Eismord
Algonquin Bay im tiefsten Winter, eisige Kälte, nichts los. Doch mit der Lethargie ist es für Detective John Cardinal vorbei, als in einem Ferienhaus am zugefrorenen Trout Lake zwei enthauptete Leichen gefunden werden. Kurze Zeit später...
Leider schon ausverkauft
Weltbild Ausgabe
4.99 €
- Lastschrift, Kreditkarte, Paypal, Rechnung
- Kostenlose Rücksendung
Produktdetails
Produktinformationen zu „Eismord “
Algonquin Bay im tiefsten Winter, eisige Kälte, nichts los. Doch mit der Lethargie ist es für Detective John Cardinal vorbei, als in einem Ferienhaus am zugefrorenen Trout Lake zwei enthauptete Leichen gefunden werden. Kurze Zeit später tauchen die Köpfe, wirkungsvoll drapiert, an einer Schiffsanlegestelle auf. Als weitere mysteriöse Verbrechen geschehen, ist Cardinals alter Ehrgeiz geweckt.
"Ein genial-gelungener Thriller, der trotz des Titels für jede Menge Hitze sorgt!"
MDR 1
Klappentext zu „Eismord “
Nach dem tragischen Tod seiner Frau betäubt Detective John Cardinal seinen Schmerz mit Routinetätigkeiten. Zu seiner langjährigen Kollegin Lise Delorme pflegt er ein eher unterkühltes Verhältnis, obwohl sich zwischen den beiden langsam etwas anzubahnen schein.Als die enthaupteten Leichen gefunden werden, ist es schlagartig vorbei mit der Trägheit des Winters. Cardinal stürzt sich in den rätselhaften Fall. Seine Ermittlungen ergeben, dass es sich bei den Ermordeten um US-Bürger russischer Herkunft handelt, die im Pelzgeschäft waren und regelmäßig zur großen Auktion nach Algonquin Bay kamen. Cardinal vermutet krumme Geschäfte im Pelzhändlermilieu, hat aber zunächst keine weiteren Anhaltspunkte. Erst nach und nach stößt er auf die richtige Fährte.
In seinem fünften Cardinal-Thriller gelingt es Giles Blunt auf brillante Weise, die Atmosphäre und das eisige Winterklima des nördlichen Ontario fühlbar zu machen. Eismord ist ein hochexplosiver Cocktail aus Psychostudie, Ermittlerkrimi und diabolischer Gewalt, der von der ersten bis zur letzten Seite fesselt.
Lese-Probe zu „Eismord “
Eismord von Giles Blunt1
... mehr
Es ist eher unwahrscheinlich, dass sich eine Stadt nicht nur als Tor zum Norden, sondern auch als Tor zur Haute Cuisine empfiehlt, und bis vor kurzem wäre das bei Algonquin Bay ziemlich abwegig erschienen, es sei denn, man speiste Donuts oder Poutine - eine Spezialität aus Fritten, Frischkäse und Bratensoße. Schon so manchen verwegenen Res - taurantbesitzer hatte der Versuch, dreihundertvierzig Kilometer nördlich von Toronto frischen Atlantiklachs oder gar eine essbare Tomate zu servieren, in den Ruin getrieben. Doch sie gaben nicht auf, und in diesem Jahr wetteiferten mindestens drei Tempel - zwei Steakhäuser und ein Bistro Champlain - um die Gunst des Gourmets. Das Bistro Champlain lag dabei eindeutig vorn, was zum Teil der Kreativität des Kochs Jerry Wing geschuldet war, wobei es durchaus auch von der Lage auf der anderen Seite der Autobahn, gegenüber einem erstklassigen Skigebiet namens Highlands, profitierte. Hatten die Highlands Zulauf, dann ging es auch dem Bistro Champlain gut - und im Moment lief es dank der Winterpelzauktion blendend. Aus aller Welt waren die Einkäufer über Algonquin Bay hergefallen, um auf Hunderttausende von Pelzen zu bieten, die einmal in den Geschäften von Manhattan über Moskau bis Peking landen würden. Auch wenn es im Restaurant wie gewohnt vornehm zurückhaltend zuging, so herrschte in der Küche einige Stunden lang Chaos.
Es war schon fast zehn Uhr, und Sam Doucette hatte die hoffentlich letzte Bestellung für diesen Abend angerichtet: Wildbret mit Süßkartoffelpüree und Rotweinsoße. Die Stoßzeit war vorbei, der Lärmpegel vom Scheppern der Bratpfannen, Töpfe und Auflaufformen endlich unter die Schmerzgrenze gesunken. Jerry war bereits heimgegangen, und Sam schickte ein Stoßgebet zum Himmel, dass der Geschäftsführer Ken nicht noch irgendeinem Spätankömmling mit Bärenhunger einen Platz anwies. Kochen hatte sie von ihrer Mutter gelernt, und die Arbeit im Champlain war eigentlich als Teilzeitjob gedacht, um davon ihre Kunstkurse am Algonquin College zu bestreiten, doch an den letzten Abenden hatte sie die Arbeit von zwei Köchen gestemmt, nachdem man einen ihrer Kollegen beim Verlassen des Geländes mit zwei Schinken im Rucksack erwischt und auf der Stelle gefeuert hatte. Außer Ali und Jeff waren die Kellner bereits nach Hause gegangen, und Sam konnte es kaum abwarten, auch endlich wegzukommen. Sie stellte einen Fuß auf den Boden eines umgestülpten Gewürzgurkeneimers und wischte sich mit dem Ärmel ihres Kochkittels den Schweiß von der Stirn. Würde Randall sie anrufen? Falls ja, umso besser. Falls nicht ... darüber dachte sie lieber nicht nach. Wenn man verliebt war, fand sie gerade heraus, schwebte man nicht etwa ununterbrochen auf Wolken, sondern war ständig Angst und Zweifeln ausgesetzt. Deshalb wandte sie sich lieber Loreena Moon zu, der Heldin eines Comicromans, den sie einfach so zum Vergnügen gerade zeichnete und schrieb. Zumindest redete sie sich ein, die Sache sei nur so zum Spaß, denn sie wollte sich nicht in den Traum hineinsteigern, den Comic auch verkaufen zu können. Andererseits spielte sie mit dem Gedanken, daraus eine Serie zu machen. So hatte sie bereits stapelweise Bilder gezeichnet und einige Szenen geschrieben. Aus irgendeinem Grund hatte Sam von der imaginären Loreena Moon eine klarere Vorstellung im Kopf als von irgendetwas in ihrem realen Leben - mit Ausnahme von Randall und seinen leidenschaftlichen Küssen. Loreena Moon war cool, abgehoben, selbstbewusst - das genaue Gegenteil von Sam. Wenn sie sich durch das Dickicht der Stadt bewegte, umwölkte Argwohn ihre Stirn. Sie trug ein Messer in einer fransenbesetzten Scheide an der Hüfte, einen Köcher mit Pfeilen über der Schulter und einen kleinen Bogen auf dem Rücken. Sie war stets empört, die Rächerin der Entrechteten, der Beistand der Hilflosen und Verzagten. Loreena blickte nie zurück und verliebte sich grundsätzlich nicht. Sie war genau wie Sam achtzehn Jahre alt, lebte jedoch weder im Reservat noch in Algonquin Bay. Sam war sich noch nicht sicher, wo Loreena Moon lebte. Es konnte unmöglich ein Haus oder eine Wohnung sein; mit Rechnungen oder anderen banalen Pflichten gab sich Loreena nicht ab. Allenfalls konnte Sam sich vorstellen, dass sie in Hotels übernachtete und in keinem häufiger als ein Mal. Die Wanduhr schlug zehn, und Champlains Küche hatte damit geschlossen. Als das Handy in der Brusttasche ihres Kittels klingelte, machte ihr Herz vor Freude einen Satz. Auf dem Display erschien der Name Randall Wishart. »Wir haben ein Nest«, sagte sie. »Bitte sag mir, dass wir ein Nest haben. Ich hab dich so vermisst.« »Ich dich auch«, sagte Randall. »Komm zum Haus an der Island Road. Wann kannst du da sein?« »Hier bin ich so weit fertig. Ich muss nur noch alles für die Leute von der Mittagsschicht vorbereiten.«
»Parke ein Stück weiter weg«, sagte er. »Und pass auf, dass dich keiner sieht.« Sam schaltete die Fritteuse, die Backöfen und Kochfelder aus. Die Arbeitsplatten und Schneidebretter hatte sie bereits abgewischt. Ihr Boss McCoy streckte den Kopf zur Tür herein und gab ihr mit dem erhobenen Daumen Zeichen, Feierabend zu machen. In einer der Vorratskammern hinter der Küche zog sie sich um. Der weiße Kittel landete ebenso wie die lächerliche Pepitahose in der Wäschetonne. Loreena trug nie etwas anderes als schwarze Jeans zum Tanktop oder auch zu einem schwarzen T-Shirt, vielleicht mit einem Katzenlogo oder einem Blitz darauf. Sam war von der Hitze am Herd so verschwitzt, dass sie sich mühsam in ihre Jeans zwängen musste. Sie zog den weichen, roten Pulli an, den Randall besonders mochte, hängte sich die Jacke über den Arm und gelangte zur Hintertür hinaus auf den Parkplatz. Es war eine erfrischend kalte Dezembernacht, ohne die eisigen Temperaturen, die einem gewöhnlich ab Januar das Gesicht taub froren. Loreena Moon wäre jetzt auf ihre Kawasaki gesprungen, doch Sam stieg sehr behutsam in ihren 96er Civic. Man musste die Tür beim Öffnen leicht anheben, damit sich die Angel nicht verschob und das Ding sich nicht mehr schließen ließ. Das Anwesen an der Island Road lag draußen am Trout Lake und nahm die ganze Spitze einer Landzunge ein. Während hier im Sommer Leute in ihren Booten vorbeikamen oder mit dem Wagen zwischen ihren Cottages hin und her fuhren, herrschte um diese Jahreszeit Totenstille. Trotzdem öffnete Randall die Tür so wie immer, indem er sich dahinterstellte, damit er nicht von einem zufällig vorbeikommenden Passanten zu sehen war. Er trug immer noch eines der dunklen Sportjacketts, die ihm bei der Arbeit am angenehmsten waren, die Krawatte dagegen hatte er abgelegt, und als er Sam kommen sah, strahlte er wie ein junger Shootingstar bei der Oscarverleihung. Kaum war Sam im Haus, nahm er sie in die Arme und drückte sie an sich. »Drei volle Tage«, sagte Sam. »Ich dachte, ich werde verrückt.« »Hat dich jemand gesehen?« »Nee.« »Wo steht dein Wagen?« »An der Abzweigung zum Wasserkraftwerk, die du mir gezeigt hast.« Bei diesem Haus handelte es sich um einen Bungalow, sehr offen gestaltet, mit einer Menge lackiertem Holz. Zu hübsch für Loreena, doch Sam war es recht. Sie wünschte sich, die Eigentümer kämen nie zurück. Sie zog die Stiefel aus und hängte ihre Jacke in der Eingangshalle auf. Randall umarmte sie noch einmal. Er knipste das Licht in der Diele aus, dann gingen sie ins Schlafzimmer, schlüpften aus ihren Kleidern, und Sam legte ihre Sachen auf einen Holzstuhl neben dem Wandschrank. »Jane haben schönen Körper«, sagte Randall. »Ich wünschte, ich könnte duschen. Ich bin völlig verschwitzt. « »Ich mögen verschwitzt.« Sie legten sich auf die blaue Decke, die Randall immer mitbrachte und auf dem jeweiligen Bett, das sie benutzten, ausbreitete. Er hatte sie stets in seinem Auto, und Sam fragte sich manchmal, wie er dies seiner Frau erklärte. Er streckte sich nackt aus und verschränkte die Hände hinter dem Kopf, sodass sein Bizeps vortrat. Sam liebte seinen Körper. Liebte ihn mit einer Leidenschaft, wie man wohl nichts auf dieser Welt lieben sollte. Sie hatte immer geglaubt, Liebe hätte etwas mit Vereinigung, Verschmelzung der Seelen zu tun, und bevor sie mit Randall Wishart schlief, hatte sie nie mit der Möglichkeit gerechnet, dass man nach dem Körper eines anderen Menschen vollkommen verrückt sein konnte. Sam setzte sich Randall rittlings auf die Brust und hielt seine Arme fest. Ihre Hände hoben sich dunkel von seiner weißen Haut ab. »Ich muss unablässig an dich denken«, sagte sie. »Geht mir genauso.« »Nein, ich meine, wirklich, einfach ohne Unterbrechung. « »Wenn ich so wie du zeichnen könnte, wärst du mein einziges Modell.« Sam berührte ihn an der Wange. Randall war immer glatt rasiert und trug grundsätzlich keinen Dreitagebart. Als Makler hätte er das unprofessionell gefunden. »Ich denke an deine Stimme«, sagte sie und streichelte seinen Hals. »Manchmal höre ich sie sogar im Schlaf.« »Tatsächlich? Und was sage ich?« »Das verrate ich dir nicht.« Sie legte sich die Hände aufs Gesicht. »Komm schon, was sage ich? Ich weiß, was ich sage.« Er befreite sich aus ihrem Griff, legte sie auf den Rücken und flüsterte ihr eine Reihe unerhörter Befehle ins Ohr, während er an ihrem Ohrläppchen knabberte. Wie gewöhnlich war dies der Auftakt zu ihrem Liebesspiel, bis sie sich wild ineinander verknäuelten. Selbst nach sechs Monaten war Sam auch diesmal wieder vollkommen außer Atem und durcheinander. Randall fand immer genau die richtige Art der Berührung, den passenden Zeitpunkt, um ihre Lust ins nahezu Grenzenlose zu steigern.
Lag es nur daran, dass er älter war? Oder hatte er eine Art natür liche Begabung? Oder lag es vielleicht - ach, wenn es doch bitte, bitte so wäre - daran, dass er sie wirklich von ganzem Herzen liebte? Im Handumdrehen ein Orgasmus Windstärke zehn. Keuchend und lachend rollte er sich von ihr herunter. »Das ist es. Ich schwör's dir. Das war er. Ich werde nie wieder einen brauchen. Das war's für alle Zeiten.« Sam lachte. »Sollte als olympische Disziplin eingeführt werden. Der Hundert-Meter-Orgasmus.« »Synchronisierte Orgasmen.« Auch wenn sie lachten, fühlte sich Sam schon jetzt, wie jedes Mal danach, bedrückt. Traurig darüber, dass Randall zu seiner Frau nach Hause gehen würde. Traurig, weil sie selbst zu ihrer Mutter und ihrem kleinen Bruder, zu ihren selbstverliebten Kunstlehrern in Algonquin zurückkehren würde. Die meisten ihrer Freunde hatten die Stadt verlassen, um an weiter entfernten Universitäten zu studieren. Ihr Dad war bei einem seiner winterlichen Campingausflüge entweder zur Jagd oder auch nur, um die Einsamkeit zu genießen, unterwegs. Sie drehte sich auf die Seite und berührte Randall an der Schulter. »Können wir vielleicht mal irgendwo hinfahren?«, fragte sie. »Wenigstens für ein paar Tage?« »Wäre schön, oder?« »Können wir? Einfach nur mal nach Toronto oder Montreal oder, was weiß ich, sonst irgendwohin? Wenigstens über Nacht?« »Würde ich liebend gerne, Sam, aber ich kann nicht. Was soll ich Laura erzählen?« »Erzähl ihr, du hättest eine schöne indianische Prinzessin gefunden, die dich unglaublich glücklich macht.« »Käme bestimmt toll an.«
»Dann denk dir eben was aus.« »Das kann ich nicht, Sam. Ich bin ein lausiger Lügner, und Laura würde es in einer Sekunde begreifen.« Er schnippte mit den Fingern. Wie jedes Mal, wenn sie über ein Leben außerhalb eines leer stehenden Hauses sprach, in dem sie sich gerade getroffen hatten, wurde Randall angespannt. Sie wusste, dass sie den Mund halten sollte, doch sie konnte sich nicht beherrschen. »Hast du nicht auch Lust, irgendwo anders mit mir Zeit zu verbringen? Vielleicht irgendwo draußen? Oder was weiß ich - in einem Café, einem Buchladen -, irgendwo, wo wir einfach ganz normale Menschen sein können?« »Sam, Laura und ich sind schon lange zusammen. Ich kann sie nicht von heute auf morgen verlassen, und, wie gesagt, ich bin ein lausiger Lügner.« »Na ja, darüber sollte ich mich vermutlich freuen.« Sam hob die Hand und strich ihm über die Augenbrauen. Er gab einen leisen wohligen Laut von sich und war im nächsten Moment eingeschlafen. Er schlief hinterher immer ein, tief und fest, wie mit Valium vollgepumpt. Das dauerte fünf bis zehn Minuten, in denen Sam sich über sein anderes Leben, sein reales Leben Gedanken machte. Laura Wishart war hübsch und intelligent - Sam hatte im Internet nachgesehen -, der Inbegriff einer erfolgreichen Blondine, irgend so eine Finanzexpertin. Sie musste von Anfang an betucht gewesen sein, denn ihrem Vater gehörte Carnwright Real Estate, die Maklerfirma, bei der Randall beschäftigt war. Sam war sich nicht sicher, wieso Randall mit seiner Frau unglücklich war. Er sprach kaum von ihr, sondern hatte lediglich einmal erwähnt, dass sie nie mehr Sex miteinander hatten.
Sie versuchte, an Loreena Moon zu denken. Loreena war frei, immer auf der Pirsch. Loreena war cool und unnahbar. Sie war wie Pootkin, Sams schwarze Katze, die in ihrem Wohnviertel herumstreunte und manchmal nach Hause kam, manchmal nicht. Sie hatte Loreena Pootkins grüne Augen gegeben - die einzigen Farbtupfer in ihrer monochromen Kunst. Sie wusste nicht, ob man bei einem richtigen Buch mit einem einzigen Farbtupfer arbeiten konnte, doch ihr gefiel's. Ihre Heldin sollte im Prinzip zu den Guten gehören - das heißt, immer den Schwächeren helfen und dafür sorgen, dass die Bösen ihre gerechte Strafe bekamen. Andererseits sollte sie sich nicht von kleinlichen Verhaltensregeln einengen lassen. An diesem Wochenende hatte sie Bilder von Loreena gezeichnet, auf denen sie Sachen mitgehen ließ. Sie ermittelte gegen einen reichen Industriellen, der unter dem Verdacht stand, das Trinkwasser für mehrere Reservate zu vergiften, und während sie in einer seiner prächtigen Villen herumschnüffelte, steckte sie mehrere Wertgegenstände ein. Sam gefiel der Gedanke, dass Loreena so wenig Moral kannte wie Pootkin, war sich allerdings nicht ganz sicher, ob sie das mit ihrer Hilfe für die Schwachen in Einklang bringen konnte. Sie liebte Pootkin, allerdings nicht, weil die Katze irgendwelche Anzeichen von Altruismus an den Tag gelegt hätte. Randall wachte auf und nahm seine Armbanduhr vom Nachttisch. »Himmel, ich muss los. Angeblich bin ich bei Troy und sehe das Spiel an. Den größten Teil hab ich tatsächlich gesehen.« »Du solltest dich erkundigen, wie es ausgegangen ist, bevor du nach Hause kommst.« »Ruf ich auf dem Handy ab. Nicht, dass Laura sich dafür interessieren würde.«
Sie zogen sich an, und Randall faltete die blaue Decke zusammen. In der Eingangsdiele schlüpften sie in ihre Stiefel und Mäntel. Randall knipste das Licht aus. Er sprach so leise, als fürchtete er, es stünden draußen Leute und horchten an der Tür. »Lass mir zwei Minuten Vorsprung, ja?« »Ist gut.« »Und schließ die Tür richtig ab. Das Schloss scheint irgendwie kaputt zu sein - in dem Haus klemmt es an allen Ecken und Enden.« Er gab ihr einen kurzen Abschiedskuss, sagte, er könne es bis zum nächsten Mal kaum abwarten, und war verschwunden. Ein Schwall kalte Luft, der Geruch nach nassen Kiefern. Das Geräusch, als er den Gang einlegte. Es sollte nicht so wehtun, sagte sie sich. Du bist ein großes Mädchen. Theoretisch. Allerdings keine Loreena mit Katzenherz, so viel stand fest. Durch das Türfenster schaute sie seinen Rücklichtern nach, bis sie zwischen den Bäumen verschwanden. Es war eine lange Fahrt in die Stadt zurück und von dort aus weiter ins Reservat; sie ging besser noch mal aufs Klo, bevor sie sich auf die Socken machte. Sie wischte die Stiefelsohlen auf der Fußmatte ab, bis sie sicher war, auf dem Holzboden keine Wasserspuren zu hinterlassen. Als sie aus dem Bad kam, hörte sie einen Schlüssel in der Eingangstür. Die Stimme eines Mannes. Nicht Randall. Stapfende, schwere Schuhe und andere Stimmen, die antworteten. Sam trat ins Schlafzimmer. Falls das die Eigentümer sind, überlegte sie, oder sogar ein anderer Makler, der dieses Haus Interessenten zeigt, bin ich am Arsch; Randall auch. Doch die Eigentümer konnten noch nicht wieder zurück sein, und wieso sollte ein Makler jemandem so spät am Abend eine Immobilie zeigen? Das ergab keinen Sinn. Die Klospülung lief noch, und sie hoffte inständig, dass sie verstummte. Stimmen und Schritte im Haus. Licht in der Diele. Sam legte sich auf den Boden und rollte sich unters Bett. Kein seriöser Mensch, dachte sie unwillkürlich, bringt sich in so eine Lage. Einige Minuten lang war es still, dann wurde die Stimme des Mannes lauter, und die Schritte kamen in ihre Richtung. Dumpfes Tappen von Leuten auf Socken. Hieß das etwa, dass sie bleiben würden? Die Stimme des Mannes aus dem Flur. »Hat ein hübsches Badezimmer. Kein Luxus, aber hier zahlt man vor allem für die Lage. Die Ruhe.« Im Schlafzimmer ging das Licht an, und Sam hielt die Luft an. »Das Elternschlafzimmer hat eine anständige Größe. Offensichtlich für ein großes Doppelbett ausgelegt. Reichlich Einbauschränke. Die Farbe wird man vielleicht ändern. « Das Geräusch von Schiebetüren. Die Stimme einer Frau mit irgendeinem Akzent. »Wann, sagen Sie, wurde es gebaut?« »Anfang der Sechziger.« »So neu. Sieht älter aus, der Stil.« Die Schiebetüren gingen zu. »Es hat Charme«, sagte der Mann aus größerer Nähe. »Kein Haus von der Stange.« Er durchquerte das Zimmer, Gardinen wurden zurückgezogen. »Der Garten grenzt direkt an den See, im Winter fahren Sie Schneemobil, im Sommer Kanu, Wasserski, oder was Sie so mögen. Der Blick ist das Einzigartige an diesem Haus. Sie müssen es sich unbedingt noch mal bei Tageslicht ansehen, direkt am Wasser, an der Spitze der Landzunge - Bilderbuch, anders kann man das wirklich nicht nennen. Ziemlich einmalig. Hat noch zwei Schlafzimmer.« »Nur ein Bad?« Eine andere Männerstimme. Auch mit ausländischem Akzent. »Ja, Sir. Man kauft es vielleicht nicht als ersten Wohnsitz, aber als Wochenendhaus im Norden? So ein Angebot können Sie lange suchen.« Ihre Schritte tappten in den Flur, das Licht ging aus. »Sehen Sie sich die anderen Zimmer an«, sagte der Mann, »danach hab ich noch einen kleinen Seelenwärmer für uns.« Sam wechselte die Stellung unter dem Bett. Sie hörte den Mann und die Frau in der Diele in einer Fremdsprache reden. Wie lange brauchten die, um sich einen kleinen Bungalow anzusehen? Geht, flehte sie. Nun geht schon! Schritte wieder Richtung Küche oder Wohnzimmer, jedenfalls nicht mehr in der Diele. Die Leute gingen immer noch nicht, aber sie konnte sie zumindest nicht mehr hören. Sie versuchte, ruhig durchzuatmen und sich zu beruhigen. Sicher gingen sie bald. Vielleicht in ein paar Minuten. Aus dem Wohnzimmer Gläserklirren. Lachen. Sam betete, dass sie nicht vorhatten, für den Rest der Nacht zu einem Saufgelage zu bleiben. Sie wartete und dachte an das Fenster. Der Bungalow hatte einen offenen Grundriss, sodass man unmöglich bis zur Haustür kam, ohne entdeckt zu werden. Die Gartentür hatte sie nicht gesehen, aber sie musste irgendwo in der Nähe der Küche sein. Also durchs Fenster. Gibt es in dieser Situation irgendeinen Grund zur Dankbarkeit?, fragte sie sich. Einen einzigen kleinen Umstand, der die sprichwörtliche »dankbare Grundeinstellung« rechtfertigte, die ihr Vater ihr ständig nahelegte? Denn sonst würde ihre Angst noch ganz andere Formen annehmen. Ein Schuss. Sam stieß mit dem Kopf gegen die Matratzenfeder. Ihr Vater hatte ihr mit neun Jahren das Schießen beigebracht. Es gab für sie nicht den Hauch eines Zweifels, dass gerade jemand einen Schuss abgefeuert hatte. Noch ein Schuss. Ein Mann stieß einen Schrei aus, so wie jemand brüllt, wenn seine Mannschaft gerade einen Treffer gelandet hat. Falls man sich im Wald verirrt, hatte ihr Vater ihr eingebleut - denn schließlich verirrt sich jeder mal im Wald, sogar Indianer -, ist zunächst einmal ganz entscheidend, was man nicht tut. Man gerät nicht in Panik. Die bringt einen schneller um als jeder Wolf, schneller als jeder Bär. Panik ist die häufigste Todesursache, die der Mensch kennt. Man muss sie erkennen und beim Namen nennen und dann in einem kleinen Safe verschließen, wo niemand herankam, nicht mal du selbst, verstanden? Keine Panik, schärfte sie sich ein. Vielleicht wurde da gerade ja niemand erschossen. Sie waren dabei, ein Haus zu besichtigen - wieso sollte irgendjemand einen anderen erschießen? Vielleicht schießt jemand aus irgendeinem Grund mit Platzpatronen. Vielleicht haben sie gekokst oder so und sind nicht ganz dicht. Nur keine Panik! Sie versuchte, ihren Atem, ihren Puls wieder zu normalisieren. Niemand weiß, dass ich hier bin. Egal, was da vor sich geht, es ist sicher bald vorbei. Die hauen ab, ich haue ab. Das Leben geht ganz normal weiter, und niemand ist tot. Ich zumindest nicht. Das alles konnte ihre Herzfrequenz nicht beruhigen. Das Blut hämmerte ihr in den Ohren.
Übersetzung: Anke und Eberhard Kreutzer
Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg Copyright der Originalausgabe © 2010 by Giles Blunt Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2011 by Droemer Verlag. Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München.
Es ist eher unwahrscheinlich, dass sich eine Stadt nicht nur als Tor zum Norden, sondern auch als Tor zur Haute Cuisine empfiehlt, und bis vor kurzem wäre das bei Algonquin Bay ziemlich abwegig erschienen, es sei denn, man speiste Donuts oder Poutine - eine Spezialität aus Fritten, Frischkäse und Bratensoße. Schon so manchen verwegenen Res - taurantbesitzer hatte der Versuch, dreihundertvierzig Kilometer nördlich von Toronto frischen Atlantiklachs oder gar eine essbare Tomate zu servieren, in den Ruin getrieben. Doch sie gaben nicht auf, und in diesem Jahr wetteiferten mindestens drei Tempel - zwei Steakhäuser und ein Bistro Champlain - um die Gunst des Gourmets. Das Bistro Champlain lag dabei eindeutig vorn, was zum Teil der Kreativität des Kochs Jerry Wing geschuldet war, wobei es durchaus auch von der Lage auf der anderen Seite der Autobahn, gegenüber einem erstklassigen Skigebiet namens Highlands, profitierte. Hatten die Highlands Zulauf, dann ging es auch dem Bistro Champlain gut - und im Moment lief es dank der Winterpelzauktion blendend. Aus aller Welt waren die Einkäufer über Algonquin Bay hergefallen, um auf Hunderttausende von Pelzen zu bieten, die einmal in den Geschäften von Manhattan über Moskau bis Peking landen würden. Auch wenn es im Restaurant wie gewohnt vornehm zurückhaltend zuging, so herrschte in der Küche einige Stunden lang Chaos.
Es war schon fast zehn Uhr, und Sam Doucette hatte die hoffentlich letzte Bestellung für diesen Abend angerichtet: Wildbret mit Süßkartoffelpüree und Rotweinsoße. Die Stoßzeit war vorbei, der Lärmpegel vom Scheppern der Bratpfannen, Töpfe und Auflaufformen endlich unter die Schmerzgrenze gesunken. Jerry war bereits heimgegangen, und Sam schickte ein Stoßgebet zum Himmel, dass der Geschäftsführer Ken nicht noch irgendeinem Spätankömmling mit Bärenhunger einen Platz anwies. Kochen hatte sie von ihrer Mutter gelernt, und die Arbeit im Champlain war eigentlich als Teilzeitjob gedacht, um davon ihre Kunstkurse am Algonquin College zu bestreiten, doch an den letzten Abenden hatte sie die Arbeit von zwei Köchen gestemmt, nachdem man einen ihrer Kollegen beim Verlassen des Geländes mit zwei Schinken im Rucksack erwischt und auf der Stelle gefeuert hatte. Außer Ali und Jeff waren die Kellner bereits nach Hause gegangen, und Sam konnte es kaum abwarten, auch endlich wegzukommen. Sie stellte einen Fuß auf den Boden eines umgestülpten Gewürzgurkeneimers und wischte sich mit dem Ärmel ihres Kochkittels den Schweiß von der Stirn. Würde Randall sie anrufen? Falls ja, umso besser. Falls nicht ... darüber dachte sie lieber nicht nach. Wenn man verliebt war, fand sie gerade heraus, schwebte man nicht etwa ununterbrochen auf Wolken, sondern war ständig Angst und Zweifeln ausgesetzt. Deshalb wandte sie sich lieber Loreena Moon zu, der Heldin eines Comicromans, den sie einfach so zum Vergnügen gerade zeichnete und schrieb. Zumindest redete sie sich ein, die Sache sei nur so zum Spaß, denn sie wollte sich nicht in den Traum hineinsteigern, den Comic auch verkaufen zu können. Andererseits spielte sie mit dem Gedanken, daraus eine Serie zu machen. So hatte sie bereits stapelweise Bilder gezeichnet und einige Szenen geschrieben. Aus irgendeinem Grund hatte Sam von der imaginären Loreena Moon eine klarere Vorstellung im Kopf als von irgendetwas in ihrem realen Leben - mit Ausnahme von Randall und seinen leidenschaftlichen Küssen. Loreena Moon war cool, abgehoben, selbstbewusst - das genaue Gegenteil von Sam. Wenn sie sich durch das Dickicht der Stadt bewegte, umwölkte Argwohn ihre Stirn. Sie trug ein Messer in einer fransenbesetzten Scheide an der Hüfte, einen Köcher mit Pfeilen über der Schulter und einen kleinen Bogen auf dem Rücken. Sie war stets empört, die Rächerin der Entrechteten, der Beistand der Hilflosen und Verzagten. Loreena blickte nie zurück und verliebte sich grundsätzlich nicht. Sie war genau wie Sam achtzehn Jahre alt, lebte jedoch weder im Reservat noch in Algonquin Bay. Sam war sich noch nicht sicher, wo Loreena Moon lebte. Es konnte unmöglich ein Haus oder eine Wohnung sein; mit Rechnungen oder anderen banalen Pflichten gab sich Loreena nicht ab. Allenfalls konnte Sam sich vorstellen, dass sie in Hotels übernachtete und in keinem häufiger als ein Mal. Die Wanduhr schlug zehn, und Champlains Küche hatte damit geschlossen. Als das Handy in der Brusttasche ihres Kittels klingelte, machte ihr Herz vor Freude einen Satz. Auf dem Display erschien der Name Randall Wishart. »Wir haben ein Nest«, sagte sie. »Bitte sag mir, dass wir ein Nest haben. Ich hab dich so vermisst.« »Ich dich auch«, sagte Randall. »Komm zum Haus an der Island Road. Wann kannst du da sein?« »Hier bin ich so weit fertig. Ich muss nur noch alles für die Leute von der Mittagsschicht vorbereiten.«
»Parke ein Stück weiter weg«, sagte er. »Und pass auf, dass dich keiner sieht.« Sam schaltete die Fritteuse, die Backöfen und Kochfelder aus. Die Arbeitsplatten und Schneidebretter hatte sie bereits abgewischt. Ihr Boss McCoy streckte den Kopf zur Tür herein und gab ihr mit dem erhobenen Daumen Zeichen, Feierabend zu machen. In einer der Vorratskammern hinter der Küche zog sie sich um. Der weiße Kittel landete ebenso wie die lächerliche Pepitahose in der Wäschetonne. Loreena trug nie etwas anderes als schwarze Jeans zum Tanktop oder auch zu einem schwarzen T-Shirt, vielleicht mit einem Katzenlogo oder einem Blitz darauf. Sam war von der Hitze am Herd so verschwitzt, dass sie sich mühsam in ihre Jeans zwängen musste. Sie zog den weichen, roten Pulli an, den Randall besonders mochte, hängte sich die Jacke über den Arm und gelangte zur Hintertür hinaus auf den Parkplatz. Es war eine erfrischend kalte Dezembernacht, ohne die eisigen Temperaturen, die einem gewöhnlich ab Januar das Gesicht taub froren. Loreena Moon wäre jetzt auf ihre Kawasaki gesprungen, doch Sam stieg sehr behutsam in ihren 96er Civic. Man musste die Tür beim Öffnen leicht anheben, damit sich die Angel nicht verschob und das Ding sich nicht mehr schließen ließ. Das Anwesen an der Island Road lag draußen am Trout Lake und nahm die ganze Spitze einer Landzunge ein. Während hier im Sommer Leute in ihren Booten vorbeikamen oder mit dem Wagen zwischen ihren Cottages hin und her fuhren, herrschte um diese Jahreszeit Totenstille. Trotzdem öffnete Randall die Tür so wie immer, indem er sich dahinterstellte, damit er nicht von einem zufällig vorbeikommenden Passanten zu sehen war. Er trug immer noch eines der dunklen Sportjacketts, die ihm bei der Arbeit am angenehmsten waren, die Krawatte dagegen hatte er abgelegt, und als er Sam kommen sah, strahlte er wie ein junger Shootingstar bei der Oscarverleihung. Kaum war Sam im Haus, nahm er sie in die Arme und drückte sie an sich. »Drei volle Tage«, sagte Sam. »Ich dachte, ich werde verrückt.« »Hat dich jemand gesehen?« »Nee.« »Wo steht dein Wagen?« »An der Abzweigung zum Wasserkraftwerk, die du mir gezeigt hast.« Bei diesem Haus handelte es sich um einen Bungalow, sehr offen gestaltet, mit einer Menge lackiertem Holz. Zu hübsch für Loreena, doch Sam war es recht. Sie wünschte sich, die Eigentümer kämen nie zurück. Sie zog die Stiefel aus und hängte ihre Jacke in der Eingangshalle auf. Randall umarmte sie noch einmal. Er knipste das Licht in der Diele aus, dann gingen sie ins Schlafzimmer, schlüpften aus ihren Kleidern, und Sam legte ihre Sachen auf einen Holzstuhl neben dem Wandschrank. »Jane haben schönen Körper«, sagte Randall. »Ich wünschte, ich könnte duschen. Ich bin völlig verschwitzt. « »Ich mögen verschwitzt.« Sie legten sich auf die blaue Decke, die Randall immer mitbrachte und auf dem jeweiligen Bett, das sie benutzten, ausbreitete. Er hatte sie stets in seinem Auto, und Sam fragte sich manchmal, wie er dies seiner Frau erklärte. Er streckte sich nackt aus und verschränkte die Hände hinter dem Kopf, sodass sein Bizeps vortrat. Sam liebte seinen Körper. Liebte ihn mit einer Leidenschaft, wie man wohl nichts auf dieser Welt lieben sollte. Sie hatte immer geglaubt, Liebe hätte etwas mit Vereinigung, Verschmelzung der Seelen zu tun, und bevor sie mit Randall Wishart schlief, hatte sie nie mit der Möglichkeit gerechnet, dass man nach dem Körper eines anderen Menschen vollkommen verrückt sein konnte. Sam setzte sich Randall rittlings auf die Brust und hielt seine Arme fest. Ihre Hände hoben sich dunkel von seiner weißen Haut ab. »Ich muss unablässig an dich denken«, sagte sie. »Geht mir genauso.« »Nein, ich meine, wirklich, einfach ohne Unterbrechung. « »Wenn ich so wie du zeichnen könnte, wärst du mein einziges Modell.« Sam berührte ihn an der Wange. Randall war immer glatt rasiert und trug grundsätzlich keinen Dreitagebart. Als Makler hätte er das unprofessionell gefunden. »Ich denke an deine Stimme«, sagte sie und streichelte seinen Hals. »Manchmal höre ich sie sogar im Schlaf.« »Tatsächlich? Und was sage ich?« »Das verrate ich dir nicht.« Sie legte sich die Hände aufs Gesicht. »Komm schon, was sage ich? Ich weiß, was ich sage.« Er befreite sich aus ihrem Griff, legte sie auf den Rücken und flüsterte ihr eine Reihe unerhörter Befehle ins Ohr, während er an ihrem Ohrläppchen knabberte. Wie gewöhnlich war dies der Auftakt zu ihrem Liebesspiel, bis sie sich wild ineinander verknäuelten. Selbst nach sechs Monaten war Sam auch diesmal wieder vollkommen außer Atem und durcheinander. Randall fand immer genau die richtige Art der Berührung, den passenden Zeitpunkt, um ihre Lust ins nahezu Grenzenlose zu steigern.
Lag es nur daran, dass er älter war? Oder hatte er eine Art natür liche Begabung? Oder lag es vielleicht - ach, wenn es doch bitte, bitte so wäre - daran, dass er sie wirklich von ganzem Herzen liebte? Im Handumdrehen ein Orgasmus Windstärke zehn. Keuchend und lachend rollte er sich von ihr herunter. »Das ist es. Ich schwör's dir. Das war er. Ich werde nie wieder einen brauchen. Das war's für alle Zeiten.« Sam lachte. »Sollte als olympische Disziplin eingeführt werden. Der Hundert-Meter-Orgasmus.« »Synchronisierte Orgasmen.« Auch wenn sie lachten, fühlte sich Sam schon jetzt, wie jedes Mal danach, bedrückt. Traurig darüber, dass Randall zu seiner Frau nach Hause gehen würde. Traurig, weil sie selbst zu ihrer Mutter und ihrem kleinen Bruder, zu ihren selbstverliebten Kunstlehrern in Algonquin zurückkehren würde. Die meisten ihrer Freunde hatten die Stadt verlassen, um an weiter entfernten Universitäten zu studieren. Ihr Dad war bei einem seiner winterlichen Campingausflüge entweder zur Jagd oder auch nur, um die Einsamkeit zu genießen, unterwegs. Sie drehte sich auf die Seite und berührte Randall an der Schulter. »Können wir vielleicht mal irgendwo hinfahren?«, fragte sie. »Wenigstens für ein paar Tage?« »Wäre schön, oder?« »Können wir? Einfach nur mal nach Toronto oder Montreal oder, was weiß ich, sonst irgendwohin? Wenigstens über Nacht?« »Würde ich liebend gerne, Sam, aber ich kann nicht. Was soll ich Laura erzählen?« »Erzähl ihr, du hättest eine schöne indianische Prinzessin gefunden, die dich unglaublich glücklich macht.« »Käme bestimmt toll an.«
»Dann denk dir eben was aus.« »Das kann ich nicht, Sam. Ich bin ein lausiger Lügner, und Laura würde es in einer Sekunde begreifen.« Er schnippte mit den Fingern. Wie jedes Mal, wenn sie über ein Leben außerhalb eines leer stehenden Hauses sprach, in dem sie sich gerade getroffen hatten, wurde Randall angespannt. Sie wusste, dass sie den Mund halten sollte, doch sie konnte sich nicht beherrschen. »Hast du nicht auch Lust, irgendwo anders mit mir Zeit zu verbringen? Vielleicht irgendwo draußen? Oder was weiß ich - in einem Café, einem Buchladen -, irgendwo, wo wir einfach ganz normale Menschen sein können?« »Sam, Laura und ich sind schon lange zusammen. Ich kann sie nicht von heute auf morgen verlassen, und, wie gesagt, ich bin ein lausiger Lügner.« »Na ja, darüber sollte ich mich vermutlich freuen.« Sam hob die Hand und strich ihm über die Augenbrauen. Er gab einen leisen wohligen Laut von sich und war im nächsten Moment eingeschlafen. Er schlief hinterher immer ein, tief und fest, wie mit Valium vollgepumpt. Das dauerte fünf bis zehn Minuten, in denen Sam sich über sein anderes Leben, sein reales Leben Gedanken machte. Laura Wishart war hübsch und intelligent - Sam hatte im Internet nachgesehen -, der Inbegriff einer erfolgreichen Blondine, irgend so eine Finanzexpertin. Sie musste von Anfang an betucht gewesen sein, denn ihrem Vater gehörte Carnwright Real Estate, die Maklerfirma, bei der Randall beschäftigt war. Sam war sich nicht sicher, wieso Randall mit seiner Frau unglücklich war. Er sprach kaum von ihr, sondern hatte lediglich einmal erwähnt, dass sie nie mehr Sex miteinander hatten.
Sie versuchte, an Loreena Moon zu denken. Loreena war frei, immer auf der Pirsch. Loreena war cool und unnahbar. Sie war wie Pootkin, Sams schwarze Katze, die in ihrem Wohnviertel herumstreunte und manchmal nach Hause kam, manchmal nicht. Sie hatte Loreena Pootkins grüne Augen gegeben - die einzigen Farbtupfer in ihrer monochromen Kunst. Sie wusste nicht, ob man bei einem richtigen Buch mit einem einzigen Farbtupfer arbeiten konnte, doch ihr gefiel's. Ihre Heldin sollte im Prinzip zu den Guten gehören - das heißt, immer den Schwächeren helfen und dafür sorgen, dass die Bösen ihre gerechte Strafe bekamen. Andererseits sollte sie sich nicht von kleinlichen Verhaltensregeln einengen lassen. An diesem Wochenende hatte sie Bilder von Loreena gezeichnet, auf denen sie Sachen mitgehen ließ. Sie ermittelte gegen einen reichen Industriellen, der unter dem Verdacht stand, das Trinkwasser für mehrere Reservate zu vergiften, und während sie in einer seiner prächtigen Villen herumschnüffelte, steckte sie mehrere Wertgegenstände ein. Sam gefiel der Gedanke, dass Loreena so wenig Moral kannte wie Pootkin, war sich allerdings nicht ganz sicher, ob sie das mit ihrer Hilfe für die Schwachen in Einklang bringen konnte. Sie liebte Pootkin, allerdings nicht, weil die Katze irgendwelche Anzeichen von Altruismus an den Tag gelegt hätte. Randall wachte auf und nahm seine Armbanduhr vom Nachttisch. »Himmel, ich muss los. Angeblich bin ich bei Troy und sehe das Spiel an. Den größten Teil hab ich tatsächlich gesehen.« »Du solltest dich erkundigen, wie es ausgegangen ist, bevor du nach Hause kommst.« »Ruf ich auf dem Handy ab. Nicht, dass Laura sich dafür interessieren würde.«
Sie zogen sich an, und Randall faltete die blaue Decke zusammen. In der Eingangsdiele schlüpften sie in ihre Stiefel und Mäntel. Randall knipste das Licht aus. Er sprach so leise, als fürchtete er, es stünden draußen Leute und horchten an der Tür. »Lass mir zwei Minuten Vorsprung, ja?« »Ist gut.« »Und schließ die Tür richtig ab. Das Schloss scheint irgendwie kaputt zu sein - in dem Haus klemmt es an allen Ecken und Enden.« Er gab ihr einen kurzen Abschiedskuss, sagte, er könne es bis zum nächsten Mal kaum abwarten, und war verschwunden. Ein Schwall kalte Luft, der Geruch nach nassen Kiefern. Das Geräusch, als er den Gang einlegte. Es sollte nicht so wehtun, sagte sie sich. Du bist ein großes Mädchen. Theoretisch. Allerdings keine Loreena mit Katzenherz, so viel stand fest. Durch das Türfenster schaute sie seinen Rücklichtern nach, bis sie zwischen den Bäumen verschwanden. Es war eine lange Fahrt in die Stadt zurück und von dort aus weiter ins Reservat; sie ging besser noch mal aufs Klo, bevor sie sich auf die Socken machte. Sie wischte die Stiefelsohlen auf der Fußmatte ab, bis sie sicher war, auf dem Holzboden keine Wasserspuren zu hinterlassen. Als sie aus dem Bad kam, hörte sie einen Schlüssel in der Eingangstür. Die Stimme eines Mannes. Nicht Randall. Stapfende, schwere Schuhe und andere Stimmen, die antworteten. Sam trat ins Schlafzimmer. Falls das die Eigentümer sind, überlegte sie, oder sogar ein anderer Makler, der dieses Haus Interessenten zeigt, bin ich am Arsch; Randall auch. Doch die Eigentümer konnten noch nicht wieder zurück sein, und wieso sollte ein Makler jemandem so spät am Abend eine Immobilie zeigen? Das ergab keinen Sinn. Die Klospülung lief noch, und sie hoffte inständig, dass sie verstummte. Stimmen und Schritte im Haus. Licht in der Diele. Sam legte sich auf den Boden und rollte sich unters Bett. Kein seriöser Mensch, dachte sie unwillkürlich, bringt sich in so eine Lage. Einige Minuten lang war es still, dann wurde die Stimme des Mannes lauter, und die Schritte kamen in ihre Richtung. Dumpfes Tappen von Leuten auf Socken. Hieß das etwa, dass sie bleiben würden? Die Stimme des Mannes aus dem Flur. »Hat ein hübsches Badezimmer. Kein Luxus, aber hier zahlt man vor allem für die Lage. Die Ruhe.« Im Schlafzimmer ging das Licht an, und Sam hielt die Luft an. »Das Elternschlafzimmer hat eine anständige Größe. Offensichtlich für ein großes Doppelbett ausgelegt. Reichlich Einbauschränke. Die Farbe wird man vielleicht ändern. « Das Geräusch von Schiebetüren. Die Stimme einer Frau mit irgendeinem Akzent. »Wann, sagen Sie, wurde es gebaut?« »Anfang der Sechziger.« »So neu. Sieht älter aus, der Stil.« Die Schiebetüren gingen zu. »Es hat Charme«, sagte der Mann aus größerer Nähe. »Kein Haus von der Stange.« Er durchquerte das Zimmer, Gardinen wurden zurückgezogen. »Der Garten grenzt direkt an den See, im Winter fahren Sie Schneemobil, im Sommer Kanu, Wasserski, oder was Sie so mögen. Der Blick ist das Einzigartige an diesem Haus. Sie müssen es sich unbedingt noch mal bei Tageslicht ansehen, direkt am Wasser, an der Spitze der Landzunge - Bilderbuch, anders kann man das wirklich nicht nennen. Ziemlich einmalig. Hat noch zwei Schlafzimmer.« »Nur ein Bad?« Eine andere Männerstimme. Auch mit ausländischem Akzent. »Ja, Sir. Man kauft es vielleicht nicht als ersten Wohnsitz, aber als Wochenendhaus im Norden? So ein Angebot können Sie lange suchen.« Ihre Schritte tappten in den Flur, das Licht ging aus. »Sehen Sie sich die anderen Zimmer an«, sagte der Mann, »danach hab ich noch einen kleinen Seelenwärmer für uns.« Sam wechselte die Stellung unter dem Bett. Sie hörte den Mann und die Frau in der Diele in einer Fremdsprache reden. Wie lange brauchten die, um sich einen kleinen Bungalow anzusehen? Geht, flehte sie. Nun geht schon! Schritte wieder Richtung Küche oder Wohnzimmer, jedenfalls nicht mehr in der Diele. Die Leute gingen immer noch nicht, aber sie konnte sie zumindest nicht mehr hören. Sie versuchte, ruhig durchzuatmen und sich zu beruhigen. Sicher gingen sie bald. Vielleicht in ein paar Minuten. Aus dem Wohnzimmer Gläserklirren. Lachen. Sam betete, dass sie nicht vorhatten, für den Rest der Nacht zu einem Saufgelage zu bleiben. Sie wartete und dachte an das Fenster. Der Bungalow hatte einen offenen Grundriss, sodass man unmöglich bis zur Haustür kam, ohne entdeckt zu werden. Die Gartentür hatte sie nicht gesehen, aber sie musste irgendwo in der Nähe der Küche sein. Also durchs Fenster. Gibt es in dieser Situation irgendeinen Grund zur Dankbarkeit?, fragte sie sich. Einen einzigen kleinen Umstand, der die sprichwörtliche »dankbare Grundeinstellung« rechtfertigte, die ihr Vater ihr ständig nahelegte? Denn sonst würde ihre Angst noch ganz andere Formen annehmen. Ein Schuss. Sam stieß mit dem Kopf gegen die Matratzenfeder. Ihr Vater hatte ihr mit neun Jahren das Schießen beigebracht. Es gab für sie nicht den Hauch eines Zweifels, dass gerade jemand einen Schuss abgefeuert hatte. Noch ein Schuss. Ein Mann stieß einen Schrei aus, so wie jemand brüllt, wenn seine Mannschaft gerade einen Treffer gelandet hat. Falls man sich im Wald verirrt, hatte ihr Vater ihr eingebleut - denn schließlich verirrt sich jeder mal im Wald, sogar Indianer -, ist zunächst einmal ganz entscheidend, was man nicht tut. Man gerät nicht in Panik. Die bringt einen schneller um als jeder Wolf, schneller als jeder Bär. Panik ist die häufigste Todesursache, die der Mensch kennt. Man muss sie erkennen und beim Namen nennen und dann in einem kleinen Safe verschließen, wo niemand herankam, nicht mal du selbst, verstanden? Keine Panik, schärfte sie sich ein. Vielleicht wurde da gerade ja niemand erschossen. Sie waren dabei, ein Haus zu besichtigen - wieso sollte irgendjemand einen anderen erschießen? Vielleicht schießt jemand aus irgendeinem Grund mit Platzpatronen. Vielleicht haben sie gekokst oder so und sind nicht ganz dicht. Nur keine Panik! Sie versuchte, ihren Atem, ihren Puls wieder zu normalisieren. Niemand weiß, dass ich hier bin. Egal, was da vor sich geht, es ist sicher bald vorbei. Die hauen ab, ich haue ab. Das Leben geht ganz normal weiter, und niemand ist tot. Ich zumindest nicht. Das alles konnte ihre Herzfrequenz nicht beruhigen. Das Blut hämmerte ihr in den Ohren.
Übersetzung: Anke und Eberhard Kreutzer
Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg Copyright der Originalausgabe © 2010 by Giles Blunt Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2011 by Droemer Verlag. Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München.
... weniger
Autoren-Porträt von Giles Blunt
Giles Blunt, geboren 1952, wuchs in North Bay/Ontario auf und studierte Englische Literatur an der Universität Toronto. 1980 ging er nach New York, wo er sich u.a. als Streetworker, Gerichtsdiener und Barkeeper durchschlug. Heute lebt er wieder in Toronto. Mit seinem hochgelobten Thriller "Gefrorene Seelen" gelang ihm der internationale Durchbruch. Drei weitere Romane mit Detective John Cardinal und zahlreiche Auszeichnungen festigten seinen Ruf als Kanadas erfolgreichster Thrillerautor.Bibliographische Angaben
- Autor: Giles Blunt
- 2012, 1, 432 Seiten, Maße: 13,5 x 19,1 cm, Geb. mit Su.
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 386800887X
- ISBN-13: 9783868008876
Kommentare zu "Eismord"
0 Gebrauchte Artikel zu „Eismord“
Zustand | Preis | Porto | Zahlung | Verkäufer | Rating |
---|
4.5 von 5 Sternen
5 Sterne 9Schreiben Sie einen Kommentar zu "Eismord".
Kommentar verfassen