... die dunkle Form. Aber ... er kennt sich aus. Er ... er holt sie vom Rücksitz. Trägt sie ins Bootshaus. Sie ist so klein. Sie wiegt fast nichts. Ohhhh ... «
»Cassie ... «
»Sie hat so viel Angst ... «
»Cassie, hör auf mich. Du kannst ihr nur helfen, wenn du darauf achtest, was er tut. Wohin er geht.« Er schaute zu seinem Partner. »Wo zum Teufel sind sie?«
»Fast da. Fünf Minuten.«
»Verdammt, sie hat keine fünf Minuten mehr!« »Sie beeilen sich, sosehr sie nur können, Bob.«
Cassie atmete schnell. »Irgendwas stimmt nicht.« Logan starrte sie an. »Was?«
»Ich weiß es nicht. Seine Gefühle sind diesmal ... anders. Verschlagen, irgendwie, und fast ... amüsiert. Er will der Polizei was Neues bieten. Er ... oh. Oh Gott. Er hat ein Messer. Er will sie nur aufschlitzen ... « Ihre Stimme war durchwoben von Schmerz und Entsetzen. »Er will ... er will ... schmecken ... «
»Cassie, hör auf mich. Zieh dich zurück. Zieh dich sofort zurück.«
Logans Partner kam auf ihn zu. »Bob, wenn sie bei ihm bleibt, kann sie uns vielleicht helfen.«
Logan schüttelte den Kopf, ohne den Blick von Cassie zu wenden. »Wenn sie bei ihm bleibt und er das Mädchen umbringt, könnte es Cassie zu tief hineinziehen in seine Raserei. Wir würden sie beide verlieren. Cassie? Cassie, komm raus. Jetzt. Hörst du?« Er streckte die Hand aus und nahm ihr die Seidenpapierrose aus den Fingern.
Cassie holte schaudernd Luft und öffnete dann langsam die Augen. Sie waren von einem so blassen Grau, dass sie wie schwache Schatten auf Eis wirkten, auf frappierende Weise von tiefschwarzen Wimpern umrahmt. Dunkle Flecken der Erschöpfung lagen unter diesen Augen, und ihre Stimme zitterte vor Überanstrengung. »Bob? Warum hast du ... «
Logan goss heißen Kaffee aus einer Thermoskanne in eine Tasse und reichte sie Cassie. »Trink das.«
»Aber ... «
»Du hast uns so gut geholfen, wie du konntest, Cassie. Den Rest müssen meine Leute erledigen.«
Sie trank von dem heißen Kaff ee, die Augen auf die Rose gewandt, die er noch in der Hand hielt. »Sag ihnen, sie sollen sich beeilen«, flüsterte sie.
Aber es dauerte fast noch zehn Minuten, lange Minuten, bevor der Bericht eintraf und Paul finstere Blicke auf Cassie warf.
»Das Bootshaus war leer. Sie haben die Gabelung in der Einfahrt übersehen. Der eine Weg führte zum Bootshaus und der andere zu einer weniger als fünfzig Meter entfernten Bucht, an der ein Kabinenkreuzer vertäut lag. Der Kerl war weg, als wir das Boot endlich fanden. Das kleine Mädchen war noch warm.«
Logan fing rasch die Tasse auf, die Cassies Fingern entglitt, und sagte: »Halt die Klappe, Paul. Sie hat ihr Bestes getan ...«
»Ihr Bestes? Sie hat's total vermasselt, Bob! Auf dem Bootshaus war keine Wetterfahne - da war eine Fahne am Mast des Bootes. Die hat sie im Wind flattern sehen. Und das Knarren kam vom Boot im Wasser. Das konnte sie nicht unterscheiden?«
»Es war dunkel«, flüsterte Cassie. Tränen sammelten sich in ihren Augen, tropften aber nicht herab. Ihre zitternden Hände verknoteten sich im Schoß, und sie atmete, als kämpfte sie gegen ein erdrückendes Gewicht auf ihrer Lunge an.
»Fünf Minuten«, sagte Paul. »Wir haben fünf Minuten damit verschwendet, in der falschen Richtung zu suchen, und deswegen ist das kleine Mädchen tot. Was soll ich seinen Eltern sagen? Dass unsere berühmte Paragnostin es vermasselt hat?«
»Paul, halt deine verdammte Klappe!« Logan schaute zu Cassie. »Es war nicht deine Schuld, Cassie.« Seine Stimme klang überzeugend. Aber seine Augen sagten etwas anderes.
Sie senkte den Blick und starrte auf die Seidenrose, die er in der Hand hielt, die zarte Vollkommenheit durch die raue Kraft seiner Polizistenhand unterstrichen.
So viel Schönheit, erschaffen von einem Ungeheuer.
Übelkeiterregende Angst ringelte sich in ihrer Magengrube und kroch auf dem Bauch durch ihre Gedanken, und sie merkte kaum, dass sie laut sprach, als sie heiser sagte: »Ich kann nicht mehr. Ich kann das nicht mehr machen. Ich kann es nicht.«
»Cassie ...«
»Ich kann nicht. Ich kann nicht. Ich kann nicht.« Es war wie ein Mantra, um das Unerträgliche abzuwehren, und sie flüsterte es immer wieder, als sie die Augen schloss und den verhöhnenden Anblick der Seidenblume ausblendete, der von nun an ihre Albträume bevölkern würde.
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Übersetzung: Susanne Aeckerle
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2008 by
Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
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Autoren-Porträt von Kay Hooper
Kay Hooper wurde in Kalifornien auf einem Luftwaffenstützpunkt geboren. Nach der Geburt des dritten Kindes zog die Familie nach North Carolina, wo Kay noch heute lebt. Nach dem Highschool-Abschluss studierte sie zunächst Wirtschaftswissenschaften, fand daran aber nicht so recht Gefallen, sodass sie erst auf Geschichte und schließlich auf Literaturwissenschaft umsattelte - und bald selbst anfing, Geschichten zu verfassen. Ihr erster Roman wurde 1980 veröffentlicht, seither sind weitere 60 Bücher aus ihrer Feder geflossen. Die Gesamtauflage beläuft sich inzwischen auf über vier Millionen Bücher.
Bibliographische Angaben
- Autor: Kay Hooper
- 2011, 1, 447 Seiten, Maße: 12,5 x 18,7 cm, Taschenbuch
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 386365062X
- ISBN-13: 9783863650629
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