Engelstränen
Roman
Ein Muss für alle Fans von BLACK DAGGER
Seit Melissa zum Vampir geworden ist, quält sie Nacht für Nacht derselbe Alptraum vom Untergang der Welt. Sie hält das zunächst nur für eine lästige menschliche Schwäche,...
Seit Melissa zum Vampir geworden ist, quält sie Nacht für Nacht derselbe Alptraum vom Untergang der Welt. Sie hält das zunächst nur für eine lästige menschliche Schwäche,...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Engelstränen “
Ein Muss für alle Fans von BLACK DAGGER
Seit Melissa zum Vampir geworden ist, quält sie Nacht für Nacht derselbe Alptraum vom Untergang der Welt. Sie hält das zunächst nur für eine lästige menschliche Schwäche, die ihre Wandlung überdauert hat. Doch unbemerkt hat er sich längst an ihre Fersen geheftet, ein blutrünstiger Dämon, entschlossen, die Welt in ewige Nacht zu stürzen - und Melissa allein könnte ihn aufhalten...
Seit Melissa zum Vampir geworden ist, quält sie Nacht für Nacht derselbe Alptraum vom Untergang der Welt. Sie hält das zunächst nur für eine lästige menschliche Schwäche, die ihre Wandlung überdauert hat. Doch unbemerkt hat er sich längst an ihre Fersen geheftet, ein blutrünstiger Dämon, entschlossen, die Welt in ewige Nacht zu stürzen - und Melissa allein könnte ihn aufhalten...
Klappentext zu „Engelstränen “
Seit Melissa zum Vampir geworden ist, quält sie Nacht für Nacht derselbe Alptraum vom Untergang der Welt. Sie hält das zunächst nur für eine lästige menschliche Schwäche, die ihre Wandlung überdauert hat. Doch unbemerkt hat er sich längst an ihre Fersen geheftet, ein blutrünstiger Dämon, entschlossen, die Welt in ewige Nacht zu stürzen - und Melissa allein könnte ihn aufhalten...
Ein Muss für alle Fans von BLACK DAGGERSeit Melissa zum Vampir geworden ist, quält sie Nacht für Nacht derselbe Alptraum vom Untergang der Welt. Sie hält das zunächst nur für eine lästige menschliche Schwäche, die ihre Wandlung überdauert hat. Doch unbemerkt hat er sich längst an ihre Fersen geheftet, ein blutrünstiger Dämon, entschlossen, die Welt in ewige Nacht zu stürzen - und Melissa allein könnte ihn aufhalten...
Lese-Probe zu „Engelstränen “
Engelstränen von Tanya CarpenterProlog
Das Plätschern von Wasser. Eine klare Quelle. Kühlendes Nass, das durch meine Finger gleitet, über Steine fließt, sich am Ufer bricht. Ein Spiel von Glocken und leisen Panflöten, als würde der Gehörnte Gott musizieren. Süßes Elixier des Lebens, das meine Kehle benetzt. Ich lausche dem Klang. Dann die Hörner. Lautes Dröhnen. Keine Flöten mehr, die Glocken verstummen. Rote Fäden im Bachlauf, wie ein Knäuel Würmer. Immer mehr, immer mehr. Rotes Wasser. Bitterer Geschmack, nach Kupfer, nach Blut, in der Nacht ... Dazu das Rauschen der Brandung mit dem Lied der Möwen. Weiß schäumende Gischt bricht sich am Strand, umspült meine Füße. Eine salzige Liebkosung. Schaumkronen rollen heran. Der Ozean ruft, lockt mit dem Versprechen azurblauer Stille. Kinderlachen, Familienausflug ans Meer. Plötzlich kreischen die Vögel, flüchten vor der Dunkelheit. Weinende Kinder. Wo ist die Sonne? Nur brodelndes Rot rollt heran, begräbt mich, zieht mich in die Tiefe. Über mir der schwarze Himmel, und der Sand trinkt Blut ...
Denn so steht geschrieben Wenn die Flüsse derer sieben Die das Wasser des Lebens führen.
Die Reinheit der Quellen verlieren Weil sie wandeln zu Blut Dann verlischt der Sonne Glut Wenn alle Quellen Blut gebären Wird der Mond die Sonne verzehren Das schwarze Feuer sich entfacht Es beginnt die ewige Nacht
Frankreich, 2. Oktober 1999
... mehr
Benommen wischte ich mir über die Augen. Dieser Traum schon wieder, der mich seit der Wandlung so oft heimsuchte. Die blutigen Flüsse, das blutige Meer. Und über allem eine schwarze Sonne, die kein Licht mehr spenden wollte. Die Szenerie machte mir Angst. Ich glaubte an prophetische Träume, auch wenn sie nicht immer eins zu eins in die Realität übertragen werden konnten. Kehrten sie jedoch immer wieder, hatten sie für gewöhnlich auch eine Bedeutung für die Wirklichkeit. Und ich war eine Hexe, Visionen waren bei mir nicht ungewöhnlich.
Armand bemerkte meine Unruhe und zog mich fester in seine Umarmung. »Sch, mon coeur. Schlaf noch ein Weilchen. Die Nacht ist noch weit.«
Er sank sofort wieder in tiefen Schlaf, und ich befreite mich vorsichtig von ihm, um ihn nicht zu wecken. Er sah so friedlich aus, wenn er schlief. Seine markanten Gesichtszüge waren entspannt, das seidig schwarze Haar lag wie ein Schleier auf dem weißen Kopfkissen. Ich küsste seine Stirn, dann stand ich leise auf, weil ich wusste, ich würde keinen Schlaf mehr finden, geplagt von den Träumen und dieser schrecklichen Unruhe, die das Haus seiner Familie in mir auslöste, seit ich es betreten hatte. Mit Stolz hatte Armand mir unseren Besitz gezeigt. Es war seine feste Absicht, mir die Hälfte des Familienerbes zu überschreiben - der Ländereien, des großen Herrenhauses, des Weingutes, der Rennpferdezucht und der Juwelen. Ich war gerührt. Und ein wenig beschämt von so viel Großzügigkeit.
Doch das große Haus hatte eine bedrohliche, beängstigende Aura. Ich fand nur wenig Ruhe, und daran waren nicht allein meine Träume schuld. Es waren die Stimmen, die von den Mauern widerhallten. Schon als Sterbliche hatte ich Kontakte zu Geistern gehabt. Durch das Blut schien diese mir angeborene Fähigkeit immer stärker zu werden. Ich kannte die Seelen nicht, die noch in diesen Mauern verweilten. Aber es waren seine Ahnen - meine Ahnen. Einige hatte ich bereits gesehen - blasse, durchscheinende Gestalten, die über die Gänge wandelten, durch Mauern verschwanden. Manche hatten mir fragende Blicke zugeworfen oder mich angelächelt. Ihre Seelen waren fest an diesem Ort verankert, ob durch einen traumatischen Tod oder starke emotionale Bande. Aber alles in allem schienen sie mir nicht unglücklich zu sein, sondern eher zufrieden - aus freien Stücken bleibend und nicht vom Himmel ausgeschlossen.
Doch es gab auch noch eine andere Energie in diesem Haus. Dunkel, neidvoll und gepeinigt. Sie schien nach mir zu rufen, immer öfter, immer lauter, mit ihren kalten unwirklichen Fingern nach mir zu greifen, als wolle sie mich in ihre Reihen ziehen. Sie neidete mir meine unsterbliche Natur. Dieser Neid war wie Gift, das von den Wänden sickerte und in mein Bewusstsein drang, eine kaum erträgliche Qual, die mir den Schlaf raubte, mein Glück mit Armand mehr und mehr trübte.
Ich ließ Armand in unserer geheimen Kammer tief unter dem Herrenhaus allein und durchstreifte ruhelos die unterirdischen Gewölbe, folgte dem Ruf dieser einen Stimme, die noch keine Erlösung aus dem Irdischen erfahren hatte, obwohl sie zweifellos danach strebte. Ich wollte ihr helfen, wenn ich konnte, damit sie mir meine frevelhafte Existenz vergab und mich in Ruhe ließ. Aber ich fürchtete mich auch vor dem, was sie tun würde, wenn ich ihr begegnete.
Armand gegenüber hatte ich die Geisterstimme mit keinem Wort erwähnt. Er schien sie nicht zu hören, schien auch die anderen Gespenster seines Heims nicht zu bemerken. Warum also sollte ich ihn da hineinziehen? Es war ja auch möglich, dass ich es mir nur einbildete, weil die vielen Eindrücke, die auf mich einstürmten, noch so neu und ungewohnt waren, oder weil ich selbst noch mit meiner neuen Natur haderte. Immerhin war mir der Geist, der zu dieser einen Stimme, dieser düsteren Energie gehörte, noch nicht erschienen. Und alle anderen Bewohner, sowohl lebend als tot, begegneten mir ohne Zorn oder Abneigung.
Ziellos wanderte ich in den Kellerräumen umher, las die Etiketten auf den Weinflaschen, obwohl ich nur wenig Französisch verstand, bis ich schließlich an den kleinen vergitterten Raum kam, von dem Armand mir erzählt hatte, dass sein Vater ihn als Strafzelle für seine Söhne angelegt hatte, wenn diese mal wieder ungezogen waren. Jacques de Toulourbet war ein strenger Mann gewesen, und trotzdem hatte mein Liebster ihn verehrt, zu ihm aufgesehen und versucht, in seine Fußstapfen zu treten. Bis ein Vampir ihm einen Strich durch seine Pläne und Träume machte. Armand verbrachte in seiner Jugend deutlich mehr Zeit in der Zelle als sein Bruder Gaston. Er war der Rebell, der Wildfang, der Draufgänger. Später dann ein Hitzkopf, der zu viele Duelle ausfocht, und außerdem ein Frauenheld. Schmunzelnd ließ ich meine Finger über die Gitterstäbe gleiten, die es nicht vermocht hatten, das Temperament meines Geliebten einzusperren oder auch nur zu zügeln. Die Tür schwang auf. Ich hatte das Gefühl, etwas Verbotenes zu tun, doch da mich die Neugier trieb und für einen Moment von meinen dunklen Gedanken über die Geister- stimme ablenkte, betrat ich Armands einstiges Strafquartier. Darin standen noch immer ein Tisch und ein Stuhl, wohl für die Strafarbeiten gedacht, und ein notdürftiges Bett. Hatte Jacques seine Söhne hier tatsächlich für mehrere Tage eingesperrt? Bei Wasser und Brot, wie Strafgefangene, mit Papier und Federkiel, um ihre Fehltritte niederzuschreiben und daraus zu lernen? Wie grausam.
Plötzlich fiel mit einem lauten Scheppern die Gittertür hinter mir ins Schloss. Der Riegel sprang vor, ich war gefangen. Im ersten Moment überrollte mich Panik, ich rüttelte am Gitter, doch vergebens. Dann besann ich mich meiner vampirischen Fähigkeiten und versuchte, die Tür mit der Kraft meines Geistes zu öffnen, was aber ebenso erfolglos blieb. Ein hässliches Lachen hinter mir ließ mich herumfahren. Auf dem alten Holzschemel, mit dem Rücken an die abgewetzte Oberfläche des Tisches gelehnt, saß ein Geist - Gerard. Das schwarze Schaf in der Familie und der letzte legitime Träger des Titels Toulourbet, den Armand eigenhändig ins Jenseits befördert hatte.
»Schau, schau, schau, was für ein Vögelchen da im Käfig sitzt.«
Ruhig bleiben, sagte ich zu mir selbst. Er war nur ein Geist. Er konnte mir nichts tun. Das hoffte ich zumindest.
Ich schaute mir Armands Nachfahren genauer an. In einem der Fotoalben, die wir uns angesehen hatten, war eine Sepiafotografie von ihm gewesen, dem Mann, den Armand hatte töten müssen, um das Erbe seiner Familie vor dem Bankrott zu bewahren. Von Angesicht zu Angesicht traten die vom Alkohol getrübten Augen und die aschfahle Haut noch deutlicher hervor. Das Gemälde in der Ahnengalerie, das ihn als stolzen Landedelmann zeigte, war der blanke Hohn. Für einen Geist hatte er erstaunlich viel Substanz, was im Allgemeinen auf starke Emotionen hinwies, die ihn an einen Ort oder eine Person banden. Gefühle waren das Bindeglied zwischen der Seele und der irdischen Welt. Je stärker sie waren, desto stärker war auch der Geist. Negative Gefühle wie Angst, Trauer, Hass oder Wut verliehen meist mehr Energie als Liebe oder die Sehnsucht, jemandem nahe zu bleiben. Die hinter Gerard liegende Steinmauer und der Tisch waren kaum zu erkennen, so stark konnte er sich manifestieren. Angesichts seiner Todesumstände lag die Erklärung dafür auf der Hand. Seine Aura flutete mir in einer riesigen Woge entgegen, und ich erkannte die negativen Schwingungen der gepeinigten Seele, die mir meinen Frieden raubte, weil sie selbst keinen fand. Er grinste hämisch, während er eine Münze in seiner Hand auf und ab schnippen ließ.
»Kopf oder Zahl?«, fragte er unvermittelt und mit einem sehr starken französischen Akzent.
»Wie bitte?«
»Triff deine Wahl! Wenn du gewinnst, lass ich dich gehen, wenn du verlierst, bleibst du hier in der Zelle, und dein Held sieht dich nie wieder.«
»Das glaube ich kaum. Du bist ein Geist. Und ich kann dich beim Namen nennen. Das bedeutet, du hast keine Macht über mich, Gerard.«
Da brach er in Gelächter aus. Göttin, er hatte so ein ekelhaftes Lachen, das nach Wahnsinn und Hysterie klang. Er wäre zu Lebzeiten wohl eher ein Fall für die Nervenheilanstalt gewesen. Ich konnte Armand nur recht geben, dass er dieses Subjekt getötet hatte.
»Kopf oder Zahl? Kopf oder Zahl?«, wiederholte er immer wieder, ließ die Münze springen und erhob sich von seinem Schemel, um mich lauernd zu umkreisen. Trotz meiner Überzeugung, dass er mir nichts tun konnte, machte mich sein Verhalten unruhig. Was hatte er vor? Dann war er von einer Sekunde zur anderen einfach verschwunden. Ich atmete auf. Dem Himmel sei Dank, dass der Spuk vorbei war. Doch als ich mich wieder zur Tür umdrehte, um sie zu öffnen, erhielt ich einen heftigen Schlag von hinten, der mich gegen das Gitter warf und einige Rippen knacken ließ. Schmerz und ungläubiges Entsetzen lähmten mich. Dieser Geist war offenbar zu mehr fähig, als ich angenommen hatte.
»Du kommst hier nie wieder raus, Vögelchen. Ich gewinne immer. Kopf oder Zahl?« Er lachte hämisch.
Der nächste Stoß warf mich auf die Pritsche, die unter der Wucht zusammenbrach. Ein langer Holzsplitter drang in meinen Rücken, verfehlte nur knapp mein Herz, durchbohrte stattdessen schmerzhaft meinen linken Lungenfl ügel, der sofort kollabierte, und trat vorne neben dem Brustbein wieder heraus. Ich schmeckte Blut. Die Verletzung war zum Glück nicht lebensbedrohlich, weil ich ja keinen Sauerstoff mehr brauchte. Aber auch als Vampir hatte ich einen natürlichen Atemreflex, den ich nur schwer unterdrücken konnte und der für Sprache und Geruchssinn auch unabdingbar war. Das Gefühl, Luft in einen nicht funktionstüchtigen Lungenflügel ziehen zu wollen, war scheußlich. Ich spürte die Masse aus Lungenbläschen zittern, zucken, kämpfen, um sich wieder aufzublähen. Das vampirische Blut sammelte sich in den zerstörten Alveolen, pulsierte durch die Bronchialäste, bis das Organ nach und nach wieder anfing, seine Aufgabe zu übernehmen. Jetzt reichte es aber. Entschlossen zog ich den Splitter aus meinem Brustkorb und schleuderte ihn in die Richtung, in der ich Gerards Geist vermutete. Sein Lachen erklang direkt über mir. Ich hob den Kopf und spürte im nächsten Moment seinen ätherischen Körper, der durch mein untotes Fleisch glitt und es mit tausend winzigen Nadelspitzen traktierte. Schützend schlang ich meine Arme um den Kopf und kauerte mich auf den Boden. Das Ganze konnte doch wohl nur ein Albtraum sein. Ich mochte nicht glauben, dass mir das tatsächlich widerfuhr.
»Aufhören! Hörst du? Hör sofort auf damit. Ich habe dir überhaupt nichts getan.«
Aber schon kam die nächste Attacke von der Seite. Dieses Geschöpf schien die feste Absicht zu haben, mich all die Wut und Enttäuschung, die sich in den vergangenen hundert Jahren in ihm aufgestaut hatten, fühlen zu lassen.
»Schluss damit!« Die Zellentür flog auf und zerbarst krachend an der Steinmauer. Mörtel, Gesteinsbrocken und Eisensplitter rieselten zu Boden, als Armand mit seiner Aura den ganzen Raum ausfüllte. Drohend, mächtig, unbesiegbar. »Arrête!«, wiederholte er, die Augenbrauen zusammengezogen, sodass sich eine steile Falte dazwischen gebildet hatte. Er sah Furcht einflößend aus. In seinen Augen blitzte es mordlustig, die Lippen waren zu einer schmalen Linie zusammengepresst, die Hände mit den messerscharfen Fingernägeln zu Klauen gekrümmt. »Zurück in deine Höllengruft, Gerard, oder ich beweise dir, dass auch ein Geist noch körperliche Qualen leiden kann.« Er machte einen energischen Schritt auf meinen Peiniger zu, woraufhin dieser mit einem angsterfüllten Jammerlaut durch die Steinmauer hinter der zerbrochenen Pritsche fl oh. Armand hob mich wortlos auf seine Arme und brachte mich zurück in unser Schlafquartier, ein kleines Häufchen Elend, das mit der Situation völlig überfordert war. Dort angekommen legte er mich auf das Bett und schob das blutverschmierte Shirt nach oben, um nach meiner Verletzung zu sehen. Doch die Stelle, an der mich der Splitter durchbohrt hatte, war bereits verheilt.
»Pardonne-moi! Ich hätte dich warnen sollen, dass dieses Gemäuer noch immer ein paar Geister beherbergt. Unter anderem Gerards ruhelose Seele.«
»Ich habe ihre Stimmen gehört und auch einige Geister gesehen. Aber ich hätte nicht gedacht, dass mich einer von ihnen angreifen würde.«
Er streichelte beruhigend mein Gesicht. »Das werden sie auch nicht. Sie alle sind friedlich und wollen nur in Ruhe in ihrem einstigen Zuhause verweilen. Aber Gerard war schon zu Lebzeiten ein übler Zeitgenosse. Ich hätte ihn gleich bei unserer Ankunft in seine Schranken weisen sollen. Er fürchtet mich. Aber offenbar dachte er, er könne die Gelegenheit nutzen, seinen Schabernack mit dir zu treiben.«
Schabernack war stark untertrieben. »Ich hatte eher das Gefühl, dass er die Wut, die er auf dich hat, an mir auslassen wollte. Irgendwie kenne ich das Gefühl nun zur Genüge. Würdest du mich bitte vorwarnen, falls es noch weitere Racheengel gibt, die darauf warten, eine offene Rechnung mit dir an mir zu begleichen?«
Er senkte schuldbewusst den Blick. Als Sterbliche hatte ich wahrlich genug leiden müssen, war beinah gestorben, nur weil ein anderer Vampir noch Rachegelüste für ihn empfand.
»Es wird keine weiteren Angriffe mehr geben, mon amour. Ich passe auf dich auf. Ich werde dich mit meinem Leben beschützen. Jetzt und in alle Ewigkeit.«
1
Geboren in die Nacht
An meinem 25. Geburtstag erhielt ich ein ganz besonderes Geschenk. Das Geschenk der Finsternis und des ewigen Lebens. Armand, mein Dunkler Vater und Geliebter, machte mich in den Katakomben unter Notre Dame zu einem Vampir. Es war mein eigener Wunsch. Ich war ihm gefolgt, damit er mir die Wahrheit über meine Vergangenheit sagte und mir das Dunkle Blut gab. Beides wurde mir gewährt.
Am Anfang meines unsterblichen Lebens gab es in mir nur Liebe für meinen Dunklen Vater und eine kindliche Faszination für alles um mich herum. Ich sah die Welt mit den Augen der Unsterblichkeit. Sie war mir nie schöner erschienen. Zerbrechlich. Schillernd. Unwirklich fast. Unendlich begehrenswert.
Ich ging unbeschwert an all die vielen neuen Gegebenheiten heran. Der todesähnliche Schlaf am Tage. Meine neuen Fähigkeiten: das Schweben, mich für Menschen unsichtbar machen, Dinge mit bloßer Willenskraft bewegen. Und nicht zuletzt die Jagd nach Menschenblut und der damit einhergehende Akt des Tötens.
Obwohl ich mich bemühte, nicht zu töten, sondern mich stattdessen damit begnügte, meine Opfer zu betören und in einen tranceähnlichen Zustand zu versetzen, damit ich trinken konnte, ohne sie gänzlich auszusaugen. Außerdem wählte ich nach Möglichkeit nur Mörder und Verbrecher. So musste ich mir selbst keine Vorwürfe machen, wenn ich einmal die Kontrolle verlieren und meinem Opfer das Leben nehmen sollte. Nachdem ich mir diese Regeln für die Jagd geschaffen hatte, konnte ich sehr gut damit leben, ohne von meinem Gewissen geplagt zu werden. Leidenschaft suchte ich nie dabei. Dafür hatte ich Armand.
Ich bin Blut von seinem Blut. Von Geburt an. Als Sterblicher ist er der Urahne meiner Mutter und meines Vaters. Zwei Zweige, die sich aus seinem Blut - seinem Sohn Justin - entwickelten, um bei mir wieder zusammenzulaufen. Justin war unehelich, doch Geld und Einfluss der Familie schenkten ihm trotz allem den Namen Toulourbet. Armands Verlobte Madeleine brachte ihn kurz nach der Französischen Revolution zur Welt. Sie starb bei seiner Geburt und schenkte einem ganzen Familienzweig das Leben, wenn man es so will. Sie und ich - wir gleichen uns wie ein Ei dem anderen, als seien wir Zwillinge, obwohl Jahrhunderte zwischen unser beider Leben liegen. Daher besteht auch kein Zweifel, dass ich das Bindeglied bin. Armands verlorene Tochter - sterblich wie unsterblich.
Meine Wandlung zum Bluttrinker erfolgte am 13. September 1999, zwei Jahre, nachdem Armand mich ohne mein Wissen in den Schoß meiner Familie - in die Arme meines Vaters - zurückgebracht hatte.
Mein Vater ist Franklin Smithers, Ordensleiter des Ashera- Mutterhauses Gorlem Manor in London, und somit gleich in doppelter Hinsicht »Vater«. Die ganze Wahrheit wurde mir erst während der Wandlung offenbar, doch es hätte nichts an meinem Entschluss geändert. Ob er in mir noch die Tochter sah, wenn ich als Bluttrinkerin zurückkam? Ob ich mich überhaupt wieder in die Reihen der Ashera einfinden konnte? Auf jeden Fall musste ich es versuchen.
Ende Oktober bat ich dann schließlich darum, wieder nach London zu gehen. Armand war weder überrascht, noch versuchte er, es hinauszuzögern. Wir verabschiedeten uns von seinen Angestellten und seinem Verwalter Henry und brachen in derselben Nacht auf.
Doch die Rückkehr nach London war nicht gleichbedeutend mit der Rückkehr zur Ashera. Ich hatte Angst davor, wieder ins Mutterhaus zu gehen, wenngleich die Konfrontation auf Dauer unvermeidlich war. Ich musste wissen, ob ich noch zu ihnen gehörte oder nicht. Ob ich willkommen war, oder ob mein Vater mich nie wieder sehen wollte. Und im Grunde musste ich ebenso herausfinden, ob ich überhaupt ganz und gar zurückkehren wollte.
Allein durchstreifte ich das nächtliche London, näherte mich langsam Gorlem Manor. Ob Franklin ahnte, was geschehen war? Oder Camille, meine Großtante? Sie war eine Hexe von der Göttin Gnade. Während meiner Ausbildung hatte sich eine starke mentale Bindung zwischen uns aufgebaut.
Lautlos sprang ich über die Mauer, huschte ungesehen als Schatten zwischen den alten Eichen hin und her. Den direkten Weg zum Hauptportal wollte ich nicht nehmen. Ich wollte überhaupt nicht durch die Vordertür eintreten. Ganz nah bei den Flügeltüren zu Franklins Arbeitszimmer blieb ich stehen. Drinnen brannte eine einzelne Lampe. Mein Vater saß an seinem Schreibtisch und arbeitete. Ein attraktiver Mann in den Vierzigern, der die paranormale Kraft ausstrahlte, die ihm innewohnte. Und die Essenz des vampirischen Blutes, das in seinen Zellen ruhte. Armands Blut. Nicht genug, um ihn zu verwandeln, doch ausreichend, um ihn an die Unsterblichen zu binden. Er war schön, mit hellen, sherryfarbenen Augen, einem kleinen Grübchen im Kinn, silbergrauen Strähnen im braunen Haar und dem athletischen Körper eines sehr viel jüngeren Mannes. Auch das verdankte er dem kleinen Trunk. Und ein klein wenig wohl auch seiner Eitelkeit. Jetzt runzelte er die Stirn, eine steile Falte bildete sich zwischen seinen Augenbrauen. Er blickte aus dem Fenster, in meine Richtung, nahm für einen Moment die Brille ab. Hatte er meine Gegenwart gespürt? Doch dann setzte er sie wieder auf und kehrte zu seiner Arbeit zurück.
Von einer plötzlichen, fremdartigen Mattigkeit befallen, lehnte ich mich gegen den Stamm einer Eiche und ließ meinen Blick über den Garten schweifen.
Der Brunnen mit den Skulpturen zog meinen Blick magisch an. Ich hatte ihn immer schon geliebt. Zwei Engel, die voreinander knieten, mit betend aneinandergelegten Händen und demütig gesenktem Haupt. Es war so wundervoll. Ich fühlte mich ausgeschlossen aus dieser Heiligkeit, die sie verkörperten. Der Himmel war mir für immer verwehrt. Schmerzlich berührt schloss ich die Augen.
Ich konnte Franklin atmen hören, roch seinen männlichen Duft. Gedankenfetzen trieben von ihm zu mir. Er saß über dem Abschlussbericht einer Mission in Vietnam, die erfolgreich verlaufen war. Kein Gedanke an mich. Lenkte er sich absichtlich ab? Oder hatte er mich einfach schon aus seinem Leben gestrichen? Die verlorene Tochter. Wie verloren war ich jetzt für ihn? Mehr als je zuvor. Mehr als wir beide ahnen mochten. Nein, ich gehörte nicht hierher. Hier war kein Platz mehr für mich.
»Aber trotzdem bist du zurückgekommen«, sagte jemand hinter mir.
Ich fuhr erschrocken herum und presste mich fester gegen den uralten Baum. Jenny Hawkins stand im Schatten eines anderen Baumes und sah mich furchtlos an. Der kleine blonde Engel mit den babyblauen Augen. Meine »kleine Schwester«, als ich noch hier gelebt hatte. Göttin, das war noch keine zwei Monate her. Was sah sie? Wie menschlich war ich noch für ihre feinen Sinne?
»Ich weiß, was geschehen ist«, beantwortete sie meine Frage. »Und ich habe keine Angst vor dir, Mel.«
Sie kam näher, streckte ihre kleine Hand aus und berührte meine kalte, bleiche Wange. Dann stellte sie sich auf die Zehenspitzen, beugte sich vor und gab mir einen Kuss auf den Mund. Ihr süßer Duft umgab mich. Jung und unschuldig. Ihr Blut strömte warm unter der Haut dahin. Wusste sie eigentlich, wie verlockend sie für mich war? Mir wurden die Knie weich. Ich nahm kaum noch etwas wahr, außer ihrem kindlich-reinen Aroma, das meinen Hunger anfachte.
»Du gehörst noch immer hierher. Du bist hier zu Hause. Du bist hier willkommen.«
»Bin ich das?«, fragte ich und erschrak selbst darüber, wie rau meine Stimme klang.
»Ja, das bist du. Und du bist auch noch immer seine Tochter. Er vermisst dich.«
Sie wusste es also. Wie es vermutlich alle gewusst hatten. Alle außer mir. Aber was spielte das jetzt noch für eine Rolle? Wichtig war allerdings, dass Jenny sagte, Franklin würde mich vermissen. Ich stöhnte leise. Genau das hatte ich nicht hören wollen. Es wäre so einfach gewesen, sich zu sagen, dass hier kein Platz mehr war für einen zurückkehrenden Vampir. Einfach gehen und es erst gar nicht versuchen. Aber jetzt erklärte Jenny, dass ich vermisst und erwartet wurde. Was sollte ich tun?
»Wer ist da draußen?«, erklang Franklins dunkle, warme Stimme.
Sein Timbre ließ mich angenehm erschauern. Ich kroch tiefer in die Schatten hinein, damit er mich nicht sah, doch Jenny trat selbstbewusst hervor und antwortete ihm.
»Ich bin es nur, Franklin. Ich brauchte etwas frische Luft.«
»Jenny!« Sein Tonfall war ein wenig tadelnd. So, wie er mit mir manchmal gesprochen hatte. Tadelnd, aber nachsichtig. »Es ist spät, Jenny. Du solltest schlafen gehen.«
»Ja, Franklin«, sagte sie und drückte sich an ihm vorbei.
Dabei warf sie mir heimlich einen Seitenblick zu, der mir Mut zusprechen sollte. Einen Moment schaute Franklin noch in den Garten hinaus, dann drehte auch er sich um und ging hinein. Ich nutzte die Gelegenheit, unbemerkt an ihm vorbeizuhuschen.
Sein Zimmer lag größtenteils im Schatten, da nur die Lampe auf seinem Schreibtisch brannte. Ich wartete in einer der dunklen Ecken, bis er die Tür geschlossen, den Vorhang vorgezogen und sich wieder in seinen weichen, braunen Ledersessel gesetzt hatte. Unruhig blickte er zum Fenster. Er spürte die Anwesenheit von etwas Vertrautem und doch Fremdartigem. Etwas, das er kannte, ihm aber gleichsam auch neu war. Er spürte mich.
»Guten Abend, Vater«, sagte ich und trat einen Schritt vor.
Er zuckte zusammen, wollte aufspringen, sank aber mit einem gequälten Laut wieder zurück, als er mich sah.
Er erkannte es sofort, hatte es schon nach meinem Brief geahnt. Dem Brief aus Miami, kurz bevor ich in die Maschine nach Paris gestiegen war, um Armand wiederzufi n- den. Und mein Schicksal.
Jetzt sah er es im fluoreszierenden Leuchten meiner Augen, dem hungrigen Flackern darin. An den spitzen, gläsern wirkenden Fingernägeln und vor allem an der Blässe meiner Haut. So weiß, fast durchscheinend, dass man die bläulichen Adern darunter erahnen konnte. Für eine Sekunde stockte ihm der Atem.
Ich wartete, was er wohl sagen mochte. Was er empfand. Der erste Schock ging schnell vorüber. Es gab keine Vorwürfe, keine Fragen nach dem Warum.
»Also sollte es wohl so sein. Kommst du nach Hause, oder kommst du nur, um Abschied zu nehmen?«
»Ich weiß nicht, ob ich hier noch willkommen bin.«
Er grollte mir nicht. Er hatte es immer kommen sehen, hatte versucht, es zu verhindern und war gescheitert. Die Tatsache selbst traf ihn gar nicht so sehr. Allein mein Anblick, zum ersten Mal als Vampir, war es, der ihn ein bisschen ins Wanken brachte. Er zitterte leicht, mochte es kaum glauben, doch dann fasste er sich wieder.
»Du weißt es also nun?«
Ich nickte. »Warum hast du es mir nicht gesagt?« Meine Stimme klang kläglich und schwach. Schmerz und Tränen schwangen darin mit. Die letzten Spuren der Enttäuschung über seine Lügen.
»Was hätte ich dir sagen sollen?«, stöhnte er wie unter Schmerzen. »Dass ich dein Vater bin? Oder dass ich den Vater deiner Mutter aus purer Machtgier habe töten lassen? Ich konnte dir nichts sagen.« Als ich nur fragend in sein Gesicht blickte, fuhr er sich mit der Zunge über die Lippen. Er wusste, er war mir eine Erklärung für sein Verhalten schuldig. »Ich durfte einfach nicht. Armand hat mich vor die Wahl gestellt. Entweder mein Schweigen oder die ganze Wahrheit. Er hat mich damit erpresst. Wenn ich
Copyright © 2010 by Diana Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Benommen wischte ich mir über die Augen. Dieser Traum schon wieder, der mich seit der Wandlung so oft heimsuchte. Die blutigen Flüsse, das blutige Meer. Und über allem eine schwarze Sonne, die kein Licht mehr spenden wollte. Die Szenerie machte mir Angst. Ich glaubte an prophetische Träume, auch wenn sie nicht immer eins zu eins in die Realität übertragen werden konnten. Kehrten sie jedoch immer wieder, hatten sie für gewöhnlich auch eine Bedeutung für die Wirklichkeit. Und ich war eine Hexe, Visionen waren bei mir nicht ungewöhnlich.
Armand bemerkte meine Unruhe und zog mich fester in seine Umarmung. »Sch, mon coeur. Schlaf noch ein Weilchen. Die Nacht ist noch weit.«
Er sank sofort wieder in tiefen Schlaf, und ich befreite mich vorsichtig von ihm, um ihn nicht zu wecken. Er sah so friedlich aus, wenn er schlief. Seine markanten Gesichtszüge waren entspannt, das seidig schwarze Haar lag wie ein Schleier auf dem weißen Kopfkissen. Ich küsste seine Stirn, dann stand ich leise auf, weil ich wusste, ich würde keinen Schlaf mehr finden, geplagt von den Träumen und dieser schrecklichen Unruhe, die das Haus seiner Familie in mir auslöste, seit ich es betreten hatte. Mit Stolz hatte Armand mir unseren Besitz gezeigt. Es war seine feste Absicht, mir die Hälfte des Familienerbes zu überschreiben - der Ländereien, des großen Herrenhauses, des Weingutes, der Rennpferdezucht und der Juwelen. Ich war gerührt. Und ein wenig beschämt von so viel Großzügigkeit.
Doch das große Haus hatte eine bedrohliche, beängstigende Aura. Ich fand nur wenig Ruhe, und daran waren nicht allein meine Träume schuld. Es waren die Stimmen, die von den Mauern widerhallten. Schon als Sterbliche hatte ich Kontakte zu Geistern gehabt. Durch das Blut schien diese mir angeborene Fähigkeit immer stärker zu werden. Ich kannte die Seelen nicht, die noch in diesen Mauern verweilten. Aber es waren seine Ahnen - meine Ahnen. Einige hatte ich bereits gesehen - blasse, durchscheinende Gestalten, die über die Gänge wandelten, durch Mauern verschwanden. Manche hatten mir fragende Blicke zugeworfen oder mich angelächelt. Ihre Seelen waren fest an diesem Ort verankert, ob durch einen traumatischen Tod oder starke emotionale Bande. Aber alles in allem schienen sie mir nicht unglücklich zu sein, sondern eher zufrieden - aus freien Stücken bleibend und nicht vom Himmel ausgeschlossen.
Doch es gab auch noch eine andere Energie in diesem Haus. Dunkel, neidvoll und gepeinigt. Sie schien nach mir zu rufen, immer öfter, immer lauter, mit ihren kalten unwirklichen Fingern nach mir zu greifen, als wolle sie mich in ihre Reihen ziehen. Sie neidete mir meine unsterbliche Natur. Dieser Neid war wie Gift, das von den Wänden sickerte und in mein Bewusstsein drang, eine kaum erträgliche Qual, die mir den Schlaf raubte, mein Glück mit Armand mehr und mehr trübte.
Ich ließ Armand in unserer geheimen Kammer tief unter dem Herrenhaus allein und durchstreifte ruhelos die unterirdischen Gewölbe, folgte dem Ruf dieser einen Stimme, die noch keine Erlösung aus dem Irdischen erfahren hatte, obwohl sie zweifellos danach strebte. Ich wollte ihr helfen, wenn ich konnte, damit sie mir meine frevelhafte Existenz vergab und mich in Ruhe ließ. Aber ich fürchtete mich auch vor dem, was sie tun würde, wenn ich ihr begegnete.
Armand gegenüber hatte ich die Geisterstimme mit keinem Wort erwähnt. Er schien sie nicht zu hören, schien auch die anderen Gespenster seines Heims nicht zu bemerken. Warum also sollte ich ihn da hineinziehen? Es war ja auch möglich, dass ich es mir nur einbildete, weil die vielen Eindrücke, die auf mich einstürmten, noch so neu und ungewohnt waren, oder weil ich selbst noch mit meiner neuen Natur haderte. Immerhin war mir der Geist, der zu dieser einen Stimme, dieser düsteren Energie gehörte, noch nicht erschienen. Und alle anderen Bewohner, sowohl lebend als tot, begegneten mir ohne Zorn oder Abneigung.
Ziellos wanderte ich in den Kellerräumen umher, las die Etiketten auf den Weinflaschen, obwohl ich nur wenig Französisch verstand, bis ich schließlich an den kleinen vergitterten Raum kam, von dem Armand mir erzählt hatte, dass sein Vater ihn als Strafzelle für seine Söhne angelegt hatte, wenn diese mal wieder ungezogen waren. Jacques de Toulourbet war ein strenger Mann gewesen, und trotzdem hatte mein Liebster ihn verehrt, zu ihm aufgesehen und versucht, in seine Fußstapfen zu treten. Bis ein Vampir ihm einen Strich durch seine Pläne und Träume machte. Armand verbrachte in seiner Jugend deutlich mehr Zeit in der Zelle als sein Bruder Gaston. Er war der Rebell, der Wildfang, der Draufgänger. Später dann ein Hitzkopf, der zu viele Duelle ausfocht, und außerdem ein Frauenheld. Schmunzelnd ließ ich meine Finger über die Gitterstäbe gleiten, die es nicht vermocht hatten, das Temperament meines Geliebten einzusperren oder auch nur zu zügeln. Die Tür schwang auf. Ich hatte das Gefühl, etwas Verbotenes zu tun, doch da mich die Neugier trieb und für einen Moment von meinen dunklen Gedanken über die Geister- stimme ablenkte, betrat ich Armands einstiges Strafquartier. Darin standen noch immer ein Tisch und ein Stuhl, wohl für die Strafarbeiten gedacht, und ein notdürftiges Bett. Hatte Jacques seine Söhne hier tatsächlich für mehrere Tage eingesperrt? Bei Wasser und Brot, wie Strafgefangene, mit Papier und Federkiel, um ihre Fehltritte niederzuschreiben und daraus zu lernen? Wie grausam.
Plötzlich fiel mit einem lauten Scheppern die Gittertür hinter mir ins Schloss. Der Riegel sprang vor, ich war gefangen. Im ersten Moment überrollte mich Panik, ich rüttelte am Gitter, doch vergebens. Dann besann ich mich meiner vampirischen Fähigkeiten und versuchte, die Tür mit der Kraft meines Geistes zu öffnen, was aber ebenso erfolglos blieb. Ein hässliches Lachen hinter mir ließ mich herumfahren. Auf dem alten Holzschemel, mit dem Rücken an die abgewetzte Oberfläche des Tisches gelehnt, saß ein Geist - Gerard. Das schwarze Schaf in der Familie und der letzte legitime Träger des Titels Toulourbet, den Armand eigenhändig ins Jenseits befördert hatte.
»Schau, schau, schau, was für ein Vögelchen da im Käfig sitzt.«
Ruhig bleiben, sagte ich zu mir selbst. Er war nur ein Geist. Er konnte mir nichts tun. Das hoffte ich zumindest.
Ich schaute mir Armands Nachfahren genauer an. In einem der Fotoalben, die wir uns angesehen hatten, war eine Sepiafotografie von ihm gewesen, dem Mann, den Armand hatte töten müssen, um das Erbe seiner Familie vor dem Bankrott zu bewahren. Von Angesicht zu Angesicht traten die vom Alkohol getrübten Augen und die aschfahle Haut noch deutlicher hervor. Das Gemälde in der Ahnengalerie, das ihn als stolzen Landedelmann zeigte, war der blanke Hohn. Für einen Geist hatte er erstaunlich viel Substanz, was im Allgemeinen auf starke Emotionen hinwies, die ihn an einen Ort oder eine Person banden. Gefühle waren das Bindeglied zwischen der Seele und der irdischen Welt. Je stärker sie waren, desto stärker war auch der Geist. Negative Gefühle wie Angst, Trauer, Hass oder Wut verliehen meist mehr Energie als Liebe oder die Sehnsucht, jemandem nahe zu bleiben. Die hinter Gerard liegende Steinmauer und der Tisch waren kaum zu erkennen, so stark konnte er sich manifestieren. Angesichts seiner Todesumstände lag die Erklärung dafür auf der Hand. Seine Aura flutete mir in einer riesigen Woge entgegen, und ich erkannte die negativen Schwingungen der gepeinigten Seele, die mir meinen Frieden raubte, weil sie selbst keinen fand. Er grinste hämisch, während er eine Münze in seiner Hand auf und ab schnippen ließ.
»Kopf oder Zahl?«, fragte er unvermittelt und mit einem sehr starken französischen Akzent.
»Wie bitte?«
»Triff deine Wahl! Wenn du gewinnst, lass ich dich gehen, wenn du verlierst, bleibst du hier in der Zelle, und dein Held sieht dich nie wieder.«
»Das glaube ich kaum. Du bist ein Geist. Und ich kann dich beim Namen nennen. Das bedeutet, du hast keine Macht über mich, Gerard.«
Da brach er in Gelächter aus. Göttin, er hatte so ein ekelhaftes Lachen, das nach Wahnsinn und Hysterie klang. Er wäre zu Lebzeiten wohl eher ein Fall für die Nervenheilanstalt gewesen. Ich konnte Armand nur recht geben, dass er dieses Subjekt getötet hatte.
»Kopf oder Zahl? Kopf oder Zahl?«, wiederholte er immer wieder, ließ die Münze springen und erhob sich von seinem Schemel, um mich lauernd zu umkreisen. Trotz meiner Überzeugung, dass er mir nichts tun konnte, machte mich sein Verhalten unruhig. Was hatte er vor? Dann war er von einer Sekunde zur anderen einfach verschwunden. Ich atmete auf. Dem Himmel sei Dank, dass der Spuk vorbei war. Doch als ich mich wieder zur Tür umdrehte, um sie zu öffnen, erhielt ich einen heftigen Schlag von hinten, der mich gegen das Gitter warf und einige Rippen knacken ließ. Schmerz und ungläubiges Entsetzen lähmten mich. Dieser Geist war offenbar zu mehr fähig, als ich angenommen hatte.
»Du kommst hier nie wieder raus, Vögelchen. Ich gewinne immer. Kopf oder Zahl?« Er lachte hämisch.
Der nächste Stoß warf mich auf die Pritsche, die unter der Wucht zusammenbrach. Ein langer Holzsplitter drang in meinen Rücken, verfehlte nur knapp mein Herz, durchbohrte stattdessen schmerzhaft meinen linken Lungenfl ügel, der sofort kollabierte, und trat vorne neben dem Brustbein wieder heraus. Ich schmeckte Blut. Die Verletzung war zum Glück nicht lebensbedrohlich, weil ich ja keinen Sauerstoff mehr brauchte. Aber auch als Vampir hatte ich einen natürlichen Atemreflex, den ich nur schwer unterdrücken konnte und der für Sprache und Geruchssinn auch unabdingbar war. Das Gefühl, Luft in einen nicht funktionstüchtigen Lungenflügel ziehen zu wollen, war scheußlich. Ich spürte die Masse aus Lungenbläschen zittern, zucken, kämpfen, um sich wieder aufzublähen. Das vampirische Blut sammelte sich in den zerstörten Alveolen, pulsierte durch die Bronchialäste, bis das Organ nach und nach wieder anfing, seine Aufgabe zu übernehmen. Jetzt reichte es aber. Entschlossen zog ich den Splitter aus meinem Brustkorb und schleuderte ihn in die Richtung, in der ich Gerards Geist vermutete. Sein Lachen erklang direkt über mir. Ich hob den Kopf und spürte im nächsten Moment seinen ätherischen Körper, der durch mein untotes Fleisch glitt und es mit tausend winzigen Nadelspitzen traktierte. Schützend schlang ich meine Arme um den Kopf und kauerte mich auf den Boden. Das Ganze konnte doch wohl nur ein Albtraum sein. Ich mochte nicht glauben, dass mir das tatsächlich widerfuhr.
»Aufhören! Hörst du? Hör sofort auf damit. Ich habe dir überhaupt nichts getan.«
Aber schon kam die nächste Attacke von der Seite. Dieses Geschöpf schien die feste Absicht zu haben, mich all die Wut und Enttäuschung, die sich in den vergangenen hundert Jahren in ihm aufgestaut hatten, fühlen zu lassen.
»Schluss damit!« Die Zellentür flog auf und zerbarst krachend an der Steinmauer. Mörtel, Gesteinsbrocken und Eisensplitter rieselten zu Boden, als Armand mit seiner Aura den ganzen Raum ausfüllte. Drohend, mächtig, unbesiegbar. »Arrête!«, wiederholte er, die Augenbrauen zusammengezogen, sodass sich eine steile Falte dazwischen gebildet hatte. Er sah Furcht einflößend aus. In seinen Augen blitzte es mordlustig, die Lippen waren zu einer schmalen Linie zusammengepresst, die Hände mit den messerscharfen Fingernägeln zu Klauen gekrümmt. »Zurück in deine Höllengruft, Gerard, oder ich beweise dir, dass auch ein Geist noch körperliche Qualen leiden kann.« Er machte einen energischen Schritt auf meinen Peiniger zu, woraufhin dieser mit einem angsterfüllten Jammerlaut durch die Steinmauer hinter der zerbrochenen Pritsche fl oh. Armand hob mich wortlos auf seine Arme und brachte mich zurück in unser Schlafquartier, ein kleines Häufchen Elend, das mit der Situation völlig überfordert war. Dort angekommen legte er mich auf das Bett und schob das blutverschmierte Shirt nach oben, um nach meiner Verletzung zu sehen. Doch die Stelle, an der mich der Splitter durchbohrt hatte, war bereits verheilt.
»Pardonne-moi! Ich hätte dich warnen sollen, dass dieses Gemäuer noch immer ein paar Geister beherbergt. Unter anderem Gerards ruhelose Seele.«
»Ich habe ihre Stimmen gehört und auch einige Geister gesehen. Aber ich hätte nicht gedacht, dass mich einer von ihnen angreifen würde.«
Er streichelte beruhigend mein Gesicht. »Das werden sie auch nicht. Sie alle sind friedlich und wollen nur in Ruhe in ihrem einstigen Zuhause verweilen. Aber Gerard war schon zu Lebzeiten ein übler Zeitgenosse. Ich hätte ihn gleich bei unserer Ankunft in seine Schranken weisen sollen. Er fürchtet mich. Aber offenbar dachte er, er könne die Gelegenheit nutzen, seinen Schabernack mit dir zu treiben.«
Schabernack war stark untertrieben. »Ich hatte eher das Gefühl, dass er die Wut, die er auf dich hat, an mir auslassen wollte. Irgendwie kenne ich das Gefühl nun zur Genüge. Würdest du mich bitte vorwarnen, falls es noch weitere Racheengel gibt, die darauf warten, eine offene Rechnung mit dir an mir zu begleichen?«
Er senkte schuldbewusst den Blick. Als Sterbliche hatte ich wahrlich genug leiden müssen, war beinah gestorben, nur weil ein anderer Vampir noch Rachegelüste für ihn empfand.
»Es wird keine weiteren Angriffe mehr geben, mon amour. Ich passe auf dich auf. Ich werde dich mit meinem Leben beschützen. Jetzt und in alle Ewigkeit.«
1
Geboren in die Nacht
An meinem 25. Geburtstag erhielt ich ein ganz besonderes Geschenk. Das Geschenk der Finsternis und des ewigen Lebens. Armand, mein Dunkler Vater und Geliebter, machte mich in den Katakomben unter Notre Dame zu einem Vampir. Es war mein eigener Wunsch. Ich war ihm gefolgt, damit er mir die Wahrheit über meine Vergangenheit sagte und mir das Dunkle Blut gab. Beides wurde mir gewährt.
Am Anfang meines unsterblichen Lebens gab es in mir nur Liebe für meinen Dunklen Vater und eine kindliche Faszination für alles um mich herum. Ich sah die Welt mit den Augen der Unsterblichkeit. Sie war mir nie schöner erschienen. Zerbrechlich. Schillernd. Unwirklich fast. Unendlich begehrenswert.
Ich ging unbeschwert an all die vielen neuen Gegebenheiten heran. Der todesähnliche Schlaf am Tage. Meine neuen Fähigkeiten: das Schweben, mich für Menschen unsichtbar machen, Dinge mit bloßer Willenskraft bewegen. Und nicht zuletzt die Jagd nach Menschenblut und der damit einhergehende Akt des Tötens.
Obwohl ich mich bemühte, nicht zu töten, sondern mich stattdessen damit begnügte, meine Opfer zu betören und in einen tranceähnlichen Zustand zu versetzen, damit ich trinken konnte, ohne sie gänzlich auszusaugen. Außerdem wählte ich nach Möglichkeit nur Mörder und Verbrecher. So musste ich mir selbst keine Vorwürfe machen, wenn ich einmal die Kontrolle verlieren und meinem Opfer das Leben nehmen sollte. Nachdem ich mir diese Regeln für die Jagd geschaffen hatte, konnte ich sehr gut damit leben, ohne von meinem Gewissen geplagt zu werden. Leidenschaft suchte ich nie dabei. Dafür hatte ich Armand.
Ich bin Blut von seinem Blut. Von Geburt an. Als Sterblicher ist er der Urahne meiner Mutter und meines Vaters. Zwei Zweige, die sich aus seinem Blut - seinem Sohn Justin - entwickelten, um bei mir wieder zusammenzulaufen. Justin war unehelich, doch Geld und Einfluss der Familie schenkten ihm trotz allem den Namen Toulourbet. Armands Verlobte Madeleine brachte ihn kurz nach der Französischen Revolution zur Welt. Sie starb bei seiner Geburt und schenkte einem ganzen Familienzweig das Leben, wenn man es so will. Sie und ich - wir gleichen uns wie ein Ei dem anderen, als seien wir Zwillinge, obwohl Jahrhunderte zwischen unser beider Leben liegen. Daher besteht auch kein Zweifel, dass ich das Bindeglied bin. Armands verlorene Tochter - sterblich wie unsterblich.
Meine Wandlung zum Bluttrinker erfolgte am 13. September 1999, zwei Jahre, nachdem Armand mich ohne mein Wissen in den Schoß meiner Familie - in die Arme meines Vaters - zurückgebracht hatte.
Mein Vater ist Franklin Smithers, Ordensleiter des Ashera- Mutterhauses Gorlem Manor in London, und somit gleich in doppelter Hinsicht »Vater«. Die ganze Wahrheit wurde mir erst während der Wandlung offenbar, doch es hätte nichts an meinem Entschluss geändert. Ob er in mir noch die Tochter sah, wenn ich als Bluttrinkerin zurückkam? Ob ich mich überhaupt wieder in die Reihen der Ashera einfinden konnte? Auf jeden Fall musste ich es versuchen.
Ende Oktober bat ich dann schließlich darum, wieder nach London zu gehen. Armand war weder überrascht, noch versuchte er, es hinauszuzögern. Wir verabschiedeten uns von seinen Angestellten und seinem Verwalter Henry und brachen in derselben Nacht auf.
Doch die Rückkehr nach London war nicht gleichbedeutend mit der Rückkehr zur Ashera. Ich hatte Angst davor, wieder ins Mutterhaus zu gehen, wenngleich die Konfrontation auf Dauer unvermeidlich war. Ich musste wissen, ob ich noch zu ihnen gehörte oder nicht. Ob ich willkommen war, oder ob mein Vater mich nie wieder sehen wollte. Und im Grunde musste ich ebenso herausfinden, ob ich überhaupt ganz und gar zurückkehren wollte.
Allein durchstreifte ich das nächtliche London, näherte mich langsam Gorlem Manor. Ob Franklin ahnte, was geschehen war? Oder Camille, meine Großtante? Sie war eine Hexe von der Göttin Gnade. Während meiner Ausbildung hatte sich eine starke mentale Bindung zwischen uns aufgebaut.
Lautlos sprang ich über die Mauer, huschte ungesehen als Schatten zwischen den alten Eichen hin und her. Den direkten Weg zum Hauptportal wollte ich nicht nehmen. Ich wollte überhaupt nicht durch die Vordertür eintreten. Ganz nah bei den Flügeltüren zu Franklins Arbeitszimmer blieb ich stehen. Drinnen brannte eine einzelne Lampe. Mein Vater saß an seinem Schreibtisch und arbeitete. Ein attraktiver Mann in den Vierzigern, der die paranormale Kraft ausstrahlte, die ihm innewohnte. Und die Essenz des vampirischen Blutes, das in seinen Zellen ruhte. Armands Blut. Nicht genug, um ihn zu verwandeln, doch ausreichend, um ihn an die Unsterblichen zu binden. Er war schön, mit hellen, sherryfarbenen Augen, einem kleinen Grübchen im Kinn, silbergrauen Strähnen im braunen Haar und dem athletischen Körper eines sehr viel jüngeren Mannes. Auch das verdankte er dem kleinen Trunk. Und ein klein wenig wohl auch seiner Eitelkeit. Jetzt runzelte er die Stirn, eine steile Falte bildete sich zwischen seinen Augenbrauen. Er blickte aus dem Fenster, in meine Richtung, nahm für einen Moment die Brille ab. Hatte er meine Gegenwart gespürt? Doch dann setzte er sie wieder auf und kehrte zu seiner Arbeit zurück.
Von einer plötzlichen, fremdartigen Mattigkeit befallen, lehnte ich mich gegen den Stamm einer Eiche und ließ meinen Blick über den Garten schweifen.
Der Brunnen mit den Skulpturen zog meinen Blick magisch an. Ich hatte ihn immer schon geliebt. Zwei Engel, die voreinander knieten, mit betend aneinandergelegten Händen und demütig gesenktem Haupt. Es war so wundervoll. Ich fühlte mich ausgeschlossen aus dieser Heiligkeit, die sie verkörperten. Der Himmel war mir für immer verwehrt. Schmerzlich berührt schloss ich die Augen.
Ich konnte Franklin atmen hören, roch seinen männlichen Duft. Gedankenfetzen trieben von ihm zu mir. Er saß über dem Abschlussbericht einer Mission in Vietnam, die erfolgreich verlaufen war. Kein Gedanke an mich. Lenkte er sich absichtlich ab? Oder hatte er mich einfach schon aus seinem Leben gestrichen? Die verlorene Tochter. Wie verloren war ich jetzt für ihn? Mehr als je zuvor. Mehr als wir beide ahnen mochten. Nein, ich gehörte nicht hierher. Hier war kein Platz mehr für mich.
»Aber trotzdem bist du zurückgekommen«, sagte jemand hinter mir.
Ich fuhr erschrocken herum und presste mich fester gegen den uralten Baum. Jenny Hawkins stand im Schatten eines anderen Baumes und sah mich furchtlos an. Der kleine blonde Engel mit den babyblauen Augen. Meine »kleine Schwester«, als ich noch hier gelebt hatte. Göttin, das war noch keine zwei Monate her. Was sah sie? Wie menschlich war ich noch für ihre feinen Sinne?
»Ich weiß, was geschehen ist«, beantwortete sie meine Frage. »Und ich habe keine Angst vor dir, Mel.«
Sie kam näher, streckte ihre kleine Hand aus und berührte meine kalte, bleiche Wange. Dann stellte sie sich auf die Zehenspitzen, beugte sich vor und gab mir einen Kuss auf den Mund. Ihr süßer Duft umgab mich. Jung und unschuldig. Ihr Blut strömte warm unter der Haut dahin. Wusste sie eigentlich, wie verlockend sie für mich war? Mir wurden die Knie weich. Ich nahm kaum noch etwas wahr, außer ihrem kindlich-reinen Aroma, das meinen Hunger anfachte.
»Du gehörst noch immer hierher. Du bist hier zu Hause. Du bist hier willkommen.«
»Bin ich das?«, fragte ich und erschrak selbst darüber, wie rau meine Stimme klang.
»Ja, das bist du. Und du bist auch noch immer seine Tochter. Er vermisst dich.«
Sie wusste es also. Wie es vermutlich alle gewusst hatten. Alle außer mir. Aber was spielte das jetzt noch für eine Rolle? Wichtig war allerdings, dass Jenny sagte, Franklin würde mich vermissen. Ich stöhnte leise. Genau das hatte ich nicht hören wollen. Es wäre so einfach gewesen, sich zu sagen, dass hier kein Platz mehr war für einen zurückkehrenden Vampir. Einfach gehen und es erst gar nicht versuchen. Aber jetzt erklärte Jenny, dass ich vermisst und erwartet wurde. Was sollte ich tun?
»Wer ist da draußen?«, erklang Franklins dunkle, warme Stimme.
Sein Timbre ließ mich angenehm erschauern. Ich kroch tiefer in die Schatten hinein, damit er mich nicht sah, doch Jenny trat selbstbewusst hervor und antwortete ihm.
»Ich bin es nur, Franklin. Ich brauchte etwas frische Luft.«
»Jenny!« Sein Tonfall war ein wenig tadelnd. So, wie er mit mir manchmal gesprochen hatte. Tadelnd, aber nachsichtig. »Es ist spät, Jenny. Du solltest schlafen gehen.«
»Ja, Franklin«, sagte sie und drückte sich an ihm vorbei.
Dabei warf sie mir heimlich einen Seitenblick zu, der mir Mut zusprechen sollte. Einen Moment schaute Franklin noch in den Garten hinaus, dann drehte auch er sich um und ging hinein. Ich nutzte die Gelegenheit, unbemerkt an ihm vorbeizuhuschen.
Sein Zimmer lag größtenteils im Schatten, da nur die Lampe auf seinem Schreibtisch brannte. Ich wartete in einer der dunklen Ecken, bis er die Tür geschlossen, den Vorhang vorgezogen und sich wieder in seinen weichen, braunen Ledersessel gesetzt hatte. Unruhig blickte er zum Fenster. Er spürte die Anwesenheit von etwas Vertrautem und doch Fremdartigem. Etwas, das er kannte, ihm aber gleichsam auch neu war. Er spürte mich.
»Guten Abend, Vater«, sagte ich und trat einen Schritt vor.
Er zuckte zusammen, wollte aufspringen, sank aber mit einem gequälten Laut wieder zurück, als er mich sah.
Er erkannte es sofort, hatte es schon nach meinem Brief geahnt. Dem Brief aus Miami, kurz bevor ich in die Maschine nach Paris gestiegen war, um Armand wiederzufi n- den. Und mein Schicksal.
Jetzt sah er es im fluoreszierenden Leuchten meiner Augen, dem hungrigen Flackern darin. An den spitzen, gläsern wirkenden Fingernägeln und vor allem an der Blässe meiner Haut. So weiß, fast durchscheinend, dass man die bläulichen Adern darunter erahnen konnte. Für eine Sekunde stockte ihm der Atem.
Ich wartete, was er wohl sagen mochte. Was er empfand. Der erste Schock ging schnell vorüber. Es gab keine Vorwürfe, keine Fragen nach dem Warum.
»Also sollte es wohl so sein. Kommst du nach Hause, oder kommst du nur, um Abschied zu nehmen?«
»Ich weiß nicht, ob ich hier noch willkommen bin.«
Er grollte mir nicht. Er hatte es immer kommen sehen, hatte versucht, es zu verhindern und war gescheitert. Die Tatsache selbst traf ihn gar nicht so sehr. Allein mein Anblick, zum ersten Mal als Vampir, war es, der ihn ein bisschen ins Wanken brachte. Er zitterte leicht, mochte es kaum glauben, doch dann fasste er sich wieder.
»Du weißt es also nun?«
Ich nickte. »Warum hast du es mir nicht gesagt?« Meine Stimme klang kläglich und schwach. Schmerz und Tränen schwangen darin mit. Die letzten Spuren der Enttäuschung über seine Lügen.
»Was hätte ich dir sagen sollen?«, stöhnte er wie unter Schmerzen. »Dass ich dein Vater bin? Oder dass ich den Vater deiner Mutter aus purer Machtgier habe töten lassen? Ich konnte dir nichts sagen.« Als ich nur fragend in sein Gesicht blickte, fuhr er sich mit der Zunge über die Lippen. Er wusste, er war mir eine Erklärung für sein Verhalten schuldig. »Ich durfte einfach nicht. Armand hat mich vor die Wahl gestellt. Entweder mein Schweigen oder die ganze Wahrheit. Er hat mich damit erpresst. Wenn ich
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Autoren-Porträt von Tanya Carpenter
Tanya Carpenter, gelernte Bankkauffrau, arbeitet als Vertriebsassistentin, wenn sie nicht ihrer wahren Berufung, dem Schreiben, nachgeht.
Bibliographische Angaben
- Autor: Tanya Carpenter
- 2010, 479 Seiten, Maße: 11,8 x 18,6 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Diana
- ISBN-10: 3453354877
- ISBN-13: 9783453354876
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