Erlöst mich
Thriller. Deutsche Erstausgabe
"Ich habe Menschen getötet, die es verdient hatten, ohne mit der Wimper zu zucken. Und ich habe wahrscheinlich auch Menschen getötet, die es nicht verdient hatten. Streichen Sie das wahrscheinlich. Ich habe mich zu Richter, Jury und Henker in...
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Produktinformationen zu „Erlöst mich “
"Ich habe Menschen getötet, die es verdient hatten, ohne mit der Wimper zu zucken. Und ich habe wahrscheinlich auch Menschen getötet, die es nicht verdient hatten. Streichen Sie das wahrscheinlich. Ich habe mich zu Richter, Jury und Henker in einer Person aufgeschwungen. Aber ich habe eine Menge schlafloser Nächte deshalb verbracht, weil mich die Geister der Toten in meinen Träumen heimsuchen. Ich habe eine Moral. Glauben Sie mir."
Klappentext zu „Erlöst mich “
Sie ist sein nächstes Opfer und seine letzte Rettung»Ich habe Menschen getötet, die es verdient hatten, ohne mit der Wimper zu zucken. Und ich habe wahrscheinlich auch Menschen getötet, die es nicht verdient hatten. Streichen Sie das wahrscheinlich. Ich habe mich zu Richter, Jury und Henker in einer Person aufgeschwungen. Aber ich habe eine Menge schlafloser Nächte deshalb verbracht, weil mich die Geister der Toten in meinen Träumen heimsuchen. Ich habe eine Moral. Glauben Sie mir.«
Lese-Probe zu „Erlöst mich “
Erlöst mich von Simon Kernick Aus dem Englischen von Gunter Blank
Prolog
Ein schwarz gekleideter Mann kam in das unaufgeräumte kleine Büro - die eine behandschuhte Hand hielt einen Aktenkoffer, die andere eine tödlich aussehende Pistole -, und Nick Penny begriff, dass er während seiner Karriere als Journalist, der gewissen Leuten auf die Zehen tritt, offenbar ein paar Füße zu viel erwischt hatte.
»Du warst ein böser Junge«, sagte der Mann mit dem stark akzentuierten, nichtsdestotrotz perfekten Englisch. Er richtete die Pistole auf Pennys Brust. Obwohl sein Gesicht ansonsten vollkommen gewöhnlich wirkte, verriet der Blick doch eine wissende Kälte.
Penny saß erstarrt auf seinem Stuhl. »Bitte«, flehte er, während er sein Herz hämmern fühlte. »Ich will nicht sterben.«
»Niemand will sterben, Mr. Penny«, bemerkte der Killer sachlich. »Unglücklicherweise haben Sie da keine Wahl.«
Instinktiv schloss Penny die Augen und biss in Erwartung der Kugel die Zähne zusammen.
Doch der Killer schoss nicht. Stattdessen setzte er sich auf den Stuhl vor den Schreibtisch. »Wo Sie allerdings eine Wahl haben ...«, fuhr er fort und wartete dann, bis Penny die Augen wieder aufschlug, »... ist die Art und Weise, wie Sie abtreten.« Er deutete auf Pennys offenes Notebook.
... mehr
»Ich will, dass Sie drei kurze Briefe schreiben. Den ersten an Ihre Frau, darin bitten Sie sie um Verzeihung und entschuldigen sich sowohl für Ihren Ehebruch als auch für das, was Sie gleich tun werden. Sie reden sie mit Nat an und unterzeichnen mit Nick. Der zweite Brief geht an Ihre frühere Geliebte. Ihr teilen Sie mit, dass Sie dem Druck nicht mehr gewachsen sind. Sie reden Sie mit T an und unterschreiben mit Mr. P. Den dritten schließlich richten Sie an Ihre Töchter, Ella und Amelie. Auch die bitten Sie um Verzeihung. Dann fügen Sie hinzu, dass Sie hoffen, sie würden Sie eines Tages verstehen. Diesen Brief unterzeichnen Sie natürlich mit: In Liebe, Daddy.«
Bei der Erwähnung seiner beiden Töchter zuckte Penny zusammen. Verwundert sah er den Killer an und fragte sich, woher um Himmels willen der Mann so viel von ihm wusste. Nicht nur die Namen seiner Familie, sondern auch den der Frau, mit der er sich während der vergangenen drei Monate heimlich getroffen hatte. Er hatte sich doch alle Mühe gegeben, seine Spuren zu verwischen, weil er Natalie unnötige Aufregung ersparen wollte, und dennoch war es einem Wildfremden gelungen, den Kosenamen, den seine Geliebte bis zum Ende ihrer Affäre vor zwei Wochen benutzt hatte, herauszufinden. Mr. P. Es hatte ihm gefallen, wenn sie ihn geschnurrt hatte, während sie im Bett lagen.
Der Mann musste ihr Haus abgehört haben und seines ebenfalls - also war er ein Profi, was auch seine ruhige, gleichgültige Art und die Leere seines Gesichtsausdrucks unterstrichen. Für Penny hieß das, dass man rational mit ihm reden konnte.
»Hören Sie, es muss doch einen Weg geben, um das anders zu lösen«, sagte er und mühte sich nach Kräften, die Angst in seiner Stimme zu überspielen.
»Ich fürchte, den gibt es nicht«, erwiderte der Mann unbeeindruckt. »Sie schreiben diese Briefe. Danach erhängen Sie sich mit dem Seil, das ich Ihnen zur Verfügung stelle, an diesem Träger da oben.«
Unwillkürlich sah Penny zu dem Profilstahlträger hinauf, der von einem Ende des Büros zum anderen verlief. Er wusste, der würde locker sein Gewicht aushalten. Er sah wieder den Mann an. Es fiel ihm schwer zu glauben, dass dies wirklich geschah. Natürlich waren einige seiner Jobs mit einem Moment der Gefahr verbunden, das wusste er, aber nicht einmal in seinen schlimmsten Albträumen hatte er sich ausgemalt, in die Mündung einer Pistole zu blicken und um sein Leben zu betteln.
»Bitte ...«, flüsterte er.
»Schreiben Sie, Mr. Penny, und keine Sorge, falls Sie vergessen haben, was Sie sagen sollen. Ich kann es Ihnen diktieren. «
Penny runzelte die Stirn. »Sie können mich nicht zwingen «, sagte er viel selbstbewusster, als er sich fühlte. »Diese Pistole da, das ist eine Neunmillimeter. Die macht einen Riesenkrach, wenn Sie sie hier drinnen abfeuern. Und Sie haben keinen Schalldämpfer.«
Penny wusste, dass das Büro unter ihm leer stand und der Typ, der nebenan arbeitete, praktisch nie da war, aber trotzdem hoffte er, damit den Killer ins Grübeln zu bringen. Vielleicht überlegte er es sich ja noch einmal anders.
Es funktionierte nicht. Der Mann schenkte ihm ein schmales, blutleeres Lächeln.
»Das ist richtig. Aber ich muss gar nicht schießen. Ich habe etwas viel Besseres.«
Die Pistole nach wie vor auf Pennys Brust gerichtet, beugte er sich vor, öffnete den Aktenkoffer und holte ein kleines schwarzes Netbook heraus. Er klappte es mit einer Hand auf und stellte es mit dem Bildschirm zu Penny in die Mitte des Schreibtisches. »Drücken Sie Enter, und dann beschreiben Sie mir, was Sie sehen.«
Plötzlich erschöpft und leer, tat Penny, was man ihm sagte.
Und erstarrte erneut.
»Oh mein Gott.«
Der Schirm zeigte die Hinteransicht des Cottages, das er mit Natalie und den beiden Kindern bewohnte. Die Kamera musste sich im Gehölz am Ende des Gartens befinden. So wie das Bild leicht unruhig war, bestand kein Zweifel, dass jemand die Kamera in der Hand hielt und filmte. Im Vordergrund konnte er das Trampolin ausmachen und das Spielhaus, für das seine Töchter mittlerweile fast zu groß waren. Aufgrund der Jahreszeit dämmerte es bereits, und im Haus brannte Licht. Während er wie gebannt auf den Schirm starrte und fürchtete, es sei schon etwas Furchtbares geschehen, erkannte er die unverwechselbare Gestalt Natalies, die in der Küche umherging und ihre kastanienbraunen Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte. Es sah aus, als bereitete sie den Tee für die Kinder zu.
Die Kamera zoomte an sie heran, bis ihr Oberkörper den größten Teil des Bildes ausfüllte. Sie goss Wasser in eine Soßenpfanne, ohne zu ahnen, dass sie beobachtet wurde.
Als er aufblickte, sah Penny, wie der Killer ein Handy am Ohr hatte und auf Russisch einen Befehl hineinbellte. Schon schwenkte die Kamera weg vom Cottage. Der Mann drehte sie herum, stellte sie ab, so dass sie ihn zeigte. Er ging ein paar Schritte rückwärts, bis sein Oberkörper ganz im Bild war. Er trug dunkle Kleidung und eine Sturmhaube. Als Penny das gewaltige glitzernde Jagdmesser sah, das der Russe in der Hand hielt, glaubte er, das Herz rutsche ihm in die Hose.
»Der Mann dort ist ein Mitarbeiter von mir«, erklärte der Killer sachlich. »Er erwartet meine Befehle. Wenn ich es ihm sage, wird er in Ihr Haus gehen, Ihre Familie zusammentreiben und dann Ihrer Frau vor den Augen Ihrer Kinder die Kehle durchschneiden. Danach schlitzt er den Kleinen die Kehlen auf.«
Penny schluckte. Ihm war übel. »Das können Sie nicht machen«, ächzte er. Seine Stimme zitterte.
»Wir können, und täuschen Sie sich nicht, Mr. Penny, wir werden - wenn Sie nicht tun, was ich von Ihnen verlange.«
»Aber es sind doch noch Kinder«, brachte er verzweifelt hervor und strich sich hektisch mit der Hand über die Stirn. Am liebsten hätte er den Mann auf der anderen Seite des Schreibtisches angesprungen, ihm die Kleider vom Leib gerissen, aber er wusste, dass er keine Chance hatte und völlig hilflos war.
Der Killer zuckte mit den Schultern. »Das ist nicht mein Problem. Und falls Sie glauben, ich bluffe, muss ich Ihnen noch sagen, dass mein Mitarbeiter nicht nur ein Psychopath ist, sondern auch ein Sadist. Allerdings glücklicherweise ein sehr verlässlicher. Er hat für mich bei drei verschiedenen Gelegenheiten getötet, und ihn kümmern weder Alter noch Geschlecht der Opfer.«
»Oh mein Gott ...«
»Aber wenn Sie tun, was ich Ihnen sage, wird ihnen kein Leid geschehen.«
»Wie soll ich wissen, dass Sie nicht lügen? Wie soll ich wissen, dass Sie sie nicht trotzdem töten?«
»Weil mein Kunde lediglich wünscht, dass Sie sterben. Und er möchte, dass Ihr Tod ...« - er hielt einen Augenblick inne - »unverdächtig aussieht. So sagt man doch, nicht wahr?«
Wider Willen nickte Penny.
»Wenn Sie die Abschiedsbriefe schreiben und sich erhängen, dann wird es unverdächtig aussehen. Sollten wir allerdings gezwungen sein, Ihre Familie auszulöschen, dann tut es das natürlich nicht, und mein Kunde bekäme Probleme. Deshalb würden wir eine solche Lösung gerne vermeiden. Sicher, Ihr Tod wird Ihre Frau und Ihre Kinder äußerst hart treffen, aber es ist doch immer noch sehr viel besser als die Alternative.«
»Ich weiß, wer Ihr Kunde ist«, entfuhr es Penny, dessen Hirn so fieberhaft arbeitete wie sein Puls raste. Wie jedes menschliche Wesen in seiner Situation ertrug er den Gedanken nicht, sterben zu müssen, sondern suchte nach einer Überlebenschance. Irgendeiner Chance. »Hören Sie, ich kann inzwischen sagen, dass ich aus meinen Schulden raus bin, deshalb werde ich nichts mehr unternehmen, was mit den Ermittlungen zu tun hat. Sie haben mein Wort darauf.«
Wie ein Pfadfinder schlug er sich mit der Hand aufs Herz, um zu demonstrieren, dass er es aufrichtig meinte, und hoffte inständig, man würde ihm glauben.
Aber das war nicht der Fall. Der Killer lächelte ihn nur an. »Ich glaube Ihnen kein bisschen, Mr. Penny. Und meinem Kunden geht es genauso. Ich fürchte, wenn Sie jetzt nicht die Briefe schreiben und tun, was ich Ihnen sage, dann werde ich meinen Mitarbeiter anweisen, Ihre Familie abzuschlachten. Werfen Sie noch einen Blick auf das Messer. Schauen Sie es sich genau an und stellen Sie sich vor, wie es die Kehlen Ihrer Frau und Ihrer Kinder aufschlitzt, während sie um Gnade flehen, wissend, dass niemand sie hören wird, weil Ihr nächster Nachbar über hundert Meter entfernt wohnt. Das ist der Nachteil, wenn man so schön abgeschieden wohnt, nicht wahr?«
Penny schüttelte frenetisch den Kopf. »Großer Gott«, schluchzte er, als ihm schließlich klar wurde, dass sein Leben gleich beendet sein würde. »Allmächtiger Herr.«
»Sie haben zehn Sekunden, sich zu entscheiden.«
Ehe er selbst Vater geworden war, hatte Penny immer über seine bereits mit Nachwuchs gesegneten Freunde gelacht, wenn die behaupteten, sie würden ohne zu zögern ihr Leben für das ihrer Kinder geben. Er war nie in der Lage gewesen, die Größe dieser Vorstellung zu erfassen. Jetzt hatte er zwei wunderhübsche Töchter und wusste mit absoluter Gewissheit, dass seine Freunde recht hatten. Offen gestanden, für Natalie wäre er nicht in den Tod gegangen. Ihre Ehe war längst zu einer lieblos dahinplätschernden Routine geworden. Auch für seine Geliebte wäre er nicht gestorben. Er war zwar verknallt in sie, vielleicht liebte er sie sogar, aber am Ende war er sich stets bewusst gewesen, dass es nicht ewig anhalten würde. Doch Ella und Amelie ... da gab es keinen Zweifel. Er wusste, dass der Mann ihm gegenüber es todernst meinte, denn er wusste genau, wer dessen Kunde war und wozu dieses Monster fähig war.
Penny verfluchte sich dafür, jemals diese Sache angefasst zu haben, verfluchte sich dafür, dass es so einfach war, ihn auszuspionieren und in die Falle zu locken, und er verfluchte sich dafür, ein abgelegenes Cottage gekauft zu haben, wo man seine Familie massakrieren konnte, ohne dass eine Menschenseele etwas davon mitbekam. Er verfluchte sich für alles, obwohl es längst zu spät war, noch etwas zu ändern.
Dann starrte er in das bleiche Gesicht des Killers, suchte hinter der kalten, professionellen Miene nach einem Hauch Menschlichkeit und entdeckte keine.
»Wie können Sie bloß mit sich leben?«, fragte er mit einer letzten, instinktiven Aufwallung von Trotz.
Der Killer gestattete sich ein wissendes Lächeln. »Sehr viel besser, als Sie es sich vorzustellen vermögen.«
Dann holte er ein langes Seil aus seinem Aktenkoffer, und Penny wandte sich seinem Notebook zu und begann zu schreiben.
Eins
1
Hongkong. Eine der modernen Städte des 21. Jahrhunderts, ein architektonisches Wunderwerk, das einen packt, sobald man den Flughafen verlassen hat und über die elegante, fast verkehrsfreie Autobahn gleitet, über gewaltige Brücken, die sich wie stählerne Skelette über eine blaugraue See strecken, die erfüllt ist von Dschunken und Frachtern, die in einen der großen natürlichen Häfen der Welt ein- und auslaufen. Sieben Millionen Menschen leben auf dieser winzigen bergigen Insel, und Teile davon sind noch immer vom selben subtropischen Grün überzogen, das hier bereits vor zehntausend, vielleicht sogar einer Million Jahren wuchs. Genauso birgt die Insel aber auch einen Wald aus Glas und Beton, zahllose Wolkenkratzer, die wie gegeneinander wetteifernd in den wabernden weißen Dunst ragen, der oft an den Berggipfeln klebt. Egal ob man große Städte mag oder nicht, von Hongkong wird man unweigerlich angezogen.
Ich persönlich mag große Städte nicht besonders. Ich habe fast zwanzig Jahre in London verbracht, und mein Bedarf an Metropolen ist für mehrere Leben gestillt. Heute wohne ich in der heißen, schläfrigen Stadt Luang Prabang in den Wäldern von Nord-Laos. Zwischen ihr und Hongkong liegen nur etwa tausend Kilometer Luftlinie, aber gefühlt sind es hunderttausend, und deshalb empfinde ich Luang Prabang als unendlich viel angenehmer. Dennoch stieg auch in mir ein leises Gefühl von Ehrfurcht und Bewunderung auf, je näher das Taxi mich Hongkong und meinem Bestimmungsort brachte.
Ich war erst einmal dort gewesen, vor achtzehn Monaten, damals, um einen Mann zu töten - einen penetranten, korrupten britischen Ex-Pat, der sich für unverwundbar hielt, es aber nicht war. Doch das ist eine andere Geschichte. Diesmal sollte ich den Mann treffen, der mir gelegentlich Aufträge verschaffte. Er hieß Bertie Schagel, und er war Holländer.
Also, normalerweise mag ich Holländer. Sie sind eine clevere Truppe und sprechen immer ein ausgezeichnetes Englisch, was die Kommunikation erheblich vereinfacht. Bertie Schagel sprach auch ausgezeichnet Englisch, aber er war kein netter Mensch, sondern einer der abstoßendsten Typen, denen ich je begegnet bin - und leider bin ich in meinem Leben einer ganzen Reihe davon begegnet. Ich schuldete ihm viel, und während der letzten drei Jahre hat er diese Schuld immer wieder zurückgefordert. Es war Schagel, der mich hierherbestellt hatte, um den Ex-Pat zu töten, und offenbar war dies sein wesentlicher Geschäftszweig: im Auftrag anderer Leute Personen eliminieren zu lassen. Dank der Wolfsnatur des modernen, globalisierten Kapitalismus schien an Aufträgen kein Mangel zu herrschen.
Tatsächlich wusste ich über Bertie Schagel äußerst wenig. Aus Sicherheitsgründen trafen wir uns, wenn er einen Job für mich hatte, stets an verschiedenen Orten in Südostasien, sodass ich keine Ahnung hatte, wo er lebte. Ich hatte auch keine Telefonnummer, um ihn zu kontaktieren. Er erledigte die gesamte Kommunikation per E-Mail über diverse Hotmail-Accounts und beschränkte sich, was Einzelheiten anging, immer auf das Minimum. Wenn er mich für einen Job brauchte, schrieb er mir eine Nachricht in den Entwürfe-Ordner eines Accounts, zu dem nur wir beide Zugang hatten, und teilte mir so mit, wo und wann wir uns treffen würden. Sofort nachdem ich sie gelesen hatte, löschte ich die Nachricht und schrieb meine Antwort, meist die Bestätigung des Treffens, ebenfalls in den Ordner. Auf diese Weise liefen nie Nachrichten kreuz und quer über das Netz, und unsere Korrespondenz konnte nicht von interessierten Dritten verfolgt werden. In geschäftlichen Dingen war Schagel extrem vorsichtig. Offen gestanden könnte ich Ihnen nicht einmal sagen, ob er wirklich Bertie Schagel hieß. Ich bezweifle es stark. Ich wusste nur eines mit Sicherheit, nämlich dass er absolut skrupellos war, und wenn ich hätte aufhören können, für ihn zu arbeiten, hätte ich es getan.
Doch zumindest für den Moment war ich an ihn gekettet, deshalb kam ich gelaufen, als er rief, genau wie er es erwartet hatte.
Ich sagte dem Taxifahrer, er solle mich vor dem L'Hotel absetzen, einem blitzenden Vierzig-Stockwerke-Turm in der Causeway Bay. Nachdem er davongefahren war, nahm ich meine Tasche, die ich wie befohlen mit ausreichend Kleidung für drei Tage gepackt hatte, und ging die auf beiden Seiten von monolithischen Gebäuden gesäumte Cause- way Road zurück, bis ich die grüne Oase des Victoria Parks erreichte.
Inzwischen war es später Nachmittag und für einen Februartag ungewöhnlich warm und feucht. Immerhin schaffte die Sonne, die langsam hinter Kowloon versank, es noch einmal, ihren Kopf durch die Wolkendecke zu strecken. Auf einer der Rasenflächen war eine Tai-Chi-Klasse für Senioren in vollem Gange, während auf den Bänken ringsum Pärchen aller Altersklassen die Abendsonne genossen und Händchen hielten.
Ich hielt beim Gehen den Kopf gesenkt und vermied es, jemandem in die Augen zu sehen. Diese Menschen mochten wohl einheimische Chinesen sein, die mich in einer Million Jahren nicht als flüchtigen Ex-Polizisten aus England erkannt hätten, einen Mann, der seit fast einem Jahrzehnt von Interpol wegen Mordes gesucht wurde, doch ich hatte schmerzhaft lernen müssen, dass es so etwas wie übertriebene Vorsicht einfach nicht gibt. Verstohlen schaute ich mich um und spürte plötzlich einen Stich. Eifersucht. Da ich schon so lange auf der Flucht war, befand ich mich in einem Zustand immerwährender Einsamkeit, und es schmerzte mich, das gesetzte, partnerschaftliche Leben der anderen beobachten zu müssen, weil es mich ständig an das erinnerte, was ich nicht hatte.
Am Ende des Parks ging ich über die Fußgängerbrücke, die den sechsspurigen Victoria Highway überspannte, bewegte mich getreu meinen Instruktionen entlang der modernen Hafenanlage des Causeway-Bay-Hafens und wunderte mich, wie still es hier war. Schließlich kam ich an eine steinerne Treppe, die hinunter zum Wasser führte. Ein weißes Dinghi mit Außenborder, in dem ein mir unbekannter, muskulöser, westlich aussehender Mann mit T-Shirt und Sonnenbrille stand, schaukelte in der Dünung. Der Mann nickte mir beiläufig zu, wortlos stieg ich die Treppe hinunter und in das Boot, während er den Motor anwarf und ablegte.
Überall im Hafen ankerten Trauben von Booten, die teuersten nahe der Küste, während die einheimischen Dschunken in entfernte Ecken an der Hafenmauer verbannt waren. Deshalb überraschte es mich nicht, dass unsere Reise nur gute fünfzig Meter währte, ehe wir am Heck einer der elegantesten Yachten festmachten. Wenn es um seine Bequemlichkeit ging, zählte Bertie Schagel nicht zu denen, die knauserten.
Auf dem Deck erschien ein zweiter Westler, ebenfalls in T-Shirt und Sonnenbrille, ergriff das hochgeworfene Tau, während ich die Stufen hinaufging. Auf dem Fiberglas rutschte ich aus und wäre fast rücklings gestürzt, sodass er meinen Arm packen und mich festhalten musste. Ich nickte dankend und erkannte ihn wieder. Er war schon bei meiner letzten Begegnung mit Schagel in einem Singapurer Hotel dabei gewesen. Deshalb war es mir ein bisschen peinlich, für einen Augenblick meine coole Contenance verloren zu haben, auf die ich in solchen Situationen Wert lege.
Der Typ deutete zum Unterdeck, und mit einem letzten Blick auf die untergehende Sonne stieg ich durch die Tür in die klimatisierte Kühle und betrat schließlich einen schummrigen Raum, in dem ein sehr massiger Mann mit einem sehr massigen Schädel in einem riesigen ledernen Klubsessel thronte, der sich allerdings wie angegossen um seinen wabernden Fettbauch schmiegte. Bertie Schagel hatte sein dünn gewordenes graues Haar zurückgegelt, er trug einen schwarzen Anzug, darunter ein schwarzes Seidenhemd, aus dessen geöffnetem Kragen dichte drahtige Strähnen seiner Brustbehaarung hervorragten. In der einen Hand hielt er ein überdimensionales Glas mit einer alkoholischen Flüssigkeit, in der anderen eine halb gerauchte kubanische Zigarre, wodurch er wirkte wie ein früh vergreister Meat Loaf, der sich in ein Gordon-Gekko-Kostüm gezwängt hatte.
»Ah, Dennis, schön, dass Sie es geschafft haben«, sagte er mit einem aufdringlichen Grinsen, wobei er sich allerdings nicht die Mühe machte, sich aus seinem Sessel zu erheben, was wahrscheinlich auch viel zu lange gedauert hätte. »Setzen Sie sich. Kann ich Ihnen einen Drink anbieten? Oder etwas anderes?«
Normalerweise hätte mich schon die Aussicht geschreckt, weil ich Geschäft und Vergnügen strikt trenne und keinen Augenblick mehr mit Schagel verbringe als absolut nötig. Doch der Flug von Bangkok hierher hatte mich weichgekocht, deshalb sagte ich, ich würde ein Bier trinken. »Singha, wenn Sie haben.«
»Wir haben alles«, entgegnete Schagel, ehe er sich halb umdrehte und jemandem eine Anweisung gab.
Sekunden später kam ein dunkelhäutiges Thai-Girl mit blond gebleichten Haaren herein und brachte mir das Bier. Sie konnte höchstens achtzehn sein, und damit war sie mindestens dreißig Jahre jünger als Schagel. Sie trug eng sitzende Hotpants aus Jeansstoff und ein noch enger sitzendes Oberteil mit Spaghetti-Trägern, das wie eine zweite Haut an ihrem jungenhaften Körper klebte. Als sie die Flasche auf einem mitgebrachten Untersetzer auf dem Beistelltisch aus Teakholz absetzte, beugte Schagel sich vor und klatschte ihr mit einem widerlich geilen Schielen so heftig auf den Hintern, dass es schmerzhaft knallte. Das Mädchen zuckte zusammen, ließ sich ansonsten aber nichts anmerken und zog sich ohne ein Wort zu sagen oder meinem Blick zu begegnen zurück.
Es war eindeutig, dass Schagel sie zu meiner Unterhaltung demütigte. Er schien das zu genießen. Einmal, bei einem unserer anderen Treffen, hatte ich warten müssen, während er im angrenzenden Raum jemanden zusammenschrie. Ich habe nie erfahren, ob es sich um einen Mann oder eine Frau gehandelt hatte, weil das Opfer nicht ein Wort entgegnete. Er beendete seine Tirade mit einer hörbaren Ohrfeige, ehe er zu mir ins Zimmer kam und mich mit seinem verschlagenen, wissenden Lächeln begrüßte. Ich schätzte das als seine Art ein, mich daran zu erinnern, dass er der Boss war, die vollständige Kontrolle besaß und ich oder sonst wer nichts dagegen tun konnte.
Nur einmal hatte ich mich über einen Befehl von ihm hinweggesetzt. Ich sollte in Kuala Lumpur eine ältere russische Hausfrau töten, offenbar im Auftrag ihres Gatten, der sich nicht den Mühen einer Scheidung unterziehen wollte. Der Mann musste offenbar reichlich angepisst gewesen sein, denn er verlangte, dass man sie an einen entlegenen Ort verschleppte, sie dort vor laufender Kamera köpfte und ihm die Aufnahme aushändigte.
Ich bin immer wieder überrascht und betrübt, wie krank der Mensch sein kann. Als Schagel mich für den Job instruierte, ging mir auf, wie tief ich gesunken sein musste, um mich überhaupt auf ein solches Gespräch einzulassen. Er bot mir einhundertfünfzigtausend Dollar an, das Dreifache des üblichen Satzes ... und es war klar, dass er selbst noch einmal verdammt viel mehr dafür kassierte. Doch ich lehnte rundweg ab.
Copyright © 2012 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
»Ich will, dass Sie drei kurze Briefe schreiben. Den ersten an Ihre Frau, darin bitten Sie sie um Verzeihung und entschuldigen sich sowohl für Ihren Ehebruch als auch für das, was Sie gleich tun werden. Sie reden sie mit Nat an und unterzeichnen mit Nick. Der zweite Brief geht an Ihre frühere Geliebte. Ihr teilen Sie mit, dass Sie dem Druck nicht mehr gewachsen sind. Sie reden Sie mit T an und unterschreiben mit Mr. P. Den dritten schließlich richten Sie an Ihre Töchter, Ella und Amelie. Auch die bitten Sie um Verzeihung. Dann fügen Sie hinzu, dass Sie hoffen, sie würden Sie eines Tages verstehen. Diesen Brief unterzeichnen Sie natürlich mit: In Liebe, Daddy.«
Bei der Erwähnung seiner beiden Töchter zuckte Penny zusammen. Verwundert sah er den Killer an und fragte sich, woher um Himmels willen der Mann so viel von ihm wusste. Nicht nur die Namen seiner Familie, sondern auch den der Frau, mit der er sich während der vergangenen drei Monate heimlich getroffen hatte. Er hatte sich doch alle Mühe gegeben, seine Spuren zu verwischen, weil er Natalie unnötige Aufregung ersparen wollte, und dennoch war es einem Wildfremden gelungen, den Kosenamen, den seine Geliebte bis zum Ende ihrer Affäre vor zwei Wochen benutzt hatte, herauszufinden. Mr. P. Es hatte ihm gefallen, wenn sie ihn geschnurrt hatte, während sie im Bett lagen.
Der Mann musste ihr Haus abgehört haben und seines ebenfalls - also war er ein Profi, was auch seine ruhige, gleichgültige Art und die Leere seines Gesichtsausdrucks unterstrichen. Für Penny hieß das, dass man rational mit ihm reden konnte.
»Hören Sie, es muss doch einen Weg geben, um das anders zu lösen«, sagte er und mühte sich nach Kräften, die Angst in seiner Stimme zu überspielen.
»Ich fürchte, den gibt es nicht«, erwiderte der Mann unbeeindruckt. »Sie schreiben diese Briefe. Danach erhängen Sie sich mit dem Seil, das ich Ihnen zur Verfügung stelle, an diesem Träger da oben.«
Unwillkürlich sah Penny zu dem Profilstahlträger hinauf, der von einem Ende des Büros zum anderen verlief. Er wusste, der würde locker sein Gewicht aushalten. Er sah wieder den Mann an. Es fiel ihm schwer zu glauben, dass dies wirklich geschah. Natürlich waren einige seiner Jobs mit einem Moment der Gefahr verbunden, das wusste er, aber nicht einmal in seinen schlimmsten Albträumen hatte er sich ausgemalt, in die Mündung einer Pistole zu blicken und um sein Leben zu betteln.
»Bitte ...«, flüsterte er.
»Schreiben Sie, Mr. Penny, und keine Sorge, falls Sie vergessen haben, was Sie sagen sollen. Ich kann es Ihnen diktieren. «
Penny runzelte die Stirn. »Sie können mich nicht zwingen «, sagte er viel selbstbewusster, als er sich fühlte. »Diese Pistole da, das ist eine Neunmillimeter. Die macht einen Riesenkrach, wenn Sie sie hier drinnen abfeuern. Und Sie haben keinen Schalldämpfer.«
Penny wusste, dass das Büro unter ihm leer stand und der Typ, der nebenan arbeitete, praktisch nie da war, aber trotzdem hoffte er, damit den Killer ins Grübeln zu bringen. Vielleicht überlegte er es sich ja noch einmal anders.
Es funktionierte nicht. Der Mann schenkte ihm ein schmales, blutleeres Lächeln.
»Das ist richtig. Aber ich muss gar nicht schießen. Ich habe etwas viel Besseres.«
Die Pistole nach wie vor auf Pennys Brust gerichtet, beugte er sich vor, öffnete den Aktenkoffer und holte ein kleines schwarzes Netbook heraus. Er klappte es mit einer Hand auf und stellte es mit dem Bildschirm zu Penny in die Mitte des Schreibtisches. »Drücken Sie Enter, und dann beschreiben Sie mir, was Sie sehen.«
Plötzlich erschöpft und leer, tat Penny, was man ihm sagte.
Und erstarrte erneut.
»Oh mein Gott.«
Der Schirm zeigte die Hinteransicht des Cottages, das er mit Natalie und den beiden Kindern bewohnte. Die Kamera musste sich im Gehölz am Ende des Gartens befinden. So wie das Bild leicht unruhig war, bestand kein Zweifel, dass jemand die Kamera in der Hand hielt und filmte. Im Vordergrund konnte er das Trampolin ausmachen und das Spielhaus, für das seine Töchter mittlerweile fast zu groß waren. Aufgrund der Jahreszeit dämmerte es bereits, und im Haus brannte Licht. Während er wie gebannt auf den Schirm starrte und fürchtete, es sei schon etwas Furchtbares geschehen, erkannte er die unverwechselbare Gestalt Natalies, die in der Küche umherging und ihre kastanienbraunen Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte. Es sah aus, als bereitete sie den Tee für die Kinder zu.
Die Kamera zoomte an sie heran, bis ihr Oberkörper den größten Teil des Bildes ausfüllte. Sie goss Wasser in eine Soßenpfanne, ohne zu ahnen, dass sie beobachtet wurde.
Als er aufblickte, sah Penny, wie der Killer ein Handy am Ohr hatte und auf Russisch einen Befehl hineinbellte. Schon schwenkte die Kamera weg vom Cottage. Der Mann drehte sie herum, stellte sie ab, so dass sie ihn zeigte. Er ging ein paar Schritte rückwärts, bis sein Oberkörper ganz im Bild war. Er trug dunkle Kleidung und eine Sturmhaube. Als Penny das gewaltige glitzernde Jagdmesser sah, das der Russe in der Hand hielt, glaubte er, das Herz rutsche ihm in die Hose.
»Der Mann dort ist ein Mitarbeiter von mir«, erklärte der Killer sachlich. »Er erwartet meine Befehle. Wenn ich es ihm sage, wird er in Ihr Haus gehen, Ihre Familie zusammentreiben und dann Ihrer Frau vor den Augen Ihrer Kinder die Kehle durchschneiden. Danach schlitzt er den Kleinen die Kehlen auf.«
Penny schluckte. Ihm war übel. »Das können Sie nicht machen«, ächzte er. Seine Stimme zitterte.
»Wir können, und täuschen Sie sich nicht, Mr. Penny, wir werden - wenn Sie nicht tun, was ich von Ihnen verlange.«
»Aber es sind doch noch Kinder«, brachte er verzweifelt hervor und strich sich hektisch mit der Hand über die Stirn. Am liebsten hätte er den Mann auf der anderen Seite des Schreibtisches angesprungen, ihm die Kleider vom Leib gerissen, aber er wusste, dass er keine Chance hatte und völlig hilflos war.
Der Killer zuckte mit den Schultern. »Das ist nicht mein Problem. Und falls Sie glauben, ich bluffe, muss ich Ihnen noch sagen, dass mein Mitarbeiter nicht nur ein Psychopath ist, sondern auch ein Sadist. Allerdings glücklicherweise ein sehr verlässlicher. Er hat für mich bei drei verschiedenen Gelegenheiten getötet, und ihn kümmern weder Alter noch Geschlecht der Opfer.«
»Oh mein Gott ...«
»Aber wenn Sie tun, was ich Ihnen sage, wird ihnen kein Leid geschehen.«
»Wie soll ich wissen, dass Sie nicht lügen? Wie soll ich wissen, dass Sie sie nicht trotzdem töten?«
»Weil mein Kunde lediglich wünscht, dass Sie sterben. Und er möchte, dass Ihr Tod ...« - er hielt einen Augenblick inne - »unverdächtig aussieht. So sagt man doch, nicht wahr?«
Wider Willen nickte Penny.
»Wenn Sie die Abschiedsbriefe schreiben und sich erhängen, dann wird es unverdächtig aussehen. Sollten wir allerdings gezwungen sein, Ihre Familie auszulöschen, dann tut es das natürlich nicht, und mein Kunde bekäme Probleme. Deshalb würden wir eine solche Lösung gerne vermeiden. Sicher, Ihr Tod wird Ihre Frau und Ihre Kinder äußerst hart treffen, aber es ist doch immer noch sehr viel besser als die Alternative.«
»Ich weiß, wer Ihr Kunde ist«, entfuhr es Penny, dessen Hirn so fieberhaft arbeitete wie sein Puls raste. Wie jedes menschliche Wesen in seiner Situation ertrug er den Gedanken nicht, sterben zu müssen, sondern suchte nach einer Überlebenschance. Irgendeiner Chance. »Hören Sie, ich kann inzwischen sagen, dass ich aus meinen Schulden raus bin, deshalb werde ich nichts mehr unternehmen, was mit den Ermittlungen zu tun hat. Sie haben mein Wort darauf.«
Wie ein Pfadfinder schlug er sich mit der Hand aufs Herz, um zu demonstrieren, dass er es aufrichtig meinte, und hoffte inständig, man würde ihm glauben.
Aber das war nicht der Fall. Der Killer lächelte ihn nur an. »Ich glaube Ihnen kein bisschen, Mr. Penny. Und meinem Kunden geht es genauso. Ich fürchte, wenn Sie jetzt nicht die Briefe schreiben und tun, was ich Ihnen sage, dann werde ich meinen Mitarbeiter anweisen, Ihre Familie abzuschlachten. Werfen Sie noch einen Blick auf das Messer. Schauen Sie es sich genau an und stellen Sie sich vor, wie es die Kehlen Ihrer Frau und Ihrer Kinder aufschlitzt, während sie um Gnade flehen, wissend, dass niemand sie hören wird, weil Ihr nächster Nachbar über hundert Meter entfernt wohnt. Das ist der Nachteil, wenn man so schön abgeschieden wohnt, nicht wahr?«
Penny schüttelte frenetisch den Kopf. »Großer Gott«, schluchzte er, als ihm schließlich klar wurde, dass sein Leben gleich beendet sein würde. »Allmächtiger Herr.«
»Sie haben zehn Sekunden, sich zu entscheiden.«
Ehe er selbst Vater geworden war, hatte Penny immer über seine bereits mit Nachwuchs gesegneten Freunde gelacht, wenn die behaupteten, sie würden ohne zu zögern ihr Leben für das ihrer Kinder geben. Er war nie in der Lage gewesen, die Größe dieser Vorstellung zu erfassen. Jetzt hatte er zwei wunderhübsche Töchter und wusste mit absoluter Gewissheit, dass seine Freunde recht hatten. Offen gestanden, für Natalie wäre er nicht in den Tod gegangen. Ihre Ehe war längst zu einer lieblos dahinplätschernden Routine geworden. Auch für seine Geliebte wäre er nicht gestorben. Er war zwar verknallt in sie, vielleicht liebte er sie sogar, aber am Ende war er sich stets bewusst gewesen, dass es nicht ewig anhalten würde. Doch Ella und Amelie ... da gab es keinen Zweifel. Er wusste, dass der Mann ihm gegenüber es todernst meinte, denn er wusste genau, wer dessen Kunde war und wozu dieses Monster fähig war.
Penny verfluchte sich dafür, jemals diese Sache angefasst zu haben, verfluchte sich dafür, dass es so einfach war, ihn auszuspionieren und in die Falle zu locken, und er verfluchte sich dafür, ein abgelegenes Cottage gekauft zu haben, wo man seine Familie massakrieren konnte, ohne dass eine Menschenseele etwas davon mitbekam. Er verfluchte sich für alles, obwohl es längst zu spät war, noch etwas zu ändern.
Dann starrte er in das bleiche Gesicht des Killers, suchte hinter der kalten, professionellen Miene nach einem Hauch Menschlichkeit und entdeckte keine.
»Wie können Sie bloß mit sich leben?«, fragte er mit einer letzten, instinktiven Aufwallung von Trotz.
Der Killer gestattete sich ein wissendes Lächeln. »Sehr viel besser, als Sie es sich vorzustellen vermögen.«
Dann holte er ein langes Seil aus seinem Aktenkoffer, und Penny wandte sich seinem Notebook zu und begann zu schreiben.
Eins
1
Hongkong. Eine der modernen Städte des 21. Jahrhunderts, ein architektonisches Wunderwerk, das einen packt, sobald man den Flughafen verlassen hat und über die elegante, fast verkehrsfreie Autobahn gleitet, über gewaltige Brücken, die sich wie stählerne Skelette über eine blaugraue See strecken, die erfüllt ist von Dschunken und Frachtern, die in einen der großen natürlichen Häfen der Welt ein- und auslaufen. Sieben Millionen Menschen leben auf dieser winzigen bergigen Insel, und Teile davon sind noch immer vom selben subtropischen Grün überzogen, das hier bereits vor zehntausend, vielleicht sogar einer Million Jahren wuchs. Genauso birgt die Insel aber auch einen Wald aus Glas und Beton, zahllose Wolkenkratzer, die wie gegeneinander wetteifernd in den wabernden weißen Dunst ragen, der oft an den Berggipfeln klebt. Egal ob man große Städte mag oder nicht, von Hongkong wird man unweigerlich angezogen.
Ich persönlich mag große Städte nicht besonders. Ich habe fast zwanzig Jahre in London verbracht, und mein Bedarf an Metropolen ist für mehrere Leben gestillt. Heute wohne ich in der heißen, schläfrigen Stadt Luang Prabang in den Wäldern von Nord-Laos. Zwischen ihr und Hongkong liegen nur etwa tausend Kilometer Luftlinie, aber gefühlt sind es hunderttausend, und deshalb empfinde ich Luang Prabang als unendlich viel angenehmer. Dennoch stieg auch in mir ein leises Gefühl von Ehrfurcht und Bewunderung auf, je näher das Taxi mich Hongkong und meinem Bestimmungsort brachte.
Ich war erst einmal dort gewesen, vor achtzehn Monaten, damals, um einen Mann zu töten - einen penetranten, korrupten britischen Ex-Pat, der sich für unverwundbar hielt, es aber nicht war. Doch das ist eine andere Geschichte. Diesmal sollte ich den Mann treffen, der mir gelegentlich Aufträge verschaffte. Er hieß Bertie Schagel, und er war Holländer.
Also, normalerweise mag ich Holländer. Sie sind eine clevere Truppe und sprechen immer ein ausgezeichnetes Englisch, was die Kommunikation erheblich vereinfacht. Bertie Schagel sprach auch ausgezeichnet Englisch, aber er war kein netter Mensch, sondern einer der abstoßendsten Typen, denen ich je begegnet bin - und leider bin ich in meinem Leben einer ganzen Reihe davon begegnet. Ich schuldete ihm viel, und während der letzten drei Jahre hat er diese Schuld immer wieder zurückgefordert. Es war Schagel, der mich hierherbestellt hatte, um den Ex-Pat zu töten, und offenbar war dies sein wesentlicher Geschäftszweig: im Auftrag anderer Leute Personen eliminieren zu lassen. Dank der Wolfsnatur des modernen, globalisierten Kapitalismus schien an Aufträgen kein Mangel zu herrschen.
Tatsächlich wusste ich über Bertie Schagel äußerst wenig. Aus Sicherheitsgründen trafen wir uns, wenn er einen Job für mich hatte, stets an verschiedenen Orten in Südostasien, sodass ich keine Ahnung hatte, wo er lebte. Ich hatte auch keine Telefonnummer, um ihn zu kontaktieren. Er erledigte die gesamte Kommunikation per E-Mail über diverse Hotmail-Accounts und beschränkte sich, was Einzelheiten anging, immer auf das Minimum. Wenn er mich für einen Job brauchte, schrieb er mir eine Nachricht in den Entwürfe-Ordner eines Accounts, zu dem nur wir beide Zugang hatten, und teilte mir so mit, wo und wann wir uns treffen würden. Sofort nachdem ich sie gelesen hatte, löschte ich die Nachricht und schrieb meine Antwort, meist die Bestätigung des Treffens, ebenfalls in den Ordner. Auf diese Weise liefen nie Nachrichten kreuz und quer über das Netz, und unsere Korrespondenz konnte nicht von interessierten Dritten verfolgt werden. In geschäftlichen Dingen war Schagel extrem vorsichtig. Offen gestanden könnte ich Ihnen nicht einmal sagen, ob er wirklich Bertie Schagel hieß. Ich bezweifle es stark. Ich wusste nur eines mit Sicherheit, nämlich dass er absolut skrupellos war, und wenn ich hätte aufhören können, für ihn zu arbeiten, hätte ich es getan.
Doch zumindest für den Moment war ich an ihn gekettet, deshalb kam ich gelaufen, als er rief, genau wie er es erwartet hatte.
Ich sagte dem Taxifahrer, er solle mich vor dem L'Hotel absetzen, einem blitzenden Vierzig-Stockwerke-Turm in der Causeway Bay. Nachdem er davongefahren war, nahm ich meine Tasche, die ich wie befohlen mit ausreichend Kleidung für drei Tage gepackt hatte, und ging die auf beiden Seiten von monolithischen Gebäuden gesäumte Cause- way Road zurück, bis ich die grüne Oase des Victoria Parks erreichte.
Inzwischen war es später Nachmittag und für einen Februartag ungewöhnlich warm und feucht. Immerhin schaffte die Sonne, die langsam hinter Kowloon versank, es noch einmal, ihren Kopf durch die Wolkendecke zu strecken. Auf einer der Rasenflächen war eine Tai-Chi-Klasse für Senioren in vollem Gange, während auf den Bänken ringsum Pärchen aller Altersklassen die Abendsonne genossen und Händchen hielten.
Ich hielt beim Gehen den Kopf gesenkt und vermied es, jemandem in die Augen zu sehen. Diese Menschen mochten wohl einheimische Chinesen sein, die mich in einer Million Jahren nicht als flüchtigen Ex-Polizisten aus England erkannt hätten, einen Mann, der seit fast einem Jahrzehnt von Interpol wegen Mordes gesucht wurde, doch ich hatte schmerzhaft lernen müssen, dass es so etwas wie übertriebene Vorsicht einfach nicht gibt. Verstohlen schaute ich mich um und spürte plötzlich einen Stich. Eifersucht. Da ich schon so lange auf der Flucht war, befand ich mich in einem Zustand immerwährender Einsamkeit, und es schmerzte mich, das gesetzte, partnerschaftliche Leben der anderen beobachten zu müssen, weil es mich ständig an das erinnerte, was ich nicht hatte.
Am Ende des Parks ging ich über die Fußgängerbrücke, die den sechsspurigen Victoria Highway überspannte, bewegte mich getreu meinen Instruktionen entlang der modernen Hafenanlage des Causeway-Bay-Hafens und wunderte mich, wie still es hier war. Schließlich kam ich an eine steinerne Treppe, die hinunter zum Wasser führte. Ein weißes Dinghi mit Außenborder, in dem ein mir unbekannter, muskulöser, westlich aussehender Mann mit T-Shirt und Sonnenbrille stand, schaukelte in der Dünung. Der Mann nickte mir beiläufig zu, wortlos stieg ich die Treppe hinunter und in das Boot, während er den Motor anwarf und ablegte.
Überall im Hafen ankerten Trauben von Booten, die teuersten nahe der Küste, während die einheimischen Dschunken in entfernte Ecken an der Hafenmauer verbannt waren. Deshalb überraschte es mich nicht, dass unsere Reise nur gute fünfzig Meter währte, ehe wir am Heck einer der elegantesten Yachten festmachten. Wenn es um seine Bequemlichkeit ging, zählte Bertie Schagel nicht zu denen, die knauserten.
Auf dem Deck erschien ein zweiter Westler, ebenfalls in T-Shirt und Sonnenbrille, ergriff das hochgeworfene Tau, während ich die Stufen hinaufging. Auf dem Fiberglas rutschte ich aus und wäre fast rücklings gestürzt, sodass er meinen Arm packen und mich festhalten musste. Ich nickte dankend und erkannte ihn wieder. Er war schon bei meiner letzten Begegnung mit Schagel in einem Singapurer Hotel dabei gewesen. Deshalb war es mir ein bisschen peinlich, für einen Augenblick meine coole Contenance verloren zu haben, auf die ich in solchen Situationen Wert lege.
Der Typ deutete zum Unterdeck, und mit einem letzten Blick auf die untergehende Sonne stieg ich durch die Tür in die klimatisierte Kühle und betrat schließlich einen schummrigen Raum, in dem ein sehr massiger Mann mit einem sehr massigen Schädel in einem riesigen ledernen Klubsessel thronte, der sich allerdings wie angegossen um seinen wabernden Fettbauch schmiegte. Bertie Schagel hatte sein dünn gewordenes graues Haar zurückgegelt, er trug einen schwarzen Anzug, darunter ein schwarzes Seidenhemd, aus dessen geöffnetem Kragen dichte drahtige Strähnen seiner Brustbehaarung hervorragten. In der einen Hand hielt er ein überdimensionales Glas mit einer alkoholischen Flüssigkeit, in der anderen eine halb gerauchte kubanische Zigarre, wodurch er wirkte wie ein früh vergreister Meat Loaf, der sich in ein Gordon-Gekko-Kostüm gezwängt hatte.
»Ah, Dennis, schön, dass Sie es geschafft haben«, sagte er mit einem aufdringlichen Grinsen, wobei er sich allerdings nicht die Mühe machte, sich aus seinem Sessel zu erheben, was wahrscheinlich auch viel zu lange gedauert hätte. »Setzen Sie sich. Kann ich Ihnen einen Drink anbieten? Oder etwas anderes?«
Normalerweise hätte mich schon die Aussicht geschreckt, weil ich Geschäft und Vergnügen strikt trenne und keinen Augenblick mehr mit Schagel verbringe als absolut nötig. Doch der Flug von Bangkok hierher hatte mich weichgekocht, deshalb sagte ich, ich würde ein Bier trinken. »Singha, wenn Sie haben.«
»Wir haben alles«, entgegnete Schagel, ehe er sich halb umdrehte und jemandem eine Anweisung gab.
Sekunden später kam ein dunkelhäutiges Thai-Girl mit blond gebleichten Haaren herein und brachte mir das Bier. Sie konnte höchstens achtzehn sein, und damit war sie mindestens dreißig Jahre jünger als Schagel. Sie trug eng sitzende Hotpants aus Jeansstoff und ein noch enger sitzendes Oberteil mit Spaghetti-Trägern, das wie eine zweite Haut an ihrem jungenhaften Körper klebte. Als sie die Flasche auf einem mitgebrachten Untersetzer auf dem Beistelltisch aus Teakholz absetzte, beugte Schagel sich vor und klatschte ihr mit einem widerlich geilen Schielen so heftig auf den Hintern, dass es schmerzhaft knallte. Das Mädchen zuckte zusammen, ließ sich ansonsten aber nichts anmerken und zog sich ohne ein Wort zu sagen oder meinem Blick zu begegnen zurück.
Es war eindeutig, dass Schagel sie zu meiner Unterhaltung demütigte. Er schien das zu genießen. Einmal, bei einem unserer anderen Treffen, hatte ich warten müssen, während er im angrenzenden Raum jemanden zusammenschrie. Ich habe nie erfahren, ob es sich um einen Mann oder eine Frau gehandelt hatte, weil das Opfer nicht ein Wort entgegnete. Er beendete seine Tirade mit einer hörbaren Ohrfeige, ehe er zu mir ins Zimmer kam und mich mit seinem verschlagenen, wissenden Lächeln begrüßte. Ich schätzte das als seine Art ein, mich daran zu erinnern, dass er der Boss war, die vollständige Kontrolle besaß und ich oder sonst wer nichts dagegen tun konnte.
Nur einmal hatte ich mich über einen Befehl von ihm hinweggesetzt. Ich sollte in Kuala Lumpur eine ältere russische Hausfrau töten, offenbar im Auftrag ihres Gatten, der sich nicht den Mühen einer Scheidung unterziehen wollte. Der Mann musste offenbar reichlich angepisst gewesen sein, denn er verlangte, dass man sie an einen entlegenen Ort verschleppte, sie dort vor laufender Kamera köpfte und ihm die Aufnahme aushändigte.
Ich bin immer wieder überrascht und betrübt, wie krank der Mensch sein kann. Als Schagel mich für den Job instruierte, ging mir auf, wie tief ich gesunken sein musste, um mich überhaupt auf ein solches Gespräch einzulassen. Er bot mir einhundertfünfzigtausend Dollar an, das Dreifache des üblichen Satzes ... und es war klar, dass er selbst noch einmal verdammt viel mehr dafür kassierte. Doch ich lehnte rundweg ab.
Copyright © 2012 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
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Autoren-Porträt von Simon Kernick
Simon Kernick, 1966 geboren, lebt in der Nähe von London und hat zwei Kinder. Die Authentizität seiner Romane ist seiner intensiven Recherche zu verdanken. Im Laufe der Jahre hat er eine außergewöhnlich lange Liste von Kontakten zur Polizei aufgebaut. Sie umfasst erfahrene Beamte der Special Branch, der National Crime Squad (heute SOCA) und der Anti-Terror-Abteilung. Mit Gnadenlos (Relentless) gelang ihm international der Durchbruch, mittlerweile zählt er in Großbritannien zu den erfolgreichsten Thrillerautoren und wurde für mehrere Awards nominiert. Seine Bücher sind in dreizehn Sprachen erschienen.
Bibliographische Angaben
- Autor: Simon Kernick
- 2012, Deutsche Erstausgabe, 412 Seiten, Maße: 11,8 x 18,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung:Blank, Gunter
- Übersetzer: Gunter Blank
- Verlag: Heyne
- ISBN-10: 3453436628
- ISBN-13: 9783453436626
- Erscheinungsdatum: 04.06.2012
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