Eiszeit
Es ist Sommer, wir fahren ans Meer. Wir packen unseren Koffer und nehmen mit: eine komplizierte Freundin, heimliche Gelüste, große Erwartungen, die neue Badehose und divergierende Lebensentwürfe.Es ist Sommer, wir machen einen Ausflug. Wir...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Eiszeit “
Es ist Sommer, wir fahren ans Meer. Wir packen unseren Koffer und nehmen mit: eine komplizierte Freundin, heimliche Gelüste, große Erwartungen, die neue Badehose und divergierende Lebensentwürfe.
Es ist Sommer, wir machen einen Ausflug. Wir packen unsere Tasche und nehmen mit: eine Frau zuviel, heimtückische Unwetter, ein Überraschungspicknick und Stimmungsschwankungen.
Es ist Sommer, wir bleiben in der großen Stadt. Wir werden nicht los: die unerträgliche Hitze, unsere Vergangenheit, Herzrasen, eure Vergangenheit, Herzstechen, die Ansprüche anderer, Herzschmerz.
Es ist Sommer, 36 Grad, und es wird noch heißer. 16 Geschichten berichten von der Einwirkung direkter Sonneneinstrahlung auf das menschliche Denkvermögen.
Klappentext zu „Eiszeit “
Eiswürfel klimpern in neon-bunten Gläsern, aus denen Schirmchen lugen. Es ist verdammt heiß, und heiße Blicke schwirren durch die Luft. Die Nächte sind noch lauer als sonst, die Kleidchen noch knapper, und der Verstand wird immer träger. Es ist die Sommersonne: Sie bringt den Asphalt zum Glühen, färbt die Haut tiefbraun und scheidet Tag und Nacht. Aber was macht sie mit uns und unseren Gefühlen? Einige der elaboriertesten Eisschlecker, der schlauesten Schwimmer und der kreativsten Cocktailschlürfer haben sich zusammengetan und versprechen Abkühlung. Denn sie haben das Coolste geschrieben, was die deutsche Gegenwartsliteratur zur Liebe im Sommer zu sagen hat.Was übrig bleibt: süße Kühle im Bauch. Als hätte man sämtliche Sorten in Giovannis Eisdiele probiert, von Azzurro bis Zuppa Inglese.
Es ist Sommer, wir fahren ans Meer. Wir packen unseren Koffer und nehmen mit: eine komplizierte Freundin, heimliche Gelüste, große Erwartungen, die neue Badehose und divergierende Lebensentwürfe.
Es ist Sommer, wir machen einen Ausflug. Wir packen unsere Tasche und nehmen mit: eine Frau zuviel, heimtückische Unwetter, ein Überraschungspicknick und Stimmungsschwankungen.
Es ist Sommer, wir bleiben in der großen Stadt. Wir werden nicht los: die unerträgliche Hitze, unsere Vergangenheit, Herzrasen, eure Vergangenheit, Herzstechen, die Ansprüche anderer, Herzschmerz.
Es ist Sommer, 36 Grad, und es wird noch heißer. 16 Geschichten berichten von der Einwirkung direkter Sonneneinstrahlung auf das menschliche Denkvermögen.
Es ist Sommer, wir machen einen Ausflug. Wir packen unsere Tasche und nehmen mit: eine Frau zuviel, heimtückische Unwetter, ein Überraschungspicknick und Stimmungsschwankungen.
Es ist Sommer, wir bleiben in der großen Stadt. Wir werden nicht los: die unerträgliche Hitze, unsere Vergangenheit, Herzrasen, eure Vergangenheit, Herzstechen, die Ansprüche anderer, Herzschmerz.
Es ist Sommer, 36 Grad, und es wird noch heißer. 16 Geschichten berichten von der Einwirkung direkter Sonneneinstrahlung auf das menschliche Denkvermögen.
Lese-Probe zu „Eiszeit “
Eiszeit Sommergeschichten von Anvar CukovskiThomas Klupp
Playa de las Sirenas
Die Nackte ist wieder da. Sie steht unten am Wasser, den Kopf in den Nacken gelegt, und knotet ihr dunkles Haar mit einem roten Tuch zusammen. Simon beobachtet sie schon eine Weile, schon seit sie den schmalen Klippenweg heruntergekommen ist und ihre Küsse verteilt hat, an Fernando, Maria und die anderen aus der Trafalgar-Bar.
Die Nackte küsst zur Begrüßung auf den Mund, Frauen wie Männer, Küsse wie für ein Filmplakat. Mira beobachtet sie ebenfalls, er sieht es, ohne den Kopf zu heben. Sie liegt neben ihm auf dem Bauch, die Ellenbogen in den Sand gestützt, und hält ihr Buch in der Hand. Seit Minuten hat sie nicht umgeblättert, 4500 Mal Windeln wechseln! steht fett gedruckt auf der linken Seite, Große Verantwortung und große Freude kann er noch entziffern, dann verschwimmen die Buchstaben.
Er schließt die Augen und denkt an Jonathan, sieht ihn durch den Park der Clubanlage krabbeln, vielleicht machte er sogar schon die ersten eigenen Schritte, Miras Mutter glaubt, bald ist es so weit. Er nimmt sich vor, sie beim Abendessen darauf anzusprechen, ihr und Rolf auch noch einmal für die freien Nachmittage zu danken, hört plötzlich Miras Stimme, leise, wie an sich selbst gewandt. Chica, murmelt sie, das ist jetzt aber nicht dein Ernst.
Ohne sich zu bewegen, schlägt er die Augen wieder auf, sieht den Rücken der Nackten, ihre Arme in gerader Linie dem Himmel entgegengestreckt. Dann beugt sie langsam die Knie und den Oberkörper, drückt ihre Hände flach in den feuchten Sand. Ihr Hintern wölbt sich seinen Pupillen entgegen, eine Ahnung von Rosa zwischen den Schenkeln, dunkler hinter den Gläsern seiner Ray Ban. Er stellt sich vor, wie sie mit Kind aussähe, ein Kind in diesem Paradekörper, keine Chance.
Langsam schiebt sie ein
... mehr
Bein nach hinten, streckt es, die Schamlippen zeichnen sich scharf vor dem Blau des Atlantiks ab. Edelpussy, denkt er, Luxusstute, die Wörter blinken wie Leuchtschriften auf seiner Netzhaut, während die Nackte Position um Position den Sonnengruß gibt. Mit einem Gähnen richtet er sich auf und nimmt die Sonnenbrille ab. Reibt sich die Augen, so als wäre er gerade aufgewacht. Was geht denn mit der ab, sagt er zu Mira, den Kopf in Richtung der Nackten gewandt. Frag doch nicht so blöd, sagt sie, ohne ihn anzusehen. Ihr Unterkiefer ist nach vorne geschoben, eine Falte steht zwischen ihren Augenbrauen. Mit ihrem Strohhut wirkt sie wie für Fasching verkleidet, er möchte sie schütteln, ihr den Hut vom Kopf schlagen, wenigstens das.
Mira, sagt er stattdessen, hör auf zu glotzen, du siehst schwachsinnig aus. Als Mira nicht reagiert, lässt er sich wieder auf das Handtuch fallen, den Kopf nach rechts gedreht, so dass er die Nackte zwischen den halb geschlossenen Lidern im Blickfeld hat. Der Name war nicht seine Idee, Mira hat ihn sich ausgedacht, sie hat sie auch zuerst gesehen. Er weiß nicht mehr genau, wann das war, wann die Nackte ihren ersten Auftritt hatte, vielleicht vor fünf Tagen, vielleicht vor sechs. Wie jeden Nachmittag hatten sie Jonathan bei Miras Eltern im Club gelassen, waren entlang der Dorfstraße bis zu den Klippen gelaufen, am Trafalgar vorbei hinunter zum Strand.
Er hatte gerade sein Handtuch ausgebreitet, da legte Mira ihm eine Hand auf den Arm und sagte: Jetzt passiert mal was. Er sah sie sofort. Sie stand bei Fernando, zog sich das Kleid über den Kopf und bog den Rücken durch. Über ihr auf den Felsen vier Wörter, Playa de las Sirenas, von Hippies bunt auf das Gestein gepinselt, eine Szene wie aus einem Erotikfilm. Dann wanderte ihr Blick über den Strand, senkte sich auf die wenigen in der Bucht liegenden Körper, glitt langsam weiter.
Was soll da passieren, sagte er mit Verzögerung, da zieht sich eine aus und später wieder an, das betrifft uns zu null Prozent. Mira sah ihn spöttisch an, zog dann plötzlich die Schultern ein. Für die Figur, sagte sie, würd' ich drei Monate hungern, mindestens. Ihre Stimme klang müde, reizte ihn. Dann tu's doch, hätte er beinahe erwidert, biss sich im letzten Moment auf die Zunge.
Seit der Schwangerschaft und der nicht wieder verlorenen Pfunde war Mira unberechenbar, wenn die Sprache auf ihren Körper kam. Später geht die Nackte schwimmen, Simon wendet den Blick von ihr ab. Er streift sein T-Shirt über, fragt Mira nach Münzen, läuft dann den Weg hoch zur Bar. Miguel steht hinter dem Tresen und grinst ihn verschlafen an. Todo bien, amigo, sagt er, Simon nickt.
Er hat mit den Jungs ein paarmal gekickert, seitdem ist er hier gern gesehen. Er nimmt eine Flasche Wasser aus dem Kühlregal und setzt sich draußen unter einen der Sonnenschirme, wendet dem Meer den Rücken zu. Bis zum Horizont erstrecken sich Pinienwälder, zu seiner Rechten, tiefer gelegen, das Dorf: eine Ansammlung flacher, weiß getünchter Häuser, durchkreuzt von zwei staubigen Straßen, am Ortsausgang das Clubgelände. Dasselbe Panorama wie gestern, wie vorgestern, wie jeden Tag.
Er trinkt einen Schluck Wasser, schüttet sich ein wenig davon in den Nacken. Die Flüssigkeit
rinnt den Rücken hinunter, angenehm kühl auf der Haut.
Er hat das Bedürfnis nachzudenken; ja, aber über was eigentlich? Über Mira und den Film, den sie wegen der Nackten schob? Über seinen eigenen Film, den er wegen der Nackten schob? Über den Film, den er und Mira schoben? Über Jonathan? Er weiß es nicht.
Weiß nur, dass er seine Blicke kaum mehr unter Kontrolle hat, sobald die Nackte unten am Strand auftaucht. Fragt sich, weshalb sie so eine Macht über ihn hat. Vielleicht die zwei Wochen in der Clubanlage. Vielleicht brauchte er noch etwas anderes jenseits von Frühstücksbuffets, Minigolf und gewechselten Windeln, jenseits von All-inclusive-Schwiegereltern-Cluburlaub. Wie auch immer.
Er musste es jedenfalls ruhiger angehen, ein paarmal weniger gucken, sonst kam ihm Mira auf die Spur. Vermutlich hatte sie es sowieso schon gerafft. Vielleicht auch deshalb war sie so schlecht auf die Nackte zu sprechen. Nicht nur, weil ihr Körper sie daran erinnerte, wie man als Frau im Idealfall aussehen konnte. Vielleicht auch, weil sie merkte, dass da irgendeine krude Geschichte am Laufen war. Eine ziemlich krude Geschichte, denkt er und blinzelt in die Sonne hinein. Relax, man, relax.
Als er wieder an den Strand kommt, liegt Mira nicht mehr auf ihrem Handtuch. Er entdeckt sie weit draußen im Wasser, auch die Nackte schwimmt noch im Meer.
Er folgt ihr eine Weile mit den Blicken, dann nimmt er Miras Buch zur Hand. Vom Cover lacht ihm ein Säugling entgegen, blonder Haarschopf, große blaue Augen, darunter steht: Mami werden! Das schönste Abenteuer im Leben der Frau. Er blättert in dem Buch herum, findet auch ein Kapitel über Männer: Der Papi-Check. Er liest ein paar Zeilen und muss grinsen, fragt sich trotzdem, ob er ein positives Verhältnis zu seinem Sohn hat, ob er ein aktiver, liebevoller Vater ist, ob er in den nächsten Jahren eine vertrauensvolle Bindung zu Jonathan aufbauen wird. Fragen, die er gerne
bejahen würde, Fragen, auf die er noch keine wirkliche Antwort hat. Jonathan ist kaum elf Monate alt, er hofft auf die ersten Schritte, vor allem auf die ersten Wörter, bestimmt kam das Verhältnis danach erst so richtig in Schwung. Als er umblättern will, fällt ein Schatten auf die Seiten, er spürt, wie Wasser auf seinen Rücken tropft und die Mulde zwischen den Schulterblättern hinabläuft.
Er klammert die Finger fester um den Buchrücken, Mira, möchte er schreien, lass deine blöden Scherze. Mühsam beherrscht er sich, wendet den Kopf und blinzelt nach oben der Nackten ins Gesicht. In feuchten Strähnen fällt ihr das Haar über dir Schultern, Tropfen perlen davon ab, treffen jetzt Simons Brust. Sie hält eine Zigarette zwischen den Fingern und fragt nach Feuer.
Er sieht Fernando drüben rauchen, hat den süßlichen Haschischgeruch auf einmal viel zu deutlich in der Nase, hört irgendwo Hunde bellen, ganz leise auch das Rauschen der Brandung. Zwischen den Schenkeln der Nackten hindurch sieht er Miras Kopf im Wasser, ein fingernagelgroßer, sehr heller Punkt zwischen zwei Schattierungen von Blau. Eilig streckt er sich nach ihrer Tasche und sucht nach Streichhölzern, findet sie nicht gleich, hat plötzlich Angst, die Nackte könnte wieder verschwinden, ohne dass er ihr Feuer gegeben hat. Bleib da, denkt er, bleib da.
Er packt Miras Tasche mit beiden Händen, kippt den Inhalt aus, Münzen, Stifte und Haarklammern landen im Sand. Dann entdeckt er das Streichholzheftchen und gibt ihr Feuer. Die Nackte lässt sich auf Miras Handtuch fallen, raucht in knappen Zügen, sagt: So tell me, what are you doing tonight?
Er sieht sich mit Miras Eltern im Clubrestaurant sitzen und Jonathan füttern, hat Rolfs Lachen dabei unangenehm laut im Ohr. Nothing special, sagt er, really, nothing special at all. Bueno, sagt die Nackte, then you come to my party tonight, here on the playa. Yes, sagt er, yes of course, thank you so much.
Die Nackte winkt lachend ab, erzählt etwas von einem Boot, das aus Tarifa kommen wird, von irgendeinem DJ, dessen Namen ihm nicht das Geringste sagt. Dann drückt sie ihre Zigarette im Sand aus und steht auf. See you tonight, sagt sie und geht zu ihrem Platz zurück, zu Fernando, der Simon mit dem Joint winkt und etwas herüberruft. Simon winkt zurück und sieht in Richtung des Wassers, Mira schon in Ufernähe. Hastig packt er ihre Sachen zusammen, stopft sie in die Tasche zurück, dann greift er nach ihrem Handtuch und läuft ihr entgegen.
Was hat die gewollt, fragt Mira, als er ihr das Handtuch hinhält, ihre Arme vor der Brust verschränkt. Feuer, sagt er schnell, die hat Feuer für ihre Zigarette gewollt. Er formuliert die Worte, ohne nachzudenken, lügt ohne Plan. Wie schön für dich, sagt Mira, hast du auch einen Kuss gekriegt? Werd nicht albern, sagt er und wirft ihr das Handtuch ins Gesicht, mach hin, wir müssen los. Abends, nach dem Essen im Clubrestaurant, sitzen sie auf der Terrasse vor den Bungalows.
Vom Pool weht Musik herüber, gezupfte Gitarrenklänge, irgendwo drehen sich Wassersprenkler, die Luft ist warm und riecht nach Salz und Tang. Auf dem Tisch stehen eine Flasche Rotwein und drei halbvolle Gläser, Mira hält eine Tasse Pfefferminztee in der Hand. Sie stillt Jonathan, Simon krault ihr den Nacken, spürt die Wärme ihrer Haut unter seinen Fingerkuppen. Rolf und Ingrid sitzen ihnen gegenüber und erzählen von ihrem Ausflug nach Gibraltar zum Affenfelsen.
Ingrid sagt: Johnny hat gar keine Angst vor den Affen gehabt. Rolf beugt sich auf seinem Stuhl nach vorne, kratzt sich mit beiden Händen unter den Achseln, stößt Affenlaute aus. Er bringt es ziemlich überzeugend, der Vollbart verstärkt den Effekt. Jonathan hört zu saugen auf, sieht ihn mit großen Augen an. Sooo große Affen, sagt Ingrid und wedelt mit den Armen herum, sooo große Affen. Jonathan beginnt zu strahlen, auch Simon zieht seine Mundwinkel zu einem Lächeln auseinander, denkt dabei an die Nackte, an die Party unten am Strand. Seit einer gefühlten Ewigkeit tut er das schon. Er sieht eine Segelyacht in der Bucht ankern, die Nackte an Deck in einem roten Kleid.
Sie tanzt zu Elektromusik, wiegt sich in den Hüften, er tanzt hinter ihr, presst seinen Schwanz gegen ihren Arsch. Bilder, scharf wie Fotografien, auf seine innere Leinwand projiziert. Einen Moment lang überlegt er, Mira doch noch von dem Fest zu erzählen, verwirft die Idee sofort.
Nach der Lüge am Strand jetzt mit der Wahrheit anzukommen, no way, no way at all. Als Rolf ihm Wein nachschenken will, wehrt er ab, murmelt etwas von einem schweren Kopf. Ein weiteres Glas würde eine weitere Viertelstunde auf der Terrasse bedeuten, das muss nicht sein. Er hat nichts gegen Miras Vater, im Gegenteil. Abgesehen von dem Bart und seinem absurden Ehrgeiz beim Minigolf findet er ihn okay. Miras Mutter sogar richtig gut. Nicht nur, weil er ihr die ersten ruhigen Nächte seit langem verdankt. Sie nimmt Jonathan jede Nacht zu sich ins Bett, duldet keinen Widerspruch.
Weder von ihm noch von Mira, schon gar nicht von ihrem Mann. Nicht nur deshalb mag er sie, sie ist insgesamt eine entspannte Person, eine ziemlich attraktive Frau außerdem.
Dennoch: in den letzten zwei Wochen hat er Miras Eltern zu oft gesehen. Sie durch die dünne Zwischenwand der Bungalows sogar beim Sex gehört. So viel Gemeinschaft war eindeutig zu viel. Miras Stimme reißt ihn aus seinen Gedanken. Sie hält ihm Jonathan entgegen und sagt mit zuckersüßem Lächeln: Einmal abputzen bitte. Er nimmt ihn ihr ab.
Kleiner Hosenscheißer, sagt Rolf und macht noch einmal den Affen, unter seinem Geschrei läuft Simon mit Jonathan in den Bungalow hinein. Im Bad legt er ihn auf die Wickelauflage und zieht ihm die Windel aus. Die Scheiße ist hellbraun, breiig und riecht nur schwach. Gesunde Scheiße, auch keine wunden Stellen im Genitalbereich, so muss das sein.
Durch das gekippte Fenster hört er die Stimmen der Frauen, was sie sagen, ist nicht zu verstehen. Er putzt Jonathan sorgfältig ab, flüstert ihm dabei zu: Der Papi möchte so gern die Pussy der Nackten lecken, aber die Mami und die Oma, die wollen das nicht. Dann kitzelt er seinen Sohn unter den Armen, der jauchzt. Während Jonathans Hintern trocknet, wäscht er sich die Hände, kramt in Ingrids Necessaire nach der Nivea-Creme, hält plötzlich eine Packung Halcion in der Hand.
Eine schmale weiße Packung mit grünem Aufdruck, Schlaftabletten, recht starke, soweit er weiß. Mira hat in der Prüfungszeit dieselben benutzt, eine halbe nur, sie schlief wie ein Stein. Er dreht die Packung in den Händen hin und her, ist plötzlich hellwach. Jonathan, flüstert er, mein lieber Jonathan. Er schließt die Badezimmertür und dreht den Schlüssel um. Zieht die Tabletten aus der Packung, drückt eine aus der Folie heraus, faltet den Beipackzettel auseinander, findet die Passage rasch. Halcion darf in der Stillzeit nicht eingenommen werden, da es in die Muttermilch übergeht.
Er sieht Jonathan an, verzieht den Mund. Scheiße, sagt er, legt die Tablette auf die Ablage unter dem Spiegel, zerdrückt sie mit dem Knauf von Rolfs Rasierpinsel in kleine Stücke, die Stücke zu Pulver. Ein weißes Häufchen bleibt zurück, wäre es Koks, es wären kaum zwei Lines. Er streicht das Pulver von der Ablage in ein Kosmetiktuch, verknotet es und steckt es in die Hosentasche. Er fragt sich, ob er die Sache wirklich durchziehen wird. Er weiß es nicht, bei Gott, er weiß es nicht.
Ein paar Minuten später weiß er es doch. Jonathan sitzt frisch gewickelt auf Miras Schoß und greift mit seinen Händen in der Luft herum, brabbelt dabei ohne Unterlass, irgendetwas beschäftigt ihn. Simon streichelt ihm über den Kopf, hört sich plötzlich fragen: Möchte jemand heiße Schokolade? Die Antwort darauf kennt er bereits. Jeden Abend eine Tasse heiße Schokolade vor dem Schlafengehen, Familientradition. Er wehrt Ingrids Hilfe erfolgreich ab, geht wieder in den Bungalow, stellt einen Topf Milch auf den Herd. Als die Milch zu dampfen beginnt, verteilt er sie gleichmäßig auf vier Tassen, gibt je zwei Löffel Kakaopulver hinein, Mira bekommt einen mehr.
Er kippt den Inhalt des Tüchleins dazu, verrührt das Ganze mit dem Löffel, hofft, dass die Süße den Halcion-Geschmack überdeckt. Falls es so etwas wie einen Halcion-Geschmack gibt, er hätte das Pulver vorhin mit der Zunge testen sollen, wie dumm von ihm. Aber nicht zu ändern jetzt. Er schiebt zwei Finger durch die Tassenhenkel, nimmt Ingrids und Rolfs Tassen in die rechte, Miras und seine in die linke Hand. Als er sich auf den Weg nach draußen macht, erhebt sich plötzlich Geschrei auf der Terrasse. Mira, Rolf und Ingrid, sie alle rufen durcheinander, er versteht kein Wort. Hinter seiner Stirn baut sich Druck auf, ein Kribbeln unter der Schädeldecke, sie können ihn nicht gesehen haben, keine Chance. Was ist denn mit euch los, ruft er in Richtung der geöffneten Tür, bleibt wie festgewachsen stehen. Komm raus, ruft Mira mit lauter Stimme, komm schnell raus.
Noch einmal, ruft Rolf, noch einmal; was zum Teufel war bloß los? Mit den Tassen in der Hand kommt er auf die Terrasse, sooo groß, sagt Ingrid und wedelt mit den Händen in der Luft herum, wer ist sooo groß? Jonathan strahlt über das ganze Gesicht, lacht, dann streckt er einen Arm aus und deutet ungefähr dahin, wo Simon jetzt steht. Affa, sagt er. Und noch einmal, klar und deutlich, mit quietschfideler Stimme: Affa. Das erste Wort deines Sohnes, sagt Mira, kein Wunder bei dem Vater. Sie strahlt mit Jonathan um die Wette, strahlt Simon ihr schönstes Lächeln entgegen, die Sonne geht auf, mitten in ihrem Gesicht. Noch immer hält er die Tassen in den Händen, noch immer der Druck hinter der Stirn, jetzt aber auch hinter den Augen, echte Tränen, er glaubt es kaum.
Affa, sagt er leise und sieht seinem Sohn ins Gesicht, lockert dabei den Griff der linken Hand. Die Finger gleiten aus den Henkeln, das, denkt er, müsste man jetzt in Zeitlupe sehen: den freien Fall des Porzellans, von der Schwerkraft hinunter zur Erde gezogen, die sich in der Luft verteilende Flüssigkeit, die Mikrospuren seines Verrats. Einen Wimpernschlag lang noch denkt er an die Nackte, spürt ein schwaches Bedauern, dann klirrt es am Boden und er schließt seinen Sohn in die Arme.
© Berliner Taschenbuch Verlag
Mira, sagt er stattdessen, hör auf zu glotzen, du siehst schwachsinnig aus. Als Mira nicht reagiert, lässt er sich wieder auf das Handtuch fallen, den Kopf nach rechts gedreht, so dass er die Nackte zwischen den halb geschlossenen Lidern im Blickfeld hat. Der Name war nicht seine Idee, Mira hat ihn sich ausgedacht, sie hat sie auch zuerst gesehen. Er weiß nicht mehr genau, wann das war, wann die Nackte ihren ersten Auftritt hatte, vielleicht vor fünf Tagen, vielleicht vor sechs. Wie jeden Nachmittag hatten sie Jonathan bei Miras Eltern im Club gelassen, waren entlang der Dorfstraße bis zu den Klippen gelaufen, am Trafalgar vorbei hinunter zum Strand.
Er hatte gerade sein Handtuch ausgebreitet, da legte Mira ihm eine Hand auf den Arm und sagte: Jetzt passiert mal was. Er sah sie sofort. Sie stand bei Fernando, zog sich das Kleid über den Kopf und bog den Rücken durch. Über ihr auf den Felsen vier Wörter, Playa de las Sirenas, von Hippies bunt auf das Gestein gepinselt, eine Szene wie aus einem Erotikfilm. Dann wanderte ihr Blick über den Strand, senkte sich auf die wenigen in der Bucht liegenden Körper, glitt langsam weiter.
Was soll da passieren, sagte er mit Verzögerung, da zieht sich eine aus und später wieder an, das betrifft uns zu null Prozent. Mira sah ihn spöttisch an, zog dann plötzlich die Schultern ein. Für die Figur, sagte sie, würd' ich drei Monate hungern, mindestens. Ihre Stimme klang müde, reizte ihn. Dann tu's doch, hätte er beinahe erwidert, biss sich im letzten Moment auf die Zunge.
Seit der Schwangerschaft und der nicht wieder verlorenen Pfunde war Mira unberechenbar, wenn die Sprache auf ihren Körper kam. Später geht die Nackte schwimmen, Simon wendet den Blick von ihr ab. Er streift sein T-Shirt über, fragt Mira nach Münzen, läuft dann den Weg hoch zur Bar. Miguel steht hinter dem Tresen und grinst ihn verschlafen an. Todo bien, amigo, sagt er, Simon nickt.
Er hat mit den Jungs ein paarmal gekickert, seitdem ist er hier gern gesehen. Er nimmt eine Flasche Wasser aus dem Kühlregal und setzt sich draußen unter einen der Sonnenschirme, wendet dem Meer den Rücken zu. Bis zum Horizont erstrecken sich Pinienwälder, zu seiner Rechten, tiefer gelegen, das Dorf: eine Ansammlung flacher, weiß getünchter Häuser, durchkreuzt von zwei staubigen Straßen, am Ortsausgang das Clubgelände. Dasselbe Panorama wie gestern, wie vorgestern, wie jeden Tag.
Er trinkt einen Schluck Wasser, schüttet sich ein wenig davon in den Nacken. Die Flüssigkeit
rinnt den Rücken hinunter, angenehm kühl auf der Haut.
Er hat das Bedürfnis nachzudenken; ja, aber über was eigentlich? Über Mira und den Film, den sie wegen der Nackten schob? Über seinen eigenen Film, den er wegen der Nackten schob? Über den Film, den er und Mira schoben? Über Jonathan? Er weiß es nicht.
Weiß nur, dass er seine Blicke kaum mehr unter Kontrolle hat, sobald die Nackte unten am Strand auftaucht. Fragt sich, weshalb sie so eine Macht über ihn hat. Vielleicht die zwei Wochen in der Clubanlage. Vielleicht brauchte er noch etwas anderes jenseits von Frühstücksbuffets, Minigolf und gewechselten Windeln, jenseits von All-inclusive-Schwiegereltern-Cluburlaub. Wie auch immer.
Er musste es jedenfalls ruhiger angehen, ein paarmal weniger gucken, sonst kam ihm Mira auf die Spur. Vermutlich hatte sie es sowieso schon gerafft. Vielleicht auch deshalb war sie so schlecht auf die Nackte zu sprechen. Nicht nur, weil ihr Körper sie daran erinnerte, wie man als Frau im Idealfall aussehen konnte. Vielleicht auch, weil sie merkte, dass da irgendeine krude Geschichte am Laufen war. Eine ziemlich krude Geschichte, denkt er und blinzelt in die Sonne hinein. Relax, man, relax.
Als er wieder an den Strand kommt, liegt Mira nicht mehr auf ihrem Handtuch. Er entdeckt sie weit draußen im Wasser, auch die Nackte schwimmt noch im Meer.
Er folgt ihr eine Weile mit den Blicken, dann nimmt er Miras Buch zur Hand. Vom Cover lacht ihm ein Säugling entgegen, blonder Haarschopf, große blaue Augen, darunter steht: Mami werden! Das schönste Abenteuer im Leben der Frau. Er blättert in dem Buch herum, findet auch ein Kapitel über Männer: Der Papi-Check. Er liest ein paar Zeilen und muss grinsen, fragt sich trotzdem, ob er ein positives Verhältnis zu seinem Sohn hat, ob er ein aktiver, liebevoller Vater ist, ob er in den nächsten Jahren eine vertrauensvolle Bindung zu Jonathan aufbauen wird. Fragen, die er gerne
bejahen würde, Fragen, auf die er noch keine wirkliche Antwort hat. Jonathan ist kaum elf Monate alt, er hofft auf die ersten Schritte, vor allem auf die ersten Wörter, bestimmt kam das Verhältnis danach erst so richtig in Schwung. Als er umblättern will, fällt ein Schatten auf die Seiten, er spürt, wie Wasser auf seinen Rücken tropft und die Mulde zwischen den Schulterblättern hinabläuft.
Er klammert die Finger fester um den Buchrücken, Mira, möchte er schreien, lass deine blöden Scherze. Mühsam beherrscht er sich, wendet den Kopf und blinzelt nach oben der Nackten ins Gesicht. In feuchten Strähnen fällt ihr das Haar über dir Schultern, Tropfen perlen davon ab, treffen jetzt Simons Brust. Sie hält eine Zigarette zwischen den Fingern und fragt nach Feuer.
Er sieht Fernando drüben rauchen, hat den süßlichen Haschischgeruch auf einmal viel zu deutlich in der Nase, hört irgendwo Hunde bellen, ganz leise auch das Rauschen der Brandung. Zwischen den Schenkeln der Nackten hindurch sieht er Miras Kopf im Wasser, ein fingernagelgroßer, sehr heller Punkt zwischen zwei Schattierungen von Blau. Eilig streckt er sich nach ihrer Tasche und sucht nach Streichhölzern, findet sie nicht gleich, hat plötzlich Angst, die Nackte könnte wieder verschwinden, ohne dass er ihr Feuer gegeben hat. Bleib da, denkt er, bleib da.
Er packt Miras Tasche mit beiden Händen, kippt den Inhalt aus, Münzen, Stifte und Haarklammern landen im Sand. Dann entdeckt er das Streichholzheftchen und gibt ihr Feuer. Die Nackte lässt sich auf Miras Handtuch fallen, raucht in knappen Zügen, sagt: So tell me, what are you doing tonight?
Er sieht sich mit Miras Eltern im Clubrestaurant sitzen und Jonathan füttern, hat Rolfs Lachen dabei unangenehm laut im Ohr. Nothing special, sagt er, really, nothing special at all. Bueno, sagt die Nackte, then you come to my party tonight, here on the playa. Yes, sagt er, yes of course, thank you so much.
Die Nackte winkt lachend ab, erzählt etwas von einem Boot, das aus Tarifa kommen wird, von irgendeinem DJ, dessen Namen ihm nicht das Geringste sagt. Dann drückt sie ihre Zigarette im Sand aus und steht auf. See you tonight, sagt sie und geht zu ihrem Platz zurück, zu Fernando, der Simon mit dem Joint winkt und etwas herüberruft. Simon winkt zurück und sieht in Richtung des Wassers, Mira schon in Ufernähe. Hastig packt er ihre Sachen zusammen, stopft sie in die Tasche zurück, dann greift er nach ihrem Handtuch und läuft ihr entgegen.
Was hat die gewollt, fragt Mira, als er ihr das Handtuch hinhält, ihre Arme vor der Brust verschränkt. Feuer, sagt er schnell, die hat Feuer für ihre Zigarette gewollt. Er formuliert die Worte, ohne nachzudenken, lügt ohne Plan. Wie schön für dich, sagt Mira, hast du auch einen Kuss gekriegt? Werd nicht albern, sagt er und wirft ihr das Handtuch ins Gesicht, mach hin, wir müssen los. Abends, nach dem Essen im Clubrestaurant, sitzen sie auf der Terrasse vor den Bungalows.
Vom Pool weht Musik herüber, gezupfte Gitarrenklänge, irgendwo drehen sich Wassersprenkler, die Luft ist warm und riecht nach Salz und Tang. Auf dem Tisch stehen eine Flasche Rotwein und drei halbvolle Gläser, Mira hält eine Tasse Pfefferminztee in der Hand. Sie stillt Jonathan, Simon krault ihr den Nacken, spürt die Wärme ihrer Haut unter seinen Fingerkuppen. Rolf und Ingrid sitzen ihnen gegenüber und erzählen von ihrem Ausflug nach Gibraltar zum Affenfelsen.
Ingrid sagt: Johnny hat gar keine Angst vor den Affen gehabt. Rolf beugt sich auf seinem Stuhl nach vorne, kratzt sich mit beiden Händen unter den Achseln, stößt Affenlaute aus. Er bringt es ziemlich überzeugend, der Vollbart verstärkt den Effekt. Jonathan hört zu saugen auf, sieht ihn mit großen Augen an. Sooo große Affen, sagt Ingrid und wedelt mit den Armen herum, sooo große Affen. Jonathan beginnt zu strahlen, auch Simon zieht seine Mundwinkel zu einem Lächeln auseinander, denkt dabei an die Nackte, an die Party unten am Strand. Seit einer gefühlten Ewigkeit tut er das schon. Er sieht eine Segelyacht in der Bucht ankern, die Nackte an Deck in einem roten Kleid.
Sie tanzt zu Elektromusik, wiegt sich in den Hüften, er tanzt hinter ihr, presst seinen Schwanz gegen ihren Arsch. Bilder, scharf wie Fotografien, auf seine innere Leinwand projiziert. Einen Moment lang überlegt er, Mira doch noch von dem Fest zu erzählen, verwirft die Idee sofort.
Nach der Lüge am Strand jetzt mit der Wahrheit anzukommen, no way, no way at all. Als Rolf ihm Wein nachschenken will, wehrt er ab, murmelt etwas von einem schweren Kopf. Ein weiteres Glas würde eine weitere Viertelstunde auf der Terrasse bedeuten, das muss nicht sein. Er hat nichts gegen Miras Vater, im Gegenteil. Abgesehen von dem Bart und seinem absurden Ehrgeiz beim Minigolf findet er ihn okay. Miras Mutter sogar richtig gut. Nicht nur, weil er ihr die ersten ruhigen Nächte seit langem verdankt. Sie nimmt Jonathan jede Nacht zu sich ins Bett, duldet keinen Widerspruch.
Weder von ihm noch von Mira, schon gar nicht von ihrem Mann. Nicht nur deshalb mag er sie, sie ist insgesamt eine entspannte Person, eine ziemlich attraktive Frau außerdem.
Dennoch: in den letzten zwei Wochen hat er Miras Eltern zu oft gesehen. Sie durch die dünne Zwischenwand der Bungalows sogar beim Sex gehört. So viel Gemeinschaft war eindeutig zu viel. Miras Stimme reißt ihn aus seinen Gedanken. Sie hält ihm Jonathan entgegen und sagt mit zuckersüßem Lächeln: Einmal abputzen bitte. Er nimmt ihn ihr ab.
Kleiner Hosenscheißer, sagt Rolf und macht noch einmal den Affen, unter seinem Geschrei läuft Simon mit Jonathan in den Bungalow hinein. Im Bad legt er ihn auf die Wickelauflage und zieht ihm die Windel aus. Die Scheiße ist hellbraun, breiig und riecht nur schwach. Gesunde Scheiße, auch keine wunden Stellen im Genitalbereich, so muss das sein.
Durch das gekippte Fenster hört er die Stimmen der Frauen, was sie sagen, ist nicht zu verstehen. Er putzt Jonathan sorgfältig ab, flüstert ihm dabei zu: Der Papi möchte so gern die Pussy der Nackten lecken, aber die Mami und die Oma, die wollen das nicht. Dann kitzelt er seinen Sohn unter den Armen, der jauchzt. Während Jonathans Hintern trocknet, wäscht er sich die Hände, kramt in Ingrids Necessaire nach der Nivea-Creme, hält plötzlich eine Packung Halcion in der Hand.
Eine schmale weiße Packung mit grünem Aufdruck, Schlaftabletten, recht starke, soweit er weiß. Mira hat in der Prüfungszeit dieselben benutzt, eine halbe nur, sie schlief wie ein Stein. Er dreht die Packung in den Händen hin und her, ist plötzlich hellwach. Jonathan, flüstert er, mein lieber Jonathan. Er schließt die Badezimmertür und dreht den Schlüssel um. Zieht die Tabletten aus der Packung, drückt eine aus der Folie heraus, faltet den Beipackzettel auseinander, findet die Passage rasch. Halcion darf in der Stillzeit nicht eingenommen werden, da es in die Muttermilch übergeht.
Er sieht Jonathan an, verzieht den Mund. Scheiße, sagt er, legt die Tablette auf die Ablage unter dem Spiegel, zerdrückt sie mit dem Knauf von Rolfs Rasierpinsel in kleine Stücke, die Stücke zu Pulver. Ein weißes Häufchen bleibt zurück, wäre es Koks, es wären kaum zwei Lines. Er streicht das Pulver von der Ablage in ein Kosmetiktuch, verknotet es und steckt es in die Hosentasche. Er fragt sich, ob er die Sache wirklich durchziehen wird. Er weiß es nicht, bei Gott, er weiß es nicht.
Ein paar Minuten später weiß er es doch. Jonathan sitzt frisch gewickelt auf Miras Schoß und greift mit seinen Händen in der Luft herum, brabbelt dabei ohne Unterlass, irgendetwas beschäftigt ihn. Simon streichelt ihm über den Kopf, hört sich plötzlich fragen: Möchte jemand heiße Schokolade? Die Antwort darauf kennt er bereits. Jeden Abend eine Tasse heiße Schokolade vor dem Schlafengehen, Familientradition. Er wehrt Ingrids Hilfe erfolgreich ab, geht wieder in den Bungalow, stellt einen Topf Milch auf den Herd. Als die Milch zu dampfen beginnt, verteilt er sie gleichmäßig auf vier Tassen, gibt je zwei Löffel Kakaopulver hinein, Mira bekommt einen mehr.
Er kippt den Inhalt des Tüchleins dazu, verrührt das Ganze mit dem Löffel, hofft, dass die Süße den Halcion-Geschmack überdeckt. Falls es so etwas wie einen Halcion-Geschmack gibt, er hätte das Pulver vorhin mit der Zunge testen sollen, wie dumm von ihm. Aber nicht zu ändern jetzt. Er schiebt zwei Finger durch die Tassenhenkel, nimmt Ingrids und Rolfs Tassen in die rechte, Miras und seine in die linke Hand. Als er sich auf den Weg nach draußen macht, erhebt sich plötzlich Geschrei auf der Terrasse. Mira, Rolf und Ingrid, sie alle rufen durcheinander, er versteht kein Wort. Hinter seiner Stirn baut sich Druck auf, ein Kribbeln unter der Schädeldecke, sie können ihn nicht gesehen haben, keine Chance. Was ist denn mit euch los, ruft er in Richtung der geöffneten Tür, bleibt wie festgewachsen stehen. Komm raus, ruft Mira mit lauter Stimme, komm schnell raus.
Noch einmal, ruft Rolf, noch einmal; was zum Teufel war bloß los? Mit den Tassen in der Hand kommt er auf die Terrasse, sooo groß, sagt Ingrid und wedelt mit den Händen in der Luft herum, wer ist sooo groß? Jonathan strahlt über das ganze Gesicht, lacht, dann streckt er einen Arm aus und deutet ungefähr dahin, wo Simon jetzt steht. Affa, sagt er. Und noch einmal, klar und deutlich, mit quietschfideler Stimme: Affa. Das erste Wort deines Sohnes, sagt Mira, kein Wunder bei dem Vater. Sie strahlt mit Jonathan um die Wette, strahlt Simon ihr schönstes Lächeln entgegen, die Sonne geht auf, mitten in ihrem Gesicht. Noch immer hält er die Tassen in den Händen, noch immer der Druck hinter der Stirn, jetzt aber auch hinter den Augen, echte Tränen, er glaubt es kaum.
Affa, sagt er leise und sieht seinem Sohn ins Gesicht, lockert dabei den Griff der linken Hand. Die Finger gleiten aus den Henkeln, das, denkt er, müsste man jetzt in Zeitlupe sehen: den freien Fall des Porzellans, von der Schwerkraft hinunter zur Erde gezogen, die sich in der Luft verteilende Flüssigkeit, die Mikrospuren seines Verrats. Einen Wimpernschlag lang noch denkt er an die Nackte, spürt ein schwaches Bedauern, dann klirrt es am Boden und er schließt seinen Sohn in die Arme.
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Autoren-Porträt von Anvar Cukoski
Mit Jörg Albrecht, Luise Boege, Paul Brodowsky, Daniela Dröscher, Rabea Edel, Anne-Kathrin Heier, Finn-Ole Heinrich, Susanne Heinrich, Jessica Joffe, Florian Kessler, Thomas Klupp, Christiane Neudecker, Thomas Pletzinger, Leif Randt, Hanno Raichle, Janna Steenfatt und Gerhild Steinbuch.
Bibliographische Angaben
- Autor: Anvar Cukoski
- 2010, 187 Seiten, Maße: 11,6 x 18,8 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Herausgeber: Cukoski, Anvar
- Herausgegeben: Anvar Cukoski
- Verlag: Berlin Verlag Taschenbuch
- ISBN-10: 3833306769
- ISBN-13: 9783833306761
Rezension zu „Eiszeit “
"Lustig, tragisch, heiß." Elle"Eine Geschichte lesen, dann abkühlen, die nächste Geschichte lesen, wieder abkühlen ... bis der Abend kommt. Perfekt." WDR 1LIVE"Hier steht was, hier geht was." Gerrit Bartels, Der Tagesspiegel
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