Entrissen
Der Serienkiller (oder die Killerin?) hat zum dritten Mal zugeschlagen. Die Wohnung ist in Blut getränkt, die Tote - eine hochschwangere junge Frau - liegt gefesselt in ihrem Bett. Das Baby aber ist verschwunden.
Die Zeit...
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Produktinformationen zu „Entrissen “
Der Serienkiller (oder die Killerin?) hat zum dritten Mal zugeschlagen. Die Wohnung ist in Blut getränkt, die Tote - eine hochschwangere junge Frau - liegt gefesselt in ihrem Bett. Das Baby aber ist verschwunden.
Die Zeit drängt extrem, denn das dem Mutterleib entrissene Kind könnte noch leben. Bald bringen die Ermittler die Tat mit zwei früheren Fällen in Verbindung, bei denen ebenfalls Schwangere getötet wurden, allerdings ohne dass die Babys geraubt worden wären. Detective Inspector Phil Brennan zieht die Psychologin und Profilerin Marina Esposito hinzu, die ihn schon einmal unterstützt hatte und mit der er damals in eine Beziehung geschlittert war. Was er nicht weiß: Marina ist selbst schwanger und sie steht auf der Liste des Täters.
"Wer Thriller wie 'Sieben' oder 'Das Schweigen der Lämmer' mochte, wer ein echter Horrorfan ist, dem wird dieser Roman sicherlich gefallen."
NDR 2
Die Autorin, Tania Carver, landete gleich mit ihrem ersten Thriller einen vollen Erfolg. Sie lebt mit ihrem Mann und zwei Kindern in Südengland.
Lese-Probe zu „Entrissen “
Entrissen von Tanya Carver1
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Es klopfte an der Tür.
Claire Fielding und Julie Simpson tauschten einen überraschten Blick. Claire wollte aufstehen.
»Bleib sitzen«, sagte Julie. »Ich gehe schon.« Sie erhob sich vom Sofa und durchquerte das Wohnzimmer. »Wahrscheinlich hat Geraint bloß was vergessen. Wie üblich.«
Claire schmunzelte. »Oder er hat seine Meinung geändert und will mir seine Desperate-Housewives-DVD doch nicht ausleihen.«
Lachend verschwand Julie im Flur. Claire setzte sich bequemer zurecht, lehnte sich in die Polster zurück und betrachtete die Geschenke auf dem Couchtisch: Strampler und andere Babybekleidung. Elternratgeber. Spielzeuge aus Plüsch. Und jede Menge Glückwunschkarten. Ursprünglich war Claire der Meinung gewesen, dass es Unglück brachte, die Geschenke schon vor der Geburt zu öffnen, aber die anderen hatten darauf bestanden. Also hatte sie nachgegeben und ihre anfänglichen Zweifel bald darauf vergessen.
Sie rutschte hin und her, um eine Sitzposition zu finden, in der ihr Körpergewicht sie nicht allzu sehr belastete. Dann strich sie sich über den riesigen Bauch. Nicht mehr lange. Sie beugte sich vor und nahm sich, ächzend vor Anstrengung, das Glas mit Fruchtlimonade vom Tisch. Sie trank einen Schluck und stellte es zurück. Dazu einen kleinen Zwiebel-Bhaji. Sie hatte einige Schauergeschichten gehört über Frauen, die sich während der Schwangerschaft andauernd übergeben mussten, weil sie nichts mehr vertrugen. Dieses Problem hatte Claire nicht, sie hatte Glück gehabt. Wahrscheinlich zu viel Glück, dachte sie und tätschelte ihren Bauch. Sie hoffte, dass ausschließlich das Baby dafür verantwortlich war, glaubte aber nicht recht daran. Manchmal wünschte sie sich, wie eine dieser Promifrauen zu sein - Posh Beckham oder Angelina Jolie -, die vier Tage nach der Entbindung schon wieder ihre alte Figur zurückhatten. Natürlich behaupteten solche Frauen immer, das allein durch Diäten und Sport geschafft zu haben, aber Claire war sich ziemlich sicher, dass Chirurgen dabei ihre Hand im Spiel hatten. Wie auch immer. Das wahre Leben sah anders aus - zumindest für Claire -, und sie hatte sich darauf eingestellt, dass sie hart würde trainieren müssen, wenn sie nach der Geburt wieder so aussehen wollte wie früher. Aber sie würde es schaffen. Und dann würde sie ein neues Leben beginnen. Nur sie und das Baby.
Die Angst und Depressionen der letzten Zeit gehörten endgültig der Vergangenheit an. Die Tränen, das Gefühl von Verlust - all das lag hinter ihr, sie hatte damit abgeschlossen. Inzwischen kam es ihr fast so vor, als seien all diese Dinge jemand anderem passiert. Sie hatte einiges durchstehen müssen, ja, aber die bitteren Erfahrungen waren nicht umsonst gewesen. Denn jetzt hatte sie das Baby.
Wieder lächelte Claire. Es mochte sein, dass sie irgendwann in ihrem Leben schon einmal glücklicher gewesen war, aber sie konnte sich nicht daran erinnern, wann. Auf jeden Fall musste es sehr, sehr lange her sein.
Plötzlich hörte sie Geräusche aus dem Flur.
»Julie?«
Dumpfe Schläge gegen die Wand, dann ein Knall und Geräusche, die klangen, als würde jemand in ihrem Flur Fußball spielen oder einen Ringkampf veranstalten.
Oder wie ein Handgemenge.
Ein Schauer jagte Claire über den Rücken. Oh nein. Alles, nur das nicht. Nicht er, nicht jetzt ...
»Julie ... «
Diesmal war in Claires Stimme ein Anfl ug von Panik zu hören. Ein weiterer dumpfer Schlag, dann Stille.
»Julie?«
Keine Antwort.
Unter großen Mühen gelang es Claire, sich von der Couch zu erheben. Vor Anstrengung wurde ihr einen Moment lang schwindlig, doch davon ließ sie sich nicht beirren. Sie nahm ihr Handy vom Couchtisch, verließ das Wohnzimmer und trat in den Flur hinaus. Sie ahnte, wen sie dort vorfi nden würde, und war bereit, Hilfe zu rufen. Wenn nötig, auch die Polizei. Alles, solange sie ihn nur schnell wieder loswurde.
Sie bog um die Ecke. Und blieb wie angewurzelt stehen, den Mund weit aufgerissen. Sie hatte Schlimmes erwartet. Aber das, was sie vor sich sah, gewiss nicht. Niemals.
Es war so grauenvoll, dass ihr Gehirn sich weigerte, die Szene, die sich ihr bot, überhaupt zu verarbeiten. Sekundenlang stand Claire einfach nur da, starr und fassungslos.
»Julie ... «
Dann erst bemerkte sie die Gestalt, die über ihre beste Freundin gebeugt dastand, und langsam begann sie zu begreifen. Sie begriff, dass ihr normales Leben mit dem Klopfen an der Tür ein jähes Ende gefunden hatte. Das, worin sie sich jetzt wiederfand, war etwas ganz anderes. Ein Alptraum.
Die Gestalt erblickte sie und lächelte.
Claire sah die Klinge im Licht der Flurlampe aufblitzen. Blut tropfte von ihr auf den Holzfußboden. Sie versuchte wegzulaufen, aber ihre Beine versagten ihr den Dienst. Sie wollte schreien, aber sie konnte es nicht. Das Handy entglitt ihren Fingern. Sie stand einfach nur da, unfähig, sich zu rühren.
Mit einem Satz war die Gestalt bei ihr.
Ein Faustschlag, und alles wurde schwarz.
Claire öffnete die Augen und versuchte sich aufzusetzen. Vergeblich. Sie konnte sich nicht bewegen. Arme, Hände, Rücken - alles war wie gelähmt. Die Augen fielen ihr wieder zu. Selbst ihre Lider fühlten sich schwer an. So schrecklich schwer ... Es gelang ihr, sie auseinanderzuzwingen, aber sie offen zu halten kostete enorme Anstrengung.
Unfähig, den Kopf nach rechts oder links zu drehen, konnte sie nur nach oben starren. Sie erkannte die Decke ihres Schlafzimmers. Das Licht der Deckenlampe blendete sie. Claire blinzelte, aber sobald ihre Lider einmal zugefallen waren, wollten sie sich einfach nicht wieder öffnen. Sie wusste instinktiv, dass das nicht gut war, also riss sie die Augen mühsam wieder auf, trotz des gleißenden Lichts.
Sie versuchte zu begreifen, was los war. An der Wand bewegte sich ein Schatten, riesig und drohend wie ein Ungeheuer aus einem alten Horrorfi lm. Da die Person sich außerhalb ihres Blickfelds befand, konnte sie nicht sehen, womit sie beschäftigt war.
Plötzlich fiel Claire wieder ein, was geschehen war. Die Gestalt im Flur, der Angriff. Und Julie. Julie ...
Sie öffnete den Mund, versuchte zu schreien. Kein Laut kam heraus. Eine Welle der Panik überrollte sie. Sie schien gelähmt zu sein. Man musste ihr Drogen verabreicht haben. Sie spürte, wie ihre Lider sich unaufhaltsam wieder senkten. Zwang sie erneut auf. Es war ein Kampf, der schwerste ihres Lebens, aber sie durfte nicht zulassen, dass sie sich schlossen. Sie wusste, wenn das passierte, dann war sie tot.
Wieder versuchte sie, ihre Lippen zu bewegen, einen Laut von sich zu geben, um Hilfe zu rufen. Doch wie sehr sie sich auch bemühte - ihr ganzer Kopf schien von ihren gellenden Schreien widerzuhallen -, alles, was über ihre Lippen kam, war ein Winseln wie von einem Welpen.
Sie sah, wie der Schatten sich auf sie zubewegte.
Nein, nicht ... lass mich, bleib weg von mir, fass mich nicht an, fass mich nicht an ...
Es nützte nichts. Davon tat ihr nur der Kopf weh und ihre Ohren dröhnten.
Wieder spürte Claire, wie es ihre Augenlider nach unten zog. Verzweifelt kämpfte sie, um sie offen zu halten. Es wurde mit jedem Mal schwieriger. Genau wie das Atmen. Mit jedem vergifteten Atemzug, den sie nahm, ließen ihre Lungen mehr nach. Panik und Furcht trugen dazu bei, dass ihr wild pochendes Herz die lähmende Droge schneller durch ihren Körper pumpte. Sie wusste, dass ihr nicht mehr viel Zeit blieb.
Jemand muss mir helfen ... bitte ... die Tür aufbrechen, Hilfe ...
Die schattenhafte Gestalt tauchte über ihr auf und verdeckte das Licht der Lampe. Zu Claires Angst und Panik kam zusätzlich noch Verwirrung. Wer war das? Warum tat er ihr das an?
Dann sah sie das Messer. Und begriff.
Nein. Nicht mein Baby ... bitte, nicht mein Baby ...
Die Gestalt beugte sich über sie. Ein Lichtrefl ex blitzte über die rasiermesserscharfe Klinge.
Nein ... Hilfe, lieber Gott, so hilf mir doch jemand ... Setzte den ersten Schnitt.
Claire spürte nichts. Sah bloß den grotesk verzerrten Schatten des Eindringlings an der Decke und wie sein Arm sich hin und her bewegte.
Bitte nicht ... bitte, so hilf mir doch jemand, Hilfe, nein ... Schließlich richtete sich die Gestalt auf. Sie lächelte und hielt etwas Rotes, Blutiges in den Händen.
Nein ...
Ein weiteres Lächeln, und das rote, blutige Etwas verschwand aus Claires Gesichtsfeld. Sie konnte nicht schreien, sich nicht rühren. Sie konnte nicht einmal weinen.
Der Schatten bewegte sich in Richtung Tür, dann war er verschwunden. Claire war allein. Sie schrie und kreischte lautlos. Sie versuchte, die Arme zu heben, die Beine zu bewegen - vergeblich. Die Anstrengung war zu groß. Selbst das Luftholen wurde allmählich zur Qual.
Sie spürte, wie ihre Atemzüge flacher wurden. Ihre Lider sich erneut senkten. Sie hörte, wie das Blut langsamer durch ihre Adern gepumpt wurde, immer langsamer ...
Ein letztes Mal versuchte Claire, dagegen anzukämpfen, aber es war sinnlos. Ihr Körper gab auf. Und sie hatte nicht die Kraft, ihn daran zu hindern.
Claires Lunge füllte sich nicht mehr mit Luft, ihr Herz hörte auf zu schlagen.
Ihre Augen schlossen sich ein letztes Mal.
2
Detective Inspector Philip Brennan, Chefermittler bei der Abteilung für Kapitalverbrechen der Polizei von Colchester, stand am Tor zur Hölle. Er streifte sich ein Paar Latexhandschuhe über und zog sich die Kapuze seines knisternden Papieroveralls über den Kopf. Er musste nur das gelbe Absperrband beiseiteziehen und darunter durchschlüpfen, und schon hätte er die Grenze zwischen Ordnung und Chaos überschritten. Die Grenze zwischen Leben und Tod.
Er hob das Band an und duckte sich darunter durch. So viel Blut ...
Hinter ihm schnappte das Band wieder in seine ursprüngliche Höhe. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Er ließ die Szene auf sich wirken und wusste, dass er dieses Apartment erst würde hinter sich lassen können, wenn er denjenigen gefasst hatte, der für das Geschehen hier die Verantwortung trug. Und vielleicht nicht einmal dann.
Der Flur sah aus wie ein Schlachthaus. An Wänden und Boden war so viel Blut, als hätte jemand mehrere Liter roter Farbe aus großer Höhe fallen lassen, die überallhin gespritzt war und sich beim Trocknen in einen rostigen Braunton verwandelt hatte. Aber Farbe roch nicht so. Nach Kupfer und ranzigem Fleisch. Phil zwang sich, durch den Mund zu atmen, aber er schmeckte es sogar auf seiner Zunge. Der Schweiß, der auf seinem Körper juckte, ließ sein Unbehagen noch anwachsen.
»Kann irgendjemand die Heizung abstellen?«, rief er laut.
In weiße Overalls gehüllte Menschen bewegten sich durch die Wohnung und gingen konzentriert ihrer Arbeit nach. Phil fiel auf, dass einige von ihnen Papiertüten hielten, die immer dann ausgeteilt wurden, wenn zu befürchten war, dass sich jemand übergeben musste. Sie sollten verhindern, dass das Erbrochene den Tatort verunreinigte. Einige der Tüten waren bereits gefüllt. Einer der Polizisten reagierte auf Phils Bitte und ging los, um den Thermostat zu suchen.
Die Leiche lag noch im Flur. Die Spurensicherung war bereits fertig mit ihr, und sie konnte zur Autopsie in die Gerichtsmedizin gebracht werden. Vorerst jedoch hatte man sie an Ort und Stelle liegen lassen, damit Phil sich ein genaues Bild vom Tatort machen und auf diese Weise vielleicht einen Ansatzpunkt für seine Ermittlungen finden konnte.
Er blickte nach unten und schluckte schwer. Eine Frau lag dort, die Gliedmaßen seltsam verrenkt, die Arme ausgestreckt, als wolle sie nach etwas greifen oder als hätte sie versucht, den letzten Atemzug einzufangen, der ihren Körper verließ. Sie trug Jeans und T-Shirt, und ein tiefer Schnitt hatte ihr sowohl die Drosselvene als auch die Halsschlagader an beiden Seiten des Halses durchtrennt. Die Schlieren, die ihre Arme in der Blutlache auf dem Dielenboden hinterlassen hatten, ließen den Schluss zu, dass ihr Tod qualvoll gewesen sein musste. Sie sahen aus wie blutige Engelsfl ügel.
Phil wandte sich an einen Mann von der Spurensicherung, der rechts neben ihm stand.
»Kann ich nach hinten durch?«
Der Mann nickte. »Ich glaube, wir haben alles, was wir brauchen.«
»Fotos?«
Der Mann nickte wieder.
Vorsichtig, damit er kein Blut in die übrigen Räume trug, machte Phil einen Schritt über die Leiche hinweg. Die Tür zum Schlafzimmer stand offen. Er ging darauf zu, blickte hinein, und augenblicklich drehte sich ihm der Magen um.
»Oh Gott. Das ist ja entsetzlich ... «
Eine Gestalt im weißen Anzug hatte Phil gehört. Sie löste sich aus der Gruppe am anderen Ende des Flurs und kam zu ihm. »Als wäre es jemals nicht entsetzlich.«
»Aber so schlimm wie das ... « Der Geruch war hier noch durchdringender. Phil konnte ihn nicht beschreiben. Er war Leben, er war Tod. Er war all das, was den menschlichen Körper ausmachte. Wer ihn einmal gerochen hatte, vergaß ihn nie. Und Phil hatte ihn schon oft gerochen.
Während er die Leiche auf dem Bett ansah, spürte er, wie sich seine Brust zusammenzog und seine Arme zu zittern begannen. Nein. Dies war nicht der Zeitpunkt für eine Panikattacke. Er atmete tief durch den Mund ein und aus und kämpfte mit aller Macht gegen die aufsteigende Angst, bis seine Atmung ihren normalen Rhythmus wiedergefunden hatte. Benimm dich gefälligst wie ein Polizist, sagte er sich. Es ist deine Aufgabe, Ordnung in dieses Chaos zu bringen.
Der Mann, der neben ihn getreten war, war Detective Sergeant Clayton Thompson, ein Mitglied aus Phils Team. Er war groß und attraktiv, und das Weiß der Kapuze betonte seine sonnengebräunte Haut. Das selbstgefällige Grinsen, das er üblicherweise zeigte, hatte einem konzentrierten Stirnrunzeln Platz gemacht. »Sorry, Boss. Wir hätten warten sollen, bis Sie da sind, bevor wir reingehen.«
Phil legte stets großen Wert darauf, sein gesamtes Team um sich zu haben, bevor er einen Tatort inspizierte. So konnte jeder seinen ersten Eindruck sofort mit den anderen teilen, und alle hatten eine gemeinsame Ausgangsbasis. Da¬her war er ein wenig verstimmt, dass Clayton nicht auf ihn gewartet hatte, doch angesichts der ernsten Lage war seine Entscheidung nachvollziehbar.
»Wo ist Anni?«, wollte er wissen.
Als Antwort auf seine Frage tauchte im Rahmen der Bade¬zimmertür ein Kopf auf.
»Hier, Boss.« Detective Constable Anni Hepburn war klein, schlank und hatte kurze, nach allen Seiten abstehende Haare, deren Farbe ständig wechselte, die aber immer in leb¬haftem Kontrast zu ihrer dunklen Haut stand. An diesem Tag waren die Strähnen, die unter dem Rand ihrer Kapuze her¬vorlugten, größtenteils blond. Sie warf Clayton einen ver¬stohlenen Seitenblick zu. »'tschuldigung, wir hätten auf Sie warten sollen, aber die von der Kriminaltechnik haben ge¬sagt ...«
Phil hob eine Hand. »Jetzt sind wir ja alle hier. Lassen Sie uns anfangen.«
Wieder sahen sich Clayton und Anni an. Nur flüchtig, aber Phil entging es dennoch nicht. Er vermochte den Blick nicht recht zu interpretieren, hoffte aber, dass er nicht das be¬deutete, was er befürchtete. Er wusste nur zu gut, wie viel weibliche Aufmerksamkeit Clayton zuteil wurde - eine Tat¬sache, die dieser zur Genüge auszunutzen verstand. Aber bitte nicht mit Mitgliedern seines Teams. Nicht mit Anni.
Phil schob den Gedanken beiseite. Jetzt war kaum der geeignete Zeitpunkt, um sich über so etwas den Kopf zu zer¬brechen. Sie hatten jede Menge Arbeit vor sich.
Phil ging zurück ins Schlafzimmer. Die Leute von der Kri¬minaltechnik hatten ihre Bogenlampen aufgebaut und auf das Bett in der Mitte ausgerichtet, welches durch das gleißende Licht etwas Unwirkliches bekam, wie eine Filmkulisse oder ein Bühnenbild im Theater. Die Männer bewegten sich in gedrücktem, beinahe ehrfürchtigem Schweigen durch den Raum, bückten sich hin und wieder, um etwas konzentriert zu betrachten, nahmen Abstriche und füllten Tütchen mit Proben, die sie in Koffern verstauten. Wie Inspizienten oder Requisiteure, die vor einer Aufführung ein letztes Mal alles überprüften.
Oder Gläubige vor einem Opferaltar, dachte Phil. Auf dem Bett lag eine Frau, nackt, die Beine gespreizt, Hand- und Fußgelenke ans metallene Bettgestell gefesselt. Ihr Bauch war aufgeschlitzt, ihre Augen waren nach oben verdreht, als wären sie vor dem Grauen gefl üchtet, das sie hatten mit ansehen müssen.
Phil musste schlucken. Die Leiche im Flur war schlimm genug gewesen, aber diese hier drohte ihn zum zweiten Mal mit der Tasse Kaffee und den zwei Scheiben Vollkorntoast bekannt zu machen, die er zum Frühstück gegessen hatte. Genau das, was er an einem Dienstagmorgen brauchte.
»Horror«, entschlüpfte es Clayton.
»Wir sind hier in Colchester«, sagte Anni kopfschüttelnd. Die anderen beiden sahen sie an. Sie war sichtlich erschüttert. »So was wie das gibt es bei uns doch gar nicht. Was zum Teufel ist hier los?«
Clayton war anzusehen, dass ihm bereits eine Erwiderung auf der Zunge lag. Phil spürte, dass seine Kollegen zu persönlich auf den Fall reagierten, er musste dafür sorgen, dass sie professionell blieben. »Also gut«, sagte er. »Was wissen wir?«
Anni war mit einem Schlag wieder bei der Sache, ließ eine Hand in ihrem Papieroverall verschwinden, zog ein Notiz buch hervor und klappte es auf. Phil war stolz, dass es Anni gelang, sofort umzuschalten.
»Die Wohnung gehört einer Claire Fielding«, begann sie. »Grundschullehrerin. Unterrichtet an einer Schule in Lexden.«
Phil nickte, den Blick unverwandt aufs Bett gerichtet. »Freund? Ehemann?«
»Freund. Wir haben den Anrufbeantworter und ihren Terminkalender überprüft, und es scheint ganz so, als hätten wir schon einen Namen. Ryan Brotherton. Soll ich mich drum kümmern?«
»Lassen Sie uns zuerst hier weitermachen. Irgendeine Ahnung, wer die Leiche im Flur ist?«
»Sie heißt Julie Simpson«, meldete sich nun Clayton zu Wort. »Ebenfalls Lehrerin, eine Kollegin von Claire Fielding. Ihr Ehemann hat sich mit uns in Verbindung gesetzt.«
»Weil sie gestern Abend nicht nach Hause gekommen ist?«, fragte Phil.
»Genau. Er hat vergeblich auf sie gewartet und schließlich die Polizei gerufen. Da war es schon weit nach Mitternacht. Anscheinend hat hier gestern Abend irgendeine Party stattgefunden. Er hat versucht anzurufen, aber es hat niemand abgenommen. Angeblich ist sie nicht die Art von Frau, die über die Stränge schlägt.«
»Jedenfalls nicht, wenn sie am nächsten Tag Unterricht hat«, fügte Anni hinzu.
»Hat er schon eine Aussage gemacht?«, wollte Phil wissen. Clayton nickte. »Am Telefon. Er war ziemlich durch den Wind.«
»In Ordnung. Wir müssen später noch mal mit ihm reden.«
Es klopfte an der Tür.
Claire Fielding und Julie Simpson tauschten einen überraschten Blick. Claire wollte aufstehen.
»Bleib sitzen«, sagte Julie. »Ich gehe schon.« Sie erhob sich vom Sofa und durchquerte das Wohnzimmer. »Wahrscheinlich hat Geraint bloß was vergessen. Wie üblich.«
Claire schmunzelte. »Oder er hat seine Meinung geändert und will mir seine Desperate-Housewives-DVD doch nicht ausleihen.«
Lachend verschwand Julie im Flur. Claire setzte sich bequemer zurecht, lehnte sich in die Polster zurück und betrachtete die Geschenke auf dem Couchtisch: Strampler und andere Babybekleidung. Elternratgeber. Spielzeuge aus Plüsch. Und jede Menge Glückwunschkarten. Ursprünglich war Claire der Meinung gewesen, dass es Unglück brachte, die Geschenke schon vor der Geburt zu öffnen, aber die anderen hatten darauf bestanden. Also hatte sie nachgegeben und ihre anfänglichen Zweifel bald darauf vergessen.
Sie rutschte hin und her, um eine Sitzposition zu finden, in der ihr Körpergewicht sie nicht allzu sehr belastete. Dann strich sie sich über den riesigen Bauch. Nicht mehr lange. Sie beugte sich vor und nahm sich, ächzend vor Anstrengung, das Glas mit Fruchtlimonade vom Tisch. Sie trank einen Schluck und stellte es zurück. Dazu einen kleinen Zwiebel-Bhaji. Sie hatte einige Schauergeschichten gehört über Frauen, die sich während der Schwangerschaft andauernd übergeben mussten, weil sie nichts mehr vertrugen. Dieses Problem hatte Claire nicht, sie hatte Glück gehabt. Wahrscheinlich zu viel Glück, dachte sie und tätschelte ihren Bauch. Sie hoffte, dass ausschließlich das Baby dafür verantwortlich war, glaubte aber nicht recht daran. Manchmal wünschte sie sich, wie eine dieser Promifrauen zu sein - Posh Beckham oder Angelina Jolie -, die vier Tage nach der Entbindung schon wieder ihre alte Figur zurückhatten. Natürlich behaupteten solche Frauen immer, das allein durch Diäten und Sport geschafft zu haben, aber Claire war sich ziemlich sicher, dass Chirurgen dabei ihre Hand im Spiel hatten. Wie auch immer. Das wahre Leben sah anders aus - zumindest für Claire -, und sie hatte sich darauf eingestellt, dass sie hart würde trainieren müssen, wenn sie nach der Geburt wieder so aussehen wollte wie früher. Aber sie würde es schaffen. Und dann würde sie ein neues Leben beginnen. Nur sie und das Baby.
Die Angst und Depressionen der letzten Zeit gehörten endgültig der Vergangenheit an. Die Tränen, das Gefühl von Verlust - all das lag hinter ihr, sie hatte damit abgeschlossen. Inzwischen kam es ihr fast so vor, als seien all diese Dinge jemand anderem passiert. Sie hatte einiges durchstehen müssen, ja, aber die bitteren Erfahrungen waren nicht umsonst gewesen. Denn jetzt hatte sie das Baby.
Wieder lächelte Claire. Es mochte sein, dass sie irgendwann in ihrem Leben schon einmal glücklicher gewesen war, aber sie konnte sich nicht daran erinnern, wann. Auf jeden Fall musste es sehr, sehr lange her sein.
Plötzlich hörte sie Geräusche aus dem Flur.
»Julie?«
Dumpfe Schläge gegen die Wand, dann ein Knall und Geräusche, die klangen, als würde jemand in ihrem Flur Fußball spielen oder einen Ringkampf veranstalten.
Oder wie ein Handgemenge.
Ein Schauer jagte Claire über den Rücken. Oh nein. Alles, nur das nicht. Nicht er, nicht jetzt ...
»Julie ... «
Diesmal war in Claires Stimme ein Anfl ug von Panik zu hören. Ein weiterer dumpfer Schlag, dann Stille.
»Julie?«
Keine Antwort.
Unter großen Mühen gelang es Claire, sich von der Couch zu erheben. Vor Anstrengung wurde ihr einen Moment lang schwindlig, doch davon ließ sie sich nicht beirren. Sie nahm ihr Handy vom Couchtisch, verließ das Wohnzimmer und trat in den Flur hinaus. Sie ahnte, wen sie dort vorfi nden würde, und war bereit, Hilfe zu rufen. Wenn nötig, auch die Polizei. Alles, solange sie ihn nur schnell wieder loswurde.
Sie bog um die Ecke. Und blieb wie angewurzelt stehen, den Mund weit aufgerissen. Sie hatte Schlimmes erwartet. Aber das, was sie vor sich sah, gewiss nicht. Niemals.
Es war so grauenvoll, dass ihr Gehirn sich weigerte, die Szene, die sich ihr bot, überhaupt zu verarbeiten. Sekundenlang stand Claire einfach nur da, starr und fassungslos.
»Julie ... «
Dann erst bemerkte sie die Gestalt, die über ihre beste Freundin gebeugt dastand, und langsam begann sie zu begreifen. Sie begriff, dass ihr normales Leben mit dem Klopfen an der Tür ein jähes Ende gefunden hatte. Das, worin sie sich jetzt wiederfand, war etwas ganz anderes. Ein Alptraum.
Die Gestalt erblickte sie und lächelte.
Claire sah die Klinge im Licht der Flurlampe aufblitzen. Blut tropfte von ihr auf den Holzfußboden. Sie versuchte wegzulaufen, aber ihre Beine versagten ihr den Dienst. Sie wollte schreien, aber sie konnte es nicht. Das Handy entglitt ihren Fingern. Sie stand einfach nur da, unfähig, sich zu rühren.
Mit einem Satz war die Gestalt bei ihr.
Ein Faustschlag, und alles wurde schwarz.
Claire öffnete die Augen und versuchte sich aufzusetzen. Vergeblich. Sie konnte sich nicht bewegen. Arme, Hände, Rücken - alles war wie gelähmt. Die Augen fielen ihr wieder zu. Selbst ihre Lider fühlten sich schwer an. So schrecklich schwer ... Es gelang ihr, sie auseinanderzuzwingen, aber sie offen zu halten kostete enorme Anstrengung.
Unfähig, den Kopf nach rechts oder links zu drehen, konnte sie nur nach oben starren. Sie erkannte die Decke ihres Schlafzimmers. Das Licht der Deckenlampe blendete sie. Claire blinzelte, aber sobald ihre Lider einmal zugefallen waren, wollten sie sich einfach nicht wieder öffnen. Sie wusste instinktiv, dass das nicht gut war, also riss sie die Augen mühsam wieder auf, trotz des gleißenden Lichts.
Sie versuchte zu begreifen, was los war. An der Wand bewegte sich ein Schatten, riesig und drohend wie ein Ungeheuer aus einem alten Horrorfi lm. Da die Person sich außerhalb ihres Blickfelds befand, konnte sie nicht sehen, womit sie beschäftigt war.
Plötzlich fiel Claire wieder ein, was geschehen war. Die Gestalt im Flur, der Angriff. Und Julie. Julie ...
Sie öffnete den Mund, versuchte zu schreien. Kein Laut kam heraus. Eine Welle der Panik überrollte sie. Sie schien gelähmt zu sein. Man musste ihr Drogen verabreicht haben. Sie spürte, wie ihre Lider sich unaufhaltsam wieder senkten. Zwang sie erneut auf. Es war ein Kampf, der schwerste ihres Lebens, aber sie durfte nicht zulassen, dass sie sich schlossen. Sie wusste, wenn das passierte, dann war sie tot.
Wieder versuchte sie, ihre Lippen zu bewegen, einen Laut von sich zu geben, um Hilfe zu rufen. Doch wie sehr sie sich auch bemühte - ihr ganzer Kopf schien von ihren gellenden Schreien widerzuhallen -, alles, was über ihre Lippen kam, war ein Winseln wie von einem Welpen.
Sie sah, wie der Schatten sich auf sie zubewegte.
Nein, nicht ... lass mich, bleib weg von mir, fass mich nicht an, fass mich nicht an ...
Es nützte nichts. Davon tat ihr nur der Kopf weh und ihre Ohren dröhnten.
Wieder spürte Claire, wie es ihre Augenlider nach unten zog. Verzweifelt kämpfte sie, um sie offen zu halten. Es wurde mit jedem Mal schwieriger. Genau wie das Atmen. Mit jedem vergifteten Atemzug, den sie nahm, ließen ihre Lungen mehr nach. Panik und Furcht trugen dazu bei, dass ihr wild pochendes Herz die lähmende Droge schneller durch ihren Körper pumpte. Sie wusste, dass ihr nicht mehr viel Zeit blieb.
Jemand muss mir helfen ... bitte ... die Tür aufbrechen, Hilfe ...
Die schattenhafte Gestalt tauchte über ihr auf und verdeckte das Licht der Lampe. Zu Claires Angst und Panik kam zusätzlich noch Verwirrung. Wer war das? Warum tat er ihr das an?
Dann sah sie das Messer. Und begriff.
Nein. Nicht mein Baby ... bitte, nicht mein Baby ...
Die Gestalt beugte sich über sie. Ein Lichtrefl ex blitzte über die rasiermesserscharfe Klinge.
Nein ... Hilfe, lieber Gott, so hilf mir doch jemand ... Setzte den ersten Schnitt.
Claire spürte nichts. Sah bloß den grotesk verzerrten Schatten des Eindringlings an der Decke und wie sein Arm sich hin und her bewegte.
Bitte nicht ... bitte, so hilf mir doch jemand, Hilfe, nein ... Schließlich richtete sich die Gestalt auf. Sie lächelte und hielt etwas Rotes, Blutiges in den Händen.
Nein ...
Ein weiteres Lächeln, und das rote, blutige Etwas verschwand aus Claires Gesichtsfeld. Sie konnte nicht schreien, sich nicht rühren. Sie konnte nicht einmal weinen.
Der Schatten bewegte sich in Richtung Tür, dann war er verschwunden. Claire war allein. Sie schrie und kreischte lautlos. Sie versuchte, die Arme zu heben, die Beine zu bewegen - vergeblich. Die Anstrengung war zu groß. Selbst das Luftholen wurde allmählich zur Qual.
Sie spürte, wie ihre Atemzüge flacher wurden. Ihre Lider sich erneut senkten. Sie hörte, wie das Blut langsamer durch ihre Adern gepumpt wurde, immer langsamer ...
Ein letztes Mal versuchte Claire, dagegen anzukämpfen, aber es war sinnlos. Ihr Körper gab auf. Und sie hatte nicht die Kraft, ihn daran zu hindern.
Claires Lunge füllte sich nicht mehr mit Luft, ihr Herz hörte auf zu schlagen.
Ihre Augen schlossen sich ein letztes Mal.
2
Detective Inspector Philip Brennan, Chefermittler bei der Abteilung für Kapitalverbrechen der Polizei von Colchester, stand am Tor zur Hölle. Er streifte sich ein Paar Latexhandschuhe über und zog sich die Kapuze seines knisternden Papieroveralls über den Kopf. Er musste nur das gelbe Absperrband beiseiteziehen und darunter durchschlüpfen, und schon hätte er die Grenze zwischen Ordnung und Chaos überschritten. Die Grenze zwischen Leben und Tod.
Er hob das Band an und duckte sich darunter durch. So viel Blut ...
Hinter ihm schnappte das Band wieder in seine ursprüngliche Höhe. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Er ließ die Szene auf sich wirken und wusste, dass er dieses Apartment erst würde hinter sich lassen können, wenn er denjenigen gefasst hatte, der für das Geschehen hier die Verantwortung trug. Und vielleicht nicht einmal dann.
Der Flur sah aus wie ein Schlachthaus. An Wänden und Boden war so viel Blut, als hätte jemand mehrere Liter roter Farbe aus großer Höhe fallen lassen, die überallhin gespritzt war und sich beim Trocknen in einen rostigen Braunton verwandelt hatte. Aber Farbe roch nicht so. Nach Kupfer und ranzigem Fleisch. Phil zwang sich, durch den Mund zu atmen, aber er schmeckte es sogar auf seiner Zunge. Der Schweiß, der auf seinem Körper juckte, ließ sein Unbehagen noch anwachsen.
»Kann irgendjemand die Heizung abstellen?«, rief er laut.
In weiße Overalls gehüllte Menschen bewegten sich durch die Wohnung und gingen konzentriert ihrer Arbeit nach. Phil fiel auf, dass einige von ihnen Papiertüten hielten, die immer dann ausgeteilt wurden, wenn zu befürchten war, dass sich jemand übergeben musste. Sie sollten verhindern, dass das Erbrochene den Tatort verunreinigte. Einige der Tüten waren bereits gefüllt. Einer der Polizisten reagierte auf Phils Bitte und ging los, um den Thermostat zu suchen.
Die Leiche lag noch im Flur. Die Spurensicherung war bereits fertig mit ihr, und sie konnte zur Autopsie in die Gerichtsmedizin gebracht werden. Vorerst jedoch hatte man sie an Ort und Stelle liegen lassen, damit Phil sich ein genaues Bild vom Tatort machen und auf diese Weise vielleicht einen Ansatzpunkt für seine Ermittlungen finden konnte.
Er blickte nach unten und schluckte schwer. Eine Frau lag dort, die Gliedmaßen seltsam verrenkt, die Arme ausgestreckt, als wolle sie nach etwas greifen oder als hätte sie versucht, den letzten Atemzug einzufangen, der ihren Körper verließ. Sie trug Jeans und T-Shirt, und ein tiefer Schnitt hatte ihr sowohl die Drosselvene als auch die Halsschlagader an beiden Seiten des Halses durchtrennt. Die Schlieren, die ihre Arme in der Blutlache auf dem Dielenboden hinterlassen hatten, ließen den Schluss zu, dass ihr Tod qualvoll gewesen sein musste. Sie sahen aus wie blutige Engelsfl ügel.
Phil wandte sich an einen Mann von der Spurensicherung, der rechts neben ihm stand.
»Kann ich nach hinten durch?«
Der Mann nickte. »Ich glaube, wir haben alles, was wir brauchen.«
»Fotos?«
Der Mann nickte wieder.
Vorsichtig, damit er kein Blut in die übrigen Räume trug, machte Phil einen Schritt über die Leiche hinweg. Die Tür zum Schlafzimmer stand offen. Er ging darauf zu, blickte hinein, und augenblicklich drehte sich ihm der Magen um.
»Oh Gott. Das ist ja entsetzlich ... «
Eine Gestalt im weißen Anzug hatte Phil gehört. Sie löste sich aus der Gruppe am anderen Ende des Flurs und kam zu ihm. »Als wäre es jemals nicht entsetzlich.«
»Aber so schlimm wie das ... « Der Geruch war hier noch durchdringender. Phil konnte ihn nicht beschreiben. Er war Leben, er war Tod. Er war all das, was den menschlichen Körper ausmachte. Wer ihn einmal gerochen hatte, vergaß ihn nie. Und Phil hatte ihn schon oft gerochen.
Während er die Leiche auf dem Bett ansah, spürte er, wie sich seine Brust zusammenzog und seine Arme zu zittern begannen. Nein. Dies war nicht der Zeitpunkt für eine Panikattacke. Er atmete tief durch den Mund ein und aus und kämpfte mit aller Macht gegen die aufsteigende Angst, bis seine Atmung ihren normalen Rhythmus wiedergefunden hatte. Benimm dich gefälligst wie ein Polizist, sagte er sich. Es ist deine Aufgabe, Ordnung in dieses Chaos zu bringen.
Der Mann, der neben ihn getreten war, war Detective Sergeant Clayton Thompson, ein Mitglied aus Phils Team. Er war groß und attraktiv, und das Weiß der Kapuze betonte seine sonnengebräunte Haut. Das selbstgefällige Grinsen, das er üblicherweise zeigte, hatte einem konzentrierten Stirnrunzeln Platz gemacht. »Sorry, Boss. Wir hätten warten sollen, bis Sie da sind, bevor wir reingehen.«
Phil legte stets großen Wert darauf, sein gesamtes Team um sich zu haben, bevor er einen Tatort inspizierte. So konnte jeder seinen ersten Eindruck sofort mit den anderen teilen, und alle hatten eine gemeinsame Ausgangsbasis. Da¬her war er ein wenig verstimmt, dass Clayton nicht auf ihn gewartet hatte, doch angesichts der ernsten Lage war seine Entscheidung nachvollziehbar.
»Wo ist Anni?«, wollte er wissen.
Als Antwort auf seine Frage tauchte im Rahmen der Bade¬zimmertür ein Kopf auf.
»Hier, Boss.« Detective Constable Anni Hepburn war klein, schlank und hatte kurze, nach allen Seiten abstehende Haare, deren Farbe ständig wechselte, die aber immer in leb¬haftem Kontrast zu ihrer dunklen Haut stand. An diesem Tag waren die Strähnen, die unter dem Rand ihrer Kapuze her¬vorlugten, größtenteils blond. Sie warf Clayton einen ver¬stohlenen Seitenblick zu. »'tschuldigung, wir hätten auf Sie warten sollen, aber die von der Kriminaltechnik haben ge¬sagt ...«
Phil hob eine Hand. »Jetzt sind wir ja alle hier. Lassen Sie uns anfangen.«
Wieder sahen sich Clayton und Anni an. Nur flüchtig, aber Phil entging es dennoch nicht. Er vermochte den Blick nicht recht zu interpretieren, hoffte aber, dass er nicht das be¬deutete, was er befürchtete. Er wusste nur zu gut, wie viel weibliche Aufmerksamkeit Clayton zuteil wurde - eine Tat¬sache, die dieser zur Genüge auszunutzen verstand. Aber bitte nicht mit Mitgliedern seines Teams. Nicht mit Anni.
Phil schob den Gedanken beiseite. Jetzt war kaum der geeignete Zeitpunkt, um sich über so etwas den Kopf zu zer¬brechen. Sie hatten jede Menge Arbeit vor sich.
Phil ging zurück ins Schlafzimmer. Die Leute von der Kri¬minaltechnik hatten ihre Bogenlampen aufgebaut und auf das Bett in der Mitte ausgerichtet, welches durch das gleißende Licht etwas Unwirkliches bekam, wie eine Filmkulisse oder ein Bühnenbild im Theater. Die Männer bewegten sich in gedrücktem, beinahe ehrfürchtigem Schweigen durch den Raum, bückten sich hin und wieder, um etwas konzentriert zu betrachten, nahmen Abstriche und füllten Tütchen mit Proben, die sie in Koffern verstauten. Wie Inspizienten oder Requisiteure, die vor einer Aufführung ein letztes Mal alles überprüften.
Oder Gläubige vor einem Opferaltar, dachte Phil. Auf dem Bett lag eine Frau, nackt, die Beine gespreizt, Hand- und Fußgelenke ans metallene Bettgestell gefesselt. Ihr Bauch war aufgeschlitzt, ihre Augen waren nach oben verdreht, als wären sie vor dem Grauen gefl üchtet, das sie hatten mit ansehen müssen.
Phil musste schlucken. Die Leiche im Flur war schlimm genug gewesen, aber diese hier drohte ihn zum zweiten Mal mit der Tasse Kaffee und den zwei Scheiben Vollkorntoast bekannt zu machen, die er zum Frühstück gegessen hatte. Genau das, was er an einem Dienstagmorgen brauchte.
»Horror«, entschlüpfte es Clayton.
»Wir sind hier in Colchester«, sagte Anni kopfschüttelnd. Die anderen beiden sahen sie an. Sie war sichtlich erschüttert. »So was wie das gibt es bei uns doch gar nicht. Was zum Teufel ist hier los?«
Clayton war anzusehen, dass ihm bereits eine Erwiderung auf der Zunge lag. Phil spürte, dass seine Kollegen zu persönlich auf den Fall reagierten, er musste dafür sorgen, dass sie professionell blieben. »Also gut«, sagte er. »Was wissen wir?«
Anni war mit einem Schlag wieder bei der Sache, ließ eine Hand in ihrem Papieroverall verschwinden, zog ein Notiz buch hervor und klappte es auf. Phil war stolz, dass es Anni gelang, sofort umzuschalten.
»Die Wohnung gehört einer Claire Fielding«, begann sie. »Grundschullehrerin. Unterrichtet an einer Schule in Lexden.«
Phil nickte, den Blick unverwandt aufs Bett gerichtet. »Freund? Ehemann?«
»Freund. Wir haben den Anrufbeantworter und ihren Terminkalender überprüft, und es scheint ganz so, als hätten wir schon einen Namen. Ryan Brotherton. Soll ich mich drum kümmern?«
»Lassen Sie uns zuerst hier weitermachen. Irgendeine Ahnung, wer die Leiche im Flur ist?«
»Sie heißt Julie Simpson«, meldete sich nun Clayton zu Wort. »Ebenfalls Lehrerin, eine Kollegin von Claire Fielding. Ihr Ehemann hat sich mit uns in Verbindung gesetzt.«
»Weil sie gestern Abend nicht nach Hause gekommen ist?«, fragte Phil.
»Genau. Er hat vergeblich auf sie gewartet und schließlich die Polizei gerufen. Da war es schon weit nach Mitternacht. Anscheinend hat hier gestern Abend irgendeine Party stattgefunden. Er hat versucht anzurufen, aber es hat niemand abgenommen. Angeblich ist sie nicht die Art von Frau, die über die Stränge schlägt.«
»Jedenfalls nicht, wenn sie am nächsten Tag Unterricht hat«, fügte Anni hinzu.
»Hat er schon eine Aussage gemacht?«, wollte Phil wissen. Clayton nickte. »Am Telefon. Er war ziemlich durch den Wind.«
»In Ordnung. Wir müssen später noch mal mit ihm reden.«
... weniger
Autoren-Porträt von Tania Carver
Tania Carver lebt mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern in Südengland. Mit ihrem Debüt Entrissen gelang ihr auf Anhieb der Einstieg in die internationalen Bestsellerlisten.
Bibliographische Angaben
- Autor: Tania Carver
- 2011, 1, 543 Seiten, Maße: 13,3 x 19,1 cm, Soft-Cover (Weltbild Reader)
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 382899007X
- ISBN-13: 9783828990074
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