Elli gibt den Löffel ab
„Elli gibt den Löffel ab" - witzig, augenzwinkernd und mitten aus dem Leben gegriffen. Der Bestseller von Tessa Hennig jetzt auch als große TV-Verfilmung im ZDF.
Ein unerwarteter Brief aus Italien stellt Ellis Leben...
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Produktinformationen zu „Elli gibt den Löffel ab “
„Elli gibt den Löffel ab" - witzig, augenzwinkernd und mitten aus dem Leben gegriffen. Der Bestseller von Tessa Hennig jetzt auch als große TV-Verfilmung im ZDF.
Ein unerwarteter Brief aus Italien stellt Ellis Leben völlig auf den Kopf. Die liebenswerte 60-Jährige hat eine kleine Pension auf der Ferieninsel Capri geerbt. Als ihr museumsreifer VW-Käfer auf dem Weg in den Süden schlappmacht, bekommt sie ausgerechnet Hilfe von Aussteiger Heinz, der Elli in seinem klapprigen Wohnmobil nach Capri bringt. Aber dort wartet eine unangenehme Überraschung auf sie: Ellis Schwester Dorothea hat es ebenfalls auf das Erbe abgesehen. Ein Schwesternstreit entbrennt um die Pension und um Männer. Doch Elli findet eine ungewöhnliche Lösung.
"Riesenspaß mit durchaus ernsten Untertönen, geschrieben mit viel Liebe"
Speyrer Morgenpost
Lese-Probe zu „Elli gibt den Löffel ab “
Elli gibt den Löffel ab von Tessa Hennig Kapitel 1
Tiefe Sehnsucht und unerfülltes Verlangen sprachen aus seinen Augen, die Gewissheit, die Liebe seines Lebens nie wieder in die Arme schließen zu dürfen. Zu groß war die Kluft der beiden Welten, die die Liebenden voneinander trennte. Welche Liebe könnte größer sein, als um des Glückes des anderen willen auf das eigene Glück zu verzichten? So ein Mann konnte einem förmlich den Boden unter den Füßen wegziehen. Selbstlosigkeit bis hin zur Selbstaufgabe. Für einen solchen Blick, der mit einem einzigen Augenaufschlag die ganze Tragik seines Lebens auf den Punkt brachte, würde jede Frau sterben, dessen war sich Elli sicher. Obwohl sie diese Szene, in der Daniel D. Lewis einfach nur aus dem Fenster blickte, schon mindestens hundert Mal gesehen hatte, schmolz sie auch diesmal beim Anblick seiner funkelnden Augen, die sie dank Pause-Taste immer noch vom Bildschirm ihres Vorführgerätes ansahen, restlos dahin.
»Genau das meine ich. So etwas können die wenigsten«, stellte Norbert, einer ihrer Stammkunden, mit Begeisterung fest, als Elli die DVD aus dem Abspielgerät nahm. So, wie sie ihn einschätzte, gehörte Norbert mit Sicherheit auch nicht zu jenen, die es konnten, weder fiktional noch im wirklichen Leben. Ganz im Gegenteil: Anfang fünfzig, das lange graue Haar zu einem flotten Pferdeschwanz nach hinten gebunden, stets in weit aufgeknöpften Hemden und zugegebenermaßen immer noch mit Topfigur, die ihn in der Damenwelt, vor allem aber bei seinen Klientinnen, die um die berühmt-berüchtigte Casting-Couch bestimmt nicht herumkamen, begehrenswert machte. Norbert ließ nie etwas anbrennen. Oft genug brachten wechselnde flotte Bienchen die Filme zurück, die er sich bei Elli ausgeliehen hatte.
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»Tolles Anschauungsmaterial. An den Film hatte ich gar nicht mehr gedacht«, sagte er mit anerkennendem Blick.
»Ist ja auch schon eine Weile her, dass er im Kino gelaufen ist«, räumte Elli versöhnlich ein. »Dennoch ein Klassiker. «
»Dass Sie die Stelle so schnell gefunden haben«, wunderte sich Norbert.
»Ich kenne Zeit der Unschuld in-und auswendig. Er ist einer meiner Lieblingsfilme«, gestand Elli schwärmerisch.
»Solche Rollen möchte jeder, aber oft kommt das Wesentliche einfach nicht rüber. Man merkt, dass die Schauspieler den Part spielen.«
Damit hatte Norbert recht. Viele Schauspieler, vor allem hierzulande, spielten eine Rolle eher mechanisch, anstatt vollends in sie hineinzuschlüpfen, sie zu leben. Daniel D. Lewis dagegen konnte das mit Bravour. Vermutlich eine Frage der Berufung. Was hatte Norbert ihr nicht alles an Absurditäten aus dem Gruselkabinett der Schauspielkurse am Theater erzählt? Ob es wirklich etwas brachte, sich als angehender Schauspieler vorzustellen, man sei eine Orange, um sich möglichst authentisch als Frischobst auf einer Bühne vor dem Ausbilder zu präsentieren? Orangen
schmeckten jedoch nur dann gut, wenn sie eine gewisse Reife hatten und auf fruchtbarem Boden angebaut worden waren. Elli war sich sicher, dass man die hohe Schauspielkunst sowieso nicht erlernen konnte. Talent, Persönlichkeit und Charisma gehörten nun mal einfach dazu.
Wie herrlich waren doch Fachsimpeleien aus der Welt des Kinos. Vielleicht mochte sie Norbert deshalb so gern, weil er sie an die Zeit erinnerte, als sie gemeinsam mit ihrem Mann Josef noch ein Kino geführt hatte. Was für spannende Momente. Prickelnde Filmpremieren an der Croisette. Cannes in den Siebzigern. Leinwandgötter zum Anfassen und Elli mitten im Getümmel. Einer Sophia Loren würde man auch heute noch alles abkaufen, vielleicht sogar die Rolle einer Orange.
»Ich lasse die Bewerber das morgen mal spielen«, sagte der Casting-Coach, dessen Optimismus, irgendwann doch einmal ein Toptalent zu entdecken, ungebrochen schien.
»Das macht dann drei fünfzig. Oder sechs Euro bis nächste Woche.« Elli überlegte, wer den Film wohl diesmal zurückbringen würde, als sie Norberts Mitgliedsausweis durch den Kartenleser der Computertastatur zog und ihm die DVD in einer Verleihhülle mit der Aufschrift »Movietime « überreichte.
»Was wäre ich nur ohne Sie?«
Charme hatte er ja, und sein Lächeln, mit dem er sich von ihr verabschiedete, war bezaubernd. Elli wünschte, sie hätte mehr solche nette und vor allem treue Kunden. Die Stammkundschaft war in den letzten Jahren auf kaum mehr als ein paar Dutzend Leute geschrumpft. Eine Videothek war angesichts der Programmvielfalt in den Kabelnetzen und per Satellit - vom Internet, wo man Filme bequem »on demand« auf Neudeutsch »downloaden« konnte, ganz zu schweigen - einfach nicht mehr zeitgemäß, noch dazu in einer Kleinstadt wie Rosenheim.
Wer hätte in den Sechzigern schon daran gedacht, dass ein Filmpalast jemals pleitegehen könnte? Es hatte ja nur zwei Kanäle im Deutschen Fernsehen gegeben und mehrere Jahre gedauert, bis man einen Kinofilm in den eigenen vier Wänden sehen konnte. Roter Teppich, ade! Keine Einladungen mehr von den großen Filmverleihern. Kein Buhlen mehr um die kleinen Kinobesitzer. Ganz im Gegenteil, die Distributoren hatten sie mit ihren Multiplex-Kinos regelrecht in den Ruin getrieben. Am besten gar nicht mehr daran denken, aber ausgerechnet heute lag Der letzte Kaiser in der Rückgabebox, in welche die Kunden die ausgeliehenen Filme auch nach Ladenschluss einwerfen konnten. Ein großartiger Film und zugleich der letzte, den sie und Josef in ihrem Kino gezeigt hatten. Auf der Suche nach der richtigen Stelle in der Regalwand hatte Elli schlagartig Bernardo Bertoluccis Meisterwerk vor Augen - leider auch eines der schwärzesten Jahre ihres Lebens: 1989.Sie hatten ihr Kino verkaufen müssen, und zwei Monate später war Josef einem Herzinfarkt erlegen.
Wenn doch nur ein Kunde hereinkommen würde, um mich auf andere Gedanken zubringen, hoffte sie inständig. Nichts war schlimmer, als sich aus Mangel an Beschäftigung in der Vergangenheit festzufressen. Selbst eine telefonische Anfrage von jemandem, der nach einem bestimmten Film suchte, von dem er weder den Titel noch den Namen der Schauspieler kannte, würde sie jetzt sicher aufmuntern. Ein wandelndes Filmlexikon zu sein, gab einem zu dem das Gefühl, noch gebraucht zu werden. Statt des erhofften Anrufs schob sich eine pathetisch dunkle Regenwolke über das Viertel, in dem ihr Laden lag, und machte den Tag zur Nacht - nahezu perfekt inszeniert. Das Telefon klingelte. Anscheinend hatte jemand über der Wolke ihr heimliches Stoßgebet erhört.
»Movietime, Sattler, guten Tag«, meldete sie sich wie immer betont freundlich.
»Morgen, Elli. Ich bin gerade im Ginos. Kommst du auf einen Kaffee vorbei?«, fragte sie die vertraute Stimme ihrer besten Freundin.
»Jetzt?« Warum um alles in der Welt wollte Frieda mit ihr um diese Uhrzeit Kaffee trinken? Sollte sie einfach so den Laden zu sperren? Andererseits-vor zwölf kam wahrscheinlich sowieso niemand vorbei, und Friedas Einladung wirkte irgendwie dringlich.
Eine italienische Bar wirkte merkwürdigerweise auch dann noch einladend, wenn es aus allen Kübeln schüttete. Normalerweise würde Ginos überirdisch cremiger Cappuccino ihnen einen der gemeinsamen freien Sonntagnachmittage auf der sonnigen, palmgesäumten Terrasse versüßen. »Piazza- Feeling« pur. Italienisches Flair und gutes Publikum machten das Ginos zu einem der beliebtesten Cafés am Ort. Elli hatte sich schon oft gefragt, warum es sie dort Woche für Woche hinzog. Aus purer Nostalgie? Waren es gute Erinnerungen an die zahlreichen Italienurlaube in ihrer Kindheit?
Gino hatte da eine ganz andere Theorie. »Du hast in einem früheren Leben schon mal in Italien gelebt«, erklärte er ihr, felsenfest davon überzeugt. Auch Frieda hatte ihr bestätigt, dass sie mit ihren 1,65 Metern, den gelockten Haaren und den braunen Augen jederzeit als »Italo-Braut«, wie ihre Freundin sie wörtlich genannt hatte, durchgehen konnte. Angesichts des Wolkenbruches fühlte sie sich im Moment aber eher wie ein begossener deutscher Pudel. Da gab es nur eines: im Slalom und im Tempo einer Rosi Mittermaier auf Medaillenkurs so schnell wie möglich hinein in die Kaffeebar. Geschafft, doch auch im Innenbereich war kein Hauch mehr von »Bella Italia« zu spüren. Abgesehen von einem Geschäftsmann, der eifrig auf der Tastatur seines Notebooks herumtippte, war nur noch Frieda im hinteren Restaurantbereich ausfindig zu machen.
»Morgen, Elli«, begrüßte ihre burschikos wirkende, pummelige beste Freundin sie. Friedas ungewöhnlich ernste Miene erweckte den Eindruck, als könnte sie selbst ebenfalls Aufmunterung gebrauchen.
»Was ist denn mit dir los? Du schaust ja aus wie schon mal gegessen.«
»Am besten, du setzt dich«, erwiderte Frieda mit bedeutsamem Unterton.
In einem schlechten Film würde angesichts von Friedas Leidensmiene jetzt der Moment nahen, in dem ihr die Freundin eröffnete, dass sie an einer unheilbaren Krankheit litt oder dass ihr Ehemann sie verlassen hatte. Elli hoffte inständig, in einem guten Film zu sein, doch Friedas nervöses Spiel mit der Kaffeetasse ließ nichts Gutes ahnen.
»Remy ...«, seufzte Frieda schwermütig.
»Ist die nicht gerade in Wien?«
Frieda schüttelte nur den Kopf. »Schlaganfall. Muss ganz schnell gegangen sein.«
Elli war froh, dass sie sich bereits gesetzt hatte. Mittlerweile tauchte Gino, ein quirliger Italiener in ›Tom-Cruise-Größe‹ und mit nach hinten gegeltem Haar, neben ihr auf.
»Elli, bella, was darf ich Ihnen bringen? Das Übliche?«
»Zwei Grappa bitte.«
Frieda gab die Bestellung auf - entgegen ihrer Gewohnheit die richtige Wahl, stellte Elli fest. Einen Cappuccino hätte sie im Moment sowieso nicht heruntergebracht.
Ginos zwar völlig unangebrachtes, aber wie immer strahlendes Lächeln tat trotzdem gut. »Sehr wohl.«
»Wahrscheinlich war's die Sachertorte«, fuhr Frieda fort.
»Was hat Remys Schlaganfall mit einer Torte zu tun?«
»Erinnerst du dich ... letzte Woche beim Kegeln? Was hat sie sich auf diese Kalorienbombe gefreut. Tönt noch rum, dass sie für ein Stück original Sacher sterben würde. Das hat jemand da oben wohl in den falschen Hals bekommen. «
Elli erinnerte sich noch allzu gut an Remys Vorfreude. Sie hatte mit ihnen den Gewinn einer Wien-Reise gefeiert und sich tatsächlich mehr auf den Kuchen als auf den Prater gefreut.
»Stell dir das mal vor. Du erfüllst dir quasi einen Lebenstraum, und kaum hast du die Torte im Ranzen, kippst du vom Stangerl.«
»Das ist nicht dein Ernst? Im Sacher?«
Frieda nickte. »Sie mussten Remy zu fünft rausschleppen. «
»Jetzt hör aber auf ...« Wie konnte Frieda sich angesichts des Ablebens ihrer Freundin nur über deren Übergewicht lustig machen?
»Nein, es stimmt. Ich weiß es von ihrer Nichte.«
»Die arme Remy! Sie war doch noch so jung«, sinnierte sie.
»Na ja, vierundsechzig ... Mach dir mal nichts vor, Elli. Die Uhr tickt.«
»Jetzt übertreibst du aber. Außerdem sind wir beide nicht übergewichtig.«
Kaum war der Satz ausgesprochen, kamen ihr erste Zweifel, ob Frieda nicht vielleicht doch recht hatte. Fakt war, dass sich ihr Freundeskreis in den letzten Jahren deutlich dezimiert hatte. Der Sensenmann ging um und hatte sich nicht nur den Bekanntenkreis gekrallt, der ihr nach Josefs Tod geblieben war, sondern trieb nun auch noch in ihrem engsten Freundeskreis sein Unwesen. Aus dem achtköpfigen Kegelclub war in den letzten zwei Jahren ein illustres Quartett geworden, bestehend aus Frieda, Remy, einer Studentin Mitte zwanzig namens Steffi, die immer wieder mal einsprang, und ihrer Wenigkeit.
»Außerdem sind die anderen auch nicht an Altersschwäche oder irgendwelchen Verfallserscheinungen gestorben«, sagte sie zu Frieda. »Zwei Autounfälle, ein Absturz beim Bergwandern und einmal Oberschenkelhalsbruch mit anschließender Sepsis im Krankenhaus«, fügte Elli noch hinzu.
»Wobei Alvin sicher nicht in den Graben gefahren wäre, wenn er nicht auf der Fahrt zu seinem Scheidungstermin einem Herzinfarkt erlegen wäre«, stellte Frieda leicht rechthaberisch klar.
Nun gut, das stimmte. Dennoch erfüllten Elli die ungewöhnlich zahlreichen Abschiede von Freunden in ihrem Alter mit einem gewissen Schaudern. Wer weiß, vielleicht war sie ja in eine Fortsetzung von Final Destination geraten, wobei sie sich nicht daran erinnern konnte, den Tod jemals überlistet zu haben und seither von ihm verfolgt zu werden.
»Die Beerdigung ist morgen früh um zehn«, unterbrach Frieda ihre Gedanken.
Elli nickte und gurgelte den aufsteigenden Kummer erst einmal mit einem ordentlichen Schluck von Ginos Grappa herunter.
Elli nahm sich vor, den Rest des Tages einfach abzuhaken. Remys überraschender Abschied lag ihr immer noch bleischwer im Magen und sorgte an dem verregneten, aber dank des Unwetters immerhin kundenfreien Nachmittag für die ideale Grundlage, um an ihre gemeinsame Zeit zurückzudenken. Letzteres schwor eine Tristesse herauf, die Elli an sich weder kannte noch schätzte. Remy, die Frieda an der Volkshochschule in einem Kochkurs kennengelernt hatte, war der Neuzugang im Kegelclub gewesen. Trotz ihrer üppigen Rundungen, die ihr den Spitznamen »Kegelkügelchen « eingebracht hatten, hatte sie sich im Team bewährt - menschlich wie auch (erstaunlicherweise) sportlich. Was würde jetzt nur aus ihrem Kegelabend werden? Zu dritt ja nicht gerade eine Spaßveranstaltung. Was musste Remy auch den Löffel abgeben?
Die quälende Frage nach dem Warum war aber selbst nach stundenlanger Grübelei, die sich nicht mal durch die beschäftigungstherapeutisch durchaus sinnvolle Generalreinigung der DVD-Regale abstellen ließ, nicht zu beantworten. Allerdings hatte sie den angenehmen Effekt, dass Elli sich ganz nebenbei Gedanken darüber machte, woher die Redewendung mit dem Löffel wohl stammte.
Recherchen waren neben Putzen erfahrungsgemäß die ideale Beschäftigung, um sich abzulenken. Wenn man den Quellen im Internet trauen durfte, hatten im Mittelalter weniger wohlhabende Menschen angeblich immer und überall ihren eigenen Löffel dabei, den sie kurz vor ihrem Tod an jemand anderen weitergaben. Erstaunlich, dass sich diese Tradition anscheinend auch in Ellis eigener Familie in Form eines goldenen Teelöffels, der ihrer Mutter gehört hatte, fortsetzte. Auch sie hatte den Löffel kurz vor ihrem Tod weitergegeben - sozusagen als Glücksbringer -, zumindest war sie davon überzeugt gewesen, dass er ihrer Tochter Elli Glück bringen würde. Nun lag er eingewickelt in einem seidenen Tuch in der Wohnzimmerschublade. Hatte der Löffel ihr tatsächlich Glück gebracht? Um diese Frage eingehend zu beleuchten, blieb ihr kurz vor Ladenschluss aber Gott sei Dank keine Zeit mehr. Der allwöchentliche Besuch im Altenheim stand an, und ihre »Cineastengruppe« schätzte es ganz und gar nicht, wenn man unpünktlich war.
Warum um alles in der Welt hatten Altenheime in der Regel Namen, die allesamt Frieden und Harmonie an einem paradiesischen Ort suggerierten? »Seniorenheim Sonnenhain « klang doch sehr vielversprechend. Laut Prospekt war es direkt an einer Parkanlage gelegen, jedenfalls durch die Linse des Profifotografen betrachtet, der es irgendwie geschafft hatte, einen Zipfel Grün mit auf das Bild zu schmuggeln. Dass sich die Anlage direkt an einer stark befahrenen Hauptstraße befand und der gegenüberliegende Minipark eigentlich ein Bolzplatz für lärmende Kinder war, ging aus der Hochglanzbroschüre natürlich nicht hervor. Immerhin hatte dieses Altenheim den Vorteil, dass man jederzeit, ohne lange suchen zu müssen, einen Parkplatz fand.
Heute stand für Ellis Publikum Verdammt in alle Ewigkeit auf dem Programm, der Klassiker mit Burt Lancaster und Montgomery Clift-auf besonderen Wunsch der nicht mehr ganz so mobilen Cineastenrunde, die sie einmal pro Woche, mit Beamer und einem mobilen DVD-Player ausgestattet, versorgen durfte. Als Elli den Wagen parkte und die Stufen des altehrwürdigen Sandsteingebäudes hinaufeilte, machte sie sich klar, dass sie für diesen Nebenjob dankbar sein musste. Letztlich hatte sie es Frieda und ihren guten Kontakten zur Stadtverwaltung zu verdanken, dass sie für ihr mobiles Kino monatlich einen kleinen Zuschuss bekam. Ein paar hundert Euro nebenbei konnten angesichts der eher mauen Einnahmesituation der Videothek nicht schaden. Einen Film vor Publikum vorführen zu dürfen, erinnerte sie zu dem an ihre persönlichen Gründerjahre, als sie mit Josef ihr erstes Kino eröffnet hatte. Ein gutes Gefühl, ein Hauch von wärmender Nostalgie, den ihr selbst die kahlen Wände des schier endlos langen Ganges, der zum Gesellschaftsraum führte, nicht nehmen konnten.
»Alles Lüge! Alles Lüge!«, keifte eine mindestens achtzigjährige Frau, die mit ihrem Rollator im Morgenmantel und in überdimensional großen Pantoffeln wie aus dem Nichts aus einem der Zimmer auf siezuschoss.
Elli zuckte förmlich vor Schreck zusammen.
»Die wollen doch nur mein Geld«, fügte die alte Dame noch hinzu.
Jetzt nur keinen Blickkontakt zulassen! Die Bewohnerin aus Zimmer 115 würde sie sich sonst schnappen und in ein endlos langes Gespräch verwickeln. Am Ende würde sie noch zu spät zur Filmvorführung kommen. Panisch beschleunigte Elli ihre Schritte, doch die Frau war dank ihres Turbo-Rollators schneller als gedacht.
»Zu Besuch?«
»Nein, ich zeige hier einen Film.«
»Einen Film?«, wollte die alte Dame wissen. Offenbar war das Kulturprogramm des Sonnenhains bisher an ihr vorbeigegangen. Vielleicht interessierte sie sich ja aber auch nicht für Kino.
»Ja, Verdammt in alle Ewigkeit. Sie sind herzlich eingeladen. « Kaum war der Satz ausgesprochen, hätte sich Elli am liebsten auf die Zunge gebissen.
»Ja, man ist verdammt ... aber Gott sei Dank nicht bis in alle Ewigkeit.« Nun fing die Frau auch noch an zu kichern.
Nein, es war vielmehr eine überraschend fiese Lache.
»Hören Sie, ich bin in Eile ...«
»Eile mit Weile.« Wieder ein Kichern, und obwohl Elli mittlerweile im Stechschritt den Gang entlangeilte, hatte sie keine Chance, die Alte abzuhängen.
»Das ganze Geld hab ich ihm gegeben. Und was ist der Dank? Mein Sohn besucht mich nicht einmal.«
Die Ärmste! Elli konnte nichtanders, als stehen zu bleiben.
»Das tut mir leid. Vielleicht bringt der Film Sie ja auf andere Gedanken.«
»Firlefranz! Sie haben nicht zufällig Schokolade dabei?«
Hieß es nicht Firlefanz? Demenz? Verkalkung? Auf alle Fälle war dies Zeichen einer extrem kurzen Leine. Noch nicht einmal Schokolade war den Leuten im Alter vergönnt, jedenfalls nicht im Sonnenhain.
»Ich bekomme keine. Diabetes.«
Das erklärte natürlich einiges. Elli fiel ein Stein vom Herzen, das schlechte Gewissen hingegen, weil sie die ältere Dame zu einem wahren Spurt über den Gang veranlasst hatte, wurde sie nicht los. Zumindest ein teilnahmsvolles Lächeln wäre jetzt angebracht. Ein Lächeln, das die Frau sofort erwiderte - voller Melancholie und mit einer ordentlichen Portion Traurigkeit in den Augen.
»Wissen Sie, manchmal wünsche ich mir, einfach nicht mehr da zu sein.«
»Aber Sie sind doch noch recht rüstig.« Zum zweiten Mal in Folge wünschte sich Elli, sich rechtzeitig auf die Zunge gebissen zu haben. Dämlicher und unsensibler hätte sie darauf kaum antworten können.
»Wie alt sind Sie denn, wenn ich fragen darf?«
»Neunundachtzig Jahre«, erwiderte die Frau.
»Und wie lange sind Sie schon hier?«
»Viel zu lange ... eindeutig zu lange.«
Der traurige Blick der Alten traf Elli mitten ins Herz.
»Ich bin schon wieder so müde.«
»Kommen Sie, ich begleite Sie zurück auf Ihr Zimmer«, bot Elli spontan an.
»Nein, nein, Sie haben es doch eilig. Ich schaffe das schon.«
Was tun? Elli war hin- und hergerissen zwischen Termindruck und Hilfsbereitschaft oder vielmehr ihrem schlechten Gewissen.
»Ich bin die Rosemarie.«
»Elli«, stellte sie sich vor und reichte der Frau die Hand.
Die Art, wie Rosemarie an ihrer Hand Haltsuchte, schenkte Elli sehr viel Wärme, und zugleich stieg die altbekannte Panik in ihr auf, nicht so enden zu wollen wie die Menschen hier. Nicht an einen Rollator gefesselt in irgendeinem Altersheim, das sich direkt an einer Hauptverkehrsstraße befand, nicht mit Todessehnsüchten und von Einsamkeit geplagt.
Nein! Filmvorführung! »There's no business like showbusiness. « Hatte Josef das nicht immer gesagt und, verdammt noch mal, hatte er damit nicht recht?
»Ich wünsche Ihnen alles Gute.« Nichts wie weg!
Montgomery Clifts Trompetensolo war atemberaubend. So ein gut aussehender Mann und dann noch diese Schmachtszene, der Klassiker schlechthin: Deborah Kerr und Burt Lancaster küssend am Strand, umspült von ungezügelt tänzelnden Schaumkronen der Urgewalten des Pazifiks. Sie lässt sich mit ihrem Nimm-mich-Blick in den Sand fallen.
Er steht breitbeinig über ihr - so ein Macho! -, kniet nieder und küsst sie schließlich mit alles dahinschmelzender Leidenschaft. »Niemand hat mich bisher so geküsst wie du«, sagt Deborah daraufhin mit einer Inbrunst, die selbst Polareis zum Glühen bringen könnte.
Verdammt in alle Ewigkeit - warum hieß der Film eigentlich so? From here to Eternity, wie der Originaltitel lautete, schien übersetzt ebenfalls keinen Sinn zu ergeben. So war Elli als einfache Zuschauerin im Saal mit etwa drei Dutzend über Achtzigjährigen damit zufrieden, den Sinn darin zu sehen, dass eine solche Leidenschaft zwangsläufig zu ewiger Verdammnis oder zumindest in eine Ehe führen würde.
Josef hatte sie so geküsst. Zwar nicht am Pazifik, aber immerhin am Strand von Nizza. Zwei von der Sonne aufgeheizte Körper waren füreinander bestimmt gewesen, und der Moment, als sich ihre Lippen berührten, hatte in Ellis Erinnerung die Urgewalteines ausbrechenden Vulkans. Wie weich und dennoch fordernd seine Lippen geschmeckt hatten. Wie sie am ganzen Körper wie Espenlaub zu beben begonnen hatte. Nun ja, zugegebenermaßen hatte sie sich all das während seines eher plumpen Annäherungsversuches lebhaft in ihrer Phantasie vorgestellt - ein einfacher Trick, um mehr aus dem Leben herauszuholen.
Vorbei! Vergangenheit! Nun war sie sechzig! Ein bisschen angewelkt, allein, allein und nochmals allein. Immerhin hatte sie Frieda, nach Remys Abgang noch ein Kegeltrio
- Steffi mit eingerechnet - und eine Videothek, die mehr schlecht als recht lief, ihr aber dennoch gelegentlich nette Kundschaft bescherte. Ein besseres Schicksal als das von Rosemarie. Musste sie dafür nicht sogar dankbar sein? Elli war sich nicht ganz sicher. Andererseits - konnte sie mit Sicherheit sagen, dass sie nicht eines Tages selbst in einem Alten- oder, noch schlimmer, in einem Pflegeheim versauern würde? Sich wie Rosemarie den Tod herbeizuwünschen, war das nicht schrecklich?
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
»Tolles Anschauungsmaterial. An den Film hatte ich gar nicht mehr gedacht«, sagte er mit anerkennendem Blick.
»Ist ja auch schon eine Weile her, dass er im Kino gelaufen ist«, räumte Elli versöhnlich ein. »Dennoch ein Klassiker. «
»Dass Sie die Stelle so schnell gefunden haben«, wunderte sich Norbert.
»Ich kenne Zeit der Unschuld in-und auswendig. Er ist einer meiner Lieblingsfilme«, gestand Elli schwärmerisch.
»Solche Rollen möchte jeder, aber oft kommt das Wesentliche einfach nicht rüber. Man merkt, dass die Schauspieler den Part spielen.«
Damit hatte Norbert recht. Viele Schauspieler, vor allem hierzulande, spielten eine Rolle eher mechanisch, anstatt vollends in sie hineinzuschlüpfen, sie zu leben. Daniel D. Lewis dagegen konnte das mit Bravour. Vermutlich eine Frage der Berufung. Was hatte Norbert ihr nicht alles an Absurditäten aus dem Gruselkabinett der Schauspielkurse am Theater erzählt? Ob es wirklich etwas brachte, sich als angehender Schauspieler vorzustellen, man sei eine Orange, um sich möglichst authentisch als Frischobst auf einer Bühne vor dem Ausbilder zu präsentieren? Orangen
schmeckten jedoch nur dann gut, wenn sie eine gewisse Reife hatten und auf fruchtbarem Boden angebaut worden waren. Elli war sich sicher, dass man die hohe Schauspielkunst sowieso nicht erlernen konnte. Talent, Persönlichkeit und Charisma gehörten nun mal einfach dazu.
Wie herrlich waren doch Fachsimpeleien aus der Welt des Kinos. Vielleicht mochte sie Norbert deshalb so gern, weil er sie an die Zeit erinnerte, als sie gemeinsam mit ihrem Mann Josef noch ein Kino geführt hatte. Was für spannende Momente. Prickelnde Filmpremieren an der Croisette. Cannes in den Siebzigern. Leinwandgötter zum Anfassen und Elli mitten im Getümmel. Einer Sophia Loren würde man auch heute noch alles abkaufen, vielleicht sogar die Rolle einer Orange.
»Ich lasse die Bewerber das morgen mal spielen«, sagte der Casting-Coach, dessen Optimismus, irgendwann doch einmal ein Toptalent zu entdecken, ungebrochen schien.
»Das macht dann drei fünfzig. Oder sechs Euro bis nächste Woche.« Elli überlegte, wer den Film wohl diesmal zurückbringen würde, als sie Norberts Mitgliedsausweis durch den Kartenleser der Computertastatur zog und ihm die DVD in einer Verleihhülle mit der Aufschrift »Movietime « überreichte.
»Was wäre ich nur ohne Sie?«
Charme hatte er ja, und sein Lächeln, mit dem er sich von ihr verabschiedete, war bezaubernd. Elli wünschte, sie hätte mehr solche nette und vor allem treue Kunden. Die Stammkundschaft war in den letzten Jahren auf kaum mehr als ein paar Dutzend Leute geschrumpft. Eine Videothek war angesichts der Programmvielfalt in den Kabelnetzen und per Satellit - vom Internet, wo man Filme bequem »on demand« auf Neudeutsch »downloaden« konnte, ganz zu schweigen - einfach nicht mehr zeitgemäß, noch dazu in einer Kleinstadt wie Rosenheim.
Wer hätte in den Sechzigern schon daran gedacht, dass ein Filmpalast jemals pleitegehen könnte? Es hatte ja nur zwei Kanäle im Deutschen Fernsehen gegeben und mehrere Jahre gedauert, bis man einen Kinofilm in den eigenen vier Wänden sehen konnte. Roter Teppich, ade! Keine Einladungen mehr von den großen Filmverleihern. Kein Buhlen mehr um die kleinen Kinobesitzer. Ganz im Gegenteil, die Distributoren hatten sie mit ihren Multiplex-Kinos regelrecht in den Ruin getrieben. Am besten gar nicht mehr daran denken, aber ausgerechnet heute lag Der letzte Kaiser in der Rückgabebox, in welche die Kunden die ausgeliehenen Filme auch nach Ladenschluss einwerfen konnten. Ein großartiger Film und zugleich der letzte, den sie und Josef in ihrem Kino gezeigt hatten. Auf der Suche nach der richtigen Stelle in der Regalwand hatte Elli schlagartig Bernardo Bertoluccis Meisterwerk vor Augen - leider auch eines der schwärzesten Jahre ihres Lebens: 1989.Sie hatten ihr Kino verkaufen müssen, und zwei Monate später war Josef einem Herzinfarkt erlegen.
Wenn doch nur ein Kunde hereinkommen würde, um mich auf andere Gedanken zubringen, hoffte sie inständig. Nichts war schlimmer, als sich aus Mangel an Beschäftigung in der Vergangenheit festzufressen. Selbst eine telefonische Anfrage von jemandem, der nach einem bestimmten Film suchte, von dem er weder den Titel noch den Namen der Schauspieler kannte, würde sie jetzt sicher aufmuntern. Ein wandelndes Filmlexikon zu sein, gab einem zu dem das Gefühl, noch gebraucht zu werden. Statt des erhofften Anrufs schob sich eine pathetisch dunkle Regenwolke über das Viertel, in dem ihr Laden lag, und machte den Tag zur Nacht - nahezu perfekt inszeniert. Das Telefon klingelte. Anscheinend hatte jemand über der Wolke ihr heimliches Stoßgebet erhört.
»Movietime, Sattler, guten Tag«, meldete sie sich wie immer betont freundlich.
»Morgen, Elli. Ich bin gerade im Ginos. Kommst du auf einen Kaffee vorbei?«, fragte sie die vertraute Stimme ihrer besten Freundin.
»Jetzt?« Warum um alles in der Welt wollte Frieda mit ihr um diese Uhrzeit Kaffee trinken? Sollte sie einfach so den Laden zu sperren? Andererseits-vor zwölf kam wahrscheinlich sowieso niemand vorbei, und Friedas Einladung wirkte irgendwie dringlich.
Eine italienische Bar wirkte merkwürdigerweise auch dann noch einladend, wenn es aus allen Kübeln schüttete. Normalerweise würde Ginos überirdisch cremiger Cappuccino ihnen einen der gemeinsamen freien Sonntagnachmittage auf der sonnigen, palmgesäumten Terrasse versüßen. »Piazza- Feeling« pur. Italienisches Flair und gutes Publikum machten das Ginos zu einem der beliebtesten Cafés am Ort. Elli hatte sich schon oft gefragt, warum es sie dort Woche für Woche hinzog. Aus purer Nostalgie? Waren es gute Erinnerungen an die zahlreichen Italienurlaube in ihrer Kindheit?
Gino hatte da eine ganz andere Theorie. »Du hast in einem früheren Leben schon mal in Italien gelebt«, erklärte er ihr, felsenfest davon überzeugt. Auch Frieda hatte ihr bestätigt, dass sie mit ihren 1,65 Metern, den gelockten Haaren und den braunen Augen jederzeit als »Italo-Braut«, wie ihre Freundin sie wörtlich genannt hatte, durchgehen konnte. Angesichts des Wolkenbruches fühlte sie sich im Moment aber eher wie ein begossener deutscher Pudel. Da gab es nur eines: im Slalom und im Tempo einer Rosi Mittermaier auf Medaillenkurs so schnell wie möglich hinein in die Kaffeebar. Geschafft, doch auch im Innenbereich war kein Hauch mehr von »Bella Italia« zu spüren. Abgesehen von einem Geschäftsmann, der eifrig auf der Tastatur seines Notebooks herumtippte, war nur noch Frieda im hinteren Restaurantbereich ausfindig zu machen.
»Morgen, Elli«, begrüßte ihre burschikos wirkende, pummelige beste Freundin sie. Friedas ungewöhnlich ernste Miene erweckte den Eindruck, als könnte sie selbst ebenfalls Aufmunterung gebrauchen.
»Was ist denn mit dir los? Du schaust ja aus wie schon mal gegessen.«
»Am besten, du setzt dich«, erwiderte Frieda mit bedeutsamem Unterton.
In einem schlechten Film würde angesichts von Friedas Leidensmiene jetzt der Moment nahen, in dem ihr die Freundin eröffnete, dass sie an einer unheilbaren Krankheit litt oder dass ihr Ehemann sie verlassen hatte. Elli hoffte inständig, in einem guten Film zu sein, doch Friedas nervöses Spiel mit der Kaffeetasse ließ nichts Gutes ahnen.
»Remy ...«, seufzte Frieda schwermütig.
»Ist die nicht gerade in Wien?«
Frieda schüttelte nur den Kopf. »Schlaganfall. Muss ganz schnell gegangen sein.«
Elli war froh, dass sie sich bereits gesetzt hatte. Mittlerweile tauchte Gino, ein quirliger Italiener in ›Tom-Cruise-Größe‹ und mit nach hinten gegeltem Haar, neben ihr auf.
»Elli, bella, was darf ich Ihnen bringen? Das Übliche?«
»Zwei Grappa bitte.«
Frieda gab die Bestellung auf - entgegen ihrer Gewohnheit die richtige Wahl, stellte Elli fest. Einen Cappuccino hätte sie im Moment sowieso nicht heruntergebracht.
Ginos zwar völlig unangebrachtes, aber wie immer strahlendes Lächeln tat trotzdem gut. »Sehr wohl.«
»Wahrscheinlich war's die Sachertorte«, fuhr Frieda fort.
»Was hat Remys Schlaganfall mit einer Torte zu tun?«
»Erinnerst du dich ... letzte Woche beim Kegeln? Was hat sie sich auf diese Kalorienbombe gefreut. Tönt noch rum, dass sie für ein Stück original Sacher sterben würde. Das hat jemand da oben wohl in den falschen Hals bekommen. «
Elli erinnerte sich noch allzu gut an Remys Vorfreude. Sie hatte mit ihnen den Gewinn einer Wien-Reise gefeiert und sich tatsächlich mehr auf den Kuchen als auf den Prater gefreut.
»Stell dir das mal vor. Du erfüllst dir quasi einen Lebenstraum, und kaum hast du die Torte im Ranzen, kippst du vom Stangerl.«
»Das ist nicht dein Ernst? Im Sacher?«
Frieda nickte. »Sie mussten Remy zu fünft rausschleppen. «
»Jetzt hör aber auf ...« Wie konnte Frieda sich angesichts des Ablebens ihrer Freundin nur über deren Übergewicht lustig machen?
»Nein, es stimmt. Ich weiß es von ihrer Nichte.«
»Die arme Remy! Sie war doch noch so jung«, sinnierte sie.
»Na ja, vierundsechzig ... Mach dir mal nichts vor, Elli. Die Uhr tickt.«
»Jetzt übertreibst du aber. Außerdem sind wir beide nicht übergewichtig.«
Kaum war der Satz ausgesprochen, kamen ihr erste Zweifel, ob Frieda nicht vielleicht doch recht hatte. Fakt war, dass sich ihr Freundeskreis in den letzten Jahren deutlich dezimiert hatte. Der Sensenmann ging um und hatte sich nicht nur den Bekanntenkreis gekrallt, der ihr nach Josefs Tod geblieben war, sondern trieb nun auch noch in ihrem engsten Freundeskreis sein Unwesen. Aus dem achtköpfigen Kegelclub war in den letzten zwei Jahren ein illustres Quartett geworden, bestehend aus Frieda, Remy, einer Studentin Mitte zwanzig namens Steffi, die immer wieder mal einsprang, und ihrer Wenigkeit.
»Außerdem sind die anderen auch nicht an Altersschwäche oder irgendwelchen Verfallserscheinungen gestorben«, sagte sie zu Frieda. »Zwei Autounfälle, ein Absturz beim Bergwandern und einmal Oberschenkelhalsbruch mit anschließender Sepsis im Krankenhaus«, fügte Elli noch hinzu.
»Wobei Alvin sicher nicht in den Graben gefahren wäre, wenn er nicht auf der Fahrt zu seinem Scheidungstermin einem Herzinfarkt erlegen wäre«, stellte Frieda leicht rechthaberisch klar.
Nun gut, das stimmte. Dennoch erfüllten Elli die ungewöhnlich zahlreichen Abschiede von Freunden in ihrem Alter mit einem gewissen Schaudern. Wer weiß, vielleicht war sie ja in eine Fortsetzung von Final Destination geraten, wobei sie sich nicht daran erinnern konnte, den Tod jemals überlistet zu haben und seither von ihm verfolgt zu werden.
»Die Beerdigung ist morgen früh um zehn«, unterbrach Frieda ihre Gedanken.
Elli nickte und gurgelte den aufsteigenden Kummer erst einmal mit einem ordentlichen Schluck von Ginos Grappa herunter.
Elli nahm sich vor, den Rest des Tages einfach abzuhaken. Remys überraschender Abschied lag ihr immer noch bleischwer im Magen und sorgte an dem verregneten, aber dank des Unwetters immerhin kundenfreien Nachmittag für die ideale Grundlage, um an ihre gemeinsame Zeit zurückzudenken. Letzteres schwor eine Tristesse herauf, die Elli an sich weder kannte noch schätzte. Remy, die Frieda an der Volkshochschule in einem Kochkurs kennengelernt hatte, war der Neuzugang im Kegelclub gewesen. Trotz ihrer üppigen Rundungen, die ihr den Spitznamen »Kegelkügelchen « eingebracht hatten, hatte sie sich im Team bewährt - menschlich wie auch (erstaunlicherweise) sportlich. Was würde jetzt nur aus ihrem Kegelabend werden? Zu dritt ja nicht gerade eine Spaßveranstaltung. Was musste Remy auch den Löffel abgeben?
Die quälende Frage nach dem Warum war aber selbst nach stundenlanger Grübelei, die sich nicht mal durch die beschäftigungstherapeutisch durchaus sinnvolle Generalreinigung der DVD-Regale abstellen ließ, nicht zu beantworten. Allerdings hatte sie den angenehmen Effekt, dass Elli sich ganz nebenbei Gedanken darüber machte, woher die Redewendung mit dem Löffel wohl stammte.
Recherchen waren neben Putzen erfahrungsgemäß die ideale Beschäftigung, um sich abzulenken. Wenn man den Quellen im Internet trauen durfte, hatten im Mittelalter weniger wohlhabende Menschen angeblich immer und überall ihren eigenen Löffel dabei, den sie kurz vor ihrem Tod an jemand anderen weitergaben. Erstaunlich, dass sich diese Tradition anscheinend auch in Ellis eigener Familie in Form eines goldenen Teelöffels, der ihrer Mutter gehört hatte, fortsetzte. Auch sie hatte den Löffel kurz vor ihrem Tod weitergegeben - sozusagen als Glücksbringer -, zumindest war sie davon überzeugt gewesen, dass er ihrer Tochter Elli Glück bringen würde. Nun lag er eingewickelt in einem seidenen Tuch in der Wohnzimmerschublade. Hatte der Löffel ihr tatsächlich Glück gebracht? Um diese Frage eingehend zu beleuchten, blieb ihr kurz vor Ladenschluss aber Gott sei Dank keine Zeit mehr. Der allwöchentliche Besuch im Altenheim stand an, und ihre »Cineastengruppe« schätzte es ganz und gar nicht, wenn man unpünktlich war.
Warum um alles in der Welt hatten Altenheime in der Regel Namen, die allesamt Frieden und Harmonie an einem paradiesischen Ort suggerierten? »Seniorenheim Sonnenhain « klang doch sehr vielversprechend. Laut Prospekt war es direkt an einer Parkanlage gelegen, jedenfalls durch die Linse des Profifotografen betrachtet, der es irgendwie geschafft hatte, einen Zipfel Grün mit auf das Bild zu schmuggeln. Dass sich die Anlage direkt an einer stark befahrenen Hauptstraße befand und der gegenüberliegende Minipark eigentlich ein Bolzplatz für lärmende Kinder war, ging aus der Hochglanzbroschüre natürlich nicht hervor. Immerhin hatte dieses Altenheim den Vorteil, dass man jederzeit, ohne lange suchen zu müssen, einen Parkplatz fand.
Heute stand für Ellis Publikum Verdammt in alle Ewigkeit auf dem Programm, der Klassiker mit Burt Lancaster und Montgomery Clift-auf besonderen Wunsch der nicht mehr ganz so mobilen Cineastenrunde, die sie einmal pro Woche, mit Beamer und einem mobilen DVD-Player ausgestattet, versorgen durfte. Als Elli den Wagen parkte und die Stufen des altehrwürdigen Sandsteingebäudes hinaufeilte, machte sie sich klar, dass sie für diesen Nebenjob dankbar sein musste. Letztlich hatte sie es Frieda und ihren guten Kontakten zur Stadtverwaltung zu verdanken, dass sie für ihr mobiles Kino monatlich einen kleinen Zuschuss bekam. Ein paar hundert Euro nebenbei konnten angesichts der eher mauen Einnahmesituation der Videothek nicht schaden. Einen Film vor Publikum vorführen zu dürfen, erinnerte sie zu dem an ihre persönlichen Gründerjahre, als sie mit Josef ihr erstes Kino eröffnet hatte. Ein gutes Gefühl, ein Hauch von wärmender Nostalgie, den ihr selbst die kahlen Wände des schier endlos langen Ganges, der zum Gesellschaftsraum führte, nicht nehmen konnten.
»Alles Lüge! Alles Lüge!«, keifte eine mindestens achtzigjährige Frau, die mit ihrem Rollator im Morgenmantel und in überdimensional großen Pantoffeln wie aus dem Nichts aus einem der Zimmer auf siezuschoss.
Elli zuckte förmlich vor Schreck zusammen.
»Die wollen doch nur mein Geld«, fügte die alte Dame noch hinzu.
Jetzt nur keinen Blickkontakt zulassen! Die Bewohnerin aus Zimmer 115 würde sie sich sonst schnappen und in ein endlos langes Gespräch verwickeln. Am Ende würde sie noch zu spät zur Filmvorführung kommen. Panisch beschleunigte Elli ihre Schritte, doch die Frau war dank ihres Turbo-Rollators schneller als gedacht.
»Zu Besuch?«
»Nein, ich zeige hier einen Film.«
»Einen Film?«, wollte die alte Dame wissen. Offenbar war das Kulturprogramm des Sonnenhains bisher an ihr vorbeigegangen. Vielleicht interessierte sie sich ja aber auch nicht für Kino.
»Ja, Verdammt in alle Ewigkeit. Sie sind herzlich eingeladen. « Kaum war der Satz ausgesprochen, hätte sich Elli am liebsten auf die Zunge gebissen.
»Ja, man ist verdammt ... aber Gott sei Dank nicht bis in alle Ewigkeit.« Nun fing die Frau auch noch an zu kichern.
Nein, es war vielmehr eine überraschend fiese Lache.
»Hören Sie, ich bin in Eile ...«
»Eile mit Weile.« Wieder ein Kichern, und obwohl Elli mittlerweile im Stechschritt den Gang entlangeilte, hatte sie keine Chance, die Alte abzuhängen.
»Das ganze Geld hab ich ihm gegeben. Und was ist der Dank? Mein Sohn besucht mich nicht einmal.«
Die Ärmste! Elli konnte nichtanders, als stehen zu bleiben.
»Das tut mir leid. Vielleicht bringt der Film Sie ja auf andere Gedanken.«
»Firlefranz! Sie haben nicht zufällig Schokolade dabei?«
Hieß es nicht Firlefanz? Demenz? Verkalkung? Auf alle Fälle war dies Zeichen einer extrem kurzen Leine. Noch nicht einmal Schokolade war den Leuten im Alter vergönnt, jedenfalls nicht im Sonnenhain.
»Ich bekomme keine. Diabetes.«
Das erklärte natürlich einiges. Elli fiel ein Stein vom Herzen, das schlechte Gewissen hingegen, weil sie die ältere Dame zu einem wahren Spurt über den Gang veranlasst hatte, wurde sie nicht los. Zumindest ein teilnahmsvolles Lächeln wäre jetzt angebracht. Ein Lächeln, das die Frau sofort erwiderte - voller Melancholie und mit einer ordentlichen Portion Traurigkeit in den Augen.
»Wissen Sie, manchmal wünsche ich mir, einfach nicht mehr da zu sein.«
»Aber Sie sind doch noch recht rüstig.« Zum zweiten Mal in Folge wünschte sich Elli, sich rechtzeitig auf die Zunge gebissen zu haben. Dämlicher und unsensibler hätte sie darauf kaum antworten können.
»Wie alt sind Sie denn, wenn ich fragen darf?«
»Neunundachtzig Jahre«, erwiderte die Frau.
»Und wie lange sind Sie schon hier?«
»Viel zu lange ... eindeutig zu lange.«
Der traurige Blick der Alten traf Elli mitten ins Herz.
»Ich bin schon wieder so müde.«
»Kommen Sie, ich begleite Sie zurück auf Ihr Zimmer«, bot Elli spontan an.
»Nein, nein, Sie haben es doch eilig. Ich schaffe das schon.«
Was tun? Elli war hin- und hergerissen zwischen Termindruck und Hilfsbereitschaft oder vielmehr ihrem schlechten Gewissen.
»Ich bin die Rosemarie.«
»Elli«, stellte sie sich vor und reichte der Frau die Hand.
Die Art, wie Rosemarie an ihrer Hand Haltsuchte, schenkte Elli sehr viel Wärme, und zugleich stieg die altbekannte Panik in ihr auf, nicht so enden zu wollen wie die Menschen hier. Nicht an einen Rollator gefesselt in irgendeinem Altersheim, das sich direkt an einer Hauptverkehrsstraße befand, nicht mit Todessehnsüchten und von Einsamkeit geplagt.
Nein! Filmvorführung! »There's no business like showbusiness. « Hatte Josef das nicht immer gesagt und, verdammt noch mal, hatte er damit nicht recht?
»Ich wünsche Ihnen alles Gute.« Nichts wie weg!
Montgomery Clifts Trompetensolo war atemberaubend. So ein gut aussehender Mann und dann noch diese Schmachtszene, der Klassiker schlechthin: Deborah Kerr und Burt Lancaster küssend am Strand, umspült von ungezügelt tänzelnden Schaumkronen der Urgewalten des Pazifiks. Sie lässt sich mit ihrem Nimm-mich-Blick in den Sand fallen.
Er steht breitbeinig über ihr - so ein Macho! -, kniet nieder und küsst sie schließlich mit alles dahinschmelzender Leidenschaft. »Niemand hat mich bisher so geküsst wie du«, sagt Deborah daraufhin mit einer Inbrunst, die selbst Polareis zum Glühen bringen könnte.
Verdammt in alle Ewigkeit - warum hieß der Film eigentlich so? From here to Eternity, wie der Originaltitel lautete, schien übersetzt ebenfalls keinen Sinn zu ergeben. So war Elli als einfache Zuschauerin im Saal mit etwa drei Dutzend über Achtzigjährigen damit zufrieden, den Sinn darin zu sehen, dass eine solche Leidenschaft zwangsläufig zu ewiger Verdammnis oder zumindest in eine Ehe führen würde.
Josef hatte sie so geküsst. Zwar nicht am Pazifik, aber immerhin am Strand von Nizza. Zwei von der Sonne aufgeheizte Körper waren füreinander bestimmt gewesen, und der Moment, als sich ihre Lippen berührten, hatte in Ellis Erinnerung die Urgewalteines ausbrechenden Vulkans. Wie weich und dennoch fordernd seine Lippen geschmeckt hatten. Wie sie am ganzen Körper wie Espenlaub zu beben begonnen hatte. Nun ja, zugegebenermaßen hatte sie sich all das während seines eher plumpen Annäherungsversuches lebhaft in ihrer Phantasie vorgestellt - ein einfacher Trick, um mehr aus dem Leben herauszuholen.
Vorbei! Vergangenheit! Nun war sie sechzig! Ein bisschen angewelkt, allein, allein und nochmals allein. Immerhin hatte sie Frieda, nach Remys Abgang noch ein Kegeltrio
- Steffi mit eingerechnet - und eine Videothek, die mehr schlecht als recht lief, ihr aber dennoch gelegentlich nette Kundschaft bescherte. Ein besseres Schicksal als das von Rosemarie. Musste sie dafür nicht sogar dankbar sein? Elli war sich nicht ganz sicher. Andererseits - konnte sie mit Sicherheit sagen, dass sie nicht eines Tages selbst in einem Alten- oder, noch schlimmer, in einem Pflegeheim versauern würde? Sich wie Rosemarie den Tod herbeizuwünschen, war das nicht schrecklich?
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
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Autoren-Porträt von Tessa Hennig
Tessa Hennig ist seit vielen Jahren erfolgreich als Drehbuchautorin tätig, unter anderem für die große Prime-Time-Unterhaltung. Wenn sie vom Schreiben und ihrem Wohnort München eine Auszeit benötigt, reist sie auf der Suche nach neuen Stoffen und Abenteuern in den Süden.
Bibliographische Angaben
- Autor: Tessa Hennig
- 384 Seiten, Maße: 13,2 x 19,1 cm, Flex. Einband
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3863650832
- ISBN-13: 9783863650834
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